eJournals Kodikas/Code 39/1-2

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2016
391-2

Symbole verstehen

2016
Reto Zöllner
K O D I K A S / C O D E Volume 39 (2016) · No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Symbole verstehen (Metaphorische) Textkohärenz im belgischen Symbolismus Reto Zöllner (Zürich) Maurice Maeterlinck ’ s lyric has often been understood as a sequence of disparate images without any visible coherence, images that follow each other in a merely syntagmatic way. This disparity would make their aesthetic importance. However, in symbolist poetry the coherence of symbols and their intrinsic relationship contributes essentially to its meaning. Instead of isolating verses with single symbols and comparing them between different poems - method that leads to a sort of inventory - one should consider the discursive context into which these symbols are integrated as well as the changes and transformations that they experience. Especially in symbolist poetry, one may tend to understand symbols as fix signifiers whose meanings are due to literary tradition and can so be constructed by Translatio. Methodologically, an encyclopaedia of symbols goes precisely in this direction. In fact, theoretical writings of the Belgian symbolism confront a dynamic vision of symbols with the rigid allegory. We should not forget that a symbol, as traditional as it is, first is constructed in the text, thanks to its relations with previous passages. In our microanalysis of prose poems from Serres Chaudes, we would like to show how, in apparently incoherent verses, fine deviations of metaphors and subtle references of images to each other create coherence and meaning. Situierung und theoretischer Hintergrund Sicher ist der Gedichtband Serres Chaudes nicht das erste Werk, das einem spontan zu Maurice Maeterlinck einfällt, zu berühmt sind seineTheaterstücke: La Princesse Maleine, das Maeterlinck quasi über Nacht - dank des Artikels von Octave Mirbeau - in Paris bekannt gemacht hat und Pelléas et Mélisande, bei dessen Titel man allerdings noch mehr an Debussy denkt. Dennoch darf Serres Chaudes, folgt man der Einschätzung von Marc Quaghebeur, als „ quintessence du symbolisme ” gelten. 1 Obschon sich Maeterlinck relativ schnell wieder davon distanziert, kann der Band, der 1889 bei Vanier erscheint, in Belgien doch als ein 1 Marc Quaghebeur, Balises pour l ’ histoire des Lettres belges de langue français, Bruxelles, Labor, 1998, S. 59. Übergang von einer sehr Parnasse nahen Dichtung hin zu etwas radikal Neuem, Eigenem gesehen werden, als eine „ coupure épistémologique ” 2 , wie es Paul Gorceix fomuliert. Einen solchen Einschnitt markiert das Werk auch im Schaffen Maeterlincks, geht doch mit dem Gedichtband eine veritable Krise einher, eine Revolte gegen einen dichterischen Klassizismus, wie man ihn zu dieser Zeit im Parnasse finden kann. Nicht umsonst schreibt Maeterlinck schon früh, um 1888, in vers libres, nachdem er zuvor noch in Versen, allerdings ohne Reime, gedichtet hatte. Demgemäss alternieren in Serres Chaudes Gedichte in freien Versen und in traditioneller Versifikation, meist octosyllabische Quartette. Im Cahier bleu von Maeterlinck finden sich gleich mehrere Spuren einer virulenten Kritik gegenüber dem lateinischen Erbe der französischen Literatur, die ganz eigentlich dem Germanismus - „ sceau du monde nouveau ” 3 , wie es Maeterlinck ausdrückt - im Zeichen eines epochalen Neubeginns ästhetisch unterlegen sei. Es ist ebendiese Krise, die Maeterlinck auch zu einer zweiten, fundamentalen Entdeckung führt: der Lektüre und Übersetzung von Ruysbroeck, dem flämischen Mystiker des 13. Jahrhunderts, dem er gar einen universellen Symbolismus ( „ universel symbolisme ” 4 ) zuschreibt. 5 Sich gegen Neologismen, morphologische Inversionen und allerlei Preziositäten der Décadance wendend, sucht Maeterlinck eine bewusst einfache, reduzierte Sprache - die auch bei seinen Theaterstücken, in den häufigen Stichomythien und Wiederholungen, ihren Niederschlag findet. So unterstreicht Maeterlinck im Schlusswort zu seinem Artikel über die flämische Mystik die „ étrange insistance sur certains mots ordinaires ” 6 , welche ungekannte, manchmal beängstigende Effekte der Sprache hervorscheinen lässt. In der auf den ersten Blick unbeholfenen Wiederholung von eigentlich ganz generischen, unspezifischen Wörtern, erlangen diese im Sinnzusammenhang eine neue, geradezu mystische Tiefe. Diese Erkenntnis wird zentral sein für den Symbolbegriff, den Maeterlinck theoretisch ausarbeitet. Die Beschäftigung mit der Sprache und ihrer Symbolhaftigkeit ist nicht nur ein wesentlicher Bestandteil seiner poetologischen Überlegungen, sondern auch ein Kriterium des Symbolismus tout court - man denke vor allem an Mallarmé und seine poetischen Etymologisierungen zur englischen Sprache in Les Mots anglais. Zudem kann die theoretische Auseinandersetzung mit dem Symbol, das vor allem von Albert Mockel, dem grossen Symboltheoretiker aus Lüttich, dynamisch in Abgrenzung zur starren Allegorie definiert wird 7 , als ein für den belgischen Symbolismus bedeutender, konstitutiver Moment gefasst werden. Maeterlinck unterscheidet ein Symbol „ à priori ” 8 , das derAllegorie ähnlich ist, und ein unbewusstes Symbol, das ohne Wissen des Dichters quasi seine eigenen 2 Paul Gorceix, „ Avant-propos ” . In : Maurice Maeterlinck, Œ uvres I. Le réveil de l ’ âme. Poésies et Essais, Bruxelles Editions Complexe, 1999, S. 8. 3 Maurice Maeterlinck, Cahier bleu, hg. Joanne Wieland-Burston, Éditions de la Fondation Maurice Maeterlinck, 1977, S. 101. 4 Maurice Maeterlinck, „ Ruysbroeck L ’ Admirable ” . In : Revue Générale, Bruxelles, octobre-novembre 1889, S. 472. 5 L ’ Ornement des noces spirituelles de Ruysbroeck l ’ admirable erscheint im Jahre 1891 bei Paul Lacomblez mit einer Einführung des Übersetzers Maurice Maeterlinck. 6 Maurice Maeterlinck, „ La mystique flamande ” . In : Revue encyclopédique ( „ La Belgique ” ), Paris, 1897, S. 665. 7 Siehe Albert Mockel, Propos de littérature (1894) suivi de Stéphane Mallarmé, un héros (1899) et autres textes, Paris, Honoré Champion, 2009. 8 Maurice Maeterlinck, Enquête sur l ’ évolution littéraire de Jules Huret (1891), Paris, Thot, 1982, S. 123. 58 Reto Zöllner (Zürich) Gedanken übersteigt; diese Art von Symbol, im Gegensatz zur Allegorie, öffnet sich der freien Interpretation des Lesers; es erschliesst sich im Kontext des Gedichts selbst, der Sinn wird dort erst erzeugt. Das Symbol hat letzten Endes bei Maeterlinck immer eine dezidiert mystische Komponente, nämlich als ein „ moyen de transcendance ” 9 , als ein geistiger Weg, den versteckten Sinn der Welt zu erahnen. Es erfüllt damit eine „ mission cognitive ” 10 , wie Paul Gorceix formuliert, dahingehend, das Unsichtbare sichtbar zu machen, eine Unio Mystica zwischen Subjekt und Welt herzustellen: „ Le symbole serait le triomphe souverain du rêve et sa gloire absolue dans les flammes finales ” , definiert Maeterlinck 1887 in seinem Notizbuch. 11 Damit wird das Symbol neben dem Mystizismus auch mit dem Traum in Verbindung gebracht, den Maeterlinck in seinen Werken Onirologie und Psychologie des songes genauer beleuchtet. Neben den wiederum mystisch angehauchten Metaphern ( „ flammes finales “ , „ gloire absolue “ ), kann hier auch auf die pragmatisch-kommunikative Dimension des Symbols verwiesen werden, mittels der die Leser in den Prozess der Sinnkonstruktion miteinbezogen werden. Die Lyrik Maeterlincks wurde oft auf die Art gelesen, dass disparate Bilder ohne erkennbare Kohärenz nebeneinanderstehen, sich lediglich syntagmatisch folgen, wobei in dieser Disparität gerade ihre Bedeutung liege. Als einer der zeitgenössischen Kritiker spricht Iwan Gilkin von einem „ amalgame incohérent de métaphores désorbitées “ 12 , der Maeterlinck-Spezialist und Herausgeber Paul Gorceix gut achtzig Jahre später von einer „ succession d ’ images hétéroclites, insolites, absurdes “ 13 . Eine solche Aussage, die vor allem das singuläre Einzelbild betont und jeglichen Zusammenhang der Bilder in Frage stellt, findet sich exemplarisch auch bei Patrick McGuiness, wenn er schreibt: „ Maeterlinck deals in violent disparities, in which image exists for its own sake, and not for relationship with others ” . 14 Ein derartiger Ansatz läuft im Extremen darauf hinaus, jegliche paradigmatische Bewegung in solchen Gedichten zu negieren. Demgegenüber gilt es zu betonen, dass die Kohärenz von Symbolen und deren Bezug untereinander zentraler Bedeutungsträger ist. Vielmehr als methodologisch Verse mit einzelnen Symbolen zu isolieren und zwischen mehreren Gedichten untereinander zu vergleichen, was zu einerArt Symbolinventar führt, sollen der Kontext und der Zusammenhang, in dem ein Symbol auftaucht, sowie die Veränderung und Transformation, welche es im Verlauf des Textes erfährt, ins Blickfeld gerückt werden. Insbesondere bei Gedichten, die dem Symbolismus zuzurechnen sind, ist die Gefahr besonders gross, Symbole gemeinhin als fixe Bedeutungsträger zu begreifen, deren Verständnis sich aus literarischer Tradition und 9 Paul Gorceix, Le Symbolisme en Belgique ou l ’ éveil à une identité culturelle. Mélanges, Paris, Eurédit, t. I , 2008, S. 161. 10 Paul Gorceix, „ La théorie belge du Symbolisme ; origine et actualité ” , Revue d ’ Histoire littéraire de la France 93, 1993, S. 215. 11 Maurice Maeterlinck, Carnets de travail (1881 - 1890), hg. Fabrice van de Kerkhove, Bruxelles, Archives et Musée de la Littérature, 2002, S. 337. 12 Iwan Gilkin, „ Chronique littéraire ” . In : La Jeune Belgique, 1899, VIII . 13 Paul Gorceix, „ Préface ” . In : Maurice Maeterlinck, Serres Chaudes. Quinze Chanson. La Princesse Maleine, Paris, Gallimard, 2008, S. 13. 14 Patrick McGuiness, „ Maeterlinck ’ s Serres chaudes : Modernism and the Decadent Micro-climate ” . In : Nathalie Aubert, Pierre-Philippe Fraiture und Patrick McGuiness (Hgg.), La Belgique entre deux siècles. Laboratoire de la modernité 1880 - 1914, Bern, Peter Lang, 2007, S. 235 - 259, hier S. 254. Symbole verstehen 59 der Translatio heraus konstruieren lässt. Symbollexika gehen methodologisch meistens nolens volens in ebendiese Richtung, obwohl sie sich zum Teil, wie das neuere Symbollexikon von Günther Butzer und Joachim Jakob, davon zu distanzieren suchen. Im Vorwort diese Werks liest man beispielhaft ein wichtiges caveat, nämlich dass „ gerade die Akzentuierung der Historizität der Symbolbildung vor dem Missverständnis bewahr[t], dass man Symbole und ihre Bedeutungen wie in einem Register nachschlagen könne “ . 15 Zusätzlich stellt sich das Problem der Exhaustivität der Bedeutungsträger eines Symbols, die eben nie vollständig gefasst werden können, weder historisch noch für sämtliche Kulturräume. Dem Symbol ist also etwas Spezifisches (und nicht Universelles) inhärent, in einer historischen, kulturellen, sozialen oder sogar persönlichen Dimension. Dass, um auf die Literaturwissenschaft zurück zu kommen, ein Symbol, wie traditionsbeladen es auch sein mag, sich primär im Text erschliesst, im Zusammenhang und Spiel mit vorhergehenden Passagen, geht dabei oft vergessen, wird aber, wir haben es gesehen, theoretisch von Maeterlinck und Mockel klar eingefordert. Auch die semiotisch-strukturalistische Analyse, wie wir sie hier mittels einer konkreten analyse de texte versuchen wollen, leistet gerade bei Texten, die als besonders hermetisch gelten können, einen überaus wichtigen Beitrag zu deren Verständnis. Natürlich ist es die Disparität der evozierten Bilder und ihr Kontrast, die einem Leser der Serres Chaudes als erstes ins Auge springen. Jedoch sollte eine Textanalyse nicht auf dieser oberflächlichen Sichtweise verharren, sondern im Gegenteil, ähnlich wie bei surrealistischen Gedichten der „ écriture automatique “ , Assoziationsketten und Konstruktionsprinzipien herausarbeiten, zum Beispiel mittels Isotopien, welche einzelne Metaphern in eine Gesamteinheit einschreiben. Schon Todorov 16 formuliert die These, dass die Absenz eines klaren, wörtlichen Sinns, das Fehlen von logischer Kohärenz den Leser erst dazu führen, einen symbolischen Sinn zu suchen; Begriffe eben nicht wortwörtlich, sondern symbolisch aufzufassen. So gesehen ist die Symbolisationskraft umso stärker, je limitierter das eigentliche Verständnis ist. Auch hier wiederum kommt der Leser ins Spiel, analog zu den Konzepten der belgischen Symbolisten: umso hermetischer der Text auf den ersten Blick, desto stärker die Kooperation des Lesers in der Sinnkonstruktion, desto stärker der kognitive Impact des Gedichts auf den Leser. Textanalyse des Gedichts „ Regards “ Vor allem in den Gedichten der freien Versform, die sich in bestimmten Abständen über den Gedichtband Serres Chaudes verteilen, kontrastieren bei Maeterlinck die Disparität der Bilder mit einer syntaktisch-rhetorischen Rigidität. Um das Gedicht als Einheit zu verstehen, ist also in einem ersten Schritt von formalen Repetitionen auszugehen und in einem zweiten von semantischen Wiederholungen und Transformationen. Auf Basis einer formalen und metaphorischen Progression des Gedichts von Anfang bis Ende können Teile ausgemacht werden, die vergleichbar sind, dennoch aber eine Entwicklung zum vorausgehenden Teil darstellen. Schauen wir uns diese beiden Schritte exemplarisch im 15 Günther Butzer und Joachim Jakob (Hgg.), Metzler Lexikon literarischer Symbole, Stuttgart, Metzler, 2008, S. VI . 16 Tzvetan Todorov, Symbolisme et interprétation, Paris, Le Seuil, 1978, S. 83. 60 Reto Zöllner (Zürich) Gedicht „ Regards “ an, das sich vor allem durch die Figuren des Parallelismus und der Anapher strukturiert. Regards Ô ces regards pauvres et las ! Et les vôtres et les miens ! Et ceux qui ne sont plus et ceux qui vont venir ! Et ceux qui n ’ arriveront jamais et qui existent cependant ! Il y en a qui semblent visiter des pauvres un dimanche ; Il y en a comme des malades sans maison ; Il y en a comme des agneaux dans une prairie couverte de linges. Et ces regards insolites ! Il y en a sous la voûte desquels on assiste à l ’ exécution d ’ une vierge dans une salle close, Et ceux qui font songer à des tristesses ignorées ! À des paysans aux fenêtres de l ’ usine, À un jardinier devenu tisserand, À une après-midi d ’ été dans un musée de cires, Aux idées d ’ une reine qui regarde un malade dans le jardin, À une odeur de camphre dans la forêt, À enfermer une princesse dans une tour, un jour de fête, À naviguer toute une semaine sur un canal tiède. Ayez pitié de ceux qui sortent à petits pas comme des convalescents dans la moisson ! Ayez pitié de ceux qui ont l ’ air d ’ enfants égarés à l ’ heure du repas ! Ayez pitié des regards du blessé vers le chirurgien, Pareils à des tentes sous l ’ orage ! Ayez pitié des regards de la vierge tentée ! (Oh ! des fleuves de lait ont fui dans les ténèbres ! Et les cygnes sont morts au milieu des serpents ! ) Et de ceux de la vierge qui succombe ! Princesses abandonnées en des marécages sans issues ; Et ces yeux où s ’ éloignent à pleines voiles des navires illuminés dans la tempête ! Et le pitoyable de tous ces regards qui souffrent de n ’ être pas ailleurs ! Et tant de souffrances presque indistinctes et si diverses cependant ! Et ceux que nul ne comprendra jamais ! Et ces pauvres regards presque muets ! Et ces pauvres regards qui chuchotent ! Et ces pauvres regards étouffés ! Au milieu des uns on croit être dans un château qui sert d ’ hôpital ! Et tant d ’ autres ont l ’ air de tentes, lys des guerres, sur la petite pelouse du couvent ! Et tant d ’ autres ont l ’ air de blessés soignés dans une serre chaude ! Et tant d ’ autres ont l ’ air de s œ urs de charité sur une Atlantique sans malades ! Oh ! avoir vu tous ces regards ! Avoir admis tous ces regards ! Et avoir épuisé les miens à leur rencontre ! Et désormais ne pouvoir plus fermer les yeux ! 17 17 Maurice Maeterlinck, Serres Chaudes. Quinze Chanson. La Princesse Maleine, hg. Paul Gorceix, Paris, Gallimard, 2008, S. 64 - 65. Symbole verstehen 61 Es entsteht ein formales Gerüst durch die Repetition der Präsentative, welche die Bildketten einführen, verbunden über die Koordinations-Konjunktion „ et “ . Diese Präsentativ-Anaphern lassen eine Einteilung (découpage) erkennen, die komplexer ist als diejenige in drei Strophen oder Abschnitte, wie sie durch die espaces blancs angedeutet wird. Eine solche dreistufige Rhetorik versucht David Gullentops als Muster der Gedichte in freier Form zu generalisieren. Er unterscheidet so „ entrée en matière - images contrastantes - clausules de conclusion “ . 18 Gerade das Beispiel „ Regards “ zeigt allerdings, dass dies einer doch sehr schematischen Vereinfachung gleichkommt. Betrachten wir zunächst, welche syntaktischen Elemente der formalen Konstruktion des Gedichts zu Grunde liegen: - der Initialapostroph „ Ô ces regards ” , von vier anaphorischen „ et ” gefolgt, die andere Spielarten von Blicken spezifizieren. - viermal „ il y a ” , zweimal „ et ” . - sechsmal „ A ” und im Plural ( „ Aux ” ). - der im Gedichtband mehrmals vorkommende Imperativ „ Ayez pitié de ” , viermal wiederholt und von neun „ et “ gefolgt, die allesamt syntaktisch vom Imperativ abhängen. - eine weitere Folge von sieben „ et ” , stets im Zusammenhang von Augen und Blicken. - der über einen espace blanc abgetrennte Teil, im Viererschema, der beide vorher strukturgebenden Elemente ( „ à “ und „ et “ ) miteinander verknüpft. - ein abschliessendes Quartett, spiegelbildlich zum Anfang. Kann man hier wirklich von einer „ négligence manifeste ” , sprechen, wie es Paul Gorceix macht, wenn er von „ balbutiants ‚ il y a ‘“ , und einer „ simple coordination ‚ et ‘“ spricht? 19 Legen wir den Fokus stattdessen auf den strukturierenden Gehalt dieser Bildeinführungen und auf die Kontrastwirkung, die Maeterlinck bewusst sucht. Die Repetition, wie sie im Parallelismus, in der Anapher und der präsentativen Parataxis vorherrscht, kontrastiert bei Maeterlinck mit der Verschiedenartigkeit der evozierten Bilder. Die Abfolge von mehreren „ il y a ” besteht aus expliziten Vergleichen ( „ comme ” ) oder implizitem Beiordnen, das zusätzlich noch modalisiert wird ( „ sembler “ , „ qui font songer à “ ). 20 Diese syntaktische Konstruktion erlaubt es nun, von Vers zu Vers Bilder mit einem „ complément d ‘ objet indirect “ oder einer Rektion des Verbs ( „ à “ ) im Sinne einer Handlung einzuleiten, die allesamt von „ font songer ” abhängen, und figurative Annäherungen an Ausprägungen verschiedener Blicke darstellen. Wie das eigentlich immer in den freien Versgedichten von Maeterlinck möglich ist, können sich wiederholende Bilder als strukturgebend aufgefasst werden. „ L ’ exécution d ’ une vierge ” zum Beispiel greift auf die „ vierge tentée ” voraus sowie, drei Verse weiter, auf die „ vierge qui succombe ” . Klar wird hier auch eine logische Entwicklung: auf die Terminologie von Vladimir Propp (Morphologie des Märchens) und seine für das Volksmärchen konstitutiven Funktionen rekurrierend, stellt man fest, dass auf 18 David Gullentops, Poétique du lisuel, Paris, Paris-Méditerranée, 2001, S. 154 - 155. 19 Paul Gorceix, Le Symbolisme en Belgique, op. cit., S. 33. 20 Marc Dominicy ( „ La perception dans Serres Chaudes ” , Degrés 84, 1996, S. 13 - 14) erkennt in diesen beiden diskursiven Strategien Versuche einer „ auto-attribution des perceptions “ , mittels derer sich der Sprecher einerseits die modalisierten Aussagen zu eigen macht, andererseits auf Vergleiche abstellt, um das zu beschreibende Objekt besser zu erfassen. 62 Reto Zöllner (Zürich) die Versuchung die Transgression folgt und, vorweggenommen am Anfang, die „ sanction “ im Sinne einer Strafe. In der anaphorischen Einleitung mittels Präsentativen oder Imperativen hat Maeterlinck gewiss drei illustre Vorbilder: Walt Whitman, Arthur Rimbaud und die mystische Literatur. In seinem Gedicht „ The world below the brine “ leitet Walt Whitman eine Fülle disparater Bilder über den anaphorischen Gebrauch des Imperativs „ see “ ( „ schau “ ) ein; Arthur Rimbaud in seinen Illuminations 21 , exemplarisch im Gedicht „ Enfance ” (III), wo sich sieben vers libres eingeführt mit „ il y a “ aneinanderreihen 22 ; und zuletzt die mystische Literatur, bei der die Abfolge von visionären Bildern das innerlich-seelische Erhellen figuriert. In der Oda X „ A Felipe Ruiz ” von Fray Luis de León deklinieren auf ähnliche Weise die Quintile, immer mit der anaphorischen Einleitung „ veré ” (ich werde sehen), eine kosmische Vision der harmonia mundi, ein Schauen in Gott und mit ihm ein Sehen der Geheimnisse der Welt und der verborgenen Dinge. 23 Was bei dem spanischen Dichter des Renacimiento noch „ plénitude “ und paradiesische Contemplatio ist, wird bei Maeterlinck zum beängstigenden Universum, unheimlich, im Zeichen von Mangel und Verzicht. Kehren wir zum Gedicht „ Regards “ zurück und analysieren die vorher genannten Einheiten genauer. Ganz am Anfang kann man im ersten Ausruf eine saisie totalisante des Blicks ausmachen: Die Blicke werden mittels der Deixis des Demonstrativpronomens „ ces “ zusammengefasst und über zwei Epitheta charakterisiert, das erste davon als Zeugma im Sinne von Blicken armer Menschen, die im weiteren Verlauf nochmals evoziert werden: Ô ces regards pauvres et las Et les vôtres et les miens ! Et ceux qui ne sont plus et ceux qui vont venir ! Et ceux qui n ’ arriveront jamais et qui existent cependant ! In der Folge werden weitere Blicke, über die Konjunktion „ et “ appositiv lose verbunden, systematisch in Binome gefasst. Dies geschieht erst über eine persönliche Achse, die das lyrische Ich vom Adressaten unterscheidet ( „ vôtres “ / „ miens “ ), dann über eine temporale Achse (Vergangenheit/ Futurum) und schliesslich über eine modale (die Existenz von gewissen Blicken wird ausgeschlossen, die im Prinzip möglich wäre). In klarem Bezug dazu steht die letzte Strophe, die, nach den Partikularisierungen dazwischen, wieder an die Totalisierung anknüpft ( „ tous ces regards “ ). Dieser spezifische Übergang von einer saisie 21 Marc Dominicy ( „ La perception dans Serres Chaudes ” , art. cit., S. 13) hält in dieser Hinsicht fest: „ l ’ usage de ‘ il y a ’ peut s ’ expliquer par une influence directe des Illuminations, qui avaient été publiées en 1886 ” . Im März 1887 zitiert Maeterlinck die Illuminations in seinem Arbeitsheft und kopiert sogar einige symbolträchtige Bilder des Gedichts „ Après le déluge ” (Maurice Maeterlinck, Carnets de travail (1881 - 1890), op. cit., S. 369). 22 „ Au bois il y a un oiseau, son chant vous arrête et vous fait rougir./ Il y a une horloge qui ne sonne pas./ Il y a une fondrière avec un nid de bêtes blanches./ Il y a une cathédrale qui descend et un lac qui monte./ Il y a une petite voiture abandonnée dans le taillis, ou qui descend le sentier en courant, enrubannée./ Il y a une troupe de petits comédiens en costumes, aperçus sur la route à travers la lisière du bois./ Il y a enfin, quand l ’ on a faim et soif, quelqu ’ un qui vous chasse. ” (Arthur Rimbaud, Œ uvres complètes, hg. André Guyaux, Paris, Gallimard, „ Bibliothèque de la Pléiade ” , 2009, S. 210). Unterstreichen wir in dieser Abfolge von Präsentativen den Lokativ ganz am Anfang ( „ au bois “ ), welcher die Elemente der Aufzählung in einen örtlichen Rahmen einschreibt, der just am Ende der vorletzten Vers nochmals aufgenommen wird ( „ lisière du bois “ ), sowie das „ enfin “ , das die anaphorische Aufzählung explizit abschliesst. 23 Fray luis de león, Poesía, hg. Juan Francisco Alcina, Madrid, Cátedra, 2003, S. 124 - 129. Symbole verstehen 63 totalisante zu einer saisie particularisante darf als Charakteristika vieler freier Versgedichte der Serres Chaudes gelten. 24 Dazu kommt am Schluss ein terminativer Aspekt, der die Betrachtung der Blicke mittels des passé composé abschliesst: „ Oh ! avoir vu tous ces regards ! / Avoir admis tous ces regards ! ” . Die ersten beiden octosyllabes des Anfangs (liest man „ miens “ als diérèse) spiegeln sich in denjenigen am Ende; beiden folgt übrigens ein klassischer Alexandriner mit ebenso klassischer césure! Der Achtsilber ist die Versform, in der Maeterlinck fast alle regelmässigen Gedichte von Serres Chaudes schreibt. 25 Die Achtsilber im Gedicht „ Regards “ lassen sich als Verweis auf ebendiese regelmässigen Gedichte lesen, dies umso mehr, als dass vor und nach „ Regards “ genau zwei parallele Gedichte, nämlich „ Oraison “ und „ Attente “ bestehend aus je drei Quartetten in Achtsilbern, angeordnet sind. Die regelmässigen Verse in den freien Versgedichten schaffen, wenn nicht eine versifikatorische Einheit des Bandes, so zumindest eine metrische Kohärenz. Formal endet das Gedicht also, wie es begonnen hat. Die ersten Verse bilden quasi eine kataphorische Synthese der folgenden. Es ergeben sich grob vier Teile: die beiden Quartette umrahmen einen langen zweiten Teil und einen dritten, eine durch espaces blancs abgetrennte Strophe, welche syntaktisch nochmals die Elemente des zweiten Teils in konzentrierter Form aufnimmt. Trotzdem lässt sich ein transformatives Element im Übergang vom Anfang zum Ende ausmachen, das sich ikonisch im ganz leicht veränderten Vokativpartikel zeigt: aus „ Ô “ wird „ Oh! “ . Versteht man das erste „ Ô “ als ein schmerzvolles An- und Ausrufen, so drückt letzteres eher eine Art Verwunderung aus, die das poetische Subjekt eingedenk der vielen verschiedenen Blicke und deren bildhaften Annäherungen, die vorher aufgezählt wurden, empfindet; eine Verwunderung letztlich ob der Enormität, dass die Dichtung sie alle nebeneinanderstellen und eben „ zulassen “ kann ( „ admettre “ ). Während am Anfang die Existenz von gewissen Blicken noch in Zweifel gezogen wird ( „ qui existent cependant “ ), wird die Totalität am Ende als eine solche als Vollständigkeit - und zwar im Akt des Lesens selbst - wahr- und angenommen ( „ admis tous ces regards “ ). Der einzige in Klammern gesetzteVers schliesst ebendieses „ Oh “ mit ein ( „ Oh ! des fleuves de lait ont fui dans les ténèbres ” ). 26 Er bereitet somit auf das finale Moment des Erstaunens vor. 27 Mehr als die Hoffnung auf eine Lösung der Spannungen ( „ l ’ espoir de résolution ” 28 ), die 24 Im vorletzten Gedicht des Bandes, mit „ Attouchements ” überschrieben, wird die Totalität, die im ersten Vers gesetzt ist ( „ Ô les attouchements “ ) und, wie im Gedicht „ Regards “ auch im generischen Titel anklingt, im weiteren Verlauf differenziert und dekonstruiert, ganz analog zu „ Regards “ : „ Mais ces attouchements plus mornes et plus las “ (Maurice Maeterlinck, Serres Chaudes. Quinze Chansons, op. cit., S. 70). 25 Ähnliches liesse sich zum Beispiel über Alccools von Guillaume Apollinaire sagen. 26 Vielfach besitzen die in Klammern gesetzten Verse einen metapoetischen Gehalt, so exemplarisch im ersten Gedicht, in dem der Vers ( „ Oh ! rien n ’ est à sa place “ ) den Kontrast der einzelnen Bilder emblematisch hervorhebt (Maurice Maeterlinck, Serres Chaudes. Quinze Chansons, op. cit., S. 31). 27 Gleiches gilt wiederum für das Gedicht „ Attouchements ” . Das „ Ô “ zu Beginn wird in der Mitte zu „ Oh “ , das gleichermassen ein Erstaunen des lyrischen Ichs wiedergibt, der einer Disparität von Phänomenen gewahr wird. Wie in „ Regards “ auch wird die Erkenntnis- und Erlebnisdimension explizit ins Gedicht eingeschrieben: „ Oh ! j ’ ai connu d ’ étranges attouchements “ (Maurice Maeterlinck, Serres Chaudes. Quinze Chansons, op. cit., S. 71) 28 David Gullentops, Poétique du lisuel, op. cit., S. 157. Beispielhaft hier der Kommentar zum Schluss des Gedichts „ Attouchements ” : „ supplanter la réalité contrastante par une séquence finale où prédomine une atmosphère de pureté, de charité et de sollicitude ” (David Gullentops, „ L ’ Espace poétique dans Serres Chaudes ” , Études littéraires 30: 3, 1998, S. 103). 64 Reto Zöllner (Zürich) David Gullentops am Ende der Gedichte in freier Form erkennen will, würden wir den Erkenntnisprozess des lyrischen Ichs (und mit ihm denjenigen des Lesers) betonen, der sensuelle Phänomene erfährt, und, wenngleich nicht in toto versteht, immerhin partikularisieren und beschreiben kann. Im Gegensatz zu den Eröffnungsversen sind die Blicke in den letzten Versen nicht mehr mit Epitheta versehen, so als ob die schiere Folge und Unmenge von Bildern jegliche endgültige Spezifizierung unmöglich machen würde. Eine Welt scheint in den Blicken des Gegenübers, des destinataire aus Vers 2, zu schimmern. An einen Topos der petrarkistischen Lyrik anknüpfend, betrachtet das Dichtersubjekt sich selbst und die Natur im Auge des Gegenübers (bei Petrarca oder Ronsard dasjenige der dame aimée Laura oder Hélène), so wie es der initiale und finale Augenkontakt bei Maeterlinck ebenfalls suggerieren ( „ Et les vôtres et les miens “ / „ épuisé les miens à leur rencontre “ ). Dieses Aufeinandertreffen von fremden und eigenen Blicken, das am Schluss noch einmal explizit verbalisiert wird ( „ leur rencontre “ ) bildet also ein zentrales Versatzstück zwischen Anfang ( „ les vôtres et les miens “ ) und Schluss ( „ les miens à leur rencontre “ ). Anders als in der petrarkistischen Lyrik wird hier der Blick Katalysator einer imaginativen, märchenhaften Welt; und es ist auch nicht nur ein Blick, der Blick der Angebeteten, sondern eben eine Reihe ganz verschiedener Blicke, denen sich das lyrische Ich gegenüber sieht und die wiederum von seiner Seite eine ebenso grosse Verschiedenartigkeit von Assoziationen möglich machen. Am Ende des langen zweiten Teils erscheinen dieselben Blicke ( „ ces regards “ ), im Sinne eines ersten „ effet de clôture “ , erneut in einem Viererschema. Dieses Quartett, wiederum eingeführt durch die Konjunktion „ et “ , bildet einen klaren Parallelismus zum ersten: Et ceux que nul ne comprendra jamais ! Et ces pauvres regards presque muets ! Et ces pauvres regards qui chuchotent ! Et ces pauvres regards étouffés ! Dieser dreiteilige Parallelismus ist auch diejenige Struktur, welche den dritten Teil charakterisiert. Parallel zum Ende des zweiten folgt auf einen separat stehenden Vers eine Abfolge von drei „ et “ , zusammengehalten über einen stringenten Parallelismus: „ Et tant d ’ autres ont l ’ air de ” . Diese anderen Blicke ( „ autres ” regards) verstehen sich dabei als Verweis auf ebendiese Blicke ( „ Ces regards ” ), die am Anfang des ersten und am Ende des zweiten Teils stehen. Der Blick wird hier nicht nur mit visuellen Funktionen in Verbindung gebracht, sondern drei Mal mit auditiven, mit der Bedeutung eines unmöglichen oder ungenügenden Ausdrucks: erst beinahe völlig ausbleibend ( „ presque muets “ ), dann willentlich unterdrückt ( „ chuchotent “ , „ étouffés “ ). Sind einige Blicke wenigstens sensoriell erfahrbar, wenn auch mit Verständisschwierigkeiten, so bleiben andere entweder schlecht hörbar oder konzeptuell und intellektuell unbegreiflich ( „ Et ceux que nul ne comprendra “ ). Der Vers verweist durch das Demonstrativpronomen mit deiktischem Wert darauf, dass nur gewisse Blicke ( „ ceux “ ) nicht verständlich sind, andere hingegen im Umkehrschluss schon. Das Verb „ comprendre “ zu Beginn der Aufzählung spielt gerade mit der Doppelbedeutung des sinnlich Perzeptiblen (comprendre im Sinne von entendre) oder eben des Begreifens. Liegt es nicht nahe, auch hier wieder eine metaliterarische Analyse des Symbolbegriffs zu Symbole verstehen 65 versuchen? Nämlich dergestalt, dass die Beschreibungen all der Blicke, deren das lyrische Ich gewahr wird, zwar, wenn auch mühsam, wahrnehmbar und erfahrbar sind, allerdings niemals vollständig entschlüsselbar? Die Bilder lassen sich so ex post als ein dichterischer Versuch werten, einige dieser Blicke über Symbole begreifbar zu machen. Das Verständnis der Symbole, die sich eben nie ganz verstehen lassen, wird hier performativ in Szene gesetzt. Im Sinne des Rimbaudschen „ dérèglement de tous les sens “ 29 geht es weniger um das Verständnis der Bilder als um deren direktes Erfahren (im Akt des Lesens). Das Symbol plaziert sich dynamisch im Gegensatz zwischen Verstehen und Nicht-verstehen, zwischen wahrnehmen und nicht ganz ausloten können. Während die erste Version des Gedichts - damals mit Suggestion III/ 1+2 überschrieben - noch keine espaces blancs enthielt, scheint Maeterlinck in der finalen Version des Gedichts diese Leerzeilen auch dazu zu verwenden, die Einheit dieser ersten Strophe, so man von Strophe sprechen mag, nochmals zu betonen. Dies umso mehr, da auch das letzte Quartett auf das erste verweist und sich das Gedicht so formal über drei klar abgesetzte Quartette konstruiert. 30 Hier lässt sich eine weitere dem Gedicht eingeschriebene Progression festmachen: Am Schluss des ersten Quartetts der Bezug auf die noch kommenden Bilder ( „ ceux qui vont venir “ ), im zweiten, angesichts deren Fülle und Verschiedenartigkeit, der Ausruf, dass einige Blicke nicht verstanden werden können. Dennoch, ungeachtet der mangelhaften Verständnisdimension, folgt am Schluss das Erstaunen, diese Blicke zumindest perzeptiv wahrgenommen und verinnerlicht zu haben ( „ avoir vu “ / „ avoir admis “ ). Dies scheint umso wichtiger für das lyrische Ich, da die Bilder, wie im dritten Vers steht, nicht mehr wieder erscheinen, eine Art mystische (und flüchtige) Vision sind. Die vor- und nachgelagerten Bilder unterstützen diesen Zusammenhalt der drei Quartette: der Vergleich von Vers 6, Blicke wie Kranke ohne Behausung ( „ Malades sans maison “ ), wird am Ende des zweiten Teils wieder aufgenommen mit den beiden Versen, welche das Leiden thematisieren ( „ qui souffrent “ , „ souffrances “ ). Während im dritten Teil das Bild einerseits konkretisiert wird ( „ hôpital “ verweist auf „ maison “ ), wird es gleichermassen metaphorisch verarbeitet: „ blessés soignés dans une serre chaude “ . Der gleiche Prozess liesse sich auch mit dem Bild des Zeltes zeigen. Das Symbol des schützenden Zelts, dem gewisse Blicke gleichen ( „ Pareils à des tentes sous l ‘ orage “ ) wird im zweiten Teil wieder aufgenommen, allerdings metaphorisch mit einem dritten, dem biblisch-mystischen Symbol der Lilie (das Maeterlinck oft verwendet) weiterentwickelt ( „ Et tant d ’ autres ont l ’ air de tentes, lys de guerre “ ). Aus dem Zelt wird schliesslich ein Vers weiter das ebenso beschirmende Gewächshaus. Die letzte Behausung ist, im Sinne einer mise en abyme, der Gedichtband selbst. Emblematisch wird er Rezeptakel einer kranken und desolaten Welt, ein psychologisches Eintauchen ( „ plongée “ ) in eine leidende Seele. Die „ Regards “ sind auf diese Weise mit der „ serre chaude “ , eponymer Titel des ersten Gedichts, metaphorisch und poetologisch verbunden. 31 So wie das lyrische Subjekt im ersten Gedicht der Serres Chaudes seine Seele in Analogie mit dem 29 Arthur Rimbaud, Lettre à Georges Izambard, 13 mai 1871. In : Œ uvres complètes, op. cit., S. 340. 30 Auch der dritte Teil zeigt wiederum ein Viererschema, wenn auch weniger regelmässig. Das „ et “ als kopulatives Element der Bilder ist aber auch hier dominant. 31 Maeterlinck verwendet in mehreren anderen Gedichten des Bandes die Analogie zwischen Glas, Wasser und Augen. 66 Reto Zöllner (Zürich) Gewächshaus setzt, so werden hier die Blicke als Medium der Introspektion und des „ Einblicks “ in ebendiese Seele (figuriert als Gewächshaus) verstanden. Eine radikale Umkehr vektorieller Natur vollzieht sich im vorletzten Vers: dringen in den vorangehenden zwei Teilen all die verschiedenen Blicke an denjenigen des lyrischen Ichs heran, oder anders, wird der Blick des lyrischen Ichs von denjenigen, fremden, der anderen getroffen, so scheint sich jetzt am Ende der Blick des Dichtersubjekts an all diesen Blicken förmlich erschöpft zu haben. Auch dies kann als klarer effet de clôture verstanden werden. Es sind nicht mehr die andersartigen Blicke, die assimiliert werden, sondern es sind nun die Blicke des je-lyrique ( „ les miens “ ), die im Fokus stehen und den Effekt all der Bilder auf das Subjekt wiedergeben. Trotz oder gerade wegen dieser Erschöpfung kann das Subjekt, übervoll von schillernden Bildern, die Augen nicht mehr schliessen. Tritt das Dichter-Ich während fast des gesamten Gedichts in den Hintergrund, sprich sind die anderen Blicke viel dominanter als die seinen, so ist es am Anfang (les „ miens “ ) und am Ende (wieder mit „ les miens “ ) präsent. Die Wiederholung von „ les miens “ im vorletzten Vers, auf den zweiten verweisend, schliesst das Gedicht und verlagert die Perspektive zurück auf das lyrische Ich. Der letzte Vers ( „ Et désormais ne pouvoir plus fermer les yeux ! ” ) ändert die temporale Dimension genauso radikal wie der vorletzte die vektorielle. Die erst flüchtigen und aspektuellen Blicke und Bilder, die sich, ähnlich der Stychomythie in Maeterlincks Theater, ganz schnell abfolgen, weichen einer ins Unbeschränkte gehenden Zukunft ( „ désormais “ ). Es dominiert im Schlussvers der nicht terminative Aspekt - nicht mehr die Augen schliessen können - , der sich explizit von den „ passés composés “ in den drei voranstehenden Versen abhebt. Diese sind allesamt perfektiver Natur und folgen sich gemäss dem Muster einer ternären gradatio ( „ avoir vu “ / „ avoir admis “ / „ avoir épuisé “ ). Sind letztere noch auf die Wahrnehmung und Valorisation durch das Dichtersubjekt gerichtet, verweist der abschliessende Vers in die Zukunft - und gestaltet das Gedichtende bewusst offen. Am Schluss des Gedichts „ Regards “ steht eine Art performativer Erkenntnisprozess des lyrischen Ichs im Vordergrund, der die Blicke nicht nur perzeptiv erfasst, sondern auch quasi akzeptiert, diese als eine Andersartigkeit (anders als sein eigener Blick) zugelassen, verinnerlicht hat. Die eigenen Blicke von Vers zwei erfahren so eine poetisch-imaginative Erweiterung, die diejenige des Lesers spiegelt, der eine ebensolche poetische Erweiterung durchläuft - und vielleicht, angesichts der vielen bedrückenden Bilder, auch keinen Schlaf mehr findet. Die letzten Verse betonen die Singularität und Einmaligkeit dieses Erlebnisprozesses. Im Sinne der Poetik der belgischen Symbolisten liesse sich abschliessend sagen, dass die Erlebnisdimension dem Verständnis untergeordnet wird und dem Symbol in dieser Neuorientierung eine Schlüsselrolle zukommt. Symbole verstehen 67