eJournals Kodikas/Code 40/1-2

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2017
401-2

“Please, stop trying to make every decision by yourself!”

2017
Martin Hennig
K O D I K A S / C O D E Volume 40 (2017) · No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen “ Please, stop trying to make every decision by yourself! ” Selbstreflexive Erzählstrategien im Independent-Videospiel 1 Martin Hennig (Passau) The changed conditions of distribution in the video game industry (download distribution, project financing with crowdfunding etc.) have led to a strengthening of the socalled ‘ indie market ’ . The frequently self-theming of the video game there can be read as an expression of a medial identity search, demonstrated against the background of mass market mechanisms, which are made visible here. Remarkable examples in this context are especially those, in which an uncertainty in the binding between the player and the avatar is provoked, by negotiating supposedly basic game principles like immediate embodiment and freedom of choice. The Stanley Parable (Galactic Cafe, 2013), for example, models the video game as a control authority whose disciplining effect is only concealed in the interactivity paradigm, and which shows itself in the fractured relation of narration and interactivity or from role and person during gameplay. This article describes such self-reflexive phenomena in the video game with semiotic terms to outline the structural conflicts negotiated in the example. However, The Stanley Parable is also read as an expression of these conflicts, since it adapts a literary model to describe the paradigms of play, due to the fact that no comparable possibilities of self-description have been found in the medium itself yet. 1 Selbst- und Systemkritik im Videospiel und Medienwandel In Bezug auf ihre erzählerische und dramaturgische Geradlinigkeit sowie die Überbetonung auditiver und visueller Reize ähneln viele hoch budgetierte Computer- und Videospielproduktionen dem Typus des Hollywood-Blockbusters. Entsprechend kann Videospielen in Bezug auf die in ihnen aufgerufenen ideologischen Effekte auf erzählerischer Ebene in der Regel eine Tendenz zur Produktion eines staatsbürgerlichen Bewusstseins nach Umberto Eco attestiert werden, das auf die Erhaltung des gesellschaftlichen Status Quo ausgerichtet ist (cf. Eco 1984). 2 Auf spielerischer Ebene stellen Ansätze der Normalismusforschung nach 1 Dieser Artikel bündelt einige Überlegungen zur Selbstreflexion, die ich im Rahmen der Entwicklung einer Videospielsemiotik an unterschiedlichen Stellen ausgeführt habe, cf. Hennig 2017. 2 Cf. zu den überwiegend konservativen Rückbindungen spielerischer Weltentwürfe an traditionelle Wertemodelle (etwa zur Familie oder in Bezug auf Geschlechterrollen) Hennig (2017: 139 - 266). Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [171] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Jürgen Link heraus, dass im Videospiel Tendenzen der Ankopplung von Spieler-Subjekten an ein datenbasiertes Leistungsdispositiv auszumachen sind; denn im Rahmen der Möglichkeit der Wiederholung kritischer Spielsituationen und der Effektivierung des eigenen Verhaltens, bilden Videospiele “ einen Modellraum zur Einübung und Adaption von Subjektpraktiken, die auf die Herausbildung von Effektivität und normalistischer Selbstwirksamkeit abzielen ” (cf. Nohr 2015: 384). Dabei stellt sich die Frage, inwiefern das Videospiel auf der Grundlage seiner interaktiven Basisstruktur überhaupt selbst- und systemkritisches Potenzial beinhalten kann. In diesem Zusammenhang ist verstärkt die Achse des Medienwandels zu berücksichtigen. Die technisch-apparative Dimension der Videospielnutzung befindet sich seit ihren historischen Ursprüngen in einem kontinuierlichen Wandlungsprozess. Mit den Neuerungen in diesem Bereich transformieren sich regelmäßig auch Spielästhetiken. 3 Aktuell hat die im Zuge der Digitalisierung ermöglichte Annäherung unterschiedlicher Medien das Videospiel unter zusätzlichen Innovationsdruck versetzt: Seine mittlerweile fotorealistischen Darstellungspraktiken evozieren verstärkt Vergleiche mit dem Medium Film, gleichzeitig stellt das Internet erweitere Distributionsmöglichkeiten bereit. Beide Entwicklungen korrelieren damit, dass im Videospielsektor neue Spiel- und Erzählformate expandieren. Zum einen betrifft dies Beispiele wie Beyond: Two Souls (Quantic Dream/ Sony Computer Entertainment, 2013) oder episodisch erscheinende Spieleserien wie The Walking Dead (Telltale, seit 2012), die sich - nach einer kurzen Hochphase und dem schnellen Niedergang des interaktiven Films (siehe etwa The Daedalus Encounter, Mechadeus/ Virgin Interactive, 1995) in den 1990er Jahren - wieder verstärkt filmischer (und serieller) Erzählstrategien bedienen, vor dieser Folie jedoch ihre mediale Eigenständigkeit in den Vordergrund rücken. 4 Zum anderen wächst die Zahl der Videospiele, die weniger Veränderungen auf der Discours-Ebene herausstellen, sondern vielmehr die Nicht-Konventionalität ihrer interaktiven und narrativen Inhalte als Alleinstellungsmerkmale betonen. Diese Entwicklung wurde durch eine Phase der De-Institutionalisierung im Videospielsektor angetrieben: Durch die Möglichkeit des kostensparenden Direktvertriebs von Spieleentwicklungen über nicht-exklusive (das heißt nicht auf bestimmte Anbieter begrenzte) Softwareplattformen im Internet wie Steam, haben kleinere Entwickler Unabhängigkeit gegenüber den marktdominierenden Verlegern (den so genannten Majors) der Branche gewonnen. Auch 3 Tatsächlich verläuft diese Entwicklung so rasant, dass Beispiele aus den 1980er Jahren heute bereits als ‘ retro ’ gelten. Einen Überblick zur historischen Entwicklung des digitalen Spiels gibt zusammenfassend cf. Freyermuth 2015. 4 So startet jede Episode von The Walking Dead mit der Textnachricht: “ This game series adapts to the choices you make. The story is tailored by how you play. ” Damit wird direkt zu Beginn die Rezeption in die Richtung gelenkt, die Hypertextstruktur der Videospielserie als narrative Innovation wahrzunehmen. TheWalking Dead inszeniert sich dabei aber an keiner Stelle als bloße Adaption der vorgängigen Comics oder der TV-Serie. Vielmehr werden deren Erzähl- und Inszenierungsstrategien im Spiel innovativ neu kombiniert. Dagegen bilden die Full-Motion-(Trick- oder Realfilm-)Videosequenzen des interaktiven Films der 1990er Jahre intermediale Simulationen von Elementen des Ursprungsmediums Film im Zielmedium Videospiel, wobei sie in ihren Produktionsstandards jedoch maximal B-Movie-Niveau erreichten und damit zwangsläufig als defizitär erscheinen müssen. 172 Martin Hennig (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [172] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL neuartige Finanzierungsmodelle wie Crowdfunding 5 ermöglichen kleinen, sich teils aus nur wenigen Personen zusammensetzenden Entwickler- und Autorenkollektiven die Veröffentlichung eigenständiger Titel. Insofern auf Darstellungsebene im niedrig budgetierten Rahmen per se ein strukturelles Defizit gegenüber den Entwicklungen etablierter Entwicklungsstudios besteht, ist im Independent-Bereich ( “ Indie ” genannt) eine Tendenz zu kreativen Experimenten aufgetreten, die wiederum vereinzelt zu beachtlichen finanziellen Erfolgen geführt hat, sodass die marktbeherrschenden Download-Plattformen spezieller Hardwareanbieter (u. a. Microsoft: Xbox Live; Sony: PlayStation Network; Apple: App Store) mittlerweile ironischerweise um exklusive “ Indie ” -Entwicklungen konkurrieren. Der Begriff “ Indie ” lässt sich dabei weniger als analytische Kategorie, sondern vielmehr als Selbst- und Fremdbeschreibungsstrategie der Akteure im Feld deuten. Diesbezüglich stellen Martin Stobbe und Tristan Weigang bei einer Analyse von Forenbeiträgen, Interviews und Artikeln auf Gaming-Websites heraus, dass mit dem Label in der Regel die “ (1) Unterstellung weniger oder geringer finanzieller Mittel, (2) Subjektivierung und Individualisierung von EntwicklerInnen, (3) Zuschreibung von Innovation und Experimentalität unter programmatischer Abgrenzung vom ‘ Mainstream ’” (cf. Stobbe & Weigang 2016: 98) einhergehe. Dementsprechend lassen sich auf Nutzerseite entsprechende Rezeptionserwartungen diagnostizieren. So ist auf Wikipedia unter dem Stichwort “ Independent- Computerspiel ” vermerkt, dass dieses häufig auf innovative aber vermarktungstechnisch riskante Spielkonzepte setze (cf. Wikipedia o. J.). Entsprechend betitelt eine Videospielzeitschrift Independent-Games in einem Sonderbericht als “ Jäger der verlorenen Kreativität ” (cf. O.V. 2014: 34). Insbesondere Magazine, die dem populärkulturellen Massenmarkt kritisch gegenüber stehen, wie die linksalternative Zeitschrift konkret, widmen dem Independent-Markt wohlwollende Artikel (cf. Kusenberg 2014: 44 - 46). Freilich sind die Produktionen des Independent-Marktes dabei kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, das Feld ist extrem divers. Grenzziehungsstrategien und Grenzüberschreitungen gegenüber dem Massenmarkt dürften dennoch in fast allen unterschiedlichen Ausprägungen des “ Indie ” -Bereichs vorzufinden sein, da sich dessen ökonomisches wie symbolisches Kapitel über diesbezügliche Abweichungen herleitet (cf. Stobbe & Weigang 2016: 95 - 97). Im Folgenden werden nun selbstreferenzielle und selbstreflexive Erzählstrategien 6 als eine Möglichkeit zur Selbstsemantisierung von Videospielen als ‘ abweichend ’ näher untersucht. 2 Der Massenmarkt als Kontrastfolie: Gone Home Häufig treten in “ Indie ” -Produktionen private oder nicht zur öffentlichen Heldenrolle typischer Videospielprotagonisten kongruente Topoi und Figurenmotivationen in den Vordergrund: So schlüpfen Nutzer in Papers, Please (Lucas Pope, 2013) in die Rolle eines 5 Auf Deutsch auch Schwarmfinanzierung, bei der Endkunden als Kapitalgeber der Spieleentwicklung fungieren können. 6 Mit Gräf et al. kann unter Selbstreferenzialität ein Fall verstanden werden, bei dem die Medialität des Dargestellten expliziert wird, unter Selbstreflexivität dann eine darüber hinaus gehende Bestimmung und Reflexion der Leistungen des eigenen Mediums (cf. Gräf et al. 2011: 238 - 239). “ Please, stop trying to make every decision by yourself ! ” 173 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [173] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Grenzbeamten in einem autoritären Regime, der mit seinen schwerwiegenden Entscheidungen in erster Linie für den Lebensunterhalt seiner Familie aufzukommen sucht: “ Schicke ich eine verzweifelte Person mit einem offensichtlich gefälschten Asylantrag in den Knast, nur um mit etwas mehr Geld nach Hause zu gehen? ” (cf. 4Players 2013). Auch die Wirtschaftssimulation Cart Life (Richard Hofmeier, 2011) gewinnt ihre spielerische Einzigartigkeit durch die Nachbildung prekärer Arbeits- und Lebensverhältnisse. Insbesondere das erzähllastige Adventure-Genre, das nicht auf zeit- oder konfigurations-, sondern entscheidungskritischen Herausforderungen 7 - also konventionell dem Lösen von Rätseln - basiert, hat sich dabei als prädestiniert erwiesen, komplexe Thematiken abseits genretypischer Abenteuer- oder Kriminalgeschichten zu inszenieren: So handelt The Cat Lady von einem Leben mit einer schweren Depressionserkrankung, in That Dragon, Cancer (Numinous Games, 2016) verkörpern Spieler die Eltern eines krebskranken Kindes und durchleben Höhen und Tiefen seines kurzen Lebensweges, während etwa Downfall (Harvester Games, 2015) oder Gone Home (The Fullbright Company, 2013) dysfunktionale Brüche innerhalb bürgerlicher Familienmodelle adressieren. In derlei Beispielen sind nun auch vermehrt selbstreferenzielle und selbstreflexive Erzählakte anzutreffen, denn regelmäßig fungieren die Konventionen des Massenmarktes als Kontrastfolie, vor der sich die Innovativität des jeweiligen Titels abzeichnen soll. Damit werden die grundlegenden strukturbildenden Prinzipien des Videospiels im Independent- Bereich thematisch. Im Spiel Gone Home kehrt die Protagonistin Katie zu Beginn nach längerer Abwesenheit zurück in ihr Elternhaus, das sie jedoch verlassen vorfindet. In diesem einleitenden Rahmen werden die Motivstrukturen einer Geisterhausgeschichte zitiert: Auf der auditiven Ebene herrscht permanentes Unwetter; in einer an die Eingangstür gepinnten Nachricht bittet Kathies Schwester Samantha, es solle nicht nach ihrem Aufenthaltsort gefahndet werden; im Haus finden sich Zeitungsartikel, die das mysteriöse Ableben des vorherigen Hausbesitzers dokumentieren. Doch statt im Spielverlauf der damit angedeuteten Kriminal- oder Horrorgeschichte auf den Grund zu gehen, muss hier stattdessen Stück für Stück das homosexuelle Begehren zwischen Samantha und ihrer Schulfreundin Lonnie rekonstruiert werden. Zu Spielbeginn werden also über die Verknüpfung von spielstrukturellen Vorgaben (auf der Darstellungsebene betrifft dies zum Beispiel die Ego-Perspektive, weiterhin entspricht das Handlungsinterface einem Point-and-Click-Adventure) mit audiovisuellen Zeichen (die gotische Architektur des Handlungsortes, Nacht, Unwetter usf.) gezielt (Falsch-)Hinweise gegeben, die den Schluss nahe legen, bei der Produktion handele es sich um ein konventionelles Geisterhaus-Adventure, das regelmäßig jene Merkmale aufweist (siehe etwa die Dark Fall-Reihe, XXv Productions/ Darkling Room, seit 2002). Dabei werden gleichsam die hinter solchen Fehlschlüssen stehenden strukturellen Muster vorgeführt: Das Spielinterface und die Levelarchitektur fungieren als Signifikanten zur Kanalisierung von Rezeptionserwartungen. Derlei kommunikative Funktionen kann das nur im Ausnahmefall auf inhaltliche Merkmale abzielende Genresystem des Videospiels nicht allein wahrnehmen, die lediglich auf Spielmechaniken verweisende Klassifikation “ Adventure ” verrät 7 Diese Unterscheidung folgt Claus Pias (cf. Pias 2002: 4). 174 Martin Hennig (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [174] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL dies nicht. Auch die spezifischen narrativen Muster des Videospiels tragen zu den hier aufgerufenen Rezeptionseffekten bei. Ein Spieletester umschreibt dies folgendermaßen: “ Bei Gone Home erwarte ich [ … ] instinktiv eine Katastrophe, einfach deshalb, weil es ein Spiel ist ” (cf. Gamestar 2013). Hier wird darauf verwiesen, dass Alltag im Videospiel normalerweise nur unter bestimmten, ihn als ereignishaft markierenden und damit letztendlich doch wieder als nicht alltäglich kennzeichnenden Voraussetzungen spielbar wird. 8 Gone Home konstituiert sich demgegenüber durch die vollständige Absenz einer im Lotmanschen Sinne sujethaften Textschicht. Damit inszeniert sich das Spiel gezielt als abweichend. Im Spielverlauf von Gone Home dringt man nun immer tiefer in das Innere des Familienanwesens vor, wobei der Spielfortschritt mit einer Steigerung von konnotierbarer Intimität der dort auffindbaren Gegenstände und Schriftstücke korreliert. Dabei treten Schattenseiten der übrigen Familienmitglieder zu Tage: Katies Mutter ist unzufrieden mit ihrem neuen Job in der Chefetage und hat eine Affäre; die dem Vater zugeordneten Artefakte zeichnen das Bild eines gescheiterten Schriftstellers. Vor allem aber durchzieht Samanthas homosexuelles Begehren das Haus wie ein roter Faden. Man liest darüber in ihren Tagebucheinträgen; gleichzeitig finden sich auch Reflexionen der Eltern bezüglich des abweichenden Verhaltens ihrer Tochter. Im Spiel wird damit insgesamt ein Riss in einem bürgerlichen Familienmodell interaktiv erfahrbar gemacht. Diese narrative Ebene von Gone Home korreliert mit spielerischen Elementen 9 und wird auch auf topografischer Ebene in Form einer Verdopplung der Raumstrukturen repräsentiert: Samantha und Lonnie haben sich beim Ausleben ihrer Beziehung eine auf die Vergangenheit des Hauses zurückgehende, geheime architektonische Ordnung in Form von Geheimgängen zu Nutze gemacht. Ihre Liebe konstituiert sich folglich auf einer räumlichen und ideologischen Ebene hinter dem im Haus manifesten bürgerlichen Ideal der Mittelschicht eines amerikanischen Vorortes. Auch das positiv konnotierte Ende der Geschichte spielt mit stereotypen Raumsemantiken. Eine Zeit lang suggerieren Texthinweise, die Auflösung des Rätsels um Samanthas Verschwinden würde sich im Keller abspielen, doch von dort aus geht es weiter auf den Dachboden, wo Spieler den - gemessen an gängigen Videospieltopoi - völlig unspektakulären bisherigen Ereignisverlauf aufdecken: Samantha ist gemeinsam mit Lonnie geflohen. Gone Home scheint folglich genau deshalb so großen Anklang bei Kritik und Publikum erfahren zu haben, weil sich hier tatsächlich ein gesamtes Spiel im Kontext privater und intimer Figurenmotivationen vollzieht. Gleichzeitig fungiert es als Zeit- und Sittengemälde 8 So fungiert die Depressionskrankheit der Hauptfigur Susan in The Cat Lady als Paradigma des im Alltag angesiedelten Außergewöhnlichen, das diesen gleichfalls spielbar macht: Die in Susans Privatwohnung zu erfüllenden Aufgaben und dort angesiedelten Gegenstände bekommen eine spielerische Bedeutung in Bezug auf Susans Gesundheitszustand zugeschrieben. Denn das Interface wird teilweise durch eine Skala ergänzt, welche die Aufregung oder Entspannung Susans in Abhängigkeit von den durchgeführten Handlungen anzeigt. Nach und nach lernen Spieler hier, wie sich bestimmte Aktionen auf die Psyche der Protagonistin auswirken. Auf diese Weise wird Susans Wahrnehmung in einen spielerischen Rahmen überführt und die dargestellte Welt erhält eine Rätselstruktur. 9 So gilt es in Samanthas Zimmer die Kombination eines Spinds zu entdecken, in dem sämtliche Rollenabweichungen der Figur zeichenhaft repräsentiert sind: eine Zigarettenschachtel, ein Männermagazin mit erotischen Bildern von Frauen, eine Fotografie von Lonnie. “ Please, stop trying to make every decision by yourself ! ” 175 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [175] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL der 1990er Jahre in einem konservativen Vorort im Nordwesten der USA. 10 Dabei wird eine Diskrepanz zwischen Oberflächenebene und Tiefenstruktur inszeniert. Die Figurenmerkmale von Lonnie und Sam verweisen auf - in Anbetracht von Zeitpunkt und Ort der Handlung - stigmatisierte Personenanteile. In diesem Rahmen ist eine homosexuelle Neigung eine Grenzüberschreitung und damit potenziell narrativ. Die Bewertung des Spiels selbst ist jedoch genau gegenteilig. Die Semantisierung von Homosexualität als nichtbedeutungstragend wird durch die Nicht-Ereignishaftigkeit des Spielgeschehens (es finden sich unabhängig von der Erkundung des Hauses keine spielerischen Herausforderungen oder Rätsel), die Abwesenheit erwartbarer narrativer Topoi und damit die Dekonstruktion von Videospielstereotypen transportiert. Insgesamt wird in Gone Home eine Opposition zwischen dem historisch-kulturellen Kontext (Sujethaftigkeit von Homosexualität) und ludisch-narrativem Kontext (sujetlos) in der Spielhandlung inszeniert, wobei mit der gezielten Suspendierung konventioneller Erzähl- und Interaktionsschemata nutzungsseitige Reflexionsprozesse angeregt werden: Spielerisch und erzählerisch wird das Paradigma ‘ Alltag ’ akzentuiert und Homosexualität prinzipiell als Teil davon und damit als nicht-abweichend ausgewiesen. Der spezifische, interaktive Dispositivcharakter des Videospiels versieht diese eigentlich eindeutige Selbstpositionierung jedoch unweigerlich mit Ambivalenz: Die Homosexualität Samanthas wird im Spielverlauf zum sie als Person maßgeblich auszeichnenden Merkmal. Im Rahmen der Einbindung der lesbischen Paarbeziehung in eine Spielstruktur gewinnt die Homosexualität der Hauptfiguren (auch) wieder Ereignischarakter, denn letztlich bildet deren Enthüllung die entscheidende Pointe, auf die das gesamte Geschehen und die interaktive Beteiligung der Spieler zuläuft. Weiterhin projiziert das Spiel aus dem Jahr 2013 fragwürdige ideologische Positionen auf die dargestellte Welt, die immer auch anders denkbar gewesen wären: Die Flucht aus dem Zuhause als einzige Lösung zu propagieren, wie mit der Abweichung umgegangen werden kann, zementiert Vorstellungen von Familie, nämlich was dazu- und was nicht dazugehört. Die freiwillige Ausgrenzung bleibt Ausgrenzung, wobei diese Lösung auch für die dargestellten 1990er Jahre antiquiert erscheint. Gleichsam bildet diese Ausgangssituation die unmittelbare Voraussetzung für das zentrale Spielziel der Suche nach Samantha. Gerade aufgrund derartigerAmbivalenzen lassen sich solche Beispiele auch als Ausdruck einer medialen Identitätssuche im Videospiel lesen, denn die inszenierten Abweichungen im Independent-Bereich und das auch in diesem Rahmen diagnostizierbare Nicht-Gelingen einer vollständigen Loslösung von Spielparadigmen verweisen auf eine zentrale, jeden Weltentwurf des Videospiels prägende Hybridität: Spiel und Narration sowie Simulation und Repräsentation gehen im Medium eine komplexe Mischform ein, die von einer wechselseitigen Abhängigkeit geprägt ist. 11 Im Vergleich mit nicht-interaktiven Formaten unterliegen die Erzählungen im Videospiel deshalb allerdings zwangsläufig auch zahl- 10 Wenn man die schriftliche Schilderung eines sexuellen Erlebnisses zwischen Sam und Lonnie im Haus einsammelt und betrachtet, weigert sich selbst die Protagonistin Katie nach kurzer Zeit weiterzulesen, ein zweiter Versuch wird den Spielern durch ihre Spielfigur von vornherein verweigert. 11 Cf. Pacher (2007: 131): “ Im Metamedium Computer können sich die [ … ] Paradigmen von Repräsentation und Simulation vereinen. Beide Formen schließen sich nicht aus, sondern können Synergien bilden. In diesem Rahmen wird - wie Computerspiele beweisen - Repräsentation in die Simulation eingearbeitet. ” 176 Martin Hennig (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [176] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL reichen Einschränkungen, wollen sie das Geschehen spielbar halten. Dies schließt strukturelle Innovationen zwar nicht aus, nur sind diese dann regelmäßig verbunden mit einer Re-Definition davon, was noch als Spiel verstanden werden kann. 3 Verhandlung des Videospieldispositivs: The Stanley Parable Das zweite Beispiel, in dem das spezifisch Eigene des Videospieldispositivs verhandelt wird, verdeutlicht diese Auflösung herkömmlicher Definitionen des Spiels durch strukturelle Innovation. In der filmischen Einführungssequenz von The Stanley Parable (Galactic Cafe, 2013) umreißt der Off-Monolog eines Erzählers die eintönige Arbeitssituation des Protagonisten Stanley (siehe Abbildung 1): “ Orders came to him through a monitor on his desk, telling him what buttons to push, how long to push them and in what order. ” Doch eines Tages findet sich Stanley plötzlich allein in seinem Abteil des Großraumbüros wieder und macht sich auf, dem Verbleib seiner Kollegen nachzuspüren. Dabei wird er vor verschiedene Entscheidungssituationen gestellt, wobei die Erzählerstimme einleitend stets einen bestimmten Ereignisverlauf vorzeichnet: “ When Stanley came to a set of two open doors, he entered the door on his left. ” Den Spielern steht es im Folgenden allerdings frei, sich auch gegenteilig zur Erzählersuggestion zu entscheiden, was in der Regel jedoch durch Gefühlsausbrüche des Erzählers sanktioniert wird: “ Stanley was so bad at following directions; it ’ s incredible he wasn ’ t fired years ago ” . Unter Umständen kann die Widersetzung Stanleys gar die Inszenierung eines durch den Erzähler initiierten Spielneustarts zur Folge haben. In jedem Fall ergeben sich durch die Entscheidungen der Spieler, den Erzählerkommentaren Folge zu leisten oder eben nicht, unterschiedliche Spielverläufe: Aufbauend auf den Entscheidungsmöglichkeiten in exponierten Spielsituationen beinhaltet The Stanley Parable ganze 19 unterschiedliche Endsequenzen. Werden dabei konstant die Anweisungen des Erzählers befolgt, sieht der Spielverlauf bei der Durchquerung des menschenleeren Arbeitsplatzes die Entdeckung einer gigantischen panoptischen Überwachungseinrichtung in einem geheimen Gebäudeteil vor (siehe Abbildung 2). Ein Blick auf hunderte Bildschirme beweist, dass jeder Mitarbeiter der Firma heimlich kontrolliert wurde. Dies kann Stanley natürlich nicht hinnehmen und wird nach Abschaltung derAnlage mit der Öffnung des Gebäudeausgangs und dem frei werdenden Weg in die dahinter liegende, sonnendurchflutete Frühlingslandschaft belohnt. Dieses ‘ richtige ’ Ende ist nun einerseits als ironische Verdichtung der emphatischen Plotstrukturen des Mediums zu verstehen, in dem der Topos der Überwachung regel- Abb. 1: Selbstreferenzielle Ausgangssituation von The Stanley Parable (Quelle: eigener Screenshot) “ Please, stop trying to make every decision by yourself ! ” 177 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [177] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL mäßig dazu dient, Spielszenarien narrativ zu kontextualisieren, in denen es für die Spieler innerhalb der gesamten Diegese gilt, Fremdkontrolle in Eigenkontrolle zu überführen, indem Überwachung getilgt wird (siehe prominent etwa Watch Dogs: Ubisoft, 2014). Andererseits ist dieses Ende gleichsam dasjenige, welches keinerlei dramaturgische Höhepunkte beinhaltet, denn die Lösung der Überwachungssituation gerät überraschend simpel: Ein Knopfdruck auf einen zentral platzierten Schalter mit einem Überwachungskamerapiktogramm deaktiviert die lagerhallengroße Apparatur. Erst wenn Spieler sich gegen die Anweisungen des Erzählers sträuben, entfalten die einzelnen Spielsituationen folglich ein Konfliktpotenzial: Der Reiz des Spiels entspringt der Rebellion. 3.1 Kontrollkonflikt: Erzähler vs. Figur Die übrigen Spielverläufe, die auf der Widerständigkeit der Spieler gegenüber den Erzählerkommentaren basieren, verhandeln nun ebenfalls mehr oder weniger explizit ein Kontrollparadigma, nur wird dieses hier jeweils gegen das Dispositiv des Spiels selbst gewendet. The Stanley Parable modelliert das Medium Videospiel durch den Plot und den Erzähler als Einübungs- und Kontrollinstanz. Der Überwachungstopos im vom Erzähler vorgezeichneten Spielverlauf bildet eine selbstreflexive Systemreferenz, insofern damit jene Kontrollcharakteristik des Mediums zeichenhaft repräsentiert wird, die auch die übrigen Spielabläufe verdichtet zum Ausdruck bringen. Im Folgenden werden nun besonders markante Ereignisverläufe und Endsequenzen nachgezeichnet, die diese selbstreflexive Ebene etablieren. Bei dem so genannten “ Appartement Ending ” leitet der Erzähler Stanley nach einem anfänglichen Ignorieren seiner Anweisungen in ein schlichtes Appartement, wo er damit beginnt, die nach eigener Aussage “ wahre ” Geschichte Stanleys zu erzählen: “ This is a very sad story about the death of a man named Stanley ” . Dem folgt die alternativlose Abb. 2: Selbstreflexive Systemreferenz (Quelle: eigener Screenshot) 178 Martin Hennig (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [178] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Aufforderung, einen bestimmten Knopf auf der Computertastatur zum Weiterkommen zu betätigen, woraufhin der Erzähler fortfährt: “ Look at him, there, pushing buttons, doing exactly what he ’ s told to do. Now, he ’ s pushing a button. Now, he ’ s eating lunch. Now, he ’ s going home. Now, he ’ s coming back to work. ” Hier findet sich folglich eine dreifache Homologie: Die technisch-apparative Grundlage des Spielvorgangs auf Ebene der Mensch- Maschine-Interaktion verhält sich homolog zur computerbasierten Arbeitssituation Stanleys, 12 beide werden zusätzlich mit einem denkbar monoton gehaltenen Alltagsmodell parallelisiert. 13 Diese Homologie basiert auf dem Umstand, dass auch die erzählten Geschichten von The Stanley Parable trotz ihrer multiplen Verlaufsmuster und Endsequenzen auf Iterationen der paradigmatischen Ebene basieren, denn sämtliche Spielverläufe unterscheiden sich nur auf einer Oberflächenebene voneinander. So ist es auf dem Weg zum “ Games Ending ” möglich, sich trotz mehrfachem Zurücksetzen der Szene durch den Erzähler wiederholt für das Durchschreiten einer blauen Tür zu entscheiden, obwohl im Off-Monolog der Weg durch eine ebenfalls im Raum befindliche rote Tür vorgezeichnet wird. Die Belohnung der Spieler für ihre Opposition besteht nun darin, dass sie in ein anderes Spiel versetzt werden: Die auf einer Schiene angebrachte Zeichnung eines Babys bewegt sich kontinuierlich auf ein Feuer zu und ist durch permanente Betätigung eines wiederum roten Schalters vor dem Verbrennen zu bewahren. Während das narrative Setting hier also variiert (und im grafisch reduzierten Babyspiel als artifizielle, lediglich oberflächliche Rahmung einer eindimensionalen Spielstruktur vorgeführt wird), sind die Knöpfe betätigenden Handlungspositionen der Spieler und ihrer Spielfigur letztlich dieselben wie in den beiden übrigen beschriebenen Handlungsverläufen (siehe auch die Iteration der Farbe Rot: roter Schalter vs. rote Tür). Im Anschluss wird diese massive Einschränkung interaktiver Freiheitsgrade als strukturell notwendig herausgestellt, wenn Stanley nach dem Baby-Spiel vom Erzähler in eine Kopie der kommerziell erfolgreichen Independent-Produktion Minecraft (Mojang, 2011) versetzt wird, die über kein festes Spielziel verfügt und in der die Freiheit zur Erkundung und zum Bau von fantasievollen Objekten im Vordergrund steht. Dies sei nun ein Spiel, merkt der Erzähler an, mit dem er rein gar nichts zu tun habe, denn Minecraft zeichnet sich durch eine fast vollständige Abwesenheit von narrativen Elementen aus und wird vom Erzähler deshalb als ungenügende Spielvariante bewertet: “ He [Stanley, MH] needs me, someone who will wrap everything up at the end - to make sense out of the chaos and the fear and the confusion ” . Im Rahmen von The Stanley Parable kann dies auch als allgemeingültige Aussage verstanden werden, denn die grundlegende Frage, die das Spiel implizit stellt - warum Spieler in ihrer Freizeit einer Arbeitssimulationen nachgehen - betrifft insbesondere Produktionen wie Minecraft, deren letztlich eindimensionale dispositive Struktur nicht durch eine narrative Ebene mit ‘ Sinn ’ versehen wird. 12 Augenscheinlich ist dies einer der Gründe dafür, warum The Stanley Parable trotz Kritikerlob und ökonomischem Erfolg bislang ausschließlich auf dem PC erschienen ist - bei der Übertragung auf andere Spielplattformen ginge diese Bedeutungsebene verloren, da sich Spielekonsolen durch eine weit größere Nähe zum Paradigma Freizeit auszeichnen, wohingegen der PC traditionell als Arbeitsgerät wahrgenommen wird, cf. zu diesem Punkt Liebe (2008: 73 - 94). 13 Im “ Museum ending ” heißt es analog: “ When every path you can walk has been created for you long in advance, death becomes meaningless, making life the same. ” “ Please, stop trying to make every decision by yourself ! ” 179 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [179] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Auch innerhalb der sonstigen Ereignisabfolgen von The Stanley Parable bleibt die hinter dem Geschehen stehende Aussage prinzipiell dieselbe. Indem ein Großteil der Spielsituationen in unterschiedlicher Art und Weise auf das hinter dem Spielvorgang stehende Kontrolldispositiv verweist, stellt The Stanley Parable dessen disziplinierenden Effekt heraus, der sich im interaktiven Spielablauf letztlich nur kaschiert und auf der Spieloberfläche im Wechselspiel zwischen Narrativität und Interaktivität manifestiert. 14 The Stanley Parable inszeniert den tiefenstrukturellen Konflikt zwischen Spielregeln und Interaktionsfreiheit folgerichtig pars pro toto als Kontrollkonflikt zwischen Erzähler und Figur. 3.2 Selbstreflexive Erzählstrategien Diese mediale Selbstthematisierung kann in einem zweiten Schritt in Beziehung gesetzt werden zu dem von The Stanley Parable verhandelten Verhältnis von Avatar und Spieler oder Rolle und Person. Nähere Erkenntnisse dazu ergeben sich bei der Analyse der im Beispiel eingesetzten selbstreferenziellen und selbstreflexiven Erzählstrategien. In der bisherigen Forschung zu Selbstthematisierungen im Videospiel lassen sich auf einer übergeordneten Ebene zwei Varianten diagnostizieren, diese beiden Formen sind jedoch nicht vollständig deckungsgleich mit der konventionellen Unterscheidung zwischen Selbstreferenzialität und Selbstreflexivität und müssen deshalb genauer betrachtet werden. Nach Stefan Gorsolke ist erstens das Untersuchungsmedium Videospiel vornehmlich von selbstreferenziellen Strukturen auf einer systemischen Ebene geprägt (cf. Gorsolke 2009: 265 ff.). Aus dieser Perspektive ist das Videospiel bezüglich seiner referenziellen Struktur weitaus schematischer strukturiert, als nicht-interaktive Medien. Selbstbezügliche Inhalte gehören hier konventionell zur Spielstruktur, könnten aber nicht primär als Teil der Diegese gedacht werden. 15 Die Metaebene des Videospiels zeige sich viel grundsätzlicher: Laut Gorsolke (2009) beinhalten alle Spiele eine meta-narrative Struktur, da den Rezipienten fortlaufend Entscheidungssituationen vermittelt werden. Das hieße, Spieler realisieren auf Basis der gegebenen Möglichkeitsmengen (Paradigmen) ihren individuellen Spieldurchlauf, bleiben sich aber der nicht-realisierten Möglichkeiten bewusst. Insofern unterscheiden sich interaktive von nicht-interaktiven Texten nach Gorsolke (2009) dadurch, dass Spiele ihre Meta-Ebene real und extradiegetisch ausbilden, sie folglich die Nutzer als Autorität zur Paradigmenbildung zulassen und dies nicht intradiegetisch durch die Einführung einer weiteren Erzählebene bewerkstelligen. Zunehmend geraten neben dieser systemischen Form von Selbstreferenzialität jedoch auch explizite Selbstthematisierungen in den Fokus der Forschung. Bernhard Rapp hat 14 Einige Endsequenzen machen aus einer entgegengesetzten Perspektive deutlich, dass sich der Spielablauf umgekehrt auch erst durch die situative Zuweisung von Autonomie an die Spieler entwickelt, cf. mit einem Beispiel hierzu Froschauer (2016: 130). 15 Demnach unterminieren die Spielregeln fremdreferenzielle Bezüge, also Bezüge auf etwas außerhalb des Spiels. Als Beispiel nennt Gorsolke (2009) Fälle, in denen die Funktion einer speziellen Umgebungsarchitektur (bspw. einer Insel) primär darin liegt, spielstrukturelle Grenzen, welche die Bewegungsfreiheit der Nutzer einschränken sollen, semantisch zu kaschieren. Das Umgebungsdesign ist in diesem Fall komplett funktional gehalten, beinhaltet keinen semantischen Mehrwert und verweist ausschließlich auf das Spiel als solches. Gorsolke (2009) geht davon aus, dass sich derartige Selbstreferenzen in den meisten Elementen von Videospielen zeigen, etwa wenn bestimmte narrative Topoi lediglich der Motivation zur Ausführung interaktiver Handlungen dienen. 180 Martin Hennig (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [180] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL diesbezüglich ein Klassifikationsschema entworfen, das drei Kategorien kennt (cf. Rapp 2008): (i) punktueller Selbstbezug (zum Beispiel in Form von versteckten Easter Eggs), (ii) permanenter Selbstbezug (siehe etwa die kontinuierlichen Selbstthematisierungsakte der Adventures aus dem Hause LucasArts in den 1980er und 1990er-Jahren) und (iii) struktureller Selbstbezug (ein Spiel im Spiel). In den von Rapp gewählten Beispielen bleibt der Selbstbezug jedoch stets situativer Natur und eine von derartigen selbsttreferenziellen Phänomenen vollständig ablösbare Histoire bildet nach wie vor den zentralen Teil des Spielablaufs. Dementsprechend sei Selbstreflexivität im Videospiel - anders als in nichtinteraktiven Medien - weniger als Störung oder Irritation im Spielverlauf zu begreifen, sondern trage vielmehr kohäsionsstiftende und integrierende Funktionen (cf. Rapp 2008: 75) und beinhalte immersionsstiftende Wirkungen (cf. Rapp 2008: 169 - 174). Dass Selbstthematisierungen im Videospiel tatsächlich als Involvierungsstrategien begriffen werden können, lässt sich anhand eines Beispiels aus dem Adventure-Klassiker Day Of the Tentacle (LucasArts, 1993) nachvollziehen. Wenn hier am Ende des Vorspanns eine scheinbar versehentlich ins Bild geratene Kuh die 4. Wand durchbricht, indem sie den Rezipienten zuwinkt (siehe Abbildung 3), wird gezielt die interaktive Spielebene akzentuiert - der Einbezug der Nutzer bewirkt zwar eine Inkohärenz der Narration, macht die Spieler jedoch auf ihre nun folgende aktive Rolle aufmerksam und dient dazu, sie nach einer mehrminütigen, nicht-interaktiven Sequenz für das folgende Spielgeschehen zu aktivieren. Abb. 3: Durchbruch der vierten Wand als Aktivierung der Nutzer in Day Of the Tentacle (Quelle: eigener Screenshot) Eine ideologisch-kritische Ebene findet bei derlei medialen Selbstthematisierungen in der Regel nicht statt. Auch wenn zum Beispiel in der Blockbuster-Produktion Metal Gear Solid 4 (Kojima Productions/ Konami, 2008) eine zeitweilige Adaption des Spielinterfaces an “ Please, stop trying to make every decision by yourself ! ” 181 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [181] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL vorherige Teile der Reihe vollzogen wird, zielt dies lediglich auf einen nostalgischen Effekt ab (cf. Beil 2012: 95 - 105). Auch hier geht es zu keinem Zeitpunkt um eine Reflexion spieleigener Prozesse. Die Selbstreferenz wirkt in dem Sinne ebenfalls involvierend, als sie das Medienwissen der Spieler bezüglich der bisherigen Serienteile adressiert. Auch Rapp zieht hinsichtlich seiner Beispiele das Fazit: “ Selbstreflexivität [ … ] ist hier selbst zum Spielobjekt geworden, wodurch sie Strategeme offeriert, Sinngehalte zu potenzieren ohne zugleich eine normative Ebene einzuziehen. ” (Rapp 2008: 232) Hinweise auf die “ Grenzen der Interaktions- und Immersionsfähigkeit ” (Rapp 2008: 232) blieben dabei zwangsläufig außen vor. Um diesen Unterschied gegenüber selbstreflexiven Erzählstrategien in nicht-interaktiven Medien deutlich zu machen, sollte in derartigen Fällen allerdings anders als bei Rapp nicht schon von Selbstreflexivität, sondern lediglich von ‘ systematischer Selbstreferenzialität ’ , oder - will man Verwechslungen mit der Ebene der ‘ systemischen Selbstreferenzialität ’ (im Sinne von Gorsolke 2009) vermeiden - von Selbstreflexivität erster Ordnung gesprochen werden, denn diese bildet eine im Untersuchungsmedium normalisierte, nicht systemkritische Variante der intendierten Selbstthematisierung. Demgegenüber konstituiert sich der Spielinhalt von The Stanley Parable fast vollständig auf der Grundlage der oben herausgearbeiteten selbstreflexiven Ebene. Das Spiel führt genau den von Gorsolke (2009) beschriebenen Vorgang der nutzungsseitigen Paradigmenbildung vor, um diesen in der Folge jedoch als vollständig kontingent zu bewerten. Der vermeintliche Autorenstatus der Spieler wird hier mittels eines Rückgriffs auf literarische Erzählverfahren negiert, da kein vollständiger Ausbruch aus dem vom Erzähler gesetzten Rahmen möglich ist. Damit liegt im Fall von The Stanley Parable ein permanentstruktureller selbstreflexiver Akt vor, bei dem systemische Selbstreferenzen des Videospiels auch auf die narrative Ebene überführt und dort thematisch werden. Diese Systemkritik korreliert mit dem Umstand, dass sich die Adressierung durch den Erzähler nicht explizit an die Spieler, sondern zunächst an ihre Spielfigur Stanley richtet. Auf dieser Basis bietet sich eine Möglichkeit zur genaueren Differenzierung der Beispiele: (i) Die winkende Kuh aus Day Of the Tentacle überschreitet im Rahmen eines narrativen Kurzschlusses die Grenze zwischen intradiegetischer Figurenposition und extradiegetischer Spielerposition in der Art einer Selbstreflexivität erster Ordnung. (ii) Die Rahmenüberschreitung in The Stanley Parable dagegen vollzieht sich in erster Linie zwischen extradiegetischer Erzählerposition und intradiegetischer Figurenposition. Da die vom Erzähler kommentierten Aktionen Stanleys jedoch aus den Entscheidungen der Spieler resultieren, funktioniert diese Strategie ebenfalls als indirekte Spieleransprache, die das Verhältnis zwischen Figurenposition und Spielerposition als spiegelbildlich-zeichenhaft konstruiert. 16 An dieser Stelle zeigt sich ex negativo, dass selbstreflexive Strategien im 16 Diese Erzählstrategie wirkt oberflächlich betrachtet wie eine Störung des Spielablaufs, ist jedoch gleichzeitig als funktional für selbigen zu verstehen, insofern damit eine systemkritische Ebene integriert wird, ohne die Interaktion vollständig zum Erliegen zu bringen. Einerseits akzentuiert die Adressierung Stanleys lediglich die intradiegetische Widerständigkeit der Figur, gegenüber der die Spieler auf technisch-apparativer Ebene zwangsläufig in der Ausgangssituation des Protagonisten verbleiben ( “ Orders came to him through a monitor on his desk, telling him what buttons to push, how long to push them and in what order. ” ). Andererseits ist diese Konstellation dafür verantwortlich, dass man als Spieler die eigentlich unerträglichen Maßregelungen 182 Martin Hennig (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [182] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Videospiel im Normallfall genau deswegen involvierend wirken, da mit der Adressierung der Rezipienten ihre Subjektposition als extradiegetisch-autonom modelliert wird: Die winkende Kuh im Beispiel Day Of the Tentacle verweist auf ein dem Videospielbild nicht inhärentes Außen, als dessen reale Referenten die Spieler fungieren und denen damit eine Position als handlungsmächtiges, den intradiegetischen Zeichenprozessen enthobenes Autor-Subjekt zugewiesen wird (siehe Abbildung 4). Abb. 4: Subjektmodellierung im Videospiel (Quelle: eigene Darstellung) Nicht so jedoch bei den sich in The Stanley Parable vollziehenden selbstreflexiven Strategien zweiter Ordnung. Hier entspricht die Relation von Spielern und Spielfigur einem Signifikat-/ Signifikanten-Verhältnis: Die Spielfigur Stanley fungiert als Signifikant eines Vorstellungsbildes der Spieler, nach dem diese als obligatorische Teile und Objekte des Dispositivs Videospiel gedacht werden, wodurch die Grenze zwischen den Rezipienten und ihrer Spielfigur partiell dissoziiert (siehe Abbildung 5). Abb. 5: Subjektmodellierung in The Stanley Parable (Quelle: eigene Darstellung) durch den Erzähler überhaupt goutieren kann, da sie an die Ebene des Avatars gebunden bleiben. Da dieser nicht frei gewählt oder selbst zusammengestellt ist, gibt es eine genuine Differenz zu den Spielern. Was Stanley betrifft, muss damit nicht immer in gleicher Weise die Nutzer tangieren, auch wenn das Verhältnis als spiegelbildlich inszeniert wird. “ Please, stop trying to make every decision by yourself ! ” 183 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [183] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL 4 Fazit Insgesamt kann der Independent-Bereich als komplementäres Korrektiv des Massenmarktes interpretiert werden. Das Beispiel The Stanley Parable beinhaltet eine an avantgardistische Strategien anschließende Re-Semantisierung des Mediums unter Einbezug seiner grundlegenden strukturellen Konflikte: Das Spiel führt vor, dass die Ermächtigungsszenarien des Videospiels die systemische Kontrolle der Spieler bedingen. The Stanley Parable lässt sich dabei auch als Ausrufung einer medialen Systemkrise lesen, denn das Spiel akzentuiert die selbstreferenziellen Bezüge des Videospiels und fragt dabei unter anderem nach der kulturellen Ausdrucksfähigkeit des Mediums. Allerdings ist das Spiel auch ein Symptom der entsprechenden Krise, da es in Form des Erzählers auf eine literarische Konstellation referiert. Zwar wird diese hier als Extremform narrativ erzeugter Nutzungsheteronomie in Szene gesetzt, gleichzeitig scheinen sich medienimmanent allerdings auch noch keine vergleichbaren Ausdrucksmöglichkeiten der Selbstbezüglichkeit und daraus resultierender Krisenartikulation gefunden zu haben. Die von Gorsolke (2009) herausgestellten Einschränkungen von selbstreflexiven Akten zweiter Ordnung im Videospiel werden hier umgangen, indem sich The Stanley Parable die systemkritische Selbstreflexivität über eine intermediale Bezugnahme selbst einschreibt und dabei konventionelle Spielmechanismen suspendiert (und sich damit gewissermaßen auch als Nicht- Spiel positioniert). Dies kann einerseits zwar als Nobilitierungsstrategie des Independent- Marktes verstanden werden, die andererseits allerdings deutlich macht, dass die dispositive Struktur des Videospiels kaum eine unabhängige Außenposition anbietet, denn die Kritik entfaltet sich in Form einer Überakzentuierung medialer Bedingtheiten, und nicht im Rahmen ihrer Überwindung. Selbst diese Überakzentuierung hat jedoch bereits zur Folge, dass es nur begrenzt möglich ist, The Stanley Parable im herkömmlichen Sinn zu spielen, nicht umsonst dauert ein Durchgang in der Regel lediglich 20 Minuten und endet, bevor die Erfahrung von Heteronomie in tatsächliche Frustration umschlagen kann. Dies unterstreicht die notwendige Singularität derartiger Inszenierungsstrategien im Spielemarkt. Bibliographie Beil, Benjamin 2012: Avatarbilder. Zur Bildlichkeit des zeitgenössischen Computerspiels, Bielefeld: transcript Benjamin Beil et al. (eds.) 2015: New Game Plus. Perspektiven der Game Studies. Genres - Künste - Diskurse, Bielefeld: transcript Distelmeyer, Jan et al. (eds.) 2008: Game over? ! Perspektiven des Computerspiels, Bielefeld: transcript Eco, Umberto 1984: Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur, Frankfurt: Fischer Verlag Freyermuth, Gundolf S. 2015: “ Der Weg in die Alterität. Skizze einer historischen Theorie digitaler Spiele ” , in: Benjamin Beil et al. (eds.) 2015: 303 - 355 Froschauer, Adrian 2016: “ Der Kampf um die Erzählhoheit. Voice-over-Narration im Computerspiel ” , in: Hennig & Krah (eds.) 2016: 117 - 136. Gorsolke, Stefan 2009: Interaktivität in narrativen Medien. Das Spiel von Selbst- und Fremdreferenz, Marburg: Tectum 184 Martin Hennig (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [184] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Gräf, Dennis et al. 2011: Filmsemiotik. Eine Einführung in die Analyse audiovisueller Formate, Marburg: Schüren Hennig, Martin & Hans Krah (eds.) 2016: Spielzeichen: Theorien, Analysen und Kontexte des zeitgenössischen Computerspiels, Glückstadt: Verlag Werner Hülsbusch Hennig, Martin 2017: Spielräume als Weltentwürfe. Kultursemiotik des Videospiels, Marburg: Schüren Kusenberg, Peter 2014: “ Ernsthafte Spielerei ” , in: konkret 08 (2014): 44 - 46 Liebe, Michael 2008: “ Die Dispositive des Computerspiels ” , in: Distelmeyer, Jan et al. (eds.) 2008: 73 - 94 Nohr, Rolf F. 2015: “ Game Studies und Kritische Diskursanalyse ” , in: Sachs-Hombach & Thon (eds.) 2015: 373 - 397 O.V. 2014: “ Indie Games. Jäger der verlorenen Kreativität ” , in: M! Games 251 (2014): 34 - 39 Pacher, Jörg 2007: Game. Play. Story? Computerspiele zwischen Simulationsraum und Transmedialität, Boizenburg: Verlag Werner Hülsbusch Rapp, Bernhard 2008: Selbstreflexivität im Computerspiel. Theoretische, analytische und funktionale Zugänge zum Phänomen autothematischer Strategien in Games, Boizenburg: Verlag Werner Hülsbusch Sachs-Hombach, Klaus & Jan-Noël Thon (eds.) 2015: Game Studies. Aktuelle Ansätze der Computerspielforschung, Köln: Herbert von Halem Stobbe, Martin & Tristan Weigang 2016: “ Relativ ‘ Indie ’ . Skizzen zu einer Kultursoziologie des Computerspiels ” , in: Hennig & Krah (eds.) 2016: 94 - 116 Internetquellen 4Players (ed.) 2013: Test: Papers, Please, im Internet unter http: / / www.4players.de/ 4players.php/ dispbericht/ Allgemein/ Test/ 34692/ 79883/ 1/ Papers_Please.html [11. 03. 2016] GameStar (ed.) 2013: Test: Gone Home, im Internet unter http: / / www.gamestar.de/ spiele/ gone-home/ test/ gone_home,48244,3027548,2.html [11. 03. 2016] Pias, Claus 2002: Computer. Spiel. Welten, Weimar: Univ. Diss, im Internet unter http: / / e-pub.uniweimar.de/ opus4/ frontdoor/ index/ index/ docId/ 35 [11. 03. 2016] Wikipedia (ed.) o. J.: Independent, im Internet unter http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Independent [11. 03. 2016] “ Please, stop trying to make every decision by yourself ! ” 185 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [185] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL