eJournals Kodikas/Code 39/1-2

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
Schon lange ist bekannt, dass Macht eng mit Zeichen zusammenhängt, doch meistens wurde von einer 'nachträglichen' Beziehung ausgegangen, worin Zeichen nur zur Repräsentation einer Macht dienen, deren Ursprung außersemiotisch zu verstehen ist. Dieser Artikel stellt einen anderen Ansatz vor. Er argumentiert, dass Macht schon an sich ein semiotisches Phänomen ist, das auf Grundlage der Kultursemiotik analysiert werden kann. Zunächst wird dazu Webers klassische Machtdefinition zum Zwecke größerer analytischer Genauigkeit modifiziert. Im nächsten Schritt werden die drei Aspekte der Kultur vorgestellt, die in Roland Posners kultursemiotischer Theorie unterschieden werden: soziale Kultur, materiale Kultur und mentale Kultur. Auf diesen Grundkategorien aufbauend werden drei Arten der Macht definiert: Positionsmacht, Verfügungsmacht und Deutungsmacht. Diese Haupttypen der Macht werden weiter differenziert, genau in ihrer semiotischen und soziologischen Dimension untersucht und voneinander abgegrenzt. Auf diese Art zeigt sich, dass mit Hilfe grundlegender Begriffe der Kultursemiotik die ganze Bandbreite der Machtphänomene analysiert werden kann.
2016
391-2

Macht und Zeichen

2016
Martin Siefkes
K O D I K A S / C O D E Volume 39 (2016) · No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Macht und Zeichen Ein semiotischer Blick auf die Grundlagen unserer Gesellschaft 1 Martin Siefkes (Chemnitz) Schon lange ist bekannt, dass Macht eng mit Zeichen zusammenhängt, doch meistens wurde von einer ‘ nachträglichen ’ Beziehung ausgegangen, worin Zeichen nur zur Repräsentation einer Macht dienen, deren Ursprung außersemiotisch zu verstehen ist. Dieser Artikel stellt einen anderen Ansatz vor. Er argumentiert, dass Macht schon an sich ein semiotisches Phänomen ist, das auf Grundlage der Kultursemiotik analysiert werden kann. Zunächst wird dazu Webers klassische Machtdefinition zum Zwecke größerer analytischer Genauigkeit modifiziert. Im nächsten Schritt werden die drei Aspekte der Kultur vorgestellt, die in Roland Posners kultursemiotischer Theorie unterschieden werden: soziale Kultur, materiale Kultur und mentale Kultur. Auf diesen Grundkategorien aufbauend werden drei Arten der Macht definiert: Positionsmacht, Verfügungsmacht und Deutungsmacht. Diese Haupttypen der Macht werden weiter differenziert, genau in ihrer semiotischen und soziologischen Dimension untersucht und voneinander abgegrenzt. Auf diese Art zeigt sich, dass mit Hilfe grundlegender Begriffe der Kultursemiotik die ganze Bandbreite der Machtphänomene analysiert werden kann. It is a well-known fact that power is closely connected with signs, but usually this connection was thought to be ‘ after the fact ’ : signs representing a power whose origin could be understood in non-semiotic terms. In this paper, a different view is introduced: power is an inherently semiotic phenomenon, which can be analysed with concepts of cultural semiotics. To reach this aim, the three areas of culture defined in Roland Posner ’ s theory of cultural semiotics are taken as basis for definitions of three types of power: power of position, power of disposition, and power of interpretation. These main types of power are delimitated from each other, further differentiated and carefully examined in their semiotic as well as sociological dimensions. The conclusion is reached that the full range of power phenomena can be analysed with the help of cultural semiotics. 1 Der vorliegende Artikel ist mit einigen Veränderungen auf Englisch erschienen als “ Power in Society, Economy, and Mentality: Towards a Semiotic Theory of Power ” , Semiotica 181.1 - 4 (2010): 225 - 261. 1 Einleitung Macht hat etwas mit Zeichen zu tun; das ist nichts Neues. Tatsächlich ist eine der erstaunlichsten Eigenschaften der Macht die zweifache Gestalt, in der sie uns begegnet: Zum einen als sehr reale Einwirkung, wenn aufgrund ihrer Gewalt 2 ausgeübt (z. B. ein Todesurteil vollstreckt) wird, und zugleich als Zeichenbeziehung, wenn z. B. ein solches Todesurteil aufgrund eines bestimmten Stempels erst seine Gültigkeit erlangt, oder aufgrund seines Fehlens ungültig wird. So ist immer wieder in der Geschichte mit einem einzigen Dokument Macht ausgeübt worden, die das Leben von Hunderttausenden von Menschen betrafen; als Beispiel seien hier das Edikt von Nantes 3 oder das Edikt von Fontainebleau 4 genannt. Diese Dualität ihrer Erscheinung ist immer wieder als ein Paradox empfunden worden, weil es geradezu unmöglich schien, diese beiden so unterschiedlichen Erscheinungsformen der Macht als ein Phänomen zu beschreiben. Hier kann die Semiotik weiterhelfen. Semiotik wird häufig als “ die Lehre von den Zeichen ” beschrieben; sie ist jedoch genauso auch die Lehre von den Zeichenprozessen und den Zeichenbenutzern. Erst dadurch gewinnt sie die Möglichkeit, auch die Gesellschaft, die Wirtschaft und die Geisteshaltung (oder Mentalität) einer bestimmten Kultur zu charakterisieren; diesen Aufgaben stellt sich die Kultursemiotik. Sie ist damit die erste Wissenschaft, die gleichermaßen für jene Seite der Macht, die aus Zeichenprozessen besteht, wie für jene Seite, die aus Wirkungen in der Gesellschaft besteht, die nötigen Begriffe und Erklärungsansätze bereit stellt. Ein weiteres Charakteristikum der Macht, das eine tiefergehende Analyse häufig verhindert hat, ist ihre Vielgestaltigkeit. Betrachten wir drei Beispiele, die normalerweise unter Macht subsumiert werden: 1. (a) Ein Staatspräsident oder (b) eine bekannte Persönlichkeit machen eine Behauptung, die unabhängig von ihrer argumentativen Qualität in allen Medien breitgetreten wird und damit, wenn sie nicht völlig unplausibel ist, sehr viele Menschen beeinflussen wird. Eine andere Person widerlegt die Behauptung detailliert und auf argumentativ hohem Niveau, doch ihrArgument wird, wenn überhaupt, nur von einem Bruchteil der beeinflussten Menschen zur Kenntnis genommen. 2. Eine Milliardärin beschließt, sich ein Luxusanwesen zu bauen. Sie kauft sich ein großes Grundstück mit einer Anzahl durch ihre Aktivitäten beeinflussten Nachbarn; zusätzlich bestimmt sie über das Leben vieler Menschen für eine gewisse Zeit - nämlich all derer, die direkt oder indirekt zum Bau und dessen Ausstattung beitragen. 3. Ein Manager eines Unternehmens leitet dadurch, dass er seine Unterschrift unter ein Dokument setzt, die Entlassung von 10.000 Angestellten in die Wege. Für viele dieser Personen bedeutet dies, dass sie nach einem neuen Arbeitgeber suchen müssen sowie 2 Unter “ Gewalt ” (im engeren Sinn) verstehe ich hier jede direkte körperliche Einflussnahme gegen den Willen der betroffenen Person. Ich bezweifle nicht, dass es auch seelische und andere Arten von Gewalt gibt, doch hier scheint mir eine Definition in Ableitung von körperlicher Gewalt sinnvoll zu sein. 3 In diesem Edikt von 1598 sicherte Heinrich IV. den französischen Protestanten freie Religionsausübung zu und beendete damit eine Periode ihrer Verfolgung. 4 In diesem Edikt von 1685 widerrief Ludwig XIV. das Edikt von Nantes. Zahlreiche Protestanten flohen in andere Länder, wo sie “ Hugenotten ” genannt wurden. 92 Martin Siefkes (Chemnitz) dass sich ihre Lebensbedingungen (durch den neuen Job, einen eventuellen Umzug, andere Lohnhöhe etc.) verändern. Für manche Betroffenen bedeutet die Entscheidung des Managers Arbeitslosigkeit und damit den sozialen Abstieg. Auch die Entscheidung zur Einstellung bedeutet eine Ausübung von Macht, wenn auch eine geringere. 5 Diese drei Beispiele zeigen, wie unterschiedlich Macht beschaffen sein kann. Es lässt sich auf Anhieb kaum eine Gemeinsamkeit zwischen den drei Personen feststellen - außer natürlich der, dass wir ihnen Macht zuschreiben würden! Vergleichen wir die drei Fälle etwas genauer: Die Personen unter 1. und 3. sind gesellschaftlich bekannt, vielleicht regt sich sogar Protest gegen ihre Aussagen; bei 2. wäre beides eher untypisch. Bei 1 a. können die, die sich von der Aussage betroffen fühlen, versuchen, die Macht zu erwidern, indem sie den Präsidenten abwählen; 6 bei 3. ist ihnen dies nicht möglich. Dagegen hilft sowohl bei 1.(a) und (b) als auch bei 3. eine Argumentation, die die Aussage bzw. Entscheidung anzweifelt, unter Umständen weiter, während bei 2. angenommen wird, dass die Entscheidung sich keiner Argumentation zu stellen hat; dafür muss hier die Mächtige einen Teil ihrer Macht verbrauchen, während sich in den anderen Fällen die Macht durch die Entscheidung vergrößern kann. Für 1 b. gelten wieder besondere Regeln, wobei je nach Wirkung der Äußerung eine Zunahme oder eine Abnahme der Macht durch ihre Ausübung möglich ist. 7 Wie können wir nun diese unterschiedlichen Beispiele unter einen Machtbegriff subsumieren? Die beschriebenen Unterschiede - und die Liste ließe sich fortsetzen - scheinen zunächst darauf hinzudeuten, dass sich “ Macht ” nur allgemein definieren lässt, während bei einer genaueren Untersuchungen ihrer Bedingungen und Eigenschaften eine nichtreduzierbare Vielfalt auftritt. Aus dieser vermeintlichen Sackgasse hilft uns jedoch die Kultursemiotik: Sie wird uns zum einen ermöglichen, das Phänomen der Macht genauer aufzuschlüsseln; zum anderen wird sie uns helfen, die Unterschiedlichkeit der angeführten Beispiele zu verstehen. Wir werden sehen, dass diese kein Zufall ist, sondern auf drei verschiedene Arten der Macht hinweist (vgl. Abschnitt 4.1 bis 4.3). Diese lassen sich den drei Bereichen der Kultur zuordnen, die in der Kultursemiotik unterschieden werden (vgl. Abschnitt 3). Damit können wir die Machtarten genau voneinander abgrenzen (Abschnitt 5) und ihre Unterschiede ebenso wie ihre gegenseitige Abhängigkeit erklären. 5 Die Machtausübung wird in diesem Fall geringer sein, weil die eingestellten Personen sich zuvor für eine Bewerbung entscheiden und somit über die folgenden Veränderungen der Lebensbedingungen mitbestimmen. Der Einfluss der Einstellungsentscheidung kann derselbe sein wie bei der Entlassung, sowohl in der Anzahl der beeinflussten Lebensläufe als auch dem Grad der jeweils bewirkten Veränderung. Die Macht, die ausgeübt wurde, ist aufgrund der Mitwirkung der betroffenen Individuen weit geringer. 6 In Deutschland wäre eine Abwahl selbstverständlich nur im Fall des Bundeskanzlers möglich, und hier auch nur indirekt über die Bundestagswahl. 7 Da diese Macht auf der Aufmerksamkeit der Medien beruht, kann sie durch ein provokantes Statement zunehmen, allerdings nur, sofern dieses nicht zu abwegig ist, was zu einer sinkenden ‘ Zitierbarkeit ’ der Person für die Medien führen könnte. Macht und Zeichen 93 2. Macht 2.1 Vorüberlegungen zur Definition Eine inzwischen klassisch gewordene Definition der Macht hat Max Weber in “ Wirtschaft und Gesellschaft ” gegeben. Demzufolge ist Macht “ jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht ” . 8 Noch konziser ist die Definition im zweiten Band desselben Werks als die “ Möglichkeit, den eigenen Willen dem Verhalten anderer aufzuzwingen ” . 9 Diese Definition überreißt den gewünschten Gegenstandsbereich ausreichend präzise und soll auch hier als Grundlage unserer Definition verwendet werden. Angemerkt werden sollte, dass viele Phänomene der Macht von Weber unter Herrschaft diskutiert werden: Sie wird von Weber als Sonderfall der Macht verstanden und bestimmt als “ die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden ” . 10 Weber sieht es als einen Vorteil des Begriffs, dass er die Art und Weise der Durchsetzung (durch “ Befehl ” und “ Gehorsam ” ) präzise fasst, während der Machtbegriff “ amorph ” sei, fährt dann jedoch fort, auf der Basis dieses Herrschaftsbegriffs die Formen die Staatsformen bis hin zur Demokratie zu analysieren. 11 Dies scheint wenig sinnvoll, da Herrschaft keineswegs nur durch Befehle ausgeübt wird; 12 tatsächlich vernachlässigt Weber dann auch in seiner Diskussion der Staatsformen die Rolle der wirtschaftlichen Macht, obwohl er sie an anderer Stelle im gleichen Werk durchaus einbezieht. 13 Es erscheint daher besser, die Webersche Unterscheidung zwischen “ Macht ” und “ Herrschaft ” nicht aufzunehmen. Allen H. Henderson diskutiert die Uneinigkeit verschiedener Soziologen über die Frage, ob “ wirkliche Macht ” ( ‘ actual power ’ ) oder “ mögliche Macht ” ( ‘ potential power ’ ) als Grundmodell sozialer Macht genommen werden sollte. 14 Hier macht jedoch schon die Unterscheidung selbst Schwierigkeiten. Das liegt daran, dass Macht ihrem Wesen nach immer auf einer Möglichkeit beruht: Wenn ein Bankräuber einem Kassierer eine Pistole vorhält, hat er nur dann Macht über den Kassierer gewonnen, wenn er auch die Herausgabe von Geld verlangt? Oder sogar nur dann, wenn er das Geld tatsächlich bekommt? Beides erscheint unplausibel. Allein die Tatsache, dass er die Pistole besitzt und sie dem Kassierer an die Schläfe hält, erzeugt die Machtsituation. Dies zeigt sich zum Beispiel darin, dass der 8 Weber 1956.1: 28. 9 Weber 1956.2: 542. 10 Weber 1956.1: 28. 11 Weber 1956.2: 541 - 876. 12 Tatsächlich hat ein solcher, zu kurz greifender Herrschaftsbegriff lange Zeit die Soziologen daran gehindert, indirekte Beherrschungsmechanismen angemessen zu beurteilen. Wo nicht befohlen wird, würde demzufolge auch nicht geherrscht. Damit würde in einer Demokratie automatisch sehr viel weniger geherrscht als in einem autoritären Staat, eine Auffassung, die oft auch heute noch vertreten wird. Tatsächlich sollte man den Grad der Herrschaft, die in einer bestimmten Staatsform ausgeübt wird, besser nach dem Grad bestimmen, in dem sie das Leben des einzelnen bestimmt, ob nun direkt (z. B. über Befehle oder Gesetze) oder indirekt (z. B. über wirtschaftliche Abhängigkeit oder die Offenlegung des Privaten). Ein Beispiel soll dies erläutern: Vor der Erfindung von Melderegistern und Familienbüchern waren der Staat und die Kirche in diesem Bereich vergleichsweise machtlos: Sie hatten zwar rigide Vorstellungen, konnten diese aber kaum durchsetzen. 13 Weber 1956.1: Kap. II. 14 Henderson 1981: 9 f. 94 Martin Siefkes (Chemnitz) Kassierer bereits vor dem expliziten Äußern des entsprechenden Befehls beginnen könnte, die Kasse zu öffnen, und ihn trotzdem kein Gericht wegen Untreue verurteilen würde. “ Mögliche Macht ” macht nur dann als Begriff Sinn, wenn damit das in einer Situation enthaltene Machtpotential gemeint ist, dass von den Beteiligten verwirklicht werden kann oder nicht. “ Mögliche Macht ” besteht beispielsweise, wenn ein Chef aufgrund seines schüchternen Auftretens oder aus anderen Gründen die Macht nicht ausnutzt, die er über seine Angestellten haben könnte: Zwar könnte er einen aufsässigen Angestellten entlassen, durch Zuweisung unbeliebter Aufgaben demoralisieren oder zumindest (wenn Kündigungsschutz und Arbeitsorganisation beides verhindern) von der Beförderung ausschließen - doch die Angestellten wissen, dass er dies aufgrund seines Charakters nicht tun wird. Hier besteht keine “ wirkliche Macht ” : Die Angestellten können sich zumindest bis zu einem gewissen Grad so verhalten, als könnte der Chef ihnen gar keinen Ärger machen. Wenn ich dagegen die Macht nach ihrer tatsächlichen Ausübung beschreiben wollte, gelänge es mir nicht mehr, Machtverhältnisse angemessen zu erfassen, die immer schon in der Potentialität eines (strafenden, belohnenden, ermahnenden) Geschehens bestehen. Ich müsste dann sagen, jemand hätte größere Macht, nur weil er, sagen wir, mehr Befehle gegeben hat; obwohl ich hier doch lieber sagen möchte, er hat seine Macht entschiedener ausgeübt. Diesem Problem lässt sich begegnen, indem man den Begriff “ Macht ” bereits als Möglichkeit zu etwas, nämlich zu einer bestimmten Beeinflussung definiert, wie es die zweite der genannten Weberschen Definitionen tut. Im Gegensatz zu möglicher Macht zeigt diese Definition klar, dass das Vorhandensein von Macht sich immer über die Möglichkeit ihrerAusübung definiert, dass sie also auch dann sehr reale Macht ist, wenn sie gerade nicht ausgeübt wird. Wird “ Macht ” entsprechend definiert, ergibt sich für “ mögliche Macht ” die oben (im Beispiel des schüchternen Chefs) als sinnvoll erkannte Verwendungsweise, womit die Potentialität eines Machtverhältnisses beschrieben wird, die aber aus irgendeinem Grunde nicht aktualisiert wird. 2.2 Definition Macht muss nicht auf expliziten Machtmitteln basieren, sie kann auch durch eine Asymmetrie der Situation entstehen. Andererseits liegt nicht bei jeder Asymmetrie Macht vor: So kann die Wirkung von überlegener Befähigung auf einem Gebiet z. B. nicht sinnvoll mit der von Macht zusammengeführt werden. Das sollte daraus ersichtlich sein, dass Macht gerade dazu dienen kann, unabhängig von der Befähigung seinen Willen zu erzwingen, während eine Beeinflussung durch überlegene Befähigung auf Überzeugung basiert. Es ist daher sinnvoll, von der Asymmetrie auszusagen, dass sie auf Bedingungen der gesellschaftlichen oder institutionellen Organisation beruht. Eine solche Asymmetrie sei strukturelle Asymmetrie genannt. “ Macht ” sei definiert als die Möglichkeit eines Menschen, über einen oder mehrere andere Menschen aufgrund einer strukturellen Asymmetrie der Situation entsprechend dem eigenen Willen zu bestimmen. Macht und Zeichen 95 Zwei weitere Beispiele sollen die Abgrenzung verdeutlichen: l Wenn ein chronisch kranker Patient für sein Wohlergehen auf ein bestimmtes Medikament angewiesen ist, das nur von einem bestimmten Unternehmen hergestellt wurde, so entsteht eine strukturell asymmetrische Situation und damit ein Machtverhältnis. l Dagegen handelt es sich nicht um Macht im Sinne meiner Definition, wenn eine Pianistin alle Aufmerksamkeit auf sich zieht, während die Konzerte ihrer Kollegen leer bleiben, diese Situation aber nicht auf Kritikervorurteil oder Werbeaufwand, sondern auf die freie Wahl der Konzertbesucher zurückzuführen ist. Sofern keine strukturelle Asymmetrie in der Situation vorhanden ist, können sich die Konzertbesucher zwischen den verschiedenen Möglichkeiten frei entscheiden; daher gilt, dass der unterschiedliche Erfolg auf natürliche Autorität (vgl. Abschnitt 4.1.2) und nicht auf Macht zurückzuführen ist. Entscheidend ist hier, dass die Situation selbst symmetrisch ist: Im angenommenen Beispiel haben alle Pianisten eine gute Ausbildung erhalten, über alle wird geschrieben und alle haben die Möglichkeit, aufzutreten. Wird jene Pianistin dagegen besonders gefördert, weil sie sich beispielsweise einem wichtigen Mentor unterstellt hat, entsteht eine strukturelle Asymmetrie: Die Tatsache, dass alle über sie reden, hängt jetzt damit zusammen, dass die Situation entsprechend beeinflusst wurde, indem sie etwa prestigeträchtigere Auftrittsmöglichkeiten, größeres Medienecho oder die renommierteren Orchester zur Begleitung zugeschanzt bekommt. Zwar hat die Pianistin selbst zunächst immer noch keine Macht (diese kann jedoch rasch entstehen, wenn sie berühmt wird); ihr Erfolg ist jedoch ein Ergebnis von Macht. Der etwas sperrige Begriff “ strukturelle Asymmetrie ” wird hier gewählt, um eine bestimmte Art von Asymmetrie zu kennzeichnen. Eine “ Asymmetrie der Situation ” ist ja auch gegeben, wenn die Pianistin einfach so viel besser ist, dass niemand ihre Kollegen hören will. “ Strukturelle Asymmetrie ” bezeichnet daher das Vorhandensein einer Situation, die, unabhängig vom Verhalten und von den Fähigkeiten der beteiligten Personen, bereits asymmetrisch ist. Unter der “ Struktur ” einer Situation verstehe ich hier also alle nicht-personenabhängigen Fakten, die Einfluss auf die Situation haben können. In diesem Sinn verwendet umfasst die “ Struktur ” des Schachspiels die Menge der Figuren, das Spielbrett, die Spielregeln und die konventionellen Spielvarianten. Die “ Struktur der Situation ” umfasst bei einem spezifischen Schachspiel darüber hinaus auch Faktoren wie Hintergrundgeräusche oder Lichtverhältnisse. Zu beachten ist dabei, dass die Struktur einer Situation natürlich durch früheres Verhalten der beteiligten Person beeinflusst werden kann; entscheidend ist daher die situationsspezifische Analyse. Akzeptiert man die oben gegebene Machtdefinition, ist Macht z. B. im Fall eines Spiels dann gegeben, wenn es unausgeglichene Regeln hat, oder wenn andere Bedingungen eine strukturelle Asymmetrie der Situation erzeugen, beispielsweise wenn der Wind bei einem Tennisspiel die eine Spielerin begünstigt. Die enorme Asymmetrie, die entstehen würde, wenn ich gegen einen Wimbledonsieger antreten würde, hätte dagegen mit Macht leider wenig zu tun . . . 96 Martin Siefkes (Chemnitz) 3. Drei Aspekte der Kultur Für eine angemessene semiotische Beschreibung von Macht ist ein kultursemiotischer Ansatz nötig, der Gesellschaft und Kultur als durch Zeichenprozesse konstituierte Phänomene beschreibt. Hier soll der kultursemiotische Ansatz von Roland Posner zugrunde gelegt werden. 15 Darin wird eine Dreiteilung der Kultur vorgenommen, indem zwischen der “ sozialen Kultur ” (der Menge der Zeichenbenutzer und Institutionen einer Gesellschaft), der “ materialen Kultur ” (der Menge der Artefakte einer Kultur) und der “ mentalen Kultur ” (der Menge der Mentefakte einer Kultur) unterschieden wird. Auf der Grundlage dieser Dreiteilung lässt sich der Begriff der Macht explizieren. Sie soll daher noch etwas erläutert werden. 3.1 Soziale Kultur Als soziale Kultur einer Gesellschaft verstehen wir ihre Strukturierung in einzelne Zeichenbenutzer und deren Interaktion sowie Gruppen von Zeichenbenutzern und deren Interaktion. Gruppen von Individuen, die regelmäßig durch Zeichenprozesse miteinander verbunden sind und nach außen in ihrer Gesamtheit als ein Zeichenbenutzer auftreten können, nennen wir Institutionen. 16 Lange Zeit wurde die soziale Kultur als alleiniger oder doch wichtigster Ort von Macht und Machtverhältnissen gesehen. Wir werden jedoch sehen, dass dieser Ansatz zu kurz greift. 3.2 Materiale Kultur Als materiale Kultur einer Gesellschaft verstehen wir die Gesamtheit ihrer Artefakte sowie das Wissen um ihre Herstellung und Anwendung. 17 Als Artefakte definieren wir alles, was Ergebnis absichtlichen Verhaltens ist, unabhängig davon ob das Ergebnis selbst beabsichtigt war. Insbesondere fallen auch die Texte einer Kultur unter ihre Artefakte. Jedes Artefakt, das in einer Kultur nicht nur eine Funktion hat, sondern auch ein Zeichen ist, das eine kodierte Botschaft trägt, verstehen wir als Text dieser Kultur. 18 Dazu gehören auch nicht-permanente Zeichen wie musikalische Darbietungen oder Theateraufführungen. 3.3 Mentale Kultur Die mentale Kultur einer Gesellschaft besteht aus ihren Mentefakten. Mentefakte sind Ideen und Konventionen, Vorstellungen und Interpretationen, die in einer Gesellschaft verbreitet sind. 19 Semiotisch gesehen, handelt es sich um konventionelle Zeichen oder Kodes, die eine Gesellschaft entwickelt. 20 Konkret sind Mentefakte: 15 Posner 2003. 16 ebd.: 47 f und 49. 17 ebd.: 48 und 50. 18 ebd.: 51. 19 ebd.: 48 und 53. 20 Der von mir verwendete Begriff von “ Mentefakt ” ist etwas weiter als der in Posner 2003 gegebene, weil er nicht nur Kodes umfasst, sondern auch gewisse konventionelle Merkmale ihrer Verwendung. Die Verwendung eines Kodes ist selbst immer ein Text (vgl. Posner 2003: 51 ff ); die nicht aus der Kodeverwendung ableitbaren Merkmale eines solchen Textes, sofern sie nicht zufällig sind, gehören dagegen m. E. in den Macht und Zeichen 97 l Sprachen und Dialekte l wissenschaftliche Theorien l konventionalisierte Verwendungen bestimmter Elemente mit einer bestimmten Bedeutung in der Kunst ( “ ästhetische Kodes ” ) l Begriffe l religiöse Vorstellungen l moralische Werte l usw. Alle Kodes, die eine Gesellschaft benutzt, sind Mentefakte. Wichtig ist der Unterschied zwischen primären Kodes (eine Sprache; ein System von Verkehrszeichen; eine musikalische Notation usw.) und auf ihnen aufbauenden sekundären Kodes (literarische Genres sowie Stile der Kodebenutzung in Kunst und Alltag; musikalische Stile und Aufführungspraxen usw.). Jede Benutzung eines Codes ist ein Text. Drei Beispiele sollen die Abgrenzungen zwischen Mentefakten und Artefakten verdeutlichen: Ein Buch ist kein Mentefakt, sondern ein Text einer Kultur. Ebenso sind aber auch ein Bild oder die Fassade eines Hauses ein Text in unserem Sinne, da sie alle kodierte Bedeutungen haben, denn Texte sind alle Artefakte mit kodierter Zeichenfunktion in einer bestimmten Kultur. Alle drei beruhen jedoch auf Mentefakten, also auf Kodes: - Ein Buch beruht auf der Sprache, dem wohl wichtigsten Kode jeder Kultur, sowie auf weiteren sekundären Kodes, die wir ästhetische Kodes nennen können, wie dem Kode der literarischen Genres und Traditionen, zu dem es sich immer auf die eine oder andere Art (sei es auch ablehnend) verhalten muss; dem Kode der literarischen Sprachbenutzungsweisen ( “ Stile ” ), den es anwendet oder (in seltenen Fällen) erweitert; usw. - Ein Bild beruht auf ähnlichen ästhetischen Kodes; die Rolle der Sprache (d. h. die Bereitstellung eines primären Kodes, auf dessen Grundlage experimentiert werden kann) kommt hier den Darstellungskodes (z. B. Zentralperspektive) oder verschiedenen Techniken (z. B. Fresko-Technik) mit dem Wissen um ihre Anwendung zu. - Eine Fassade beruht ebenfalls auf einem primären Kode: Hier ist es das Repertoire von Formen wie Fenster, Türen, Giebel, Simse, Balkone, Dächer usw. Als darauf basierende Bereich der Mentefakte. Ein Mentefakt liegt daher zum Beispiel vor, wenn jemand eine Idee entwickelt, wie man einen Text auf eine bestimmte, neue Art schaffen kann: Dies gilt z. B. für eine neue Technik beim Malen (z. B. die Freskotechnik), ein neues Konzept in der Plastik (z. B. das “ ready-made ” ), einen neuen literarischen Stil (z. B. “ stream of consciousness ” ) oder eine neue Methode der Theateraufführung (z. B. “ episches Theater ” ). Es macht Sinn, solche Ideen in den Mentefaktbegriff mit einzubeziehen, weil sie aus der einfachen Benutzung eines Kodes auf keine Art ableitbar sind. Man kann sie aber selbst als “ ästhetische Kodes ” bezeichnen, die meistens auf primären Kodes (z. B. der Sprache) basieren, indem sie bestimmten Verwendungsarten (als Signifikanten) bestimmte Bedeutungen (als Signifikate) zuordnen. Für den vorliegenden Zweck hat das außerdem den Vorteil, dass unter anderem künstlerische oder wissenschaftliche Ideen unter den Mentefaktbegriff gefasst werden können. Bei der Beschreibung der Deutungsmacht müssten sonst einige Phänomene eingeschlossen werden, z. B. die Definition einer neuen Konstruktsprache oder neuer Begriffe, andere aber ausgeschlossen, z. B. die Entwicklung künstlerischer Ausdrucksformen. Dies macht jedoch wenig Sinn, wenn man die Konventionalität der letzteren und die Tatsache berücksichtigt, dass sie ebenso wie die ersteren häufig von anderen Personen übernommen und zur Grundlage einer bestimmten Richtung oder Schule (der Wissenschaft, der Philosophie oder der Kunst) werden. 98 Martin Siefkes (Chemnitz) sekundäre Kodes, die mehr oder minder kodiert sein können, lassen sich Architekturstile (z. B. Klassizismus, Moderne) und Individualstile einzelner Architekten verstehen. 4. Drei Arten von Macht Aus der semiotischen Perspektive lässt sich das übergreifende Phänomen der Kultur in die Aspekte der sozialen Kultur, der materialen Kultur und der mentalen Kultur unterteilen. In allen drei Bereichen finden sich spezifische Phänomene der Macht. Der gewählte kultursemiotische Ansatz ermöglicht es nun, diese Phänomene aus dem semiotischen Verständnis des jeweiligen Kulturaspekts heraus zu verstehen. Der Vorteil der gewählten Methode, bei der semiotischen Beschreibung von Macht auf einem kultursemiotischen Ansatz aufzubauen, zeigt sich darin, dass nun die Machtphänomene semiotisch erfassbar werden, während sie ohne dieseVorarbeit zu vielfältig für eine ergiebige Analyse erschienen waren, wie die Diversität der in der Einleitung vorgestellten Beispiele zeigte. Diese Beispiele sind nicht zufällig gewählt: Es wird sich herausstellen, dass jedem der Beispiele eine andere semiotische Art der Macht entspricht, die jeweils in einem anderen der drei semiotischen Bereiche der Kultur stattfindet. Und auch die in der Einleitung festgestellten Unterschiede zwischen den drei Beispielen sind nicht beliebig: Sie zeigen vielmehr, dass die drei Machtsorten unterschiedliche Eigenschaften besitzen. Die Stärke der kultursemiotischen Beschreibung der Macht besteht darin, dass sie die offensichtlichen Unterschiede, die die drei Machtsorten zeigen und die empirisch klar nachweisbar sind (einige Hinweise hat die Einleitung dazu gegeben), analytisch erklären kann. Im folgenden werden die drei Machtsorten einzeln erläutert; die Reihenfolge der zugrundeliegenden Kulturbereiche wird dabei aus Gründen der Darstellung umgekehrt: In Abschnitt 4.1 wird Deutungsmacht behandelt, die im Bereich der mentalen Kultur (vgl. Abschnitt 3.3) stattfindet, in Abschnitt 4.2 wird Verfügungsmacht behandelt, die im Bereich der materialen Kultur (vgl. Abschnitt 3.2) stattfindet, und in Abschnitt 4.3 wird Positionsmacht behandelt, die im Bereich der sozialen Kultur (vgl. Abschnitt 3.1) stattfindet. 4.1 Deutungsmacht 4.1.1 Allgemeines “ Deutungsmacht ” sei definiert als die Möglichkeit eines Zeichenbenutzers in einer bestimmten Kultur, Mentefakte als Teil der Mentalität dieser Kultur zu definieren und/ oder zu verbreiten. Deutungsmacht findet im Bereich der mentalen Kultur statt. Wichtig ist die Einschränkung “ als Teil der Mentalität einer Kultur ” . Die Fähigkeit, neue Kodes zu definieren, hängt weitgehend von Bildungsstand, Intelligenz und Begabung des Individuums ab; sie allein stellt sicher noch keine Art von Macht dar. Sie ist jedoch notwendige Bedingung dafür, Deutungsmacht zu entwickeln. Deren Entstehung hängt von verschiedenen Faktoren ab, die eine Verbreitung der neuen Kodes möglich machen. Dazu gehören: l Medienzugang (die Möglichkeit, ein Medium als Sender zu benutzen) l Medienpräsenz (der Umfang, in dem jemand Medienzugang hat) Macht und Zeichen 99 l Medienkompetenz (der Grad, in dem jemand ein Medium für seine Zwecke zu verwenden weiß). l Expertenecho (die Haltung der Experten bzw. Kritiker, wie sie im ästhetischen Bereich genannt werden). l Größe des Bekanntenkreises, der ‘ direkt ’ beeinflusst werden kann. 21 Was sind Mentefakte? Darunter fallen Posner zufolge l alle Kodes eine Gesellschaft, l ihre Ideen, l ihre allgemeinen Begriffe (z. B. ‘ Mensch ’ und ‘ Tier ’ , ‘ Himmel ’ und ‘ Hölle ’ ), l ihre Werte (z. B. ‘ Freiheit ’ und ‘ Gleichheit ’ , oder aktueller: ‘ Eigenverantwortung ’ ). Solche Mentefakte kann man als Kodes auffassen, zum einen, weil es etwas geben muss, was sie ausdrückt (eine “ symbolische Form ” im Sinne Cassirers), also einen Signifikanten; zum anderen, weil die Verbindung dieses Signifikanten zu einem Signifikat konventioneller Natur ist: 22 Die Bedeutungszuordnungen könnten auch anders sein. 23 Damit erfüllen sie die Voraussetzungen für Kodes. Ein zentrales Problem für das Verständnis dieser Art von Macht ist die Unterscheidung zwischen Deutungsmacht und natürlicher Autorität. 4.1.2 Natürliche Autorität vs. Deutungsmacht “ Natürliche Autorität ” sei definiert als die auf früherer Leistung in einem bestimmten Bereich beruhende Fähigkeit einer Person, für von ihr produzierte Texte und/ oder Mentefakte bei anderen zum einen Interesse, d. h. die Bereitschaft zu ihrer Rezeption, zum anderen Akzeptanz, d. h. die Bereitschaft zu ihren Gunsten voreingenommen zu sein, zu finden. So besteht die natürliche Autorität eines berühmten Schriftstellers darin, dass viele Menschen sein neues Buch kaufen wollen, und die natürliche Autorität einer Physikerin darin, dass ihre neue Theorie von der Wissenschaftler-Gemeinschaft unabhängig vom ersten Eindruck sorgfältig unter die Lupe genommen wird. 21 Auch das Papier des Manuskripts, das ich jemandem zeige, oder die Luft, die die Schwingungen überträgt, wenn ich mit jemandem spreche, sind natürlich Medien. Ersteres gehört zum technologischen Medienbegriff, zweiteres zum physikalischen Medienbegriff (vgl. Posner 2003: 44). Auch die Betrachtung des Zugangs zu diesen Medien ist selbstverständlich machttheoretisch relevant. Ein umfassender Medienbegriff gibt uns hier die Möglichkeit, auch Machtverhältnisse zu beschreiben, wie sie in der Interaktion von Behinderten mit Nichtbehinderten, von Inländern mit Ausländern oder von Analphabeten mit Alphabeten auftreten (die letzten beiden Beispiele mit Hilfe des kodebezogenen Medienbegriffs, der Landessprachen bzw. Schrift als Medien betrachtet). 22 Posner 2003: 53. 23 Zugleich werden sie von vielen Gesellschaften für ‘ objektiv wahr und richtig ’ gehalten. Ist die Konventionalität der Werte noch relativ leicht zu erkennen, dauerte dieselbe Erkenntnis bei den Begriffen besonders lange Zeit, worunter insbesondere die Anthropologie zu leiden hatte, bis sich in den 1930er Jahren die “ linguistische Relativitätsthese ” von Edward Sapir und Benjamin Lee Whorf durchzusetzen begann. 100 Martin Siefkes (Chemnitz) Wichtig ist die Unterscheidung zwischen Deutungsmacht und natürlicher Autorität aus folgenden Gründen: 1. Die natürliche Autorität wird manchmal als Form von Macht missverstanden, wenn sie z. B. dafür sorgt, dass selbst eine oberflächliche, argumentativ schwache Äußerung einer Person ein großes Echo auslöst und anstelle von möglicherweise viel substantielleren Äußerungen anderer Personen diskutiert wird. Die Wirkung der natürlichen Autorität basiert jedoch auf vergangenen Leistungen einer Person in einem bestimmten Gebiet und zeigt daher gerade die Abwesenheit von Macht. Dies zeigt als Gegenprobe die Notwendigkeit von Macht zur Verhinderung der Wirkung natürlicher Autorität: Der Versuch, jeder Äußerung das gleiche Echo zu verschaffen, z. B. jeden Schriftsteller in gleicherAuflage zu drucken oder jedem erschienenen Buch genau 20 Zeilen im Feuilleton zu widmen, wäre sicherlich nur mit entschiedener Machtausübung durchführbar. Dagegen sind gewisse Versuche, Vorurteilen entgegenzuwirken, wie sie z. B. die “ affirmative action ” in den USA darstellt oder die gezielte Förderung unbekannter Schriftsteller, nicht als Ausübung von, sondern als Verhinderung von Macht zu verstehen. Wenn nämlich eine Person z. B. aufgrund ihrer Hautfarbe oder ihres Geschlechts ernster genommen wird als eine andere, hat dies mit natürlicher Autorität im Sinne unserer Definition nichts zu tun und kann somit nur auf Machtverhältnisse zurückgeführt werden. 2. Natürliche Autorität und Deutungsmacht führen zu äußerlich ähnlichen Ergebnissen, z. B. starker Medienpräsenz. 3. Natürliche Autorität ist selbstregulierend, Deutungsmacht jedoch nicht. Folgt beispielsweise ein schwaches Buch eines Schriftstellers auf ein starkes, ist damit zu rechnen, dass es mehr Aufmerksamkeit erhält, als es verdient; dies gleicht sich jedoch beim darauf folgenden Buch wieder aus. Als Autorität eines Menschen verstehe ich die Wahrscheinlichkeit, mit der andere seinen Willen erfüllen, wobei diese Willenserfüllung nicht auf einer strukturellen Asymmetrie der Situation beruht. Die Bedingung des letzten Teilsatzes unterscheidet Autorität von Macht. Die natürliche Autorität ist sorgfältig zu trennen von der künstlichen Autorität. Als künstliche Autorität definiere jede Autorität, die nicht natürlich im Sinne der obigen Definition ist. Beispielsweise ist die Autorität eines Lehrers eine künstliche Autorität, weil sie auf einer strukturellen Asymmetrie der Situation beruht. Ein Lehrer kann jedoch - ebenso wie jede andere Person - natürliche Autorität aufgrund seiner Fähigkeiten, seiner Persönlichkeit oder seines früheren Verhaltens entwickeln. 4.1.3 Die Herstellung von Mentefakten Die Herstellung von Mentefakten geschieht in verschiedenen Bereichen einer Gesellschaft. In modernen westlichen Gesellschaften wie in Deutschland fallen besonders zwei Bereiche ins Auge: Zum einen sind das die Universitäten, zum anderen der Bereich, der manchmal im engeren Sinne als “ Kultur ” bezeichnet wird (z. B. wenn eine Zeitung einen “ Kulturteil ” hat und darin Kunst, Literatur, Theateraufführungen usw. bespricht), der Bereich der künstlerischen Tätigkeit von einzelnen und Institutionen. Macht und Zeichen 101 Wenn auf einer Universität nur mit vorhandenen Kodes gearbeitet, aber keine neuen entwickelt werden, dann spricht man ihr in der Regel den Status als Universität ab und bezeichnet sie als “ unwissenschaftlich ” oder “ verschult ” , Attribute, die man den traditionell weniger auf Innovation und mehr auf rasche und effiziente Ausbildung bedachten Fachhochschulen zugeschrieben hat. (Aufgrund der Universitätsreformen der letzten Jahre findet hier aber eine rasche Annäherung statt.) Auch in dem im engeren Sinn “ Kultur ” genannten Bereich werden Kodes erschaffen. Hier kann und soll möglichst frei von direkten Notwendigkeiten experimentiert werden. Obwohl häufig schon ein Kode oder viele Kodes in einem bestimmten Bereich vorhanden sind, wird der kulturellen Leistung um so mehr Wert zugesprochen, je innovativer ihr Kode ist. Um die Frage, ob der eine oder andere neue Kode vorzuziehen ist, bilden sich Schulen, die sich in für die Öffentlichkeit interessanter Weise bekämpfen. Aber auch alte Kodes haben ihre Anhänger, die sich als “ konservativ ” sehen und der Meinung sind, dass man die Innovation nicht zu weit treiben dürfe. Aber auch in anderen Bereichen der Gesellschaft entstehen Mentefakte. So entwickeln heute Unternehmen viele neue Methoden für technische Problemlösungen und melden sie zum Patent an; auch solche Methoden, trotz ihres handfesten und auf Nützlichkeit ausgerichteten Charakters, sind Mentefakte in dem Maße, in dem sie neue Kodes erschaf fen und auf neuen Zeichen und ihren Verwendungsarten basieren. Außerdem greifen Unternehmen durch die moderne Idee der Markenrechte, d. h. des Rechts auf Alleinbestimmung bestimmter Zeichenerfinder über die Bedeutungen (Signifikate) der von ihnen erschaffenen Zeichen (Signifikanten), in die Mentalität einer Gesellschaft ein: Andere Zeichenbenutzer dürfen diese Zeichen in bestimmten Bereichen nur im Sinne der Erfinder benutzen. Insbesondere die Verwendung in negativen Kontexten ist ausgeschlossen. Da die Unternehmenszeichen (Marken) aber sehr grundlegend für die Kultur kapitalistischer Gesellschaften geworden sind, empfinden vor allem Künstler diese Einschränkungen als massiven Eingriff in die “ künstlerische Freiheit ” , die eine freie Benutzung aller für eine Gesellschaft relevanten Zeichen einschließt. 24 Es haben sich daher bestimmte Formen des Protests gegen Markenmacht gebildet, für die es sogar schon spezielle Zeitschriften gibt. 25 24 Dieses Problem wird von Naomi Klein in “ No logo ” diskutiert (Klein 2000). Obwohl das Buch teilweise als “ Gründungsdokument der Globalisierungskritik ” gehandelt wurde, ist es zunächst einmal eine journalistische Begleitung der Bewegung und eine Darstellung des großen Trends der 90er zum “ Branding ” . Unter anderem beschreibt Klein, wie in den USA in einer Kultur des Zitats eine Zweiklassengesellschaft von Künstlern zu entstehen droht, da es sich nur Künstler mit einem finanzkräftigen Unternehmen im Hintergrund leisten können, die Nutzungsrechte für alle gewünschten Samples zu erwerben. 25 Die amerikanische Zeitschrift “ Adbusters ” , die vierteljährlich erscheint, publiziert regelmäßig Entwürfe zu ‘ verbesserten ’ Werbungen, berichtet über Fakes (Werbefälschungen) und clever gemachte ‘ Verschönerungen ’ von Werbetafeln. Sie ist nicht grundsätzlich gegen Werbung eingestellt, sondern kritisiert deren Übertreibungen und Auswüchse. “ Adbusters verbreitet vor einem kulturpessimistischen Hintergrund eine Mischung aus klassischer Gegenöffentlichkeit, Berichten über Billboard Banditry und eigener Anti-Werbung. Zur Verfremdung des Erscheinungsbildes bekannter Markenprodukte oder Hersteller [. . .] verwendet Adbusters Techniken der Collage und Montage. Neben traditionellen Politikformen wie Petitionen oder öffentlichen Kampagnen propagiert die Zeitschrift in ihrem ‘ Culture Jammer's Manifesto ’ auch die Störung von Fernsehsendungen ( ‘ Television-hijacking ’ ) und Formen der Ökosabotage ( ‘ monkey-wrenching ’ ). ” (Blissett u. a. 2001: 105.) 102 Martin Siefkes (Chemnitz) Ebenso werden die Massenmedien und die Werbung zu immer wichtigeren Mentefaktproduzenten. Dabei ist jedoch zu beachten, dass die von ihnen produzierten Inhalte, ebenso wie die der im engeren Sinn “ Kultur ” genannten, zunächst einmal Texte sind. Früher beschränkten sich Medien und Werbung weitgehend auf diese Textfunktion; doch mit dem stark gestiegenen Konkurrenzdruck verstehen sie sich immer mehr als Mentefaktproduzenten, die den traditionellen Bereichen (s. oben, sowie auch Kirchen, Staat und Philosophie) die Bestimmung der gesellschaftlichen Mentefakte streitig machen. Sie entwickeln daher Formate bzw. Kampagnen, die als neue Kodes in der Gesellschaft wirksam werden sollen. Als Beispiele für erfolgreiche Mentefakte dieser Art seien TV-Formate wie “ Deutschland sucht den Superstar ” oder erfolgreiche Widersprüche wie das zeitweilig zum geflügelten Wort gewordene “ Nicht immer - aber immer öfter! ” der Brauerei Radeberger genannt. 26 In vielen Bereichen des täglichen Lebens entstehen neue Kodes oder neue Zeichen innerhalb vorhandener Kodes; häufig spielen dabei kleine, informelle Gruppen von Zeichenbenutzern eine Rolle. Sofern diese Gruppen (z. B. eine “ Gang ” von Jugendlichen, eine erfolgreiche Band o. ä.) durch ihre interne Organisation klar abgegrenzt sind, sie nach außen als Gruppe auftreten und dabei charakteristische Zeichen, wie z. B. Kleidung oder bestimmte Ausdrucksweisen, benutzen, zeigen sie die semiotischen Merkmale einer Institution. Solche Gruppen erfinden zwar selten ganz neue Kodes, tragen aber häufig zum Kodewandel innerhalb bestimmter Bereiche des Alltagslebens entscheidend bei. 27 Das betrifft vor allem Kleidung, Gesten, Freizeitverhalten, Sportausübung sowie die Alltags- und Umgangssprache. Bevor solche neuen Kodes die gesamte Gesellschaft durchdringen (wobei sie sich meistens mit bekannten Kodes vermischen und abschwächen), werden sie häufig von bestimmten, über ein größeres Gebiet verbreiteten Gruppen benutzt, die nicht direkt miteinander interagieren, aber ein ausgeprägtes Gemeinschaftsgefühl besitzen. Man spricht dann von Subkulturen. 4.1.4 Arten von Deutungsmacht Bei der bisherigen Diskussion mag der Eindruck entstanden sein, es handele sich bei Mentefakten, abgesehen von Erfindungen, vor allem um Meinungsäußerungen. Hier ist zunächst eine Klärung notwendig: Tatsächlich gehören Äußerungen an sich überhaupt nicht zu den Mentefakten; sie sind Texte und gehören damit in den Bereich der materialen Kultur. An dieser Stelle ist die Trennung nicht immer einfach. Sicher ist jedoch, dass die Interpretation der Welt, die in den meisten Meinungsäußerungen vorkommt, in den Bereich der Mentefakte gehört. Ein Beispiel soll das beleuchten: Wenn jemand im Fernsehen seine Meinung zu einem gesellschaftlich relevanten Thema sagen darf, dann gehört die Äußerung selbst, ihre Wortwahl, ihr Klangbild bei einer Aufnahme, ihr Abdruck in einem Sammelband usw. in den Bereich der Texte. Die darin geäußerten politischen, wirtschaftlichen oder ästhetischen Deutungen aber sind Mentefakte, da sie Kodes einer Kultur 26 Die Eintragung dieses Slogans als Marke scheiterte allerdings an seiner mangelnden produktspezifischen Ausrichtung und einer zu geringen Schöpfungshöhe (darunter wird der Grad der Originalität eines Werks verstanden). (Beschluß des Bundespatentgerichts vom 14. 05. 1997, 26 W (PAT) 7/ 97, GRUR 1998, 57). 27 Zu Prozessen des intrakulturellen Codewandels vgl. Posner 2003: 61 ff. Macht und Zeichen 103 sind, die bestimmten Erscheinungen (Signifikanten) bestimmte Bedeutungen (Signifikate) zuordnen. Natürlich sind Meinungsäußerungen nur eine von vielen möglichen Arten, Mentefakte durch Textproduktion zu erzeugen und sie mit Hilfe von Deutungsmacht zu verbreiten. Das geschieht zum Beispiel auch, wenn l jemand ein Buch schreibt, das aus bestimmten Gründen sehr weit verbreitet wird, und damit die Entwicklung einer bestimmten Sprache nachhaltig beeinflusst, wie Luther es mit seiner Bibelübersetzung (1521/ 1534) tat, l jemand durch häufige Medienpräsenz oder aufgrund seiner Aufnahme in den Kanon als zentral empfundener Texte 28 das alltägliche Verhalten der Menschen nachhaltig beeinflusst, wie es Intellektuelle, Wortführer, Philosophen und Fernsehmoderatoren tun, l jemand eine künstliche Sprache (wie z. B. “ Volapük ” ) oder einen neuen Kode (wie z. B. Shea Zellwegers “ logic alphabet ” ) mit Hilfe seines Bekanntheitsgrads zu verbreiten sucht, l jemand eine wissenschaftliche oder gesellschaftliche Theorie entwirft, die sie mit Hilfe einer Position (z. B. einer Professur) oder Finanzmitteln zu verbreiten versteht, l jemand sich aufgrund von Kritikerlob mit einem bestimmten künstlerischen Stil durchsetzt, l ein Schamane einen neuen Mythen erfindet oder ein alten abändert und seine Schützlinge dazu bringt, sie zu übernehmen, l jemand religiöse Vorstellungen erschafft und seinen Anhängern mit Hilfe vorgeblich gottgegebener Autorität droht oder etwas verspricht, wenn sie sich daran halten, l jemand, der dank seiner Position oder seiner Finanzkraft ein Medium nutzen kann, moralische Werte empfiehlt. 4.2 Verfügungsmacht 4.2.1 Allgemeines “ Verfügungsmacht ” sei definiert als die Möglichkeit eines Mitglieds einer bestimmten Kultur, über Artefakte und Texte dieser Kultur zu verfügen. Für die Größe der Verfügungsmacht ist einerseits die Menge und intrakulturelle Wichtigkeit der Artefakte und Texte, andererseits der Grad der Einflussnahme auf ihre Verwendung entscheidend. Verfügungsmacht findet im Bereich der materialen Kultur statt. Anmerkung zur Rolle von Texten: Texte sind als Unterkategorie von Artefakten anzusehen (vgl. Posner 2003: 51) und fallen damit unter Verfügungsmacht, wenn auch mit gewissen Einschränkungen. Die Rechte an einem Text (Urheberrechte) gehören in unserem Sinne nicht zu den Mentefakten, sondern zu den Artefakten, da Texte einen Kode verwenden und nicht selbst einen darstellen. Es sei aber darauf hingewiesen, dass ein Text zu einem Mentefakt der Kultur werden kann. Z. B. wurde das Pantheon zu einem der einflussreichsten architektonischen Vorbilder Europas und damit zu einem Mentefakt europäischer Kultur. Ebenso gehört die Faust-Legende seit vielen Jahrhunderten zum Bereich der mentalen 28 Zur Zentralität von Kodes in einer Gesellschaft vgl. Posner 2003: 62 f. 104 Martin Siefkes (Chemnitz) Kultur des deutschen Sprachraums und hat sich damit von einzelnen Texten abgelöst. 29 In kapitalistischen Gesellschaften bestimmt sich Verfügungsmacht zu einem großen Teil als “ Eigentum ” . Wenn mir etwas gehört, habe ich die vollständigeVerfügungsmacht darüber. Andererseits ist Verfügungsmacht auch außerhalb von Eigentum anzutreffen: - Ein Dieb oder Räuber verschafft sich außerhalb der spezifischen Gesetze, die in einer Kultur gelten, Verfügungsmacht über Artefakte dieser Kultur. - Eine Museumsdirektorin kann über die Artefakte (in der Regel werden es Texte in unserem Sinne sein) ihres Museums bis zu einem gewissen Grad verfügen. Ihre Verfügungsmacht entsteht durch Positionsmacht (vgl. Abschnitt 3.2), ist jedoch keine vollständige Macht. 30 Sie kann anordnen, welche Artefakte gezeigt werden, welche gekauft werden, und bei vielen Stücken auch, dass sie verkauft werden. Ihre Zerstörung kann sie jedoch in der Regel nicht anordnen. 4.2.2 Geld und Eigentum Im Bereich der Verfügungsmacht haben kapitalistische Gesellschaften das Konzept “ Eigentum ” entwickelt, das die vollkommene Verfügungsmacht über Dinge (mit gewissen Einschränkungen auch über Tiere) vorsieht. Als symbolische Repräsentation des Eigentums dient das Geld, das eine Entwicklung der allmählichen Abstraktion vom tatsächlichen Eigentum hin zur symbolischen Repräsentation von Eigentum durchgemacht hat, beginnend mit Edelmetallen, die allgemein beliebt waren und sich somit als Tauschmittel eigneten, über die Repräsentation solcher Edelmetalle durch Münzen und Scheine, deren Eintauschbarkeit jederzeit garantiert war, bis zur “ Währung ” , deren Wertentwicklung von Edelmetallen abgekoppelt ist und den Marktgesetzen gehorcht. Heute wird Geld, das Symbol für die absolute Verfügungsmacht, zunehmend elektronisch repräsentiert. Eine solche Repräsentation ist nur möglich, wenn sie konventionell absolut abgesichert ist, da sonst niemand tatsächliches Eigentum aus der Hand geben würde: Nur in sehr stabilen kapitalistischen Gesellschaften wird die immaterielle Zahl im Computer, die einen Kontostand ausdrückt, von den Betroffenen als gleichwertig mit dem tatsächlichen Eigentum an Gegenständen, zum Beispiel Immobilien- und Edelmetallbesitz, angesehen. Da das Konzept der vollkommenen Verfügungsmacht in kapitalistischen Gesellschaften grundlegend geworden ist, wurde es notwendig, die Ausübung von Verfügungsmacht unabhängig von Anwesenheit, direktem Eingriff und persönlicher Überwachung zu gestalten. Es wurde daher zu einer der zentralen Aufgaben des Staates, die Überwachung der Verfügungsmacht für seine Bürger zu übernehmen. 29 Obwohl es einzelne Texte gab, die ausschlaggebend für die Entstehung dieses Mentefakts waren, wie z. B. die anonyme “ Historia von D. Johann Fausten, dem weitbeschreyten Zauberer vnnd Schwartzkünstler ” von 1587. 30 Ich benutze den Begriff “ vollständige Macht ” für eine Verfügungsmacht, die alle Möglichkeiten umfasst. Der Begriff “ absolute Macht ” wird häufig für absolute Herrscher verwendet und ist daher semantisch eng mit einer Herrschaftsform verbunden. Diese Herrschaftsform zeigt verschiedene Merkmale, zu denen vollständige Macht des Herrschers nicht gehören muss. So wird ein absoluter Herrscher unter bestimmten Umständen über bestimmte Möglichkeiten nicht verfügen, weil sie sofort einen Aufstand, sagen wir, des Militärs verursachen würden; er hat dann keine vollständige Macht. Möglicherweise aufgrund des konnotativen Beiklangs der Herrschaftsform wirkt “ absolute Macht ” , angewendet auf Gegenstände, eher metaphorisch. Macht und Zeichen 105 Die wichtigste Aufgabe von Geld bei diesem Prozess ist, einen freien Austausch von Verfügungsmacht jederzeit möglich zu machen. Dieser Austausch wird als notwendige Bedingung für das Funktionieren der Gesellschaft angesehen. Ein eigenes Wissensgebiet (die Wirtschaftswissenschaft) beschäftigt sich mit den Vorgängen, die mit dem Austausch von Verfügungsmacht zusammenhängen. In kapitalistischen Gesellschaften spricht man der Verfügungsmacht eine motivierende Dimension zu: Man geht davon aus, dass das Streben nach Verfügungsmacht dazu führt, dass viele Menschen für die Gesellschaft sinnvolle Aktivitäten übernehmen. Oft wird auch eine selbstregulierende Funktion angenommen: Es wird davon ausgegangen, dass die Personen, die eine besondere Begabung dazu besitzen, sich Verfügungsmacht zu sichern, in der Regel auch diejenigen sind, die sie im Interesse der Gesellschaft ausüben sollten. 31 4.2.3 Zeichen für Geld und Eigentum Geld ist ein abstraktes symbolisches Konzept für Verfügungsmacht. Wie bereits erläutert, kann es daher auf ganz verschiedene Arten dargestellt werden, beispielsweise durch Münzen, durch Papiergeld oder als “ elektronisches Zahlungsmittel ” als bloße Zahl in einem Computersystem. Ebenso gibt es zahlreiche Darstellungsarten für Eigentum. Grundbesitz wird an Ort und Stelle symbolisch durch Grenzsteine repräsentiert, wobei er zusätzlich in offiziellen Dokumenten wie in Deutschland den “ Grundbüchern ” vermerkt ist. Zur nicht-offiziellen Repräsentation von Grundbesitz gehören Darstellungsmittel wie Zäune, Mauern und Schlösser, die in der Regel eine doppelte Funktion haben: Zum einen verwehren sie den Eintritt auf direkte Weise, zum anderen bezeichnen sie aber auch die Grenze auf ikonische Weise, indem sie diese nachfahren und dadurch sichtbar machen sowie durch die Anzeige “ hier steht eine Abgrenzung ” zusätzlich betonen. Es reicht dabei in vielen Fällen aus, die Grenze als solche zu bezeichnen, d. h. sie durch ein Zeichen erkennbar zu machen, was erklärt, warum auf jene Mäuerchen und Hecken, wie sie gerade in kleineren Städten vor den Vorgärten üblich sind und die kein wirkliches Hindernis zum Betreten darstellen, trotzdem nicht verzichtet wird. Dies ist weniger gegenüber benachbarten Grundbesitzern oder anderen Institutionen (z. B. dem Staat) erforderlich, da gegen deren Ansprüche die symbolischen Markierungen (Grenzsteine, Grundbucheintrag) ausreichen, sondern sollen vor allem gegenüber Besuchern und Außenstehenden das Eigentum und damit das Verbot des Betretens deutlich machen. Auch viele andere Arten von Eigentum werden symbolisch repräsentiert: Anteile an Unternehmen beispielsweise durch Aktien, Kredite gegenüber einem Staat oder einem Unternehmen durch Staatsbzw. Unternehmensanleihen, usw. Im letzten Fall handelt es sich um eine Übertragung der Verfügungsmacht, die bereits durch Geld symbolisch repräsentiert wurde, auf eine Institution, beispielsweise auf ein Unternehmen. Daraus ergibt sich zunächst nur ein Anspruch auf Rückgabe der entsprechend vergrößerten symbolisch 31 Im Deutschen drückt sich die Parallelsetzung von Verfügungsmacht und moralischer Bewertung in zahlreichen Ausdrücken wie “ verdienen ” bzw. “ Verdienst ” für den Erhalt von Verfügungsmacht oder “ wertvoll ” für etwas aus, das gegen eine größere Menge von ihr ausgetauscht werden kann. 106 Martin Siefkes (Chemnitz) repräsentierten Verfügungsmacht (d. h. Geld). Erst wenn diese nicht erfolgt, kann eine direkte Verfügungsmacht über die Institution bzw. Teile von ihr geltend gemacht werden. Letzteres wiederum ist heutzutage ausgeschlossen bei Staatsanleihen, da niemand über einen ganzen Staat verfügen kann. Hier können bei einer nicht erfolgten Rückzahlung nur Rechte ans Staatsvermögen geltend gemacht werden, und auch dies ist mit Schwierigkeiten verbunden, da Eingriffe in die Souveränität eines Staates von außen nur sehr beschränkt möglich sind. 4.2.4 Arten von Verfügungsmacht Verfügungsmacht tritt in unterschiedlichen Erscheinungsformen auf. Die wichtigsten beiden seien noch einmal zusammenfassend erläutert: - Vollständige Verfügungsmacht wird meist als “ Eigentum ” bezeichnet. In kapitalistischen Gesellschaften ist er die wichtigste Gliederungskategorie, so dass kein Bereich des zentral Kulturellen 32 ohne ihn organisiert werden kann. Im peripher Kulturellen gibt es dagegen manchmal Versuche, auf die Organisation durch Eigentum zu verzichten. Wenn diese Versuche als Bedrohung für die wichtigsten Inhaber der Verfügungsmacht empfunden werden, versuchen diese in der Regel, sie in den Bereich der Gegenkultur zu verdrängen, wie es in den USA der 50er-Jahre erfolgreich geschah. 33 Seitdem werden dort alle Versuche, die Bedeutung des Eigentums zu reduzieren, unabhängig von ihrer Organisationsform als “ kommunistische ” Gegenkultur abgelehnt. - Positionsmacht verleiht eingeschränkte Verfügungsmacht. So kann ein Manager eines Unternehmens über das Eigentum des Unternehmens, aber auch über die von den Angestellten produzierten Produkte in einem bestimmten Rahmen verfügen; überschreitet er den Rahmen, bezeichnet man dies als “ Untreue ” . Verfügungsmacht tritt jedoch noch in weiteren Formen auf: - Im öffentlichen Bereich gelten meistens einschränkende Regeln für die Verfügungsmacht, die darauf ausgerichtet sind, die Zerstörung dieses “ Gemeineigentum ” genannten Bereiches zu verhindern. Vergleichbares gilt für den außerkulturellen Bereich von Natur und Umwelt, auf den unser Machtbegriff jedoch definitionsgemäß nicht anwendbar ist. - Auch im privaten Bereich gibt es Verfügungsmacht. So wird Ehepartnern die gemeinsame Verfügungsmacht über das in die Ehe eingebrachte Eigentum automatisch übergeben, wenn sie dies nicht in einem “ Ehevertrag ” ausdrücklich anders regeln. Und die Verfügungsmacht über den Fötus wird in vielen westlichen Gesellschaften durch eine “ Fristenregelung ” bis zu einem gewissen Zeitpunkt nach der Zeugung der Mutter zugestanden; danach verliert sie die Verfügungsmacht über das in ihr wachsende Kind und muss im Falle der Abtreibung mit einer Strafe rechnen. - Und letztlich kann man sich Verfügungsmacht auch mit Gewalt aneignen, wie es Staaten in Kriegen und Privatmenschen beim Raub tun. Waffen verleihen die vollständige 32 Zu den Begriffen “ zentral kulturell ” , “ peripher kulturell ” und “ gegenkulturell ” vgl. Posner 2003: 58. 33 An diesem Beispiel lässt sich der Zusammenhang zwischen Verfügungsmacht und Deutungsmacht anschaulich zeigen: Wenn es eine enge Korrelation zwischen den Verteilungsstrukturen dieser beiden Machtarten gibt, wird jeder Versuch, die gesellschaftliche Wichtigkeit der Verfügungsmacht herunterzusetzen, scheitern. Im genannten Fall spielte der Aufbau privater Medien insbesondere im Bereich der damals neuen Medien Rundfunk und Fernsehen eine wichtige Rolle. Macht und Zeichen 107 Verfügungsmacht, weil sie die schlimmste ihrer Formen, das Töten, ausführen können und dadurch alle anderen Formen, insbesondere die Bestimmung über Besitz und Handlungsweisen von Personen, durch Drohung erzwungen werden können. 4.3 Positionsmacht 4.3.1 Allgemeines Der Bereich der sozialen Kultur (Gesellschaft) stellt sich aus semiotischer Sicht als Menge von Zeichenbenutzern dar. Um Machtverhältnisse analysieren zu können, müssen wir jedoch die Strukturen betrachten, die für diese Zeichenbenutzung gelten; dies sind die Institutionen. Eine Institution hatten wir bereits im Abschnitt 2.2 definiert als Gruppen von Individuen, die regelmäßig durch Zeichenprozesse miteinander verbunden sind und nach außen in ihrer Gesamtheit als ein Zeichenbenutzer auftreten können. 34 Wie lässt sich nun der Zusammenhang zwischen Institutionen und Macht verstehen? Hermann Heller hat dazu einen Institutionenbegriff entwickelt, wobei er statt von “ Institution ” von “ Organisation ” spricht. Lutz Berthold charakterisiert ihn so: “ Das Wesen der Organisation liegt [für Heller] in einem zirkulären Bedingungszusammenhang, bei dem die Macht der Organe die Macht der Mitglieder und die Macht der Mitglieder wiederum die Macht der Organe bewirkt, wobei das Ergebnis eine Steigerung der Organisationsmacht, also der Macht des Ganzen, ist. ” 35 Die Zirkularität der Prozesse, die zur Macht führen, erklärt, wie Institutionen in der Lage sind, Macht an ihre Individuen zu verleihen und dadurch zugleich selbst als Zeichenbenutzer mächtig zu werden. Doch wie entsteht innerhalb von Institutionen überhaupt Macht? Hier hilft uns John Thompson weiter, der für seinen Institutionenbegriff den Bourdieuschen Begriff des “ Interaktionsfelds ” aufnimmt: Ein Interaktionsfeld ist nach Thompson eine Menge von Umständen, die in einer bestimmten Situation gegeben sind und innerhalb derer die Menschen ihre Ziele verfolgen. 36 Einzelne Menschen befinden sich an unterschiedlichen Positionen dieser Felder. Institutionen sind nun Bereiche der Gesellschaft, in denen die Interaktionsfelder über längere Zeit unabhängig von einzelnen Menschen stabil gehalten werden: “ Institutions give a definite shape to pre-existing fields of interaction and, at the same time, they create new positions within these fields, as well as new sets of life trajectories for the individuals who occupy them. ” 37 Die Macht eines Menschen ergibt sich nun aus der Position innerhalb eines solchen Interaktionsfelds, derzufolge er weniger oder mehr Macht über andere hat. Damit sind wir in der Lage zu einer Definition: 34 Posner 2003: 49. 35 Berthold 1997: 357. 36 Thompson 1995: 12. 37 Thompson 1995: 13. Im selben Kontext gibt Thompson folgende Definition der Macht: “ In the most general sense, power is the ability to act in pursuit of one's aims and interests, the ability to intervene in the course of events and to affect their outcome. ” 108 Martin Siefkes (Chemnitz) “ Positionsmacht ” sei definiert als die für einen Menschen durch eine Position innerhalb einer Institution einer Gesellschaft entstehende Möglichkeit, seine Ziele innerhalb dieser Institution durchzusetzen. Positionsmacht findet im Bereich der sozialen Kultur statt. Wie steht es aber mit der Einwirkung auf die Gesellschaft, die eine Position verleiht? Thompson zufolge verfügen die Menschen je nach Position über verschiedene “ Ressourcen ” , die es ihnen ermöglichen, ihre Ziele zu verfolgen; man kann hier von Machtmitteln sprechen. Solche Machtmittel sind einerseits die in den innerhalb einer Institution geltenden Strukturen, Satzungen, Regeln. Andererseits gibt es jedoch auch Machtmittel, die in die Gesellschaft hineinwirken, z. B. die Präsenz in den Medien, die Anerkennung, die mir aufgrund einer bestimmten Position in einer bestimmten Organisation zuteil wird, usw. Kurz gesagt, verleiht Positionsmacht wiederum Deutungsmacht und Verfügungsmacht. 4.3.2 Institutionen: Innen und außen Wir haben den Institutionenbegriff erweitert auf jede Gruppe von Zeichenbenutzern, die regelmäßig mit Hilfe von Zeichenprozessen interagiert und nach außen als Zeichenbenutzer auftreten kann. Es ist also nicht nur eine Familie eine Institution, sondern auch ein Freundeskreis, nicht nur eine Kirche oder Behörde, sondern auch eine Subkultur. Jeder Mensch ist Mitglied verschiedener Institutionen. In jeder Institution kommt ihm dabei ein Platz zu, der mit einer bestimmten Positionsmacht verbunden ist. Die höchste Positionsmacht innerhalb der Institution haben diejenigen, die über das Schicksal der Institution bestimmen können. In den meisten Organisationen sind einige grundsätzliche Optionen verwehrt; so kann kein Behördendirektor die Schließung der Behörde verfügen, und selbst der Papst kann die katholische Kirche nicht abschaffen. 38 Beide können jedoch die Entwicklung der Institution entscheidend prägen. 39 Die zweite, ebenso wichtige Komponente der Positionsmacht ist diejenige, die über andere Mitglieder der Institution ausgeübt wird. Diese ist, was die Macht über die einzelne Person anbetrifft, häufig größer bei Menschen, die nicht ganz an der Spitze der Institution stehen, sondern weiter unten oder sogar direkt über den machtlosen Mitgliedern der Institution. Eine der Vorteile, in einer Institution aufzusteigen, besteht darin, dass man weiter oben zwar immer noch beherrscht wird, aber häufig nicht mehr vollkommen; man sagt, man “ bekommt mehr Bewegungsfreiheit ” . 40 Diese zweite Art von Macht wiederum ist von der zu trennen, die eine Institution als ganze über ihre Mitglieder hat. Diese beruht oft auf der Mitgliedschaft selbst und wird, so merkwürdig das zunächst erscheinen mag, von niemandem als Positionsmacht ausgeübt. Wenn z. B. die katholische Kirche ihren Mitgliedern die Trauung nach einer Scheidung 38 Zumindest hat es noch nie einer versucht . . . 39 Ein Unterschied zwischen “ etablierten ” Kirchen und den als Sekten bezeichneten besteht darin, dass die Führer der letzteren (manchmal auch “ Gurus ” genannt) die Macht besitzen, die Institution selbst abzuschaffen. Möglicherweise besteht die Bedeutung des Wortes “ etabliert ” in der Aufhebung dieser Möglichkeit. 40 Hier ist nicht der Machtzuwachs gemeint, der sich gegenüber den unteren Mitgliedern der Institution ergibt, sondern die Möglichkeit, eine von oben kommende Entscheidung zu beeinflussen. Im Fall extrem hierarchischer Organisationen, wie z. B. einem faschistischen Staat, ist diese Möglichkeit nicht oder kaum gegeben; hier bleibt dann auf jeder Ebene nur das “ Nach unten Treten ” übrig. Macht und Zeichen 109 verweigert oder die Führerscheinstelle in Flensburg einem Verkehrssünder aufgrund einer zu hohen Anzahl von Strafpunkten die Fahrerlaubnis entzieht, so tun sie das aufgrund ihrer Regeln, Vorschriften und Statute. Erhebliche Positionsmacht entsteht allerdings dann, wenn einzelne Menschen Ausnahmen von solchen Regeln bewirken können. Dagegen ist jener Anteil der Positionsmacht, der über Menschen in einer Institution ausgeübt wird, viel konkreter. In einem Unternehmen z. B. kann der Chef einer Abteilung über einen gewissen Teil der Lebenszeit seiner Angestellten faktisch verfügen. Er kann bestimmen, was eine kleinere oder größere Anzahl von Menschen in dieser Zeit zu machen haben. Da der Mensch nicht beliebig leistungsfähig ist, ist der Anteil der Energie, der Kräfte, Fähigkeiten und Begabungen seiner Angestellten, über die er dabei verfügen kann, in der Regel noch größer, als es die bloße Zeit vermuten lassen würde. Auf diese Weise ist es ihm (eingeschränkt durch die festgelegten Ziele der Institution sowie durch die Positionsmacht seiner Vorgesetzten) möglich, seine das Unternehmen betreffenden Vorstellungen zu verwirklichen. - Ebenso erkennt man die Anführerin einer Clique von Jugendlichen zuverlässig daran, dass sie bestimmt, was die Clique unternehmen wird, auch wenn sie sonst vielleicht nicht das auffälligste Mitglied ist. Ein Lehrer ist ein Beispiel für einen Menschen, der innerhalb seiner Institution (Schule) wenig Positionsmacht der ersten Art besitzt: Er kann nicht über das Schicksal der Schule mitbestimmen, ja nicht einmal bei der Entwicklung der Lehrpläne, an die er sich zu halten hat, kann er mitreden. Dagegen besitzt er Macht der zweiten Art: Die Macht über seine Schüler. Ein durchschnittlicher Lehrer wird im Lauf seines Lebens mehrere tausend Schüler unterrichten. Er kann sie dabei zum einen in ihrer geistigen und moralischen Entwicklung beeinflussen (und hat dabei oft erhebliche Wirkung, was sich daran ablesen lässt, dass viele Menschen angeben, als Anregung für ihre Interessen und ihre Berufswahl hätten Lehrer eine gewisse Rolle gespielt). Zum anderen kann er sie durch Noten bewerten, was sich auf die zukünftigen Berufschancen der Schüler auswirkt. Natürlich ist diese Macht weit von einer vollständigen Macht entfernt, da die Noten nicht beliebig gegeben werden können und außerdem nur in einem Fach. Positionsmacht darf nicht mit anderen, innerhalb von Institutionen gebrauchten Begriffen durcheinander gebracht werden, die häufig dazu dienen sollen, den Zusammenhalt in der Institution zu verstärken und die Differenzen in der Positionsmacht zu verschleiern. Gerne wird zum Beispiel von einer für das Funktionieren der Institution wichtigen, aber mit geringer Positionsmacht verbundenen Position von “ verantwortlicher Position ” gesprochen. “ Verantwortlich ” bedeutet, dass ein Fehler der betreffenden Personen erhebliche Folgen haben kann, so dass sie viel falsch machen kann, aber vergleichsweise wenig davon hat, alles richtig zu machen. Eine Hausmeisterin in einem Unternehmen, ein Küster in einer Gemeinde, die Personen im Sekretariat einer Behörde haben für den reibungslosen Ablauf der Vorgänge innerhalb der Organisation zu sorgen. Im Gegensatz zu einer Person in “ leitender ” Position haben sie jedoch keine Entscheidungen zu treffen. Redewendungen wie “ Das überlasse ich Ihnen! ” sind charakteristisch gegenüber Personen in solchen Positionen; sie bedeuten, dass die Frage weitergegeben wird, wie eine bestimmte Vorgabe umzusetzen ist, oder wie ein bestimmtes Problem im Sinne bereits feststehender Notwendigkeiten oder Direktiven zu lösen ist. Zugleich sollen sie jedoch eine (wenn auch geringfügige und temporäre) 110 Martin Siefkes (Chemnitz) Übertragung von Positionsmacht suggerieren. Sie haben häufig zur Folge, dass Menschen sich voller Energie für Ziele einsetzen, die sie nicht selbst beschlossen haben und die ihnen sonst vielleicht gleichgültig wären. Institutionen unterscheiden sich stark darin, wieviel Positionsmacht sie verleihen. Es hat in den letzten Jahrzehnten immer wieder Versuche gegeben, Organisationsformen zu finden, die weniger oder gar keine Hierarchien besitzen sollen. Ein Stichwort dabei ist flachere Hierarchien. Dies bedeutet allerdings in der Regel nur, dass es weniger Hierarchie- Ebenen geben soll, was auch zur Vergrößerung der Abhängigkeit der untergeordneten Personen von den mächtigen Personen führen kann. Es hat sich auch herausgestellt, dass jede Institution, auch wenn es eine Freundesclique, eine Musikgruppe, ein alternatives Wohnprojekt oder andere vordergründig auf Gleichheit der Mitglieder ausgerichtete Zusammenschlüsse von Menschen sind, informelle Hierarchien entwickelt. Wo keine Hierarchien vorgeschrieben sind, entwickeln sich häufig welche von allein, und Projekte, die auf Parität Wert legen, müssen bestimmte Verhaltenskodizes einrichten, die speziell auf die Verhinderung von Machtstrukturen ausgerichtet sind. 4.3.3 Rechte Teil einer Institution zu sein, ist häufig unabhängig von der Position mit bestimmten Rechten verbunden. Ein Beispiel: Wenn ein Mitglied einer christlichen Kirche beschließt, sich kirchlich trauen oder ihre Kinder taufen zu lassen, so kann ihr das der Pfarrer oder Priester nicht willkürlich verweigern. In vielen Institutionen ist die Mitgliedschaft mit solchen Rechten verbunden. Rechte sollte man jedoch von Macht unterscheiden, und zwar aus folgenden Gründen: 1. Macht hat immer eine asymmetrische Komponente. Wenn alle etwas Bestimmtes dürfen, sprechen wir normalerweise nicht von Macht, sondern von einem Recht, und das gilt selbst dann, wenn dieses Recht mit Ansprüchen an andere verbunden ist. Wenn ich etwas von dir verlangen kann, aber du es auch jederzeit von mir verlangen kannst, liegt kein Machtverhältnis vor. Ähnliches gilt, wenn alle etwas Bestimmtes können. Zum Beispiel besaßen die beiden “ Supermächte ” USA und UdSSR zur Zeit des Kalten Krieges zwar Macht über den Rest der Welt (was die Bezeichnung als Supermächte rechtfertigt), aber nicht über einander. Macht ist die Möglichkeit, andere dazu zu bringen, in seinem Sinne zu handeln, und diese Macht besaßen die Supermächte nicht. Zwar spricht man hier manchmal von einem “ Machtgleichgewicht ” , doch wäre der Ausdruck “ Machtlosigkeit ” , betrachtet man nur das Verhältnis zwischen den beiden gleich starken Gegnern, ebenso zutreffend. 2. Macht ist niemals ganz spezifisch: Sie beinhaltet immer die Komponente, dass man jemandem seinen Willen aufzwingen kann, wenn auch vielleicht nur innerhalb eines gewissen Rahmens von Möglichkeiten wie im Falle eines Managers, der über meine Arbeitszeit, aber nicht über den Rest meiner Zeit bestimmen kann. Die Brautleute können jedoch dem Pfarrer ihren Willen in keinem Sinne aufzwingen; selbst über die Predigt, die er an ihrem “ hohen Tag ” hält, haben sie keinerlei Macht und werden sich daher hüten, ihn durch ihre Ansprüche allzusehr zu verärgern! Sie können sich nur entscheiden, einen von zwei Pfaden zu nehmen, die ihnen als Mitglied einer Institution offen stehen: zu heiraten oder nicht zu heiraten. Rechte sind spezifisch und daher von ganz anderer Art als Macht; sie Macht und Zeichen 111 ermöglichen es mir nicht, meine Vorstellungen frei zu verwirklichen, wohl aber, mich innerhalb eines gewissen Rahmens vor der Macht anderer zu schützen. Rechte schränken Macht ein. Auch Rechte werden häufig als Substitution für Macht verwendet; sie ersetzen eine Teilhabe an der Macht und erleichtern den Beherrschten die Machtlosigkeit. Ein gutes Beispiel dafür ist die moderne parlamentarische Demokratie: Oft wird den wenigen grundsätzlichen Kritikern dieses Systems (wie z. B. Johannes Agnoli) 41 entgegengehalten, es sei doch “ alles sehr viel besser ” als z. B. im monarchistischen Staat. Schon dies zeige, dass die Demokratie funktioniere. Tatsächlich ist das Wohlbefinden der meisten Bürger der modernen westlichen Demokratien sehr viel größer als zu Zeiten der Monarchien, doch dies dürfte weniger auf einen realen Machtzuwachs der Bürger zurückzuführen sein als auf einen Zuwachs ihrer Rechte. 42 Für durchschnittliche Bürger wirken sich tatsächlich die zahlreichen Rechte, die sie besitzen, insbesondere die Rechte, die die Macht von Justiz, Polizei, Regierung und Behörden gegenüber den Bürgern des Staates einschränken, sowie die Rechte auf Leistungen in bestimmten Bereichen (wie z. B. Sozialhilfe) im täglichen Leben aus und vermindern das Gefühl der Machtlosigkeit erheblich. Dagegen sind viele Bürger gegenüber der Regierungsbildung durch Wahlen längst gleichgültig geworden und halten es für ein sinnloses Unterfangen, auf diesem Wege für sich oder andere etwas erreichen zu wollen, was die seit langem sinkenden Wahlbeteiligungen zeigen. Das Problemfeld zeigt exemplarisch, dass Macht und Rechte für eine präzise Analyse von Machtverhältnissen unbedingt zu trennen sind. 4.3.4 Positionsmacht von Institutionen in der Gesellschaft und ihre Zeichen Positionsmacht innerhalb von Institutionen wird über eine große Zahl von Zeichen dargestellt: den Titeln von Personen in unterschiedlichsten Institutionen; den Streifen der Generäle, Auszeichnungen und Medaillen beim Militär; den Briefköpfen und Stempeln von Behörden, Universitäten und Unternehmen. Etwas komplexer ist der Fall von Positionsmacht von Institutionen in der Gesellschaft. Sie drückt sich häufig in “ offiziell ” genannten Dokumenten aus, wie dem Ausweis, dem Pass, der Meldebestätigung oder den Nummernschildern der Autos. Hier kann man von Zeichen sprechen, die nicht die Positionsmacht selbst markieren, sondern ihre Ausübung erleichtern. Zum Beispiel kann nur die Polizei das Vorzeigen des Ausweises verlangen; sie besitzt in 41 Agnoli nimmt eine “ Involution ” der Demokratie an, worunter er eine schleichende Rückentwicklung von freiheitlichen Anfängen hin zu einer Verfestigung von neuen, versteckten Machtstrukturen versteht, die letztlich die anfänglichen Ziele der Demokratie konterkarieren und zu ihrer Zerstörung von innen führen (vgl. Agnoli 1990). 42 Ein auffälliges Beispiel für die faktische Machtlosigkeit des Volkes bietet die Kriegsbeteiligung der Länder England, Italien und Spanien beim Irakkrieg im Frühjahr 2003. In allen drei Ländern hatten sich nämlich zuvor in Umfragen 70 bis 80 % der Bevölkerung gegen den Krieg ausgesprochen. Bei der Entscheidung für oder gegen den Beginn eines Kriegs handelt es sich wahrscheinlich um die wichtigste Entscheidung, die ein Staat überhaupt treffen kann; wenn sie gegen das Volk geschieht, erscheint die Anwendung des Wortes “ Volksherrschaft ” als inkonsistent. 112 Martin Siefkes (Chemnitz) Deutschland das Recht, jemanden festzunehmen, der keinen Ausweis vorweisen kann. Damit kann der Ausweis als eine Individuenmarkierung verstanden werden, die dazu dient, jeden Menschen zuverlässig erkennbar zu machen. Diese Individuenmarkierung ist wiederum verbunden mit bestimmten Speichersystemen wie dem “ polizeilichen Führungszeugnis ” , die abgefragt werden können, um das Verhalten der entsprechenden Person zu überprüfen. Damit verbunden ist das System der “ polizeilichen Anmeldung ” , wobei jeder Mensch gezwungen wird, einen festen Wohnsitz anzugeben. Wiederum kann jemand, der keinen Wohnsitz besitzt oder angibt oder einen falschen angibt, festgenommen werden. Hier handelt es sich um ein System der Aufenthaltskontrolle, dass es der Polizei ermöglichen soll, jede Person auch aufzufinden, die sie auffinden will. Individuenmarkierung und Aufenthaltskontrolle sind eng miteinander verbunden, da die letztere ohne die erstere wenig Sinn macht. Deshalb leuchtet es ein, dass in den USA, wo es keine Ausweispflicht gibt, auch keine Aufenthaltskontrolle gesetzlich vorgeschrieben ist. Bei beiden Vorschriften handelt es sich um Positionsmacht, die der Institution “ Polizei ” von Verfassung und Gesetzen zugesprochen wird. AndereVorschriften regeln die Positionsmacht von Regierungen, Militär, Kirchen usw. Auch Unternehmen üben eine erhebliche Positionsmacht aus, da sie z. B. die Möglichkeit haben, Menschen zu entlassen. Es könnte eingewandt werden, dass es sich hier nur um gewöhnliche Vertragsfreiheit handelt, ähnlich der, dass ich jemandem meine Produkte verkaufen kann und sowohl ich als auch der Käufer sich entschließen können, diesen Vertrag zu beenden. Eine solche Sichtweise übersieht jedoch, dass Macht die Möglichkeit darstellt, anderen aufgrund einer strukturellen Asymmetrie der Situation den eigenen Willen aufzuerlegen. Eine solche Asymmetrie liegt hier aber vor, da der Arbeitnehmer zum Lebensunterhalt von seinem Arbeitsplatz abhängig ist - wobei diese Abhängigkeit umso größer wird, je geringer seine/ ihre Chancen auf andere Arbeit sind - , während die Abhängigkeit in umgekehrter Richtung weit geringer ist. 43 Gemeinsam ist allen diesen Institutionen, dass sie ihre Positionsmacht innerhalb der Gesellschaft über Zeichen ausdrücken, wenn auch in unterschiedlicher Weise. Kirchen haben beispielsweise das Recht, die Glocken zum Gottesdienst zu läuten und damit die Menschen zum Gottesdienst zu ‘ rufen ’ , während Moscheen dasselbe Recht über den Muezzin (Ausrufer) realisieren. Sanktionen für die Nicht-Besucher besitzen die Kirchen heute nur noch in Ausnahmefällen, 44 während sie noch im 19. Jahrhundert erhebliche Macht ausüben und im Extremfall Menschen am Heiraten hindern oder ihren beruflichen Erfolg durch Kirchenausschluss zerstören konnten (wobei solche Sanktionen in der Regel nur bei größeren Verstößen gegen kirchliche Vorschriften angewandt wurden). 43 Dies sind jedoch keine festen Größen. In Einzelfällen kann die Abhängigkeit eines Unternehmers von einer bestimmten Angestellten durchaus auch größer sein als umgekehrt, wenn es sich z. B. um eine umworbene Spezialistin auf ihrem Gebiet handelt, für die das Unternehmen nur schwer Ersatz finden könnte. 44 Die Kirche darf weiterhin religiöse Anforderungen an ihre Angestellten stellen. Dies gilt auch für diejenigen Angestellten wie Kindergärtner oder Pförtner, bei denen die Religion nicht in den Bereich der Berufsausübung fällt. Macht und Zeichen 113 Bei Unternehmen ist die Positionsmacht schwerer zu bestimmen, da sie gegenüber verschiedenen anderen Institutionen unterschiedlich ausfällt. Unternehmen haben beispielsweise gegenüber ihren Angestellten relativ viel Macht, gegenüber der Regierung eines Staates besitzen dagegen nur sehr große Unternehmen eine Positionsmacht, die dann allerdings ganz erheblich sein kann, wie man an den Zugeständnissen (hohe Subventionen; Sonderkonditionen; Schenkung von Grundstücken) erkennen kann, die Unternehmen mittels dieser Macht für sich erreichen. Gegenüber den Individuen einer Gesellschaft besteht die Positionsmacht von Unternehmen meistens nur in einer Monopolisierung des Diskurses. So kann beispielsweise ein Individuum nicht alles, was es möchte, über ein Unternehmen sagen, insbesondere darf es dessen Markenzeichen oder Logos nicht frei gebrauchen und kann damit der in unserer Kultur allgegenwärtigen Werbung kaum seine eigene Meinung über die Produkte entgegensetzen. Dadurch können Unternehmen den Diskurs, d. h. die mit Hilfe von Medien geführte Auseinandersetzung im öffentlichen Raum, über einen immer wichtiger werdenden Teil der Kultur (Produkte, Marken, Events sowie die Unternehmen selbst und wofür sie stehen) dominieren. Die Werbung kann somit als ein Ausdruck der Positionsmacht von Unternehmen gesehen werden. 4.3.5 Arten von Positionsmacht Zwischen Positionsmacht innerhalb der Institution und der daraus resultierenden gesellschaftlichen Deutungsmacht besteht ein systematischer Zusammenhang. Es lässt sich unterscheiden zwischen Positionsmacht a) in einer Institution im Zentrum der geltenden gesellschaftlichen Ordnung (in säkularen westlichen Gesellschaften einer zum staatlich organisierten Bereich gehörigen Institution, also Regierung, Behörden, Parlament, Polizei und Justiz), die höchste gesellschaftliche Deutungsmacht verleiht, 45 b) in einer Institution, die gesellschaftlich anerkannt wird und daher eine gewisse Deutungsmacht verleiht (Unternehmen, Kirchen, Theater und Orchester, erfolgreiche Bands und Fußballclubs), c) in einer Institution, die gesellschaftlich weder anerkannt noch verfemt ist und daher keine gesellschaftliche Deutungsmacht verleiht (alle privaten Gruppen von Menschen: eine Clique, ein Freundeskreis), 45 Es könnte eingewandt werden, dass die Mitgliedschaft in einer solchen Institution unter Umständen weniger Anerkennung verleiht als im nicht-staatlichen Bereich, wenn z. B. in einer Gesellschaft bekannte Vertreter des kulturellen Bereiches beliebter sind als solche des politischen Bereiches. Dieser Umstand lässt sich jedoch mit der Unterscheidung zwischen Deutungsmacht und natürlicher Autorität (s. Abschn. 3.1) beschreiben. Eine Politikerin hat hohe Deutungsmacht, weil sie von den Medien unabhängig von der Qualität ihrer Argumente befragt wird. Ein Intellektueller oder eine Künstlerin werden dagegen nur dann in den Medien präsent sein, wenn sie sich zuvorAnerkennung verschaffen konnten, d. h. natürliche Autorität besitzen. Auch bei Politikern spielt die natürliche Autorität eine gewisse Rolle, wenn z. B. ein Parlamentarier, der sich in einem Gebiet gut auskennt, häufiger befragt wird als andere. Doch die Rolle der Deutungsmacht überwiegt: So wird ein Kanzler oder eine Parteivorsitzende unabhängig von der Qualität ihrer Argumente weit häufiger in den Medien erscheinen als ein Parlamentarier. 114 Martin Siefkes (Chemnitz) d) in einer Institution, die gesellschaftlich verfemt ist und daher negative Deutungsmacht 46 verleiht (z. B. einer als radikal eingestuften politischen Gruppe). Die genannten Beispiele umfassen die häufigsten Fälle von Positionsmacht. Diese ist jedoch ein universales Phänomen, weshalb hier noch einige weniger naheliegende Beispiele genannt seien: - Ein Stammesältester oder ein Schamane bei einem Naturvolk besitzen Positionsmacht, weil man ihnen in Fragen der Stammespolitik, Streitschlichtung oder Beschwörung höherer Wesen mehr Glauben schenkt als anderen Mitgliedern des Stammes. - Selbst in egalitär gedachten Situationen bilden sich Machtverhältnisse heraus, wie z. B. in einer Wohngemeinschaft, in der eine Person aus rein organisatorischen Gründen den Hauptmietvertrag übernimmt und damit gegenüber dem Vermieter die Verhandlungen führen, aber auch im Streitfall den anderen mit Kündigung drohen kann. - Eine Mischung aus Deutungs- und Positionsmacht liegt dagegen vor, wenn vor dem Aufkommen der privaten Telefonanschlüsse in einem ländlichen Gebiet der Inhaber des einzigen erreichbaren Telefons des Dorfes 47 über den raschen Zugang zur Außenwelt verfügte und damit Neuigkeiten verbreiten oder ihre Weitergabe verhindern konnte. Nicht unter Positionsmacht fallen dagegen Prozesse der Wortführerschaft, der Auseinandersetzung und der Allianzenbildung, wie sie in jeder Gruppe von Menschen stattfinden. Solche Prozesse wurden unter dem Stichwort “ Gruppendynamik ” eine Zeitlang als Reproduktion gesellschaftlicher Machtverhältnisse diskutiert; sie fallen jedoch im hier definierten Sinn gar nicht unter Macht, sofern ihnen keine strukturelle Asymmetrie zugrundeliegt. Einen Grenzfall stellen dabei “ ungeschriebene Gesetze ” dar. Diese können mehr im Bereich der “ Gruppendynamik ” liegen, wie im Falle einer WG, in der beim Ausziehen eines Bewohners das am längsten dort wohnendeWG-Mitglied das Recht hat, in das freiwerdende Zimmer zu ziehen. Es kann sich aber auch um sehr reale Machtverhältnisse handeln, wenn z. B. in einer Verbindung die “ Füchse ” bestimmte demütigende Rituale vollziehen müssen, um dazuzugehören. Die Unterscheidung sollte man hier sinnvollerweise davon abhängig machen, ob Sanktionen mit dem Bruch des ungeschriebenen Gesetzes verbunden sind. 48 46 Negative Deutungsmacht liegt vor, wenn ein Mensch trotz der Qualität seiner Argumente nicht in den Medien erscheint oder nicht ernst genommen wird. Negative Deutungsmacht gibt es auch in einzelnen Institutionen, wenn z. B. die Theaterkritik einer Schauspielerin misstrauisch gegenübersteht, weil diese vorher in Fernsehserien gespielt hat. 47 Häufig war dies der Krämer des Orts. 48 Eine Sanktion wiederum sollte man nur dann annehmen, wenn sich eine “ Strafmaßnahme ” außerhalb der gewöhnlichen zwischenmenschlichen Interaktionsweisen befindet - wobei die Grenze nicht immer genau zu klären sein wird, aber in Einzelfällen doch meistens unterschieden werden kann. So wäre “ mit Urin übergießen ” eine Sanktion, “ wochenlanges Anschweigen ” aber nicht, obwohl letzteres sicher auch als Bestrafung gemeint ist. Entscheidend ist, dass Menschen innerhalb des in einer Kultur für legitim erachteten Rahmens immer eine negative Reaktion zeigen werden, wenn man eine ihnen wichtige Regel übertritt. Über diesen Rahmen hinaus gehen sie meistens nur dann, wenn dies durch Machtverhältnisse abgesichert ist. Eine genaue Unterscheidung ist hier deshalb wichtig, weil sonst eine Allgegenwart von Macht in allen zwischenmenschlichen Beziehungen konstruiert wird, durch die der Begriff analytisch unbrauchbar wird. Macht und Zeichen 115 5. Zur gegenseitigen Abgrenzung der Machtarten 5.1 Deutungsmacht vs. Positionsmacht Zunächst könnte es erscheinen, als verschwimme die Unterscheidung zwischen Positionsmacht und Deutungsmacht und als gingen die beiden Machtarten ineinander über. Dieser Eindruck erklärt sich daraus, dass Positionsmacht fast immer zu einer gewissen Deutungsmacht (innerhalb und oft auch außerhalb der jeweiligen Institution) führt. Berücksichtigt man dies, zeigt sich, dass die beiden Machtarten durchaus klar zu trennen sind. 5.1.1 Positionsmacht verleiht Deutungsmacht Dies gilt a) innerhalb der jeweiligen Institution: Einem Mitglied einer Institution wird i. d. R. um so mehr Aufmerksamkeit geschenkt, je mehr Positionsmacht es hat. In einem Unternehmen kann ein Manager eher darüber entscheiden, welcher Briefkopf, welches Logo oder welche neue Werbekampagne das Unternehmen verwendet: Er kann über die Kodes des Unternehmens bestimmen. In einer Clique bestimmen die Anführer, was “ cool ” ist und was “ uncool ” ist; das gilt für Kleidung wie für die Ausdrucksweise. b) außerhalb der jeweiligen Institution: Hier muss stärker differenziert werden. Nur in dem Maße, in dem eine Institution Deutungsmacht innerhalb einer Gesellschaft besitzt, erhalten die Personen, die innerhalb der Institution Positionsmacht besitzen, auch Deutungsmacht in der Gesellschaft. Dabei muss man wiederum ihre private Deutungsmacht von der Deutungsmacht unterscheiden, die sie für die Institution ausüben (siehe c). Die private Deutungsmacht äußert sich zum einen darin, dass diejenigen, die sie besitzen, auch von der Position der Institution abweichende Meinungen äußern dürfen; man spricht dann von “ inoffiziellen Statements ” , die jemand “ als Privatperson ” abgibt. Dabei darf natürlich nicht übersehen werden, dass die Person nur aufgrund ihrer Positionsmacht innerhalb der Institution überhaupt gefragt wurde. Ein typisches Beispiel für solche Situationen sind die Talkshows oder Interviews, wo oft geradezu versucht wird, solche abweichende Meinungen zu erhalten, um Aufmerksamkeit zu erregen und etwas zu schreiben zu haben. Private Deutungsmacht zeigt sich zum anderen darin, dass Personen auch zu Gebieten gefragt werden, die mit der Tätigkeit ihrer Institution nichts zu tun haben. c) Eine Institution als ganze besitzt meist Deutungsmacht innerhalb eines bestimmten Bereichs: Sportverbände und Wohlfahrtsverbände, Kirchen und Forschungsinstitute werden meist nur in ihrem jeweiligen Spezialgebiet “ zu Rate gezogen ” bzw. “ um ihre Meinung gefragt ” , Redewendungen, die das Vorhandensein von Deutungsmacht anzeigen. Wenn eine Gesellschaft bestimmten Institutionen erhebliche Deutungsmacht zusprechen, wird das Ergebnis als “ Expertenwesen ” bezeichnet, wie dies in unseren westlichen Gesellschaften der Fall ist. Dabei werden, wenn ein Ereignis oder ein Problem besprochen werden soll, zunächst einmal Personen aus solchen Institutionen nach ihrer Meinung gefragt, denen die Gesellschaft Deutungsmacht auf dem jeweiligen Gebiet zuerkennt. Privatpersonen haben es dagegen schwer, mit ihrer Meinung durchzudringen. Dabei 116 Martin Siefkes (Chemnitz) schadet es einem Experten wenig, wenn er oberflächlich argumentiert oder Klischees wiederholt; häufig wird es sogar als seine/ ihre Aufgabe angesehen, eine bestimmte Meinung zu vertreten, unabhängig davon, ob es gute Argumente für diese Meinung überhaupt gibt. Ebenso wenig nutzt es einer Privatperson, wenn sie zu einem bestimmten Gebiet hervorragend informiert ist. 49 5.1.2 Positionsmacht ohne Deutungsmacht Positionsmacht geht zwar im Normalfall mit Deutungsmacht einher, ist aber grundsätzlich von ihr unabhängig. Sie besteht vielmehr gerade darin, dass jemand für die Durchsetzung bestimmter Dinge nicht auf die Zustimmung anderer, und insbesondere der Betroffenen, angewiesen ist. Wenn an einer Universität eine Habilitation stattfinden soll, müssen alle Professoren des jeweiligen Instituts dem zustimmen. Wenn einer von ihnen dies verweigert, kommt es nicht zur Habilitation. Dies gilt ohne Berücksichtigung der angegebenen Gründe, die fadenscheinig sein können. Ähnliches gilt überall, wo Mitgliedern eines Gremiums ein Vetorecht eingeräumt wird. Hier kommt es nicht darauf an, ob die Person generell angesehen ist oder sich möglicherweise ihre Deutungsmacht aufgrund früherer Fehler oder geringer Leistungen längst verscherzt hat. Ein gutes Beispiel ist der amerikanische Supreme Court. In dieses höchsten Gericht, dass noch weit mächtiger ist als das deutsche Verfassungsgericht und der Bundesgerichtshof, da es relevant erscheinende Fälle an sich ziehen kann, werden Richter durch den Präsidenten der USA auf Lebenszeit berufen. Selbst wenn sich solch ein Richter durch juristisch kaum begründbare Entscheidungen die Akzeptanz innerhalb der Bevölkerung und auch die der Juristenzunft generell verscherzen sollte, kann er immer noch dieselbe Macht ausüben wie seine möglicherweise kompetenteren Kollegen. 5.2 Deutungsmacht vs. Verfügungsmacht Diese beiden Machtarten sind relativ leicht voneinander zu trennen; einige Anmerkungen zu ihrer gegenseitigen Beeinflussung sind aber angebracht. Deutungsmacht in Verfügungsmacht umzusetzen, ist der Zweck von Regelungen wie Patentrecht und Markenrechten. Sie sollen es mir ermöglichen, aus der Erfindung von neuen Mentefakten, d. h. Kodes, ein Recht auf jene Artefakte und Texte abzuleiten, die mit ihrer Hilfe entstanden sind. In der Regel werden solche Rechte zeitlich begrenzt eingeräumt aufgrund der Erkenntnis, dass sonst der kulturelle Fortschritt gebremst würde. Das Urheberrecht, d. h. die Idee des “ geistigen Eigentums ” an einem Text wie einem Buch, Film oder Lied, verdeutlicht die Grenze zwischen Deutungs- und Verfügungsmacht. Ein Text selbst gehört unserer Definition nach in den Bereich der materialen Kultur. Doch 49 Zwar hat sich durch den enormen Bedarf an Meinungsäußerungen, der durch die Vervielfachung der Kapazität der Massenmedien in den letzten Jahrzehnten entstanden ist, diese Situation etwas verändert, so dass es heute auch ohne Positionsmacht innerhalb einer Institution möglich sein kann, in den Medien seine Meinung darzulegen. Kaum verändert hat sich aber das unterschiedliche Gewicht, dass den Aussagen je nach Positionsmacht beigemessen wird: Eine intellektuell brillante Analyse eines “ Nobody ” innerhalb einer Talkshow hat weit schlechtere Chancen, zitiert zu werden, als ein oberflächliches Statement einer Person mit Positionsmacht (eines Topmanagers, Regisseurs oder Moderators). Macht und Zeichen 117 häufig hat er auch eine Seite, die zur mentalen Kultur gehört: Wenn zum Beispiel ein literarischer oder gefilmter erzählender Text eine neue Art von Helden einführt (sagen wir, den “ komischen Antihelden ” 50 ), eine neue Erzählperspektive oder einen neuen Darstellungsstil, handelt es sich um die Erfindung von ästhetischen Kodes, die zum Bereich der sekundären Kodes gehören. Wenn es ihm gelingt, eine neue Sprache zu erfinden (wie es von George Orwell in “ 1984 ” , von J. R. R. Tolkien für seine “ Mittelerde ” -Romane und von Anthony Burgess in “ A Clockwork Orange ” versucht wurde), dann hat er sogar einen primären Kode erschaffen. Tatsächlich ist der Bereich eines Werkes, der in die mentale Kultur fällt, in der Regel nicht geschützt; eine Autorin, die ein neues Genre oder einen neuen Stil einführt oder Neologismen geprägt hat, kann anderen in der Regel nicht verbieten, diese auch zu verwenden. 5.3 Verfügungsmacht vs. Positionsmacht Positionsmacht geht oft mit einer gewissen Verfügungsmacht einher. Ein gutes Beispiel dafür ist die Museumsdirektorin (vgl. 4.2.1), die über die Bilder und Kunstgegenstände in “ ihrem ” Museum (das Possessivpronomen wird hier für den Bereich verwendet, in dem die Positionsmacht einer Person gilt; man spricht auch von “ Verantwortungsbereich ” ), innerhalb eines bestimmten Rahmens verfügen kann. Das Beispiel zeigt auch, dass bei Verfügungsmacht die Differenzierung bezüglich des Grads der offenstehenden Möglichkeiten von “ spezieller Verfügungsmacht ” bis zu “ vollkommener Verfügungsmacht ” besonders wichtig ist. Diese Differenzierung ist allerdings bei Positionsmacht und Deutungsmacht ebenso zu beachten; bei letzterer schwankt sie zwischen den etwas anders gearteten Polen der “ bloßen Meinung ” , als die die Äußerung einer Person in der Zeitung abgedruckt wird, und des “ Ukas ” oder der “ absoluten Bestimmung ” , für die die “ Unfehlbarkeit des Papstes ” für seine Gläubigen ein bekanntes Beispiel innerhalb einer Institution darstellt. Für die vollkommene Verfügungsmacht haben die kapitalistischen Gesellschaften das Konzept des “ Eigentums ” eingeführt (vgl. 4.2.2). Um den freien Austausch von Eigentum zu erleichtern, wurde als seine symbolische Repräsentation das Geld entwickelt. Man kann daher in solchen Gesellschaften nicht-vollkommene, durch Positionsmacht hervorgerufene von vollkommener Verfügungsmacht recht zuverlässig daran unterscheiden, dass die letztere fast immer mit Hilfe von Geld frei konvertierbar ist, während die erstere in der Regel “ für Geld nicht zu kaufen ” ist: Man kann sie nur mit Hilfe einer Position in einer Institution erreichen. 6. Fazit Es wurden drei Arten von Macht nach semiotischen Kriterien definiert, gegeneinander und gegen verwandte Begriffe wie “ Autorität ” abgegrenzt und in verschiedenen Beispielen dargestellt. Diese Unterteilung der Macht ist nicht die einzig mögliche, sie ist jedoch kultursemiotisch sinnvoll und empirisch gut nachweisbar. 50 Eine solche Einführung könnte man Cervantes' “ Don Quixote ” zuschreiben. 118 Martin Siefkes (Chemnitz) In der Einleitung hatten wir drei Beispiele betrachtet, die normalerweise unter den Begriff “ Macht ” subsumiert werden. Wenn wir jetzt zu ihnen zurückkehren, erkennen wir, dass es sich um Beispiele für die drei Machtarten handelt: 1. Im Falle (a) des Staatspräsidenten oder (b) der bekannten Persönlichkeit, deren Aussage unabhängig von ihrer argumentativen Qualität in den Medien ein breites Echo erfährt, handelt es sich um Deutungsmacht. 2. Im Falle der Milliardärin, die sich ein Luxusanwesen baut und dabei einerseits dadurch, dass sie ein gewisses Stück Land für sich allein beansprucht, andererseits dadurch, dass sie über die Zeit all derer bestimmt, die direkt oder indirekt an der Herstellung des Baus oder der Einrichtung beteiligt sind, in das Leben zahlreicher Menschen auf unterschiedliche Art eingreift, handelt es sich um Verfügungsmacht. 3. Im Falle des Managers, der 10.000 Angestellte entlässt oder einstellt und damit ihr Leben nachhaltig beeinflusst, handelt es sich um Positionsmacht. Dass es sich wirklich um unterschiedliche Phänomene handelt, zeigt sich daran, dass sie sich systematisch nach ihren Eigenschaften unterscheiden lassen, was in der Einleitung angedeutet wurde. In Abschnitt 4.1 bis 4.3 wurden dann die einzelnen Machtarten und ihre charakteristischen Eigenschaften genauer untersucht; in Abschnitt 5.1 bis 5.3 wurde gezeigt, dass bei sorgfältiger Untersuchung von Machtphänomenen auch dort, wo sie ineinander zu verschwimmen scheinen, eine präzise Abgrenzung der drei Machtarten möglich ist. Der vorgeschlagene Machtbegriff konzentriert sich auf die soziologische Seite der Macht; die psychologischen und handlungstheoretischen Aspekte der Macht bleiben ausgespart. Sie könnten jedoch von diesem Ausgangspunkt aus mit erhöhter Präzision untersucht werden. Vor allem hoffe ich gezeigt zu haben, wie eng die semiotischen Grundlagen der Kultur mit jenem Phänomen der zwischenmenschlichen Kontrolle zusammenhängen, das wir Macht nennen. Literatur Agnoli, Johannes (1990), Die Transformation der Demokratie und andere Schriften zur Kritik der Politik. Freiburg: ça ira. Berthold, Lutz (1997), Transitive Macht, intransitive Macht und ihre Verbindung: Hermann Hellers Begriff der Organisation. In: Göhler, Gerhard (Hg.), Institution - Macht - Repräsentation: Wofür politische Institutionen stehen und wie sie wirken. Baden-Baden: Nomos. 349 - 359. Blissett, Luther und Sonja Brünzels (2001), Handbuch der Kommunikationsguerilla. Hamburg: Libertäre Assoziation. Henderson, Allen H. (1981), Social Power. Social Psychological Models and Theories. New York: Praeger. Klein, Naomi (2000), No Logo. Taking Aim at the Brand Bullies. Toronto: Vintage Canada. Posner, Roland (2003), Kultursemiotik. In: Ansgar Nünning und Vera Nünning (Hg.), Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen - Ansätze - Perspektiven. Stuttgart u. a.: Metzler. 39 - 66. Thompson, John (1995), The Media and Modernity. A Social Theory of the Media. 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