eJournals Kodikas/Code 39/3-4

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
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2016
393-4

Diffuse Grenzen: Bedeutungskonstitution durch Illusionsbruch in Ludwig Tiecks "Die Verkehrte Welt"

2016
Michael Buhl
K O D I K A S / C O D E Volume 39 (2016) · No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Diffuse Grenzen: Bedeutungskonstitution durch Illusionsbruch in Ludwig Tiecks Die Verkehrte Welt Michael Buhl (München) In this paper I take a closer look at the reflexive structure of Ludwig Tieck ’ s Die verkehrte Welt. I argue that despite the seemingly confused and arbitrary plot the drama is based on a very coherent textual strategy. The technique of a play within a play forces the audience to reflect their own status in relation to a work of art by mirrowing the real performance situation. Die verkehrte Welt discusses different outlooks on art and literature, without giving a definite answer. Rather it suggests that the audience opens themselves to the play without prejudice. Vorbemerkung Ludwig Tieck kombiniert in seinem Drama Die verkehrteWelt (1797/ 99) die beiden Topoi des mundus inversus und des theatrum mundi. Diese Zusammenführung von verdrehter Weltordnung und Welttheater wird mit scharfzüngiger Zeit- und Kulturkritik verknüpft. Die dafür verwendete Fülle an Techniken und Effekten lässt das Kunstwerk immer wieder auf sich selbst reflektieren: Zuschauer greifen in das Bühnengeschehen ein; Schauspieler diskutieren mit ihren Schriftstellern und Theaterdirektoren das weitere Vorgehen oder reflektieren - wie der Wirt - die Funktion ihrer Rolle im Theaterbetrieb; auch rebellieren Charaktere gegen ihr vorgegebenes Verhaltensmuster oder werden nassgeregnet, nur weil das Publikum ein Gewitter wünscht. Von besonderer Bedeutung ist die Konstruktion des Spiels im Spiel: Ein Stück im Theaterstück wird aufgeführt, in dem wieder ein Stück aufgeführt wird etc. Dabei findet eine Durchmischung der verschiedenen diegetischen Ebenen statt, die eigentlich klar voneinander getrennt werden müssten. Gerade durch diesen Mangel einer scharfen Trennung wird jedoch ein Effekt erzielt, der dynamisch die verschiedenen Ebenen durchbricht, miteinander verbindet und - so meine zentraleThese - schlussendlich das realeTheaterpublikum und den Leser dazu zwingt, seine eigene Rolle zu reflektieren. Von der Forschung blieb Die verkehrte Welt weitgehend unberücksichtigt. Die vorhandenen, vor allem älteren, Publikationen unterstellen mangelnden künstlerischen Gehalt und werten entweder die frühen Dramen Tiecks insgesamt ab, 1 oder postulieren eine 1 Dominiert wurde die ältere Forschung von Haym, worin die Tieck ’ schen Dramen insgesamt eine Abwertung erfuhren (cf. 1961: 99 ff.). vermeintliche Nachrangigkeit der Welt gegenüber dem gestiefelten Kater. 2 Dieser Auffassung soll an dieser Stelle entschieden widersprochen werden, was auch die jüngere Forschung teilweise einsieht. 3 Insgesamt ist die Anzahl der Beiträge überschaubar, die erzielten Ergebnisse jedoch leider häufig widersprüchlich, was nicht zuletzt ungenauen Analysen zu Last gelegt werden muss. 1 Grenzen und ihre Überschreitbarkeit Das gesamte Werk wird von einer Vielzahl von Grenzen durchzogen: zwischen Bühne und Parterre, zwischen Zuschauern und Schauspielern, zwischen Schauspieler und Rolle oder den verschiedenen Lagern, die sich gegenseitig bekriegen. Diese Grenzen sind jedoch alles andere als starr, sondern werden die gesamte Handlung über auf mannigfaltige Weise verschoben, überschritten und verwischt. Dies ist deshalb bedeutungstragend, da innerhalb der Diegese Strukturen wiederholt werden, die für den Kunst- und Theaterbetrieb insgesamt relevant sind. Von der ersten Szene an wird dies durch die Inszenierung einer Aufführungssituation deutlich. 1.1 Die Spiegelung theatraler Grundstrukturen und ihre Verkehrung Die dargestellte Welt bildet ein Theater ab mit Bühne, Parterre, Theaterensemble und Publikum. 4 Auf der ersten diegetischen Ebene 5 findet sich die prinzipielle Trennung des Raumes in zwei disjunkte Teilräume: Zuschauerraum und Bühne. Was in der historischen 2 Cf. u. A. Strohschneider-Kohrs 1977: 321: “ [. . .] unter Anwendung der verschiedenartigsten Stilmittel und mit dem Hinzusetzen immer neuer Motive und Inhalte geht die Möglichkeit einer Intensivierung und Potenzierung des Spiels in der Ironie verloren. ” Sie resümiert: “ Auf diese Weise ist das Motiv des Spiels der Bühne mit sich selber nur zu Rede und Inhalt der Satire und Allegorie in der ‘ Verkehrten Welt ’ herabgesunken ” (ibid.: 223). 3 So etwa der sehr erhellende, allerdings auch bereits ältere Beitrag von Galaski (1984). Nur sehr knapp aber durchaus auch positiv urteilt Stefan Scherer (2003: 319 - 326). Der erst jüngst erschienene Beitrag von Anja Ohmer bezeichnet die Welt gar als “ großartige Komödie ” (Ohmer 2011: 28). Leider findet sich dort aber keinerlei neuer Erkenntnisgewinn. 4 Alfred Behrmann ist zuzustimmen, wenn er in der Bezeichnung “ das Theater stellt ein Theater vor ” (Tieck 1964: 9, Hervorh. im Original) bereits eine Vielzahl von Bedeutungen erkennt: “ Das Theater, das sich hier vorstellt, ist erstens der Spielort mit seinem Zubehör an Requisiten, Maschinen, Personal: der Apparat. Zweitens, mindestens in Teilen, das Abbild seiner derzeitigen Verfassung: das Institut. Drittens das Ensemble literarischer Theaterkonventionen: die literarische Komödie. Dies alles zugleich oder abwechselnd, durch-, in- oder übereinander, im allermuntersten Allegro ” (Behrmann 1985: 156, Hervorh. im Original) Die Einteilung in Apparat, Institut und Komödie wird an dieser Stelle allerdings nicht übernommen, sondern durch die wesentlich trennschärfere Unterscheidung der diegetischen Ebenen und semantischen Räume ersetzt. Sehr hilfreich sind aber in jedem Falle die von Behrman detailliert aufgezählten Verweise in der verkehrten Welt auf Texte der Weltliteratur (cf. Behrmann 1985: 158 - 161). 5 Verwendet wird die Terminologie von Schmid (²2008), die zur Analyse komplexer Texte wie Die verkehrte Welt geeignet ist. Schmid baut direkt auf Genette auf, umgeht jedoch dessen terminologische Unschärfe. Er unterscheidet einerseits diegetisch und nicht-diegetisch, also ‘ ist Teil der Handlung ’ und ‘ ist nicht Teil der Handlung ’ (Genette: homodiegetisch und heterodiegetisch) und nummeriert ansonsten die verschiedenen diegetischen Ebenen schlicht durch, also Sprecher der primären, sekundären, etc. Ebene. Bei Genette wird es spätestens ab der dritten diegetischen Ebene chaotisch. Eine Übersichtstabelle Genette-Schmid findet sich bei Schmid (2008: 89). Diffuse Grenzen: Bedeutungskonstitution durch Illusionsbruch in Ludwig Tiecks Die Verkehrte Welt 233 Realität - abhängig freilich von der jeweiligen Theaterkonvention 6 - scharf voneinander getrennt ist und damit prinzipiell eine unüberschreitbare Grenze aufweist, wird gleich zu Beginn der Handlung als überschreitbar markiert: Der Schauspieler Pierrot hat keine Lust zu spielen und wechselt zu den Zuschauern: “ Ich will einmal über die Lampen hinweg den berühmten Sprung vom Felsen Leukathe in das Parterre hineinthun, um zu sehen, ob ich entweder sterbe, oder von einem Narren zu einem Zuschauer kurirt werde ” (Tieck 1964: 12) 7 . Grünhelm, einer der Zuschauer, möchte sich dagegen gerne einmal auf der Bühne versuchen und übernimmt die Rolle des Hanswurst. Die Grenze erweist sich durch das Hinwegsetzen zweier Figuren in beiden Richtungen als durchlässig, was durch die beständige Kommunikation zwischen Zuschauern und Theaterensemble die gesamte Handlung über verbal wiederholt wird. Zum Schluss stürmen die Zuschauer gar die Bühne und greifen somit massiv in die Handlung ein. Es entsteht eine verkehrte Welt also in dem Sinne, dass die für eine erfolgreiche Bühnenillusion notwendige Trennung zwischen üblicherweise passiven Zuschauern und Theaterensemble, das entweder nicht sichtbar (Souffleur, Theaterdirektor, Poet, etc.) oder mit einer Rolle bekleidet ist (Schauspieler), nicht aufrecht erhalten wird. Eine weitere übliche Trennung wird ebenfalls ganz klar und gezielt unterwandert, was in der Forschung gerne übersehen wird: 8 Die Unterscheidung zwischen Schauspieler und Rolle, bzw. zwischen Theaterrequisite und dargestellter Welt - in der hier verwendeten Nomenklatur also die Trennung der ersten von der zweiten diegetischen Ebene. Dies geschieht allein schon durch die logisch nicht trennscharfe Benennung der Sprecher: Pierrot ist eigentlich der Schauspieler X, der üblicherweise die Rolle des Pierrot übernimmt, während Scaramuz der Schauspieler Y ist, der für gewöhnlich den Scaramuz spielt - und diesmal gerne die Rolle des Apoll übernehmen möchte. ‘ Scaramuz spielt Apoll ’ ist im Rahmen einer allgemeingültigen Logik unzulässig, das Auslassen der eigentlich notwendigen Instanz des Schauspielers also bedeutungstragend. Gleiches gilt, wenn der Poet oder der Theaterdirektor mit Scaramuz einen Dialog führen: Sie müssten eigentlich den dahinterstehenden Schauspieler ansprechen. Erreicht wird hierdurch eine Übertragung der semantischen Merkmale der Rolle aus der commedia dell ’ arte bzw. théâtre italien auf die Zunft des Schauspielers: 9 Ihr Verhalten wird auch dann, wenn sie eigentlich nicht spielen, 6 Pestalozzi weist auf den Einfluss des Barocktheaters auf Tiecks Werk hin, insbesondere Christian Weises “ Lust Spiel/ Von der/ Verkehrten Welt ” (Pestalozzi 1964: 102 f.) 7 Zitiert nach Tieck/ Pestalozzi (1964). Die Ausgabe entspricht der Erstveröffentlichung von 1799 in den Bambocciaden. 8 Eine der wenigen Ausnahmen ist Galaski die es explizit anspricht und auch auf die Wichtigkeit dieser Vermischung hinweist: “ [Es] sind nun jedoch zumindest theoretisch zwei verschiedene Spielebenen unterscheidbar: die der fiktionalen Theaterwirklichkeit, auf der eine Figur als Darsteller mit Direktor und Publikum reden kann, und die des fiktionalen Bühnenspiels, auf der ein Darsteller seine Bühnenrolle spielt, wie er sie versteht ” (1984: 28). 9 Alfred Behrmann geht noch einen Schritt weiter und meint, in Scaramuz eine Anspielung auf Klopstock zu erkennen, was durchaus im Rahmen des Möglichen liegt, an dieser Stelle aber nicht weiter von Interesse ist (cf. Behrmann 1985: 139, 148). Karl Pestalozzi kann trotz seiner größtenteils sehr aufschlussreichen Analyse nicht zugestimmt werden: Er unterstellt eine “ Grundtorheit ” des Menschen, die in den commedia dell ’ arte Figuren lediglich besonders augenscheinlich sei. Daraus schließt er: “ Die Instanz, von der das Gelächter ausgeht und auf die es hinführt, kann einzig Gott sein ” (Pestalozzi 1964: 106). Diese Behauptung wird durch den Text nicht einmal ansatzweise gestützt. Ganz im Gegenteil distanziert sich die Welt viel mehr auf humoristische Weise 234 Michael Buhl (München) durch ihre Rolle dominiert. Sie stehen also exemplarisch für eine bestimmte Klasse von Schauspielern. Der etwas dümmliche, bornierte Scaramuz gestaltet die Theaterwelt nach seinen Vorstellungen um, während der intrigante Pierrot das Publikum aufstachelt und durch Vereinbarungen der Schauspieler untereinander Einfluss auf die Bühnenhandlung ausübt: “ [W]ir Schauspieler haben uns alle die Hand darauf gegeben, daß keiner von uns sterben will, folglich geht ’ s nimmermehr durch, wenn es auch der Dichter im Sinn haben sollte ” (Tieck 1964: 16). Ähnlich wie die Schauspieler eine gewisse semantische Aufladung erfahren, werden auch die Zuschauer einerseits durch ihre exemplarischen Vertreter, die die Handlung ständig kommentieren, und andererseits durch die Zuweisung des Prädikats “ Narr ” negativ semantisiert. Hierauf wird weiter unten noch näher eingegangen. Wesentlich offensichtlicher als bei der ungenauen Bezeichnung der Schauspieler wird die Vermischung der beiden Ebenen durch die unscharfe Dichotomie aus Theaterrequisite und Bühnenillusion: Gerade diskutieren Grünhelm und Scaramuz-als-Apoll mit den Zuschauern über den Fortgang des aufzuführenden Stücks, als im nächsten Moment ein Bote auftritt und in Blankversen über den Verbleib des bisherigen Apoll berichtet (cf. Tieck 1964: 15): Er verdinge sich als Schafhirte beim König Admet. Ohne die üblichen Techniken - Abdunkelung, Musikeinlage, Vorhang - also, wird von der fiktiven Theaterwirklichkeit (Diegese I) zu der dargestellten Welt übergeleitet, also der für das fiktive Publikum gespielten Handlung (Diegese II). Den gesamten Dramentext über changiert das Geschehen zwischen diesen beiden Ebenen, so dass die theoretisch voneinander getrennten Bereiche ständig vermischt werden und quasi zu einer einzigen verschmelzen. Ein auffällig hoher Grad der Vermischung findet sich vor allem in denjenigen Handlungssträngen, die auf Scaramuz zentriert sind, während der echte Apoll und die ihm zugewiesenen Figuren im Normalfall in ihrer Rolle verbleiben. Das Initialereignis der Diegese II ist demnach die Flucht des Apoll - die jedoch durch den Rollentausch des Scaramuz in der ersten diegetischen Ebene hervorgerufen wurde. Scaramuz-als-Apoll lässt sich den Parnass hereintragen ( “ Vier Statisten bringen den Parnaß herein ” , Tieck 1964: 16, Hervorh. im Original), setzt sich darauf und beginnt damit, sein neues Herrschaftsgebiet zu transformieren: “ Jetzt aber hat die Aufklärung um sich gegriffen, und ich regiere ” (ibid.). Wasser aus dem Castilischen Quell wird in Flaschen abgefüllt und verkauft, eine Hypothek auf den Berg aufgenommen, eine Brauerei und ein Backhaus errichtet, “ mit dem Pegasus und allem übrigen Vieh [. . .] wird die Stallfütterung eingeführt ” (Tieck 1964: 17) und von den Musen Miete verlangt. Nicht nur auf sprachlichmetaphorischer Ebene wird die Kunst in Gestalt von Parnass, Musen etc. monetären Zwängen unterworfen, sondern auch das Ende von Freibillets unter das gleiche Paradigma gestellt - die Vermischung der Ebenen legt hier also eine Analogie zwischen der Transformation des Raumes innerhalb der Dramenwelt, der Welt des Theaters und derjenigen der Kunst nahe. Das Schlagwort, unter dem diese Änderungen stattfinden, ist das der Aufklärung: Das Nützlichkeitsdenken steht im Vordergrund. Innerhalb der dargestellten von dem Komplex um Glauben, Gott, etc. Die Anmerkung Pestalozzis, die im Wesentlichen eine vermeintliche Grundposition romantischer Literatur widergibt, erstaunt umso mehr, da Pestalozzi selbst auf das Verhältnis Ludwig Tiecks zur Religion hinweist: Seine Hinwendung zur Religion erfolgt erst relativ spät, was auch die Überarbeitung in späteren Fassungen erklärt. Der junge Tieck steht der Thematik eher skeptisch gegenüber (cf. Pestalozzi 1964: 96). Diffuse Grenzen: Bedeutungskonstitution durch Illusionsbruch in Ludwig Tiecks Die Verkehrte Welt 235 Welt gilt, was nützlich ist, das ist gewinnbringend. Damit wird in übertragenem Sinne auf die aufklärerische Forderung angespielt, Kunst solle eine Erziehungsfunktion übernehmen. Die Verwandlung von Pegasus in einen Esel gibt in nuce die Aussage des Textes über die Qualität der so entstandenen Kunst wieder. 1.2 Textstruktur: diegetische Ebenen Der Übersicht halber soll die Konzeption des Werks kurz dargestellt werden. Zu unterscheiden ist der nicht-diegetische Teil des Textes, also die Zwischenakte in Form von Verbalmusik, und der diegetische Teil. Innerhalb der Diegese finden sich wiederum vier verschiedene Ebenen: Die Diegese I, in der Publikum, Maschinist, Schauspieler, etc. agieren. Das darin aufgeführte Theaterstück Diegese II, in dem Scaramuz die Rolle des Apoll spielt, während der echte Apoll flieht und versucht, seine ursprüngliche Stellung zurückzuerlangen. Das darin wiederum aufgeführte Rührstück, Diegese III, das für Scaramuz-als-Apoll gegeben und von den Musen, Grünhelm und dem Fremden inszeniert wird. Darin eingebettet ist ein weiteres Stück: das Schäferspiel, Diegese IV. Das Stück der Diegese III wird aber nur vorgeblich zu Ehren von Scaramuz ’ Geburtstag aufgeführt. Eigentlich soll damit die Verheiratung der Muse Melpomene mit dem Fremden bewirkt werden: 10 Das heißt, die Aufführung findet nur vordergründig zur reinen Unterhaltung statt, bezweckt aber eigentlich etwas ganz Bestimmtes. Um dies zu erreichen ist zum einen eine komplexe Dramenkonstruktion nötig - es findet sich ja auch dort eine weitere Verschachtelung - zum anderen ein Durchbrechen der vorgeführten Illusion: Die Figuren fallen bei einem Zwischenruf Scaramuz ’ aus ihren Rollen und bitten nicht mehr als Emilie und junger Mensch, sondern als Melpomene und der Fremde um die Erlaubnis zur Heirat. Hier wird also das Prinzip, das Die verkehrte Welt insgesamt auszeichnet, auf das Stück im Stück übertragen. In beiden Fällen steht die eigentliche Handlung nicht im Vordergrund und in beiden Fällen - so ist zu schließen - wird etwas mit dem Werk bezweckt. Entsprechend liegt die Vermutung nahe, dass Die verkehrte Welt nicht lediglich dem Prinzip l ’ art pour l ’ art folgt, sondern durchaus über sich selbst hinaus verweist, um beim Rezipienten etwas zu bewirken. Strukturen wiederholen sich auf den verschiedenen diegetischen Ebenen, wobei der Grad der Komplexität von Diegese IV zu I beständig zunimmt und die Realität - gewissermaßen als Ebene null - zumindest implizit in dem Modell enthalten ist. Scaramuz und sein Gefolge agieren als Publikum und kommentieren die Handlung des aufgeführten Rührstückes (Diegese III) ungeniert - genauso wie es das fiktive Theaterpublikum der Diegese I mit der Handlung der Diegese II macht. Das Rührstück (Diegese III) handelt von einem Vater, der die Verheiratung seiner Tochter nicht gestatten möchte. Um ihn doch noch umzustimmen, beschließen die beiden Verliebten ein Theaterstück aufzuführen: ein Schäferspiel - die Ebene Diegese IV - also eine erneute Wiederholung einer bereits bestehenden Situation. Es ist an dieser Stelle nicht nötig, auf die genaue Konstruktion der einzelnen Stücke und die verschiedenen Rollenzuweisungen einzugehen. 10 Scaramuz verweigert die Hochzeit der tragischen Muse Melpomene mit dem Fremden, denn “ die Musenkompagnie darf nicht inkomplett werden. Wo sollten wir hernach die tragischen Scenen in unserem Stücke herkriegen, wenn sich Melpomene aus dem Stücke heraus verheiraten wollte? Das geht nimmermehr ” (Tieck 1964: 35). 236 Michael Buhl (München) Einen guten Überblick bietet Behrmann (1985: 145 f.). Untersucht werden soll hier der Zweck und die Funktion dieses Vorgangs: Zum einen wird durch die Aufführung weiterer Schauspiele eine Vielzahl semantischer Räume erschaffen, die ein komplexes Geflecht von Grenzüberschreitungen ermöglichen, zum anderen wird durch die Spiegelung der Aufführungssituation das Theaterpublikum zu einer Selbstreflexion gezwungen. Insgesamt weist das Stück damit beständig über sich selbst hinaus und evoziert ein dynamisches Bedeutungskomplex durch seine Form der Uneigentlichkeit. Die Welt ist also auf vielfache Art und Weise ‘ verkehrt ’ : Das Publikum ist selbst Bestandteil des Spiels, da die Theatersituation innerhalb der Diegese I abgebildet wird. Die strikte Trennung zwischen Zuschauern und Theaterensemble wird allerdings gezielt aufgehoben: Pierrot setzt sich ins Parterre, während der Zuschauer Grünhelm als Akteur auf der Bühne steht. Des Weiteren ist die Trennung von Schauspieler und der gespielten Rolle unscharf: Beides verschmilzt, wenn Scaramuz den Apoll spielt und mit dem Theaterdirektor und den Zuschauern das weitere Vorgehen diskutiert. Das Spiel der auf der Bühne dargestellten Welt (Diegese II) beginnt unvermutet mit der Meldung über die Flucht des bisherigen Apoll - noch bevor der Direktor die Bühne verlässt. Die gesamte Handlung über wechselt, deckt und überschneidet sich das topografisch übereinander liegende, topologisch aber grundsätzlich strikt getrennte Spiel der beiden diegetischen Ebenen I und II. Diese Tendenz wird in zwei Richtungen verstärkt: Zum einen werden weitere Spiele innerhalb des Spieles aufgeführt und damit neue, tiefere diegetische Schichten geschaffen. In entgegengesetzter Richtung zwingt diese Technik aber auch die fiktiven Zuschauer, ihre eigene Situation zu reflektieren, und wirkt damit über den Rahmen des Gesamtkunstwerkes hinaus bis zu dem realen, historischen Rezipienten. Dadurch wird eine Metaebene geschaffen, die zur Kunst- und Kulturreflexion führt. 1.3 Grenzüberschreitungen Die wohl wichtigste und offensichtlichste Grenzüberschreitung wurde eingangs bereits angesprochen: Der Rollentausch von Zuschauer und Schauspieler, von Grünhelm und Pierrot. Die semantischen Räume Bühne und Zuschauerraum sind räumlich durch eine physisch erkennbare Grenze - die Rampe - voneinander geschieden. Ein Hinwegsetzen über diese Grenze ist eine eindeutige Grenzüberschreitung und damit nach Lotman prinzipiell ereignishaft. Im Falle Grünhelms ist der Vorgang offensichtlich: Er wechselt hinüber in den Gegenraum der Bühne, agiert dort die meiste Zeit der Handlung über und kehrt schlussendlich in seinen Ausgangsraum zurück. Während seines Aufenthaltes auf der Bühne passt er sich so gut wie möglich den Gegebenheiten an, bis die Spannungen zu groß werden und er die Rückkehr vorzieht. 11 Das durch seinen Übertritt entstandene Ereignis wird also schlussendlich getilgt. Anders verhält es sich bei Pierrot: Auch er übertritt zwar die gleiche, physische Grenze, scheint aber in keinerlei Spannungsverhältnis mit dem neuen semantischen Feld Zuschauerraum zu stehen. Hinzu kommt, dass er sowohl seinen Namen Pierrot beibehält, als auch den Charakter seines Rollenfachs. Daraus folgt, dass der Text die 11 Cf. 89 f. Grünhelm ist nicht bereit, in der finalen Schlacht zwischen Scaramuz und Apoll teilzunehmen, sondern kehrt zurück zu seinem Dasein als Zuschauer. Hierdurch setzt er sich klar vom übrigen Publikum ab, deren Bewegung zwischen Parterre und Bühne sich ja genau gegenläufig vollzieht. Siehe hierzu auch unten. Diffuse Grenzen: Bedeutungskonstitution durch Illusionsbruch in Ludwig Tiecks Die Verkehrte Welt 237 fiktiven Zuschauer mit einer bestimmten Klasse von Schauspielern und einem bestimmten Teil des Theaterensembles korreliert. Es ist also zu hinterfragen, ob die physische Trennung in Zuschauerraum und Bühne mit der Trennung der semantischen Räume übereinstimmt. Wie bereits der Dramenauftakt deutlich macht, besteht innerhalb des semantischen Raums Bühne eine deutliche Spannung zwischen dem Poeten auf der einen Seite und Scaramuz und Pierrot auf der anderen: Die beiden Schauspieler aus dem Narrenfach widersetzen sich den Vorgaben, die der Poet als Verfasser des Stückes ihnen macht. Direktor Wagemann schlichtet den Streit zugunsten der beiden Darsteller: “ Sehn Sie, ich denke so: bezahlt haben die Zuschauer nun einmal, und damit ist das Wichtigste geschehn ” (Tieck 1964: 12). Auch in der Diegese I wird also auf Grund finanzieller Interessen entschieden und damit die Verkehrung der Theaterwelt überhaupt erst ermöglicht. Für diese Handlungsebene ist es demnach sinnvoller, die Unterteilung in Zuschauerraum und Bühne zu Gunsten der beiden semantischen Felder Kunst als Wert an sich und zweckgebundene, monetär nützliche Kunst zurückzustellen. Diese Dichotomie zieht sich in den verschiedensten Variationen durch die gesamte Welt. Auf der Ebene der Diegese I lassen sich die Narren, die Zuschauer, der Direktor und der Maschinist als Gruppe zusammenfassen. Sie alle versuchen, den Verlauf des Stücks ihren eigenen Interessen unterzuordnen: Die Schauspieler wollen ihre Eitelkeiten durchsetzen und nicht frühzeitig sterben; die Zuschauer wünschen Unterhaltung, ohne sich allzu sehr anstrengen zu müssen; Wagemann achtet nur auf die Eintrittsgelder und der Maschinist möchte sich mit seinen technischen Spielereien profilieren. 12 Dem Poeten dagegen lassen sich noch diejenigen Schauspieler zuordnen, die den gesamten Handlungsverlauf über in ihrer Rolle bleiben, also alle diejenigen, die auf der Seite Apolls stehen und gerade dadurch auffallen, dass sie das nun in der Diegese I entstandene Problem - die Dominanz des semantischen Raums der monetär nützlichen Kunst - nur auf der Ebene der Diegese II bekämpfen: sie werden nicht als Schauspieler aktiv. Apoll ist es dann, der durch seine Flucht die Handlung auf eine andere Ebene verlagert: Direktor Wagemann muss noch abtreten und der Parnass hereingetragen werden, ehe Scaramuz mit der Transformation seines Herrschaftsgebietes beginnt. Apoll wird für seine Vergehen steckbrieflich gesucht, was unter anderen den Fremden nicht verwundert, “ da er sich durchaus auf keine ernsthafte Studien legen wollte. Das kömmt von der Belletristerei, wenn man sie nicht zum Nutzen der Menschheit anwendet ” (Tieck 1964: 30). Die gegen Apoll erhobenen Vorwürfe geben die Kunstauffassung deutlich wieder, die durch ihn repräsentiert wird: “ Er soll sich unterstanden haben, die Phantasterei einzuführen, hat Tragödien geschrieben [. . .], hat die moralische Tendenz durchaus vernachlässigt, in Summa, er hat der ganzen kultivierten Welt ein großes Ärgerniß gegeben ” (ibid.: 31). Diese Kunstauffassung wird durch einen hohen Sprachstil unterstrichen, wie bereits die ersten von Apoll geäußerten Verse verdeutlichen: “ Wie freundlich lächelt mir die stille Gegend,/ Die gern und liebevoll den Gott empfängt./ Hier hör ’ ich früh das lust ’ ge Lied der Lerche,/ Die sich mit ihren Tönen aufwärts schwingt [. . .] ” (ibid.: 22). Auch stammt das ihm 12 Der Maschinist empfiehlt sich nach dem Gewitter selbst: “ MASCHINIST. Recommandire mich, ich wohne hier gegenüber in dem großen Eckhause, wenn etwa Nachfrage nach mir seyn sollte. Ich verstehe es auch vortrefflich, Feuerwerke zu arrangiren und mit Geschmack eine Illumination einzurichten ” (Tieck 1964: 27). 238 Michael Buhl (München) zugeordnete Figureninventar aus der antiken Tragödie und trägt ähnlich klingende Namen: Admet, Alceste, Aulicus, Myrtill etc. Scaramuz dagegen fällt es schwer, in seiner Rolle zu bleiben. Sein Auftritt schillert gewissermaßen: Ständig wechseln die Ebenen Diegese I und Diegese II, was eine permanente Grenzüberschreitung zur Folge hat. Hier gilt es zu fragen, in wieweit diese Grenzüberschreitungen als Metalepsen aufzufassen sind. Einerseits folgt der Wechsel der diegetischen Ebenen an und für sich dem Prinzip der Metalepse - die Grenzüberschreitung ist eigentlich unzulässig. Andererseits geschieht sie so häufig, dass man die beiden Ebenen I und II eigentlich nicht als getrennt voneinander auffassen kann: Die Grenze an sich wird transformiert. Die Überschreitung wird irgendwann selbstverständlich und verliert damit ihre Ereignishaftigkeit. Darüber hinaus ist der Bruch durch die besondere Form des Theaters wesentlich weniger stark: Ein Schauspieler, der aus der Rolle fällt, bricht die Illusion weit weniger, als z. B. eine Romanfigur, die ihren Autor sucht. Von daher ist der Begriff der Metalepse meines Erachtens in diesem Werk eher ungeeignet, um den Vorgang zu beschreiben. Scaramuz hört sich dann die traurige Lebensgeschichte der Muse Melpomene an: Ihre Eltern sind früh gestorben und ihr Verehrer, der als der Fremde in die Handlung eingeführt wird, war zu arm, um sie zu heiraten, so dass sie “ aus Desparation unter die Musen gegangen ” sei (ibid.: 19). Als Scaramuz anschließend von Thalias Treue erfährt, die Melpomene seit der Zeit in ihrem Elternhaus begleitet, verspricht er: “ Warte den letzten Akt ab, so kann deine Treue unmöglich unbelohnt bleiben ” (ibid.). Was sich schlussendlich nicht erfüllt: Grünhelm, mit dem sie die meiste Zeit der Handlung über glücklich verheiratet ist, verlässt sie im letzten Akt. Den Regen, der auf Verlangen des Publikums einsetzt, kommentiert er ebenfalls auf der falschen Ebene: “ Wo Henker kommt denn das Gewitter her, davon steht ja kein einziges Wort in meiner Rolle. Was sind das für Dummheiten! ” (Ibid.: 25). Rechenschaft lässt er sich vom Maschinisten ablegen, der wiederum auf die Zuschauer verweist. Als im vierten Akt Direktor Wagemann kurz aus seiner Rolle als Neptun fällt und droht, Scaramuz zu entlassen - ihn also in der Diegese I anspricht, aber zu Gunsten des Fortgangs der Diegese II den Tadel abbricht - reagiert Scaramuz umgekehrt: “ Mir den Abschied? Einem Könige den Abschied? Nun hört nur Leute, welche revolutionäre Gesinnungen der Wassernix da von sich giebt ” (ibid.: 72) Scaramuz ist also so sehr von seinen egoistischen Interessen geleitet, dass es ihm unmöglich ist, sich an ein vorgegebenes Dramenkonzept zu halten. Vielmehr wählt er sich immer genau die Lösung, die ihm den größten Vorteil verspricht. Die Kosten dafür sind eine permanente Illusionsbrechung. Bedeutsam ist im Kontext der Grenzüberschreitung des Scaramuz die Figur des Direktor Wagemann, der zu Beginn ausschließlich als er selber auftritt und zunächst auf der Seite von Scaramuz steht. Seine ursprüngliche Auffassung darüber, wie er als Theaterleiter zu agieren habe, rechtfertigt seine Entscheidung: “ Ich sah mir das Ding ruhig mit an, weil es mir im Grunde gleichgültig ist, wer Apoll genannt wird. Ich spiele meine Stücke, wie sie das Zeitalter mit sich bringt, und weiter hab ’ ich mich auch nie darum gekümmert ” (ibid.: 79). Seine Entscheidung, sich dann gegen Scaramuz zu stellen, vollzieht sich in zwei Schritten: Die Ebene, in der er aktiv wird, wechselt von Diegese I zu Diegese II, indem er an der Verschwörung im Haus des Wirts teilnimmt und sich mit Poet, Schriftsteller, Admet, Alceste, den Schäfern und selbstverständlich Apoll berät. Zum anderen übernimmt er die Diffuse Grenzen: Bedeutungskonstitution durch Illusionsbruch in Ludwig Tiecks Die Verkehrte Welt 239 Rolle des Neptun, greift also auch aktiv in die Handlung der Diegese II ein. Damit begeht er eine entscheidende Grenzüberschreitung und wechselt vom semantischen Raum der monetär nützlichen Kunst zum semantischen Raum der Kunst als Wert an sich. Bevor das Verhalten des Publikums untersucht wird, das für den Ausgang der Handlung der vermischten Ebenen Diegese I/ II verantwortlich und insbesondere auch für die Aussage des Gesamttextes von fundamentaler Wichtigkeit ist, soll die Einteilung der beiden semantischen Konzepte Kunst als Wert an sich und monetär nützliche Kunst anhand der Figur des Apoll 13 nochmals genauer bestimmt werden. Erstaunlich ist, dass diese Figur, die in personam für die vermeintlich zu bevorzugende Kunstauffassung steht, selbst nicht durchweg positiv konzipiert ist: Auch Apoll hält sich nicht an seine Rollenkonzeption, gerade am Ende der entscheidenden Verschwörungsszene. Als er seine wahre Identität zu erkennen gibt, beginnt er mit einerAussage, die an Nonsense grenzt, 14 um dann aus der Rolle zu fallen: “ Ich bin ein Mann, vor dem sogar die Rezensenten einige Achtung hegen, ich habe alle Magister zu beschützen, ich bin oft in Stein gehauen [. . .] ” (Tieck 1964: 81). Hierzu passt auch die Dankesszene der Tiere im Wald: EIN LÖWE. Ich bin Ihnen unendlich verbunden, Herr Schäfer, Sie haben mit Ihrer vortrefflichen Kunst so lange an mir gezähmt, bis es Ihnen doch gelungen ist, etwas Bildung in mich hineinzubringen. APOLL. Ich freue mich, wenn ich Ihnen habe nützlich seyn können. LEOPARD. Ich bin auch gesittet und spüre ein ordentliches Verlangen nach den Künsten in mir, so wie nach guter Gesellschaft. EIN EICHBAUM. Ich fühle mich jetzt auch ganz menschlich, so viel hat Ihre Musik auf mich vermocht. TYGER. Wenn man mir jetzt eine Pension gäbe, wollt ’ ich mich nie mehr mit Würgen beschäfftigen. APOLL. Geht jetzt zu den Menschen, da Ihr veredelt seyd. Es ist leicht möglich, daß Ihr besser seyd, als sie (ibid.: 36). Die Ironie ist unübersehbar, selbst der Eichenbaum fühlt sich jetzt als Mensch. Die Veredelung der wilden Tiere hat aber ähnlich absurde Folgen wie ihre gesamte Verwandlung. “ Ihr Herren wollt also nützlich seyn? ” fragt Scaramuz, als sie an seinem Hof erscheinen. “ Ja mein König ” , entgegnet der Wolf, “ wir spüren eine unendliche Begierde nach einer guten Besoldung ” (ibid.: 40). Die Auswirkungen der apollinischen Kunst sind also nicht zwingend mit der positiv gesetzten Kunstauffassung vereinbar, was durchaus auch an der Beschaffenheit der Schüler liegen wird: Auch sie sind dem monetären Streben verfallen. Den deutlichsten Bruch mit der Bühnenillusion begeht Apoll, indem er einen Sprung über zwei diegetische Ebenen hinweg macht: Ganz am Ende stürmen die Zuschauer die Bühne 13 Von Interesse ist hier ausschließlich, wie die Figur des Apoll im Text Die verkehrte Welt semantisiert wird. Versuche hierin eine Karikatur Goethes zu entdecken, wie es Pestalozzi (1964: 120) macht, sind an dieser Stelle von keinem Wert für die Analyse. 14 “ APOLL. [. . .] Ich bin Apollo! ALLE. APOLLO? APOLL. Niemand anderes. Erschreckt nicht, meine Freunde, vor meiner Gottheit, denn im Grunde bin ich doch nur ein Narr, wie Ihr alle, selbst die Götter sind doch nur Götter, in so fern ihr keine seyd, und das ist immer noch blutwenig ” (Tieck 1964: 81). 240 Michael Buhl (München) und verhindern die Restitution des echten Apoll - der sich mit seinem Ausruf schlussendlich als unecht entlarvt: “ Aber meine Herren, Sie vergessen in Ihrem Enthusiasmus ganz, daß wir alle nur Schauspieler sind, und daß das Ganze nichts als ein Spiel ist. ” 15 Auch die fiktiven Zuschauer werden schlussendlich also als Schauspieler identifiziert und das von der Instanz, die sonst am stärksten dafür einsteht, an der überlieferten Dramenkonzeption festzuhalten und die Kohärenz der Handlungsstränge zu wahren. Die beiden semantischen Räume Kunst als Selbstzweck und monetär nützliche Kunst sind also nicht scharf voneinander getrennt: Die Grenze wird vielmehr diffus. Der Text hätte durchaus auch anders konzipiert sein können, so dass es sich hier um eine gezielte Textstrategie handelt. Der Effekt, der durch eine diffuse Grenze und der damit einhergehenden Auflösung einer klaren Semantisierung als wünschenswerte oder problematische Kunstform hervorgerufen wird, ist um ein Vielfaches subtiler als der ständige Ebenenwechsel des Scaramuz. Dies hat jedoch sehr ähnliche Auswirkungen, die sich auch in den tiefer verschachtelten diegetischen Ebenen wiederholen, die im Zusammenhang mit der Rolle des Publikums untersucht werden sollen. Die Unterscheidung der beiden semantischen Räume Bühne und Zuschauerraum tritt also wegen des Vermischens der beiden diegetischen Ebenen I und II in den Hintergrund. Viel wichtiger für den Text sind die beiden Kunstkonzepte, die sich gegenüberstehen. Bedeutsam ist dabei die Korrelation der fiktiven Zuschauer mit den Narrenfiguren um Scaramuz. Typisch für diese Gruppe ist ihre egoistische Handlungsmotivation: Sie verfolgen ihre eigenen Ziele, ohne sich dabei den Regeln des Dramas zu unterwerfen. Ihnen gegenüber steht die Gruppe um Apoll, die mit der antiken Tragödie korreliert und grundsätzlich nur in der Diegese II aktiv wird. Durch die Entscheidung des Direktor Wagemann entsteht zu Dramenbeginn eine Dominanz des semantischen Raums der monetär nützlichen Kunst, die Apoll in die Flucht zwingt und schlussendlich in der Verschwörung endet. Die permanenten Grenzüberschreitungen Scaramuz ’ führen dazu, dass für ihn die diegetischen Ebenen nicht klar voneinander getrennt werden können: Egal auf welcher Ebene er sich bewegt, die jeweils andere schimmert ebenfalls durch. Darüber hinaus lässt die sich wandelnde Konzeption Apolls auch die Unterscheidung der beiden Kunstkonzeptionen unscharf werden. Trotz unterschiedlicher Anlage und vermeintlicher Opposition der beiden zentralen Figuren wird mit beiden ein ähnlicher Effekt erzielt: Die verschiedenen Bereiche sind nicht klar voneinander abgetrennt. Die Grenzen sind vielmehr diffus. Dies lässt sich leitmotivisch im Gesamttext erkennen und wird auch nochmals im Spiel im Spiel vorgeführt: Durch die erneute Abbildung der Theatersituation werden weitere Grenzen geschaffen, überwunden und als unscharf markiert. Dies geschieht vor allem durch das Verhalten des fiktiven Publikums. 15 Galaski kommt zu dem Schluss, dass die Äußerungen Apolls und die theoretischen Erörterungen der Verbalmusik miteinander korrespondieren. Sie verweist darauf, dass Apoll es ist, der das Ende des Stückes proklamiert, während die Verbalmusik ein Ende voraussetzt, damit ein Kunstwerk überhaupt ein Kunstwerk sein kann. (Cf. Galaski 1984: 45). Hierin ist ihr sicherlich zuzustimmen, genauso wie dem Hinweis, dass Apoll mit dem Poeten einen Metadiskurs über Kunst eröffnet. Trotzdem wäre es zu kurz gedacht, Apoll direkt und ausschließlich positiv semantisiert zu sehen. Erst in dem Textganzen wird seine Rolle erklärbar - was allerdings auch für Scaramuz gilt. Beide Positionen sind notwendig und eine Bewertung bleibt schlussendlich unwichtig. Diffuse Grenzen: Bedeutungskonstitution durch Illusionsbruch in Ludwig Tiecks Die Verkehrte Welt 241 1.4 Die Rolle des Publikums Die Verschachtelung der verschiedenen diegetischen Ebenen führt beim fiktiven Publikum zu Verwirrung und schließlich zur Reflexion der eigenen Situation. Aus Sicht der Diegese I wurden drei weitere diegetische Ebenen vorgeführt: Die Auseinandersetzung zwischen Scaramuz und Apoll (Diegese II), das Rührstück (Diegese III) und das Schäferspiel (IV). 16 Einer der Zuschauer versucht das Problem mit dem Konzept des theatrum mundi zu fassen: Nun denkt Euch Leute, wie es doch möglich ist, daß wir wieder Akteurs in irgend einem Stücke wären und einer sähe nun das Zeug so alles durcheinander. In diesen Umständen wären wir nun das Erste Stück. Die Engel sehn uns vielleicht so[. W]enn uns nun ein solcher zuschauender Engel betrachtet, müßte es ihm nicht möglich seyn, verrückt zu werden? (Ibid.: 60) Die Metapher wird nicht weiter ausgeführt und auch im späteren Verlauf nicht wieder angesprochen. Entsprechend zielt diese Episode nicht so sehr darauf ab, eine metaphysische Komponente in das Werk einzuführen, sondern vielmehr durch die offensichtlich falsche Auslegung - anstelle der vermuteten Engel steht ja der reale Rezipient - das reale Publikum selbst zum Überdenken seiner Situation zu verleiten. Die komplexe Struktur der Welt wird also innerhalb der Diegese zur Sprache gebracht und die Möglichkeit eines außerhalb der Diegese I befindlichen Rezipienten direkt angesprochen. Das Werk selbst gibt Hinweise auf seine Gemachtheit und schließt auch die Position des Rezipienten mit ein. Eine ähnliche Reflexion vollzieht sich, wenn der Maschinist über den Grund der Illumination aufklärt: “ Die ganze Erleuchtung ist im Grunde zum Vergnügen eines verehrungswürdigen Publikums eingerichtet ” (ibid.: 45). Es hat also eigentlich keine Funktion für die Handlung der Diegese II. “ Es ist auch wahr, es ist bloß unseretwegen geschehen ” (ibid.), kommentiert der Zuschauer Wachtel, “ aber ich wäre in meinem Leben nicht darauf gekommen ” (ibid.). Das fiktive Theaterpublikum der Diegese I erweist sich als inkompetent, die Funktionsweise des Werkes selbst zu entschlüsseln. Es ist auf Hinweise angewiesen, die das Werk ihnen gibt. Auffällig ist daher, was nicht reflektiert wird: das Verhalten des Publikums der Diegese II und III. Scaramuz stellt ständig Zwischenfragen ( “ Wer hat das gemacht? ” , ibid: 48; “ Wer ist der junge Mensch? ” , ibid.: 49; “ Ist das Zeug da witzig? ” , ibid.: 55), da er die Handlung häufig nicht versteht, scheut sich aber nicht im geringsten, das Aufgeführte zu kommentieren. Gleiches geschieht mit den Zuschauern Fuchsheim und Sternheim in der Ebene III, die ebenfalls wenig Kompetenz vorzuweisen haben. Insgesamt werden die Zuschauer der Ebenen II und III negativ charakterisiert, was dem Publikum der Diegese I nicht aufzufallen scheint. Die Zuschauer der Ebene I kommen in ihrer Reflexion also nur so weit, wie es das Stück ihnen vorgibt: sie erfassen die Möglichkeit, selbst Teil einer Fiktion zu sein, oder aber sie geraten in metaphysische Fragestellungen. Was sie nicht überdenken, ist die Rolle, die sie im Theaterganzen spielen. Das heißt, obwohl ihnen negatives Verhalten vorgeführt wird und obwohl das Werk so konzipiert ist, dass es zum Nachdenken anregt - und damit prinzipiell die Möglichkeit enthält, nützlich zu sein, - ändern sie nichts an ihrem Verhalten. Die hier unter derÄgide der 16 “ Auszuhalten ist es nicht, das ist gewiß. Seht Leute, wir sitzen hier als Zuschauer und sehn ein Stück; in jenem Stück sitzen Zuschauer und sehn ein Stück und in diesem dritten wird denen dreifach verwandelten Akteurs wieder ein Stück vorgespielt ” (ibid.: 60) 242 Michael Buhl (München) Aufklärung geforderte Besserung tritt also nicht ein, ganz im Gegensatz zu dem, was die Kommentare der Zuschauer vermuten lassen. 17 Der Sprung Pierrots ins Parterre, der am Dramenbeginn steht, unterstreicht die Zuordnung des Publikums zum semantischen Raum der monetär nützlichen Kunst, wie oben bereits erwähnt. Von Bedeutung ist hierbei die Kategorie des Narren, die die gesamte Welt durchzieht und dazu beiträgt, das semantische Feld und damit auch das Publikum zu charakterisieren. Beim Wechsel von der Bühne ins Parterre kommt die Frage auf, ob Pierrot “ von einem Narren zu einem Zuschauer kurirt werde ” (ibid.: 12). Ganz offensichtlich bleibt er ein Narr und fühlt sich in seiner neuen Umgebung wohl: Narr und Zuschauer sind in diesem Fall miteinander identisch. Verfassern deutscher Lustspiele, so reflektiert das Menuett zwischen Akt IV und V, “ gerathen die Narren nicht, aber aus den Vortrefflichen und Verständigen die sie schildern, werden, ohne daß sie es merken, unvergleichliche Narren ” (ibid.: 83). Es gilt also grundsätzlich zu unterscheiden zwischen ‘ Narr sein ’ und ‘ Narr spielen ’ . Mit Ausnahme der Figuren aus der commedia dell ’ arte und théâtre italien, wie Scaramuz und Pierrot, bei denen Narr sein und Narr spielen identisch ist, was auch durch das Fehlen der Instanz des Schauspielers verdeutlicht wird, gibt es also sehr viel mehr Narren, die welche sind, ohne sich als solche auszugeben. Hierzu ist vor allem das Publikum der Diegese I zu rechnen, das sich neben der impliziten Charakterisierung auf Grund der Zuweisung semantischer Merkmale durch seine dümmlichen Kommentare ausweist. In Opposition dazu steht der Zuschauer Grünhelm, der vor allem auch durch seine entgegengesetzte Raumbewegung deutlich von den übrigen unterschieden werden kann. Während diese die gesamte Aufführung über außerhalb des Stücks bleiben und also nur von außen versuchen einen Bezug zum Dargestellten einzunehmen, wird Grünhelm Teil der Diegese: Er spielt einen Narren. In übertragenem Sinne ließe sich dieses Verhalten durch einen unterschiedlichen Grad an Involviertheit auslegen: Grünhelm nimmt von Dramenbeginn an bis hinein zur letzten diegetischen Ebene, wo er immer noch als Zuschauer anwesend ist, an dem gesamten Kunstwerk teil. Die übrigen Zuschauer bleiben die gesamte Zeit über außerhalb. Von dort aus kommentieren sie das vorgeführte Geschehen, obwohl sie über keinerlei Kompetenz in Sachen Kunst verfügen. Sie versuchen mehr noch, Einfluss auf die Handlung zu nehmen. Dabei geht auch die Art und Weise, wie sie das Geschehen kommentieren und die darüber ausgedrückte Kunstreflexion mit dieser Charakterisierung konform. Grünhelm dagegen entzieht sich der finalen Schlacht, in der die beiden semantischen Felder mit ihren jeweiligen Vertretern aufeinanderprallen - und also zwei Kunstauffassungen miteinander konkurrieren. Auf die letztgültige Entscheidung, welche von beiden Kunstformen schlussendlich dominiert, möchte er keinen Einfluss nehmen. Ihm gebührt das letzte Wort in Die verkehrte Welt: Er stellt fest, er sei “ der einzige Mensch ” (ibid.: 94) und beschließt nach Hause zu gehen um dort von seinen Erlebnissen zu erzählen. Grünhelm wird insgesamt vom Text als positiver und wünschenswerter Zuschauer gesetzt. Die übrigen Zuschauer der Diegese I um Scävola und Pierrot bleiben dagegen negativ charakterisiert. Das wird im Besonderen nochmals durch ihr Stürmen der Bühne am Ende 17 “ DER ANDERE zu Scävola. In dem Stück liegt viel Moral. SCÄVOLA. Gewiß, ich fange schon an besser zu werden ” (ibid.: 20). Diffuse Grenzen: Bedeutungskonstitution durch Illusionsbruch in Ludwig Tiecks Die Verkehrte Welt 243 des fünften Aktes unterstrichen: Anders als Grünhelm lassen sie die Vertreter der verschiedenen Kunstauffassungen ihren Konflikt nicht intern lösen, sondern greifen in das Geschehen ein. Sie überstimmen damit das Ergebnis, das sich von selbst eingestellt hätte, indem sie die Wiedereinsetzung des echten Apoll verhindern. Dies hat verschiedene Auswirkungen: Zum einen erreichen sie erst hier einen hohen Grad an Involviertheit. Anders als Grünhelm, der sich nun zurückzieht, werden vor allem sie von dem Ausgang der Handlung mitgenommen. Das Ende widerspricht ihren Wünschen und Erwartungen und sie sind so empört, dass sie ein Eingreifen nicht unterlassen können. Zum anderen wird die Spannung der semantischen Felder und die dadurch entstandene Ereignishaftigkeit in Form einer Metatilgung aufgelöst. Die gesamte dargestellte Welt wird einer restlosen Transformation unterworfen, gegen die dieVeränderungen durch Scaramuz gering erscheinen. In dieser Form ist eine Aufführung unmöglich durchzuführen. Die gesamte Welt der Diegese I wird funktionsuntüchtig. Apolls Versuch, “ das Reich von neuem einrichten ” (ibid.: 93) zu wollen, wird vereitelt. Er gibt seine Bestrebungen schlussendlich auf und beugt sich dem Willen des Publikums: “ Ich wäre ja ein Thor, wenn ich es nicht thäte ” (ibid.: 94). Das Verhalten des Publikums bildet also das zentrale Problem des Textes, vor dem selbst Apoll als Inbegriff der höheren Kunst kapituliert. Zusammenfassend lässt sich zur Rolle der Zuschauerschaft sagen, dass der hohe Grad an Konstruiertheit, der die Welt auszeichnet, beim fiktiven Publikum der Diegese I in erster Linie Verwirrung stiftet. Obwohl negative Rollenbilder vorgeführt werden, gelingt es den Zuschauern nicht, ihre Situation insoweit zu überdenken, dass sie etwas an ihrem Verhalten ändern. Auch das Konzept des theatrum mundi ist diesbezüglich nicht förderlich. Vielmehr wird ihre negative Charakterisierung deutlich vor Augen geführt. Eine Abwertung des korrelierenden semantischen Raumes der monetär nützlichen Kunst insgesamt ist allerdings nicht die Folge: Auch die komischen Figuren haben selbstverständlich ihre volle Berechtigung auf dem Theater und müssen sich auch entsprechend verhalten. Die Zuordnung des Prädikats “ Narr ” ist nur für das Publikum negativ: Ohne tatsächlich Narren zu spielen, verhalten sie sich als solche. Das Gegenkonzept eines positiven Zuschauers wird anhand Grünhelms vorgeführt: Nicht nur seine Raumbewegungen laufen konträr zu denjenigen der übrigen Zuschauer, sondern auch die Art und Weise, wie er mit dem Kunstwerk umgeht: Von Beginn an ist er - wortwörtlich - in die Handlung involviert. Erst als es darum geht, kunsttheoretische Entscheidungen zu fällen, entzieht er sich und lässt die Kunstschaffenden das Problem unter sich lösen. Auch kommentiert er nicht ständig das Vorgeführte, sondern beschließt, erst zu Hause seiner Frau von seinem Theaterbesuch zu berichten. 1.5 Zwischenauswertung Die verkehrte Welt weist eine hoch komplexe Struktur auf. Vier verschiedene diegetische Ebenen überlagern sich, sind jedoch nicht scharf voneinander getrennt: ihre Grenzen sind vielmehr diffus. Ein Vermischen von Ebenen und die ständige Überschreitung ihrer Grenzen sind dabei bedeutungstragend. Information wird über das Prinzip der Uneigentlichkeit generiert. Hinzu kommt, dass die Ebenen von IV bis I zunehmend komplexer werden und auf die textexterne kulturelle Realität hinausverweisen. Gleichzeitig finden sich zahlreiche strukturelle Parallelen zwischen den Ebenen, die Selbstgleichheit erinnert 244 Michael Buhl (München) an fraktale Muster. Entsprechend ist der Versuch, Einfluss auf das Verhalten des realen Rezipienten zu üben, als Textstrategie zu verstehen, da der Zuschauer in die Konstruktion mit einbezogen wird. Neben der vertikalen Pluralität der verschiedenen Ebenen konkurrieren auf der Horizontalen zwei semantische Felder miteinander, die hier als semantischer Raum der Kunst als Wert an sich und semantischer Raum der monetär nützlichen Kunst bezeichnet wurden. Der Text wertet letztendlich nicht zwischen den beiden dadurch vertretenen Kunstauffassungen: Weder die durch Apoll vertretene hohe Kunst um ihrer selbst willen, die durch die antike Tragödie symbolisiert wird, noch das egoistische Narrenspiel des Scaramuz werden per se als positiv oder negativ semantisiert. Beide Formen haben ihre Berechtigung im Kunstbetrieb. Als problematisch wird gesetzt, wenn inkompetente Akteure das Geschehen dominieren: in diesem Falle anstelle des Poeten das fiktive Publikum der Diegese I. Hierdurch wird der reale Rezipient zur Kunstreflexion angeregt, was außerhalb der Diegese durch die Zwischenakte aufgegriffen und weitergeführt wird. 2 Rezeptionssteuerung durch Verbalmusik Die Zwischenakte haben eine kommentierende Funktion und befinden sich klar außerhalb der Diegese: Sie stellen eine sujetlose, nicht-diegetische Textschicht dar, die keine Handlung oder Ereignisse aufweist. Wie bis hierher gezeigt wurde, fordert Die verkehrte Welt durch die Art und Weise ihrer Konzeption zu Reflexion auf: über das aufgeführte, konkreteWerk, über das Theater im Allgemeinen und über die Bedeutung von Kunst überhaupt. Diese zumeist implizit enthaltenen Anregungen werden von den Zwischenakten aufgegriffen und explizit weitergeführt. Dabei wird die Tendenz beibehalten, immer wieder auf sich selbst zu verweisen und die eigene Gemachtheit offensichtlich werden zu lassen. Die Bemühungen um das fiktive Publikum der Diegese I scheitern offensichtlich, was unterstreicht, dass die realen Rezipienten durch das Stück nicht zur Nachahmung eines konkreten, vorgegebenen Verhaltens gebracht werden sollen, sondern dass eine eigene Reflexionsleistung erwünscht wird. Die Zwischenakte erfüllen eine Funktion, die diese Reflexion beim Zuschauer der Welt lenken und anregen soll, ohne auf die Diegese an sich Einfluss auszuüben. Dabei knüpfen sie direkt an den Topos des mundus inversus, der verkehrten Welt mit Hilfe von Musik aus Worten an, die sich dabei nicht einmal der Musikalität der Sprache bedienen. 18 Immer wieder werden die Musikeinlagen dabei selbst zum Thema, kommentieren das aufgeführte Schauspiel oder stellen allgemeine Betrachtungen über Kunst an. 19 Formal orientieren sich die Zwischenakte an musikalischen Strukturen. Sie weisen ein klares Thema auf: die Kunst und ihr Verhältnis zum Rezipienten in immer neuen Variationen. Zudem reflektieren sie immer wieder auf sich selbst. Die Fachbezeichnungen und Zwischentitel (Rondo, Menuetto, Adagio, etc.) geben Hinweise auf die Tendenz, die sprachlich zum Ausdruck gebracht wird. Exemplarisch soll der Beginn der Symphonie 18 Cf. Pestalozzi (1964: 125), der wiederum auf Oscar Walzel (1923: 366 f.) verweist. 19 Pestalozzi beschreibt es treffend: “ So ist einerseits die Zwischenaktmusik die Weiterführung der im Stück selbst angewendeten Mittel der Transzendierung der Bühnenwirklichkeit, und andererseits weist ihre paradoxe Eigenart als Wortmusik immer schon über sie hinaus ” (1964: 109). Diffuse Grenzen: Bedeutungskonstitution durch Illusionsbruch in Ludwig Tiecks Die Verkehrte Welt 245 untersucht werden, der nach Titel und Untertitel ( “ Die Verkehrte Welt. Ein Historisches Schauspiel in fünf Aufzügen ” , Tieck 1964: 5) auch den Beginn des Gesamttextes darstellt: SYMPHONIE A n d a n t e a u s D d u r . Wenn man sich einmal amüsieren will, so kömmt es nicht so sehr darauf an, auf welche Art es geschieht, als vielmehr darauf, daß man sich wirklich amüsiert. Man kann nicht beständig ernsthaft, man kann nicht beständig lustig seyn. Nimmt man es in beiden Fällen mit sich selber zu genau, so ist es gar leicht um den wahren Ernst, so wie um die wahre Lustigkeit geschehen. P i a n o . Gehören aber wohl moralische Betrachtungen in eine Symphonie? Warum soll alles so gesetzt anfangen, und warum lasse ich nicht lieber alle Instrumente durcheinander klingen? (Ibid.: 7). Ernsthaftigkeit und Lustigkeit werden einander gegenübergestellt. Das Andante versucht nicht eine von beiden als höher zu bewerten, sondern geht vor allem auf die Wichtigkeit der Rezeptionsleistung ein: “ daß man sich wirklich amüsiert ” (Hervh. v. mir, MB). Nur dann kann man den “ wahren Ernst ” und die “ wahre Lustigkeit ” erfahren. Diese wenig trennscharfe Behauptung wird jedoch nicht unmittelbar weiter geführt, sondern sogleich vom Piano durch eine Reflexion auf die Symphonie selbst unterbrochen: Es wird hinterfragt, inwieweit eine Symphonie mit einer solchen Betrachtung beginnen solle. Das Crescendo gibt darauf wiederum eine Antwort und steigert sich zum Fortissime, für dessen Lautstärke sich das Adagio wiederum entschuldigt, etc.: Keine fertige Meinung, sondern Reflexion im Vollzug wird dem Rezipienten vorgeführt. 20 Die Zwischenakte greifen also auf, was auch in der Diegese verhandelt wird: Was dort durch die Figuren, die Raumorganisation und die Spannung der verschiedenen semantischen Felder an Bedeutung transportiert wird, findet sich hier als theoretische Erörterung wieder. Gleich ist ebenfalls, dass eine Bewertung nachrangig behandelt wird und es vielmehr auf das Verhältnis des Rezipienten zum Kunstwerk ankommt. Auch wird keine fertige, gefestigte Position dargelegt, sondern die eigenen Äußerungen ebenfalls hinterfragt. Darüber hinaus thematisiert sich die Zwischenaktmusik nicht nur selbst, sondern geht auch auf das Schauspiel ein: Es findet also eine Kommentierung der Handlung statt, die an einen Erzählerkommentar erinnert. “ Wie es immer frischer und lebendiger im Schauspiele wird! ” (Ibid.: 38). freut sich das Allegro. “ O wie wird unsere Phantasie von Fröhlichkeit trunken, wenn immer neue Gestalten erscheinen und die alten nie alt wiederkehren ” (ibid.). Dabei wird auch der Zuschauer direkt angesprochen und zu einer bestimmten Art der Rezeption ermuntert: “ Ach! was war es, wenn es vorüber ist? oder wenn du es mit kunstrichterlichem Auge siehst? Lass dem magischen Feuer seinen Lauf [. . .] ” (ibid.). Kritisiert wird vor allem das Verlangen, hinter allem einen Sinn und logischen 20 Selbstreflexiv wird innerhalb der Symphonie auch durch das Violino Primo Solo argumentiert: “ Es ist nur Narrheit, daß man Symphonien in nichts als Noten schreiben will, man kann sie auch in Worte bringen, wenn man sich die Mühe gibt. Sind unsere Bücher etwas anders? Sind viele unserer Symphonien etwas mehr, als ein einziger armer Satz, der immer in Gedanken wieder kömmt, und sich nicht von andern Gedanken will verdrängen lassen? ” (Ibid.: 8). Außerdem auch durch die dritte Variation des Menuetto und das Rondo ( “ Von Banks Versen sagte man es sey prose run mad, so ist ein Rondo auch vielleicht ein toll gewordener musikalischer Satz. - Wer kann immer vernünftig seyn! vollends so ein armes Rondo wie ich bin! ” Ibid.: 61). 246 Michael Buhl (München) Zusammenhang finden zu wollen: “ Wißt Ihr denn, was Ihr wollt, die Ihr in allen Dingen den Zusammenhang sucht? [. . .] - was denkt Ihr da, und was vermögt Ihr da zu ordnen? Ihr genießt euch selbst und die hohe harmonische Verwirrung ” (ibid.). Gleichzeitig wird jedoch auch die Gegenposition des Vernünftigen vom Menuetto eingenommen, das versucht, mit der Komplexität des Werkes zurechtzukommen. “ Es ist höchste Zeit, Vernunft in das Stück zu bringen, [. . .] wäre es nicht besser, wenn dergleichen Zeug gar nicht geschrieben würde? ” (Ibid.: 82). Selbst das ursprüngliche Menuett kommt jedoch zu dem Schluss: “ Je nun, eine gute Verwirrung ist doch mehr werth als eine schlechte Ordnung ” (ibid.). Im Laufe der Variationen verschiebt sich die Position immer weiter, bis in Variazio III der Rezipient wieder direkt angesprochen wird: “ Aber Lesewelt, Zuhörerschaft, wenn Du dich etwa im Zustande des Nichtverstehens befinden solltest! Wenn der Teufel es ordentlich so veranstaltete, daß du dich zu klug fühltest, um klug zu seyn! ” (Ibid.: 83). Wieder geht es letztendlich also um die Rezeptionsleistung, die gerade nicht über den Verstand laufen soll. Auch hier findet sich damit eine Pluralität von Sichtweisen, die - in geänderter Form - auch innerhalb des Schauspieles zu finden ist. Wieder wird auf einer weiteren Ebene sehr ähnlich verfahren wie bisher gezeigt - das gleiche Thema also variiert. Das Kunstverständnis der Zwischenakte dreht sich, wie die Symphonie gleich zu Beginn erläutert, um die beiden Pole aus Freude und Trauer und stellt eine Verbindung zum menschlichen Leben her. Um “ wahre ” Trauer und “ wahre ” Freude erleben zu können, ist es notwendig, nicht alles mit dem Verstande fassen zu wollen. Darüber hinaus soll eine Mittelposition eingenommen werden: “ von gemeiner Freude und dem lastenden Trübsinne gleich weit entfernt ” (ibid.: 21) zu sein, schafft erst Zufriedenheit. Der Zuschauer muss sich ganz auf das Kunsterlebnis einlassen: Wenn Ihr Leben und Seele in doppelter Wirkung empfindet, und alle Schleusen Eures Wesens geöffnet sind, durch die das zurückgehaltene Entzücken mächtiglich hinbraust, wenn da die letzten Tiefen, in die noch kein Ton drang, wiederklingen, wenn alles sich in Eine Melodie gesellt und in der Luft verwandte Geister unsichtbare Tänze feiern, (ibid.: 38) dann erst würde man der Kunst richtig begegnen. Gleiches gilt für das Leben des Menschen: “ Ach du schwaches, leicht zerbrechliches Menschenleben! Ich will dich immer als ein Kunstwerk betrachten, das mich ergötzt ” (ibid.: 21). Der reale Zuschauer der verkehrten Welt wird also, während er das Stück betrachtet, dazu angehalten, nicht nur das Werk, sondern auch sich selbst und die Art, wie er rezipiert, zu beobachten. Es wird ihm allerdings auch hier nicht einfach ein fertiges Rezept vorgesetzt, sondern auch darin eine Eigenleistung von ihm verlangt. Es findet sich die Anleitung zu mannigfaltiger Reflexion auch in den Zwischenakten wieder. Die Verbalmusik wiederholt insgesamt damit in veränderter Form genau das, was auch innerhalb der Diegese vorgeführt wird: verschiedene Positionen - hier Trauer und Lustigkeit - werden einander gegenübergestellt. Es geht jedoch nicht darum, eine Rangordnung festzulegen. Erst in der Spielbewegung der verschiedenen Positionen konstituiert sich der Sinn von Kunst. Wichtig ist vor allem der Umgang des Rezipienten mit dem Kunstwerk, das ihn konfrontiert: Genauso wie innerhalb des Schauspiels sprechen sich auch die Zwischenakte gegen den Versuch aus, alles mit dem Verstand erfassen zu wollen. Sie fordern vielmehr dazu auf, sich dem Erlebten hinzugeben, was in der Metapher Diffuse Grenzen: Bedeutungskonstitution durch Illusionsbruch in Ludwig Tiecks Die Verkehrte Welt 247 des ‘ etwas in sich anklingen lassen ’ pointiert zum Ausdruck gebracht wird. Die Art und Weise, wie dies geschieht, korrespondiert ebenfalls mit der Struktur der Diegese: Keine fertige Meinung wird dem Rezipienten vorgeführt, die er lediglich noch übernehmen müsste, sondern der Prozess der Meinungsbildung wird mit einbezogen. Abgesehen von der geänderten Form findet sich also das gleiche Thema in den musikalischen Zwischenspielen wieder, das auch das Schauspiel dominiert. Hier wird der Rezipient nur sehr viel unmittelbarer zu Kunst- und Selbstreflexion aufgefordert. 3 Kunstreflexion vor dem Paradigma der ‘ Aufklärung ’ Der Begriff der Aufklärung und verwandte Wortfelder (Bildung, Nutzen, etc.) finden sich in allen Bereichen der verkehrten Welt. Damit ist aber weniger eine philosophische Position bezeichnet, als vielmehr eine kunsttheoretische: Explizit oder implizit wird dadurch zum Ausdruck gebracht, wie Kunstwerke beschaffen zu sein haben, auf welche Art sie wirken sollen und welches Verhalten der Rezipient ihnen gegenüber einnehmen soll. Die Semantisierung ist den Gesamttext über konstant negativ. Voller Ironie wird dies durch den Epilogus zum Ausdruck gebracht, der sich - selbstverständlich - vor der Aufführung an das Publikum wendet: Nun meine Herren, wie hat Euch unser Schauspiel gefallen? Es war freilich nicht viel, indessen da ihr alles zu nehmen gewohnt seyd, so war es doch immer des Annehmens werth. [. . .] Ihr müßt Euch übrigens nicht darüber verwundern, daß Ihr das Stück noch gar nicht gesehen habt, denn hoffentlich seyd Ihr doch in so weit gebildet, daß das bei Euch nichts zu Sache thut. [. . .] Ihr seyd hoffentlich schon geübt und habt im Urtheilen etwas gethan, daß Ihr also unsre Comödie gar nicht zu sehen braucht, um zu wissen, was an ihr ist. Der Name des Verfassers, wenn er berühmt ist, das Urtheil eines guten Freundes, dem Ihr Verstand zutraut, sind ja gewöhnlich die Wegweiser, die Euch leiten. [. . .] (ibid.: 9). Hier finden sich alle wichtigen der zugewiesenen Merkmale: Der Verstand als Werkzeug des Urteils, der kunsttheoretische Diskurs von vermeintlich Verständigen, deren Meinungen unreflektiert übernommen werden, und die Bildung, die als Grundlage des Urteilens herangezogen wird. Anstelle das Kunstwerk auf sich wirken zu lassen und sich selbst eine Meinung zu bilden, wirft der Epilogus den Zuschauern also vor, unreflektiert die Überzeugung anderer zu übernehmen. Wie gezeigt, entspricht das Publikum der Diegese I, das in diesem Falle der Adressat ist, den Vorwürfen voll und ganz. Auch die Zuordnung von Scaramuz unter das Paradigma der Aufklärung ist bereits angesprochen worden: Seine Herrschaft und die damit einhergehende Transformation des Raumes werden explizit miteinander in Verbindung gebracht. Darüber hinaus sind der tautologische Monolog über die Nützlichkeit wie auch seine Gerichtsurteile anzuführen. “ SCARAMUZ. Also doch nützlich? Ich mag die nützlichen Leute ungemein gern, denn warum? sie sind nützlich, und das Nützlichseyn selbst ist ungemein nützlich, folglich zwingt mich meine Vernunft zu dieser gegründeten Hochachtung ” (ibid.: 34). Die Schafe verklagen ihre Schäfer und lassen sich von Scaramuz das Recht zusprechen, nun selbst einmal die Schäfer zu scheren (Cf. Ibid.: 67 f.). Der Schäfer Myrtill macht dafür die Bildung verantwortlich: “ Es kam uns selber ganz vernünftig vor, und das ist eben das Nachtheilige bei der Vernunft, daß sie einen zu so dummen Sachen verführt ” (ibid.: 74). Das gleiche Prinzip wie bei Schafen und ihren 248 Michael Buhl (München) Schäfern wiederholt sich im Gericht bei Leser und Schriftsteller: Letzterer wird aus Vernunftgründen dazu verurteilt, das zu schreiben, was der Leser wünscht (cf. ibid.: 66). Der reale Rezipient wird sich allerdings ebenfalls angesprochen und herausgefordert fühlen, sein Verhalten entsprechend zu ändern. Hier findet schon vor Beginn der eigentlichen Handlung eine Rezeptionssteuerung statt. Einige Besonderheiten finden sich am Schluss des Stückes: Apoll erklärt das Ende, dann fällt der Vorhang, der Prologus spricht vor einem leeren Zuschauersaal und Grünhelm behält das letzte Wort. Damit ist das Werk zu Ende, der Schluss bleibt also offen. Dies macht in der Konzeption des Gesamttextes durchaus Sinn: Innerhalb der Diegese wird der Zuschauer zu Reflexion von Kunst angeregt, muss dabei allerdings eine Eigenleistung erbringen. Es wird ihm alles andere als leicht gemacht, eine eindeutige Textaussage zu identifizieren. Vielmehr wird im Grunde trotz der grundsätzlichen scheinbaren Opposition der semantischen Felder eine prinzipielle Gleichrangigkeit postuliert. Die Zwischenakte dagegen laufen Gefahr, einen performativen Selbstwiderspruch zu begehen: Sie führen dem Zuschauer eine explizite Kunstreflexion vor, die vom Rezipienten verstandesmäßig erfasst und unreflektiert übernommen zu werden droht. Dem wird zum einen durch die Konzeption der Verbalmusik entgegengewirkt: Sie ist selbst ebenso verkehrt wie die Welt innerhalb der Diegese und liefert außerdem keine fertige, gefestigte Meinung, sondern auch hier vor allem Fragen, Versuche und Anregungen. Zum anderen lässt der offene Schluss keine andere Wahl, als die Bildung einer letztgültigen Meinung selbst zu übernehmen. Verbalmusik findet sich vor und zwischen allen Akten, auffällig ist jedoch, dass es kein abschließendes Musikstück gibt. Insgesamt zielt das Werk vor allem auf den Rezipienten ab. Durch die Konstruktion des Dramas wird dieser selber als Zuschauer, der ein Stück beobachtet, zum Gegenstand der Kunst; was sich gleich mehrfach verschachtelt wiederholt. Dem realen Rezipienten wird ein negatives Bild seiner selbst vorgeführt. Ganz klar wird den Zuschauern in der Diegese I das Prädikat des Narren zugewiesen und ihnen darüber hinaus die Fähigkeit abgesprochen, ihre eigene Situation zu erfassen oder deswegen gar etwas an ihrem Verhalten zu ändern. Dies wird spätestens dann deutlich, wenn ihnen selbst wiederum ein Publikum auf der Bühne vorgeführt wird, und diese sich zur Selbstreflexion als unfähig ausweisen. Der reale Rezipient soll nun aber gerade dazu angeregt werden. Die verkehrte Welt bemüht sich, das festgefügte und schematisierte Rollenverhalten der Theaterzuschauer unter der Ägide der ‘ Aufklärung ’ - in übertragenem Sinn der Rezipienten von Kunst insgesamt - aufzubrechen und zu verändern. Ziel ist es jedoch nicht, das angelernte Verhalten durch ein anderes Schema zu ersetzen, sondern die Zuschauer und Leser sollen vielmehr das Kunstwerk möglichst unvoreingenommen auf sich wirken lassen. 4 Fazit Um es abschließend noch einmal festzuhalten: Tiecks verkehrteWelt wird von drei zentralen Aspekten dominiert: Erstens findet ein expliziter wie impliziter Angriff auf die Aufklärung statt, deren Positionen beim zeitgenössischen Zuschauer vom Text vorausgesetzt werden. Die negative Semantisierung des Zuschauers geschieht vor allem innerhalb der Diegese durch paradigmatische Zuordnung und Gruppierung von Figuren und zieht sich durch alle Diffuse Grenzen: Bedeutungskonstitution durch Illusionsbruch in Ludwig Tiecks Die Verkehrte Welt 249 Ebenen bis hin zu den nicht-diegetischen Zwischenakten. Zweitens finden sich rekurrierende Reflexionen über Kunst: Wie funktioniert Kunst, wie entsteht sie, und was soll sie leisten? Offensichtlich ist es aber keine Absicht des Textes, hierüber eine abschließende Wertung zu präsentieren, sondern vor allem soll der Diskurs überhaupt erst eröffnet werden. Dies ist notwendig, damit drittens der reale, historische Rezipient über sich selbst und seine Beziehung zum Kunstwerk nachdenkt. Auch hier will die Welt keine einzige, zwingend richtige Lösung präsentieren, sondern in erster Linie Anregungen bieten und den Rezipienten auffordern, sich selbst eine Meinung zu bilden. Die Fülle an Techniken - vielfach verschachtelte diegetische Ebenen, diffuse Grenzen, Ebenenwechsel, der Topos des mundus inversus, die reflektierenden Zwischenakte etc. - haben demnach zwei Ziele: Einerseits soll das Werk unterhalten, wie explizit gefordert und zumindest aus Sicht des heutigen Rezipienten auch eingehalten wird; und andererseits soll der Zuschauer zum Überdenken seiner eigenen Situation angeregt werden. Damit ist die komplexe Konstruktion von Die verkehrte Welt sowohl Selbstzweck - nämlich Unterhaltung - als auch auf ein Ziel ausgerichtete Textstrategie. Der in der älteren Forschung zum Teil erhobene Vorwurf einer wie auch immer gearteten künstlerischen Nachrangigkeit muss definitiv zurückgewiesen werden. Die verkehrte Welt erweist sich als in höchstem Maße raffinierte und gekonnte künstlerische Komposition. Dabei gelingt es ihr gleichzeitig, sowohl Kunst zu sein als auch die Metaebene der Kunstreflexion mit einzubeziehen. Bei näherer Betrachtung erweist sich die scheinbare Verwirrung und das ständige In- und Durcheinander als stimmig. Die verschiedenen Facetten ergänzen sich trotz vermeintlicher Inkongruenzen zu einem kompositorischen Ganzen. Darüber hinaus setzt sich Die verkehrte Welt auf zweierlei Weise von der Aufklärungsliteratur ab: Zum einen durch ihre Kompositionsprinzipien, zum anderen durch die explizite Abwertung des Paradigmas Aufklärung auf diegetischer Ebene. 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