eJournals Kodikas/Code 35/1-2

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
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Seit der ersten Ausstellung seines “Buchs des Himmels” 1988 in Peking haben Xu Bings modifizierte Schriftzeichen nicht aufgehört, ihre Betrachter zu verwirren. Für sein monumentales Projekt kreierte er 4000 Zeichen, die auf besondere Weise die Tradition und den Zeichencharakter der chinesischen Schrift thematisieren und zugleich hinterfragen. Außergewöhnlich an Xu Bings Zeichenkonstrukten ist, dass ihnen keinerlei Bedeutung innewohnt: Sie sind leer und inhaltslos, d.h. Repräsentanten einer rein ästhetischen Form. Sie ähneln wirklichen Zeichen, stürzen den Interpreten aber aufgrund dieser Vortäuschung in eine Leere, die sich angesichts der scheinbar unendlich möglichen Menge von Zeichen wie eine Wüste ausbreitet. Die hier vorliegende Auseinandersetzung mit Schriftzeichen legt eine semiologische Lektüre von Xu Bings Werk nahe. Mit Foucaults sprachontologischer Konzeption von Zeichen, die zeigen, dass sie nicht zeigen, und Derridas Vorstellung einer “reinen Spur der Schrift” werden zwei Möglichkeiten in Erwägung gezogen, Xu Bings Zeichen-Simulakren semiotisch zu fassen.A
2012
351-2

Schrift als fingierte Signifikation.

2012
Arne Klawitter
Schrift als fingierte Signifikation. Xu Bings Buch des Himmels und seine unleserlichen Schriftzeichen Arne Klawitter Xu Bing’s imaginary characters haven’t stopped irritating their spectators since the first exhibition of his work “A book from the sky” (1988) in Beijing. For this monumental project, he created around 4000 characters, which, in a certain way, question the status and the tradition of Chinese characters. The characters Xu Bing invented are extraordinary because they don’t have any meaning: they are empty and without any reference, only pure aesthetical form. At first sight, they look very similar to genuine Chinese characters, but the fact is that they mislead the reader and drive him into a non-signifying void. With Foucault’s ontology of language and Derrida’s grammatological critique of Western phonocentrism which implies the idea of an “archi-trace”, I will suggest two approaches in order to conceptualize Xu Bing’s simulacra of Chinese characters. Seit der ersten Ausstellung seines “Buchs des Himmels” 1988 in Peking haben Xu Bings modifizierte Schriftzeichen nicht aufgehört, ihre Betrachter zu verwirren. Für sein monumentales Projekt kreierte er 4000 Zeichen, die auf besondere Weise die Tradition und den Zeichencharakter der chinesischen Schrift thematisieren und zugleich hinterfragen. Außergewöhnlich an Xu Bings Zeichenkonstrukten ist, dass ihnen keinerlei Bedeutung innewohnt: Sie sind leer und inhaltslos, d.h. Repräsentanten einer rein ästhetischen Form. Sie ähneln wirklichen Zeichen, stürzen den Interpreten aber aufgrund dieser Vortäuschung in eine Leere, die sich angesichts der scheinbar unendlich möglichen Menge von Zeichen wie eine Wüste ausbreitet. Die hier vorliegende Auseinandersetzung mit Schriftzeichen legt eine semiologische Lektüre von Xu Bings Werk nahe. Mit Foucaults sprachontologischer Konzeption von Zeichen, die zeigen, dass sie nicht zeigen, und Derridas Vorstellung einer “reinen Spur der Schrift” werden zwei Möglichkeiten in Erwägung gezogen, Xu Bings Zeichen-Simulakren semiotisch zu fassen. Striche in alle Richtungen. Nach allen Seiten Kommas, Schleifen, Haken, Akzente, würde man sagen, auf jeder Höhe, auf allen Ebenen; ein verwirrendes Gestrüpp von Akzenten. Gekritzel, Brüche, Anfänge, die plötzlich zum Stillstand gekommen zu sein scheinen. Ohne Körper, ohne Formen, ohne Figuren, ohne Umrisse, ohne Symmetrie, ohne Zentrum, ohne Erinnerung an irgend etwas Bekanntes. Ohne erkennbare Regel der Vereinfachung, der Vereinheitlichung, der Verallgemeinerung. Weder nüchtern, noch geläutert, noch entblößt. Jedes einzelne wie hingestreut, so ist der erste Zugang. (Michaux 1994: 7) K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 35 (2012) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Arne Klawitter 76 1. Die unleserlichen Zeichen der “Bücher des Himmels” Im Oktober 1988 präsentierte der bis dahin unbekannte chinesische Künstler Xu Bing auf einer Kunstausstellung in Peking eine Reihe von Büchern, die mit ihren indigoblauen Einbänden und der weißen Fadenheftung wie klassische chinesische Bücher aussahen, 1 deren Schrift aber gänzlich unlesbar war. Unter dem Namen Tianshu ( ), was so viel bedeutet wie “Bücher des Himmels” oder einfach “Buch des Himmels”, ging die Installation in die moderne chinesische Kunstgeschichte ein. 2 Im Westen wurde Xu Bings Werk vor allem als Kritik an der ererbten chinesischen Schriftkultur und Gelehrtentradition gedeutet. Um das verstehen zu können, muss man sich die kulturgeschichtliche Resonanz vor Augen führen, die in diesem Zeichenkunstwerk mitschwingt. Xu Bing hat seine Bücher im Stil kanonischer chinesischer Bücher gestaltet und auf dem Weg der traditionellen Drucktechnik hergestellt. Das Besondere an ihnen aber waren vor allem die verwendeten Schriftzeichen, etwa eintausendzweihundert an der Zahl, und sie versetzten die Besucher der Ausstellung in nicht geringes Erstaunen. Denn obwohl fast jedem von ihnen die Zeichen bekannt vorkamen, was zum Versuch animierte, diese Zeichen zu entziffern, gelang es keinem, ihnen irgend einen greifbaren Sinn abzutrotzen. Aufgrund ihrer teilweise frappierenden Ähnlichkeit mit überlieferten chinesischen Schriftzeichen schienen sie zwar ebenfalls dergleichen Zeichen zu sein, doch als ein Ganzes waren sie unlesbar. Einige Besucher der Ausstellung fühlten sich getäuscht und hinters Licht geführt, während andere vermuteten, dass es sich vielleicht um uralte Schriftzeichen handle, die aufgrund der historischen Entwicklung und - insbesondere nach der letzten umfassenden Schriftreform unter Mao - gar nicht mehr oder nicht mehr so einfach zu lesen waren. Sollte demnach dann nicht doch die Möglichkeit bestehen, wenigstens einige dieser Zeichen wiedererkennen und verstehen zu können? Die Antwort darauf ist ebenso verblüffend wie provozierend, denn die Schriftzeichen, die Xu Bing in seinen Büchern verwendet, sind allesamt von ihm erfunden. Obwohl sie auf den ersten Blick den vertrauten chinesischen Zeichen täuschend ähnlich sehen, unterscheiden sie sich doch in einigen oft nur geringfügigen Details von ihnen, sodass sie gerade deshalb, d.h. aufgrund jener minimalen Modifizierungen in letzter Konsequenz überhaupt keinen Sinn mehr ergeben. Xu Bing suchte zu diesem Zweck verschiedene, ihn besonders ansprechende Schriftzeichen aus einem Wörterbuch heraus, 3 zerlegte sie in ihre Grundbestandteile und setzte diese dann wieder zusammen, aber eben ganz und gar willkürlich, so dass die auf diese Weise zustande gebrachten Zeichen jeglicher ursprünglichen Bedeutung beraubt wurden. Nachdem die “Bücher des Himmels” 1988 erstmals öffentlich gezeigt worden waren, weitete Xu Bing sein Projekt in den Folgejahren zu einer Installation aus, die in den USA, in Japan und anderen Ländern zu sehen war und den Künstler international berühmt machte. Die Installation bestand aus drei riesigen mit Schriftzeichen bedruckten Papierbahnen, die wie ein Baldachin von der Decke des Raumes herabhingen und Reminiszenzen an buddhistische Schriftrollen evozierten. Unter ihnen befand sich, auf dem Boden ausgelegt, eine kaum überschaubare Zahl aufgeschlagener Bücher, ein Arrangement, das durch die geschickt eingesetzte Beleuchtung eine besondere Atmosphäre schuf und einen ganz eigenen ästhetischen Eindruck hervorrief. Mit der schon erwähnten auffälligen weißen Fadenbindung, den indigofarbenen Einbänden und den Anordnungen der Überschriften folgte Xu Bing genau den Regeln der traditionellen Buchbinderkunst der späten Song-Dynastie aus dem Schrift als fingierte Signifikation 77 Abb. 1: Installation Tianshu (Bücher des Himmels) 11. Jahrhundert. Auch der Druck entsprach exakt dem Vorbild der alten chinesischen Buchdruckerkunst und war mithin ein sehr aufwendiges Unterfangen: Es soll immerhin drei Jahre gedauert haben, bis Xu Bing alle diese neuen Schriftzeichen spiegelverkehrt in jene Holzblöcke geschnitzt hatte, die dem Druck als Vorlage dienten. Die Zahl der unlesbaren Zeichen war mittlerweile auf 4000 angewachsen, und auch das nicht ohne Grund, denn genau soviel Zeichen muss ein Chinese kennen, um als literarisch gebildet zu gelten. Besonders bedeutsam für eine zeichentheoretische Betrachtung dieser außergewöhnlichen Schriftzeichen scheint mir der Gesichtspunkt zu sein, dass sie bewusst dahingehend manipuliert worden sind, keine wirklichen Zeichen mehr zu sein. Zwar signalisiert ihr Aussehen, dass es sich durchaus um Zeichen handeln könnte, doch referieren sie auf nichts: Weder haben sie einen semantischen Wert, noch können sie mit einem Laut in Verbindung gebracht werden, und dies, obwohl doch jede ihrer einzelnen Komponenten durchgängig konventionellen Zeichenelementen entspricht. Arne Klawitter 78 Abb. 2: Buchseite aus Tianshu (Buch des Himmels) Für die folgenden Betrachtungen habe ich zwei verschiedene Zeichenkonzeptionen ausgewählt, die in Abgrenzung zum strukturalistischen Zeichenbegriff zweierlei Optionen anbieten, um den Zeichencharakter unter dem Aspekt der Nicht-Signifikation zu problematisieren: Gemeint sind damit Michel Foucaults Sprachontologie und Jacques Derridas Grammatologie. 2. Foucaults sprachontologische Perspektive Die grundsätzliche Frage, die Xu Bing mit seinen abgewandelten Schriftzeichen aufwirft, richtet sich auf die Schwelle zwischen einer bloßen Strichfolge und einem signifizierenden Zeichen. Was dergleichen Schriftzeichen aus semiotischer Perspektive so interessant macht, ist, dass sie die Grenze zwischen der Signifikation und dem Nichtsignifikativen erkunden, womit sie eine Reihe von Fragen hervorrufen: Unter welchen Bedingungen ist ein Zeichen ein Zeichen? Welche Funktion haben unleserliche (was auch bedeuten kann: archaische) Zeichen in der Zeichenwelt einer Gegenwartssprache? Können archaische Zeichen wiederbelebt werden und unlesbare Zeichen lesbar gemacht werden, und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für den Referenzzusammenhang? Was geschieht mit Schriftzeichen, wenn man sie modifiziert, und welcher Spielraum ist dafür erlaubt? Inwiefern sind sie dann überhaupt Schrift als fingierte Signifikation 79 noch Zeichen, und sind sie auch dann noch Zeichenträger (Signifikanten), wenn das Signifikat nicht mehr unmittelbar präsent ist? Was sind das für Signifikanten, die ihr Signifikat eingebüßt haben? Welche Rolle spielen sie in der Zeichenwelt unserer Gegenwartssprache? Inwiefern können solche zweifelhaften Signifikanten eine andere Bedeutung annehmen? Und inwiefern sind sie konstitutiv für das, was wir im Zeitalter der Moderne als Kunst bzw. Literatur verstehen? Auf alle diese Fragen eine befriedigende Antwort zu geben, ist hier natürlich nicht möglich, doch soll im Folgenden zumindest auf diejenigen Fragen näher eingegangen werden, die sich geradezu aufdrängen, wenn man Xu Bings modifizierte Zeichen mit Foucault als ontologische Hinweise auf das nicht-signifikative Sein der Sprache begreift. Im Vorfeld seiner Diskursanalyse und Wissensarchäologie arbeitete Foucault in einer Reihe von Essays und Rezensionen in den Jahren zwischen 1961 und 1966 eine ganz eigene Literaturontologie aus, der in der Forschung jedoch wenig Beachtung geschenkt worden ist. Er stützte sich dabei auf Überlegungen von Maurice Blanchot, der in der modernen Literatur (seit Baudelaire und Mallarmé) eine “machtvolle Negationsbewegung” am Werk sah und einen Diskursweise, die sich “über ihren Trümmern erricht[e]” (Blanchot 1993: 12). Aus ihrer Nichtigkeit (der ‘Abwesenheit des Werkes’ und dem Entzug von Sinn) schöpft die moderne Literatur seiner Meinung nach eine “wunderbare Kraft”, um darauf hinzuwirken, “daß sie sich rückhaltlos jenem Teil öffnet, den das Nichts an ihr hat, daß sie ihre eigene Unwirklichkeit verwirklicht” (ebd.). Diesen Gedanken weiterführend, meint Foucault, dass in der modernen Zeit die Literatur das sei, “was das signifikative Funktionieren der Sprache kompensiert (und nicht bestärkt)” (Foucault 1971: 77). Die Radikalität dieser Aussage ist häufig übersehen worden. Foucault weist hier nämlich dem nicht-signifikativen Moment eine konstitutive Rolle für die moderne Literatur zu. Gleichzeitig erhält sie eine besondere Funktion in Bezug auf die epochale Wissensformation (episteme), die ohne die in Foucaults früheren Schriften zur Literatur dargelegten literaturontologischen Prämissen kaum zu verstehen ist. Seit dem 19. Jahrhundert - von Hölderlin über Mallarmé bis zu Artaud und Blanchot - funktioniere die Literatur als eine Art “Gegendiskurs”, indem sie “von der repräsentativen oder bedeutenden Funktion der Sprache zu jenem rohen Sein zurückging” (Foucault 1971: 76). In seinem Aufsatz “Die Sprache, unendlich” umreißt Foucault sein Konzept moderner Literatur, mit dem, ausgehend von den “großen ontologischen Ereignissen der Sprache” (Foucault 2003: 87), ein Raum sichtbar gemacht wird, in dem Sprache und Tod sich kreuzen und die Sprache ihre Endlichkeit reflektiert. In seiner Darstellung bezieht sich Foucault auf den 8. Gesang der Odyssee Homers, auf die zentrale Handlung der Märchen aus Tausendundeiner Nacht sowie auf eine Erzählung von Jorge Luis Borges, und er verdeutlicht, wie an der Grenzlinie des Todes die Rede auf eine Art Sprachspiegel trifft, und, indem sie versucht, den Tod aufzuhalten, in diesem Spiegel ihr eigenes Bild entstehen lässt. In der Tiefe des Spiegels, wo sich die Rede verliert und sie ihre Signifikation einbüßt, wird man nach Ansicht Foucaults eines anderen Sprechens gewahr, und zwar als “winziges, inneres und virtuelles Modell”, das eine enge Verknüpfung von Tod, grenzenlosem Sich-selbst-Verfolgen und Selbstdarstellung der Sprache impliziert (Foucault 2003: 87). Vor dem Hintergrund der These, dass die Verdoppelung der Sprache, selbst wenn sie im Werk noch verborgen ist und nur durch Risse an die Oberfläche dringt, konstitutiv ist für das sprachliche Werk und erst recht für die Literatur, wo sich die Verdoppelung zu einem unendlichen Sprechen ausweitet, folgert Foucault, dass die Zeichen, die auf diese Weise zutage treten, “als ontologische Hinweise” (Foucault 2003: 89) zu lesen seien. Das besagt nichts anderes, als dass die Figuren der Sprachverdoppelung, wie sie beispielsweise als Arne Klawitter 80 Spiegelungen oder Verschachtelungen innerhalb eines Werkes auftreten können, nicht als Momente der Selbstreferenz aufzufassen sind, sondern im Sinne einer Selbstimplikation des Sprechens. Foucault führt diesen Begriff bewusst im Gegensatz zum strukturalistischen Konzept der Selbstreferenzialität ein, das Zeichen voraussetzt, die auf ihr Funktionieren in einem Zeichenzusammenhang verweisen, und damit zeigen, dass sie zeigen. Im Gegensatz zur Selbstreferenzialität, die ein Sprechen über einen Kode impliziert, handelt es sich beim selbstimpliziten Sprechen gewissermaßen um ein Sprechen ohne Kode: um einen Diskurs, der keine Entzifferung verlangt, weil er nichts kodiert. In diesem Fall wird der Verweisungszusammenhang suspendiert; es handelt sich demnach bei den “Zeichen”, die in Erscheinung treten, genaugenommen nicht mehr um Signifikanten, denn ihre Funktion besteht nunmehr darin, zu zeigen, dass sie nicht zeigen. Foucault zieht daraus den Schluss, dass diese Figurationen der Sprachverdoppelung, diese unendlichen Spiegelungen und Redeformen des Unendlichen, als Indikatoren eines nichtsignifikativen Seins der Sprache aufgefasst werden können, eine Aufforderung also, sie als ontologische Hinweise zu lesen. 3. Xu Bings Schriftzeichen als Indikatoren des Seins der Sprache Mit Zeichen, die das Sein der Sprache indizieren, hat man es dann zu tun, wenn die “Zeichen” signalisieren, dass sie Zeichenformen sind, ohne aber tatsächlich auf etwas Außersprachliches zu referieren bzw. einen Sinnzusammenhang zu vermitteln. Das wäre z.B. bei einer unleserlichen Handschrift der Fall, die die Vermutung nahe legt, dass sie etwas bedeutet, doch mit der Einschränkung, dass sie sich nicht entziffern lässt. 4 Eine andere Situation tritt jedoch dann ein, wenn die Zeichen bewusst so arrangiert oder manipuliert werden, dass sie eine Signifikationsfunktion fingieren. Genau das trifft auf die Schriftzeichen von Xu Bing zu, was sich am besten an einem konkreten Beispiel vorführen lässt. Dazu genügt es, ein beliebiges Zeichen aus den Büchern des Himmels herauszugreifen: Abb. 3: “Kunstzeichen”-Beispiel aus Xu Bings Buch des Himmels Ein “Kunstzeichen” wie dieses ist jedoch in keinem der einschlägigen Wörterbücher zu finden, die man befragen könnte. Es hat weder eine Bedeutung, noch kann man es aussprechen, obwohl es aus zwei Komponenten zusammengesetzt ist, die es für sich genommen im Chinesischen tatsächlich gibt: Im oberen Teil steht unübersehbar das Zeichen für ‘Berg’ (shan) und unter ihm das Zeichen für ‘Stoffballen’ oder ‘eine Rolle aus Stoff’ (pi). Auch wenn diese beiden Bestandteile als Schriftzeichen an sich sehr wohl existieren, gibt es das Zeichen als solches in der neuen Zusammensetzung nicht. Der Betrachter könnte hier zwar Schrift als fingierte Signifikation 81 eine Bedeutung imaginieren, wie z.B. ‘ein Berg von Stoffballen’, aber diese Bedeutung wäre assoziativ und rein subjektiv. Aus sprachontologischer Sicht ist entscheidend, dass durch die konventionellen Elemente des “Kunstzeichens” signalisiert wird, dass es als ein sprachliches Zeichen aufgefasst werden soll, doch da es dieses Zeichen als Ganzes realiter so nicht gibt, besteht seine Funktion allein darin, sein sprachliches Sein (sowie das mögliche Bedeutungspotential dieses Sprache-Seins) zu artikulieren. Für Foucault sind die Spiegelungen und Verdopplungen, die er in literarischen Texten ausfindig macht, Figurationen, die eine semantische Entleerung bewirken und die Sprache in ihrem leeren, d.h. nicht-signifikativen Sein zur Darstellung bringen. In solchen Fällen hat man es also strenggenommen nicht mehr mit Signifikanten zu tun, die mit einem Signifikat verbunden sind. Im Poststrukturalismus bezeichnet man diesen Sachverhalt als Trennung zwischen Signifikant und Signifikat: “Wenn der Strukturalismus das Zeichen von seinem Referenten getrennt hat, so geht diese Denkweise - oft unter dem Namen ‘Poststrukturalismus’ bekannt - noch einen Schritt weiter: sie trennt den Signifikanten vom Signifikat.” (Eagleton 1988: 111) Was Foucault mit den Poststrukturalisten wie Derrida und dem späten Barthes gemein hat, ist, dass seine speziell auf die moderne Literatur zugeschnittene Sprachontologie das linguistische Zeichenmodell von Saussure sprengt. Während aber für die Textualisten die Bedeutung entlang der Signifikantenkette verstreut ist, sieht Foucault sie im Spiel der Verdopplungen in einer Sinn-Reserve zurückgehalten - Reserve aber nicht als Vorrat verstanden, sondern als Figur eines Rückhalts, “die den Sinn zurück- und in der Schwebe hält und eine Leere einrichtet, in der allein die noch nicht vollzogene Möglichkeit so zur Vorlage kommt, dass irgendein Sinn sich darin niederlässt, oder irgendein anderer, oder gar noch ein dritter, und dies vielleicht in unendlicher Folge” (Foucault 2003: 182). Was Foucault im diskursiven Zusammenhang anhand der modernen Literatur erläutert und verdeutlicht, trifft auf die Zeichenmodifikationen von Xu Bing im besonderen Maße zu. Seine Zeichenkonstrukte referieren weder auf ein Korrelat, d.h. auf ein Signifikat, noch verweisen sie auf den Zeichenzusammenhang, in dem sie funktionieren. Sie laden den Betrachter aufgrund ihres konventionellen Aussehens zunächst zu einer Entzifferung ein, machen die Entzifferung jedoch im gleichen Augenblick unmöglich. Niemand kann ihnen eine definitive Bedeutung zuweisen oder vermag es, ihnen einen Sinn zu entlocken. Was aber noch wichtiger ist: Niemand kann diese merkwürdigen Zeichen aussprechen. Mit Buchstaben geschriebene Texte können wir, sofern wir das Alphabet kennen, problemlos lesen, auch ohne den Sinn der Wörter zu verstehen. Das ist bei einer logographischen Sprache wie dem Chinesischen nicht der Fall, das damit eine Sonderstellung einnimmt. Foucault hat in seinem Aufsatz “Die Sprache, unendlich” angemerkt, dass die alphabetische Schrift in sich bereits eine Form von Verdopplung sei, “da sie nicht das Signifikat repräsentiert, sondern die phonetischen Elemente, die es bedeuten”, während das Ideogramm “direkt das Signifikat [repräsentiere], unabhängig vom phonetischen System, das eine andere Art der Repräsentation ist” (Foucault 2003: 88). Linguisten werden vermutlich im Gegensatz dazu behaupten, dass die chinesische Schrift ebenso wie die westlichen Sprachen sehr wohl phonetische Elemente repräsentiere. Aber dennoch gibt es ein nicht zu vernachlässigendes Argument, nämlich jenes, dass die chinesische Schrift für unterschiedliche phonetische Systeme benutzt wird, d.h. sowohl für das Hochchinesische (Mandarin) als auch für das Kantonesische. Außerdem kann man, wenn man Chinesisch gelernt hat, eine Vielzahl sinojapanischer Schriftzeichen (Kanji) verstehen, ohne eigentlich zu wissen, wie sie auszusprechen sind. Man liest dabei die Bedeutung direkt aus dem Zeichen selbst ab ohne einen ‘Umweg’ über das phonetische System. Für die sprachontologische Betrachtung sowohl realer Arne Klawitter 82 chinesischer Zeichen als auch der “Kunstzeichen” Xu Bings ergeben sich daraus wichtige Konsequenzen. Gegen das ideogrammatische Argument ließe sich einwenden, dass die große Mehrheit der chinesischen Schriftzeichen eben keine Ideogramme sind, sondern viel eher Phonogramme. Dabei handelt es sich um mehrteilige Zusammensetzungen, die ein Radikal besitzen, das als sogenanntes “Wurzelzeichen” die Bedeutung des Zeichens bestimmt (deshalb oft auch als “Signifikum” bezeichnet), und ein Phonetikum, womit der lauttragende Teil des Zeichens gemeint ist. Das Phonetikum ist häufig auf der rechten Seite des Schriftzeichens zu finden, doch ist das keineswegs die Regel: Es kann gegebenenfalls auch links, oben oder unten stehen. Lesbar ist ein Zeichen nur, wenn man es kennt. Obwohl circa 90% der Schriftzeichen ein Phonetikum enthalten, gehen Sprachwissenschaftler davon aus, dass ein Leser eine nicht mehr als maximal vierzigprozentige Chance hat, die Aussprache eines ihm unbekannten Schriftzeichens zu erraten. Für ihn gibt es also kaum eine andere Möglichkeit, als alle Schriftzeichen auswendig zu lernen (Taylor/ Taylor 1983: 40). Das alles trifft aber auf die von Xu Bing abgewandelten Schriftzeichen nicht zu, denn sie beziehen sich, wie wir gesehen haben, ja keineswegs auf eine gesprochene Sprache, sondern breiten sich stumm im Sichtbaren aus, indem sie unentwegt die graphischen Formen realer Zeichen abwandeln. Gerade der Umstand, dass die einzelnen Elemente seiner Kunstzeichen durchaus lesbar sind, die Zeichen im Ganzen aber nicht ausgesprochen werden können, lenkt die Aufmerksamkeit auf ihren ideogrammatischen Gehalt. In den Büchern des Himmels findet man allerdings keine Zeichen im eigentlichen Sinne mehr, sondern nur noch deren stumme Rohformen: die reine Möglichkeit von Zeichen. Man könnte sie als Pseudo-Zeichen beschreiben oder sogar als Zeichensimulakren, also als Trugbilder von Zeichen, denn geschaffen wird ja die Illusion, dass ihnen eine Bedeutung innewohne. Xu Bings Zeichenmodifikationen als ontologische Hinweise aufzufassen, hieße also, sie als kunstvolle Zeichenfigurationen zu verstehen, die dem Betrachter signalisieren, dass sie nicht zeigen, und die am Nullpunkt ihrer Signifikation einzig das Sein der Sprache in seiner Opazität indizieren. 4. Xu Bings Zeichenexperimente und ihre Verfahren Xu Bings Kunstzeichen sind keineswegs die einzigen Zeichenfigurationen in der chinesischen Kulturgeschichte, durch die Sprache in ihrem opaken Sein in bildliche Darstellung überführt wird. Wie der Sinologe Robert E. Harrist gezeigt hat, gibt es in der ostasiatischen Kunstgeschichte schon viel früher Formen von “virtual writing”, wie z.B. in den im 13. Jahrhundert entstandenen Schriftrollen des Bilderzyklus’ Die zehn Könige der Hölle. Dort sieht man auf dem siebenten Bild einen König, der gerade dabei ist, solche Rollen zu überprüfen, um aus ihnen ein Urteil über das Schicksal der ihm zugeteilten Seelen zu fällen. Diese Schriftrollen, die ihm von Dämonen überreicht werden, sind angefüllt mit unleserlichem Gekritzel. Der erste optische Eindruck lässt an eine Kursivschrift oder ähnliches denken, aber tatsächlich ist es keine in irgendeiner Weise lesbare Schrift. Harrist weist außerdem darauf hin, dass die in ein Bild integrierten Texte normalerweise Hinweise für die Interpretation des Bildes geben. Doch hier liege der Verwendung dieser “virtuellen Schrift” ein ganz anderes Problem zugrunde: “[…] while the screens and books in these paintings are representations of real objects, the writing is real writing, which suggests that the only way to make a representation of writing that is not real writing is to adopt the method of the Ten Kings of Hell painting and replace legible texts with illegible lines” (vgl. Harrist 2006: 35-37). Schrift als fingierte Signifikation 83 Xu Bing zielt jedoch auf etwas ganz anderes ab, indem er nicht die Schrift virtualisiert, um auf den Charakter der Repräsentation zu verweisen, sondern die Signifikation der Zeichen derart minimiert, dass lediglich ausgeleerte, stumme Zeichenmonumente übrig bleiben, was weit mehr ist als nur ein ‘Spiel mit Zeichen’ oder ein semiotisches Gedankenexperiment. Die nicht-signifikativen Zeichen sind für Xu Bing eine Art Spiegel, mit dem er die Welt untersucht, wie es ja auch der ursprüngliche Titel der Installation suggeriert. Es geht dabei also nicht allein um die Selbstrepräsentation von Schrift, sondern vielmehr um die Infragestellung einer Schrift- und Kulturgeschichte, denn dadurch, dass er die einem jeden Chinesen bekannten graphischen Zeichenelemente in unlesbare Kunstzeichen transponiert, verfremdet er sie und trennt sie abrupt von der langen Kulturgeschichte. Darüber hinaus macht er jegliche Kommunikation unmöglich, indem er die Betrachter seines Kunstwerkes im buchstäblichen Sinne sprachlos werden lässt. Harrist hat darauf aufmerksam gemacht, dass Xu Bing bei der Schaffung seiner Kunstzeichen genau jene Regeln beachtet, die von Psychologen verwendet werden, wenn sie Pseudozeichen für ihre psychologischen Experimente kreieren, indem sie nämlich besonders darauf achten, dass die Radikale in den ihnen bestimmten Positionen verbleiben, wie man es von den gewohnten Zeichen her kennt. 5 Das Zeichen (jiang, dt. ‘Fluss’) mit dem Radikal ‘Wasser’ wird für ein psychologisches Experiment dahingehend verändert, dass der linke Teil, der für ‘Wasser’ steht, mit dem Zeichen (Radikal) für ‘Jade’ (yu) verknüpft wird, wobei das Zeichensimulakrum entsteht. Daraus könnte man eine Bedeutung wie etwa ‘Wasserjade’ herauslesen, aber das Zeichen, so wie es hier geschrieben steht, gibt es nicht: Es ist ein völliges Novum. Ein weiteres Beispiel wäre das Zeichen (jie), das ‘ältere Schwester’ bedeutet. Während der linke Teil mit der Bedeutung ‘Frau’ erhalten bleibt, wurde beim Experiment der rechte Teil des Zeichens durch ersetzt. Es handelt sich dabei um einen Bestandteil des Zeichens für ‘Zehe’: (zhi). Aber auch dieses Zeichen gibt es in der vorliegenden Schreibweise nicht. Man könnte bei seiner Ausdeutung zudem einer Assoziation folgen, die sich aus der horizontalen Anordnung der Radikale auf der rechten Seite ergibt: . Das Zeichen (kou) hat die Bedeutung ‘Mund’, und (zhi), zugleich die lauttragende Komponente des Zeichens, bedeutet soviel wie ‘anhalten, stoppen’, ‘verbieten, verhindern’. könnte demnach so viel wie ‘nicht sprechen’ oder ‘aufhören zu sprechen’ heißen und die Bedeutung ‘eine Frau, die zu sprechen aufhört’ assoziieren. Ein ähnliches Verfahren hat auch Xu Bing verwendet, was im Folgenden kurz am oben bereits erwähnten Beispiel aus den Büchern des Himmels gezeigt werden soll. Unterlegt man dem Kunstzeichen (Abb. 3 und Abb. 4 rechts oben) eine solche Absicht, dann wäre als Ausgangszeichen (yan) anzunehmen, das sich aus den Komponenten (‘Berg’ und ‘Stein’) zusammensetzt und soviel wie ‘Felsen’ bedeutet. Das obere Zeichen für ‘Berg’ bliebe hierbei erhalten, während das untere von Xu Bing ausgetauscht wird, und zwar durch (pi), was soviel bedeutet wie ‘Stoffballen’ oder ‘eine Rolle aus Stoff’. Abb. 4: Vier fingierte Schriftzeichen auf einer Seite des Buchs des Himmels (Tianshu). Rechts oben befindet sich das hier analysierte Zeichen. Arne Klawitter 84 Das Verfahren ließe sich auch auf andere Zeichenmodifikationen anwenden. Die Neuschöpfung oben links in der Abbildung 4 setzt sich aus zwei Teilen zusammen: Der obere Teil besteht aus dem Zeichen (zhi), was soviel wie ‘aufhören’ bedeutet, und der untere Teil aus (fang) in der Bedeutung von ‘Richtung’ oder auch ‘Quadrat’. Beides sind also reale Zeichen, doch eine solche Kombination wie die hier abgebildete, gibt es im Chinesischen nicht. Das Gleiche gilt für das darunter stehende Zeichen, das ebenfalls aus zwei Teilen besteht, in dem das obere Zeichen (gan) ‘süß’ bedeutet und das untere Zeichen (wu) soviel wie ‘nicht’ oder ‘nein’. Man könnte das Ganze dahingehend interpretieren, dass man nichts Süßes essen solle, doch auch für diese Zeichenkombination gibt es keinerlei historisches Vorbild. Das vierte Zeichen unten rechts schließlich scheint auf den ersten Blick eine Modifikation des realen Zeichens (wei) zu sein, was soviel heißt wie ‘Gefahr, Unheil, Unglück’, und das hier gleichsam verstärkt wird durch das Zeichen (xiong) mit einer ähnlichen Bedeutung. Letzteres leitet sich vom Radikal (qu) für ‘Grube, Behälter, geöffneter Mund’ ab und bezeichnet eine “unachtsame Person, die in die Grube gefallen ist” (Fazzioli 1991: 104). Eine mögliche Bedeutung des imaginären Zeichens als Ganzes wäre dann ‘doppeltes Unglück’. Doch auch dieses Zeichen gibt es realiter nicht. Bei allen hier vorgestellten Beispielen handelt es sich um einfache Zusammensetzungen. Für die komplexeren Zeichen, wie sie im Buch des Himmels weit häufiger zu finden sind, kombinierte Xu Bing nicht nur Radikale, sondern er modifizierte sie auch, so z.B. durch Hinzufügung einiger Striche oder durch deren Eliminierung. Wir haben es hier demnach mit künstlerischen Zeichenexperimenten zu tun, die ihrerseits jedoch auf höchst rationalen Verfahren beruhen und deren Ziel darin besteht, den Zeichen ihre Bedeutung vollständig zu entziehen, um so nur ausgebrannte, “verkohlte” Zeichen zurückzulassen, welche die “Abwesenheit eines Werkes” (Foucault 2003: 175) markieren. 5. Die reine Spur der Schrift Auf Xu Bings Kunstzeichen trifft im gewissen Sinne aber auch zu, was Derrida in seinem Aufsatz “Die différance” über den graphischen Unterschied des e in différence und dem a in différance sagte: “er läßt sich schreiben oder lesen, aber er läßt sich nicht vernehmen [d.h. hören]” (Derrida 1988: 30). Das stumme Spiel der Differenzen (welche er in erster Linie als Schriftspuren begreift) sieht Derrida als die Bedingung der Möglichkeit des Funktionierens eines jeden Zeichens an. Dieser Gedanke ließe sich problemlos auf Xu Bings Kunstzeichen übertragen, sofern im Zwischenbereich zwischen Zeichen und Nicht-Zeichen Anordnungen von Strichzügen kreiert, modifiziert und unentwegt ‘differiert’ werden, die zugleich signifikative Schleifen vollführen. Seine Zeichensimulakren laden zur Deutung und Interpretation ein, die sie im selben Moment sabotieren, und inszenieren auf diese Weise den Entzug des Sinns im sprachlichen Sein. Sie eröffnen ein freies, assoziatives Spiel von Differenzen, die der Schrift (der realen, funktionierenden Schrift) vorausgehen und könnten im Sinne einer Dekonstruktion der chinesischen Schrift aufgefasst werden (vgl. Köppel-Yang 2003: 162f.). Mit Derrida ließe sich sagen, dass Xu Bings Bücher des Himmels eine Schrift präsentieren, die so weit modifiziert worden ist, dass sie sich dem Nicht-Sinn öffnet, eine Schrift, für die es keine Lautung gibt, oder vielmehr Spuren der Schrift vor jeder Bedeutung. Mit der Vorstellung einer “Ur-Schrift” hatte Derrida in seiner Grammatologie versucht, sich dem Phonozentrismus der abendländischen Schriftkritik zu entziehen (vgl. Derrida 1974: Schrift als fingierte Signifikation 85 99). Auch wenn er die Auffassung von Leibniz, der in der chinesischen Sprache das Modell einer philosophischen Sprache erblickte, als ein “Verkennen” bezeichnet, das gleichsam “rationalistisch und berechnend” (Derrida 1974: 142) ist, folgt Derrida in gewisser Weise dem Weg jener Philosophen, die in der chinesischen Schrift eine Alternative zur abendländischen Metaphysik sahen. Derrida bezieht sich in seiner Argumentation (allerdings ziemlich unkritisch) auf den Sprachwissenschaftler Ernest Fenollosa, der bereits Ezra Pound zu einer ideogrammatischen Poetik inspiriert hatte. Dennoch geht er nicht so weit, wie einige seiner Kritiker behaupten, 6 die chinesische Schrift mit der “Ur-Schrift” gleichzusetzen, die er in der Grammatologie als ein ursprüngliches Auf- und Verschieben der Präsenz und als eine vorgängige Spaltung jeden Ursprungs beschrieben hatte. Xu Bings fingierte Schriftzeichen dagegen sind in Hinsicht auf eine Schrifttheorie verführerischer. Denn mit ihrer unablässigen Abwandlung inszeniert diese Kunstschrift das “Ende des Buches” und den “Anfang der Schrift” (Derrida 1974: 16), indem sie unter der Voraussetzung eines abwesenden (transzendentalen) Signifikats das entgrenzte Spiel der Differenzen zur Darstellung bringt. Mit anderen Worten: Nicht die wirkliche chinesische Schrift, sondern Xu Bings Schriftsimulation inszeniert “das freie Spiel” der Zeichenspuren, die sich zu Zeichenkomplexen zusammenfügen und deren Bedeutung erst in der jeweiligen konkreten Zeichenkonstellation aufscheint, die rein räumlichen Differenzen der einzelnen Striche (Markierungen), die große Zahl der Variationen dieser Spurenkomplexe (vgl. Palumbo-Liu 1993: 159). Derrida hätte sie wahrscheinlich als eine désécriture bezeichnet, als eine “Dekonstruktion aller Bedeutungen, deren Ursprung in der Bedeutung des Logos liegt” (Derrida 1974: 23). Begreift man Xu Bings Kunstschrift als Inszenierung einer ‘reinen Spur der Schrift’, dann müsste sie, weil die Spur der Schrift auch eine “Spur vor dem Seienden” (Derrida 1974: 82) ist, notwendig verborgen sein und als Verbergung ihrer selbst entstehen. Das aber würde bedeuten, dass sie sich nur im Verborgenen präsentieren kann, außerhalb der gewöhnlichen und gewohnten Signifikation. Sie kann daher nur in der Exteriorität, d.h. im nicht-signifikativen Niemandsland der Kunst erscheinen. Im Jahre 2000 kam es zu einer persönlichen Begegnung zwischen Derrida und Xu Bing, auf die letzterer sehr lakonisch, ja geradezu unwirsch reagierte: Derridas Bücher seien zu schwierig für ihn, und wenn er sie verstehen würde, dann könne er womöglich seine Kunst nicht mehr fortsetzen. 7 Literatur Blanchot, Maurice (1993), “Die Literatur und das Recht auf den Tod”. In: Ders., Von Kafka zu Kafka. Frankfurt: Fischer: 11-53. Derrida, Jacques (1974), Grammatologie. Frankfurt: Suhrkamp. Derrida, Jacques (1988), “Die différance”. In: Ders.: Randgänge der Philosophie. Wien: Passagen: 29-52. Eagleton, Terry (1988), Einführung in die Literaturtheorie. Stuttgart: Metzler. Fazzioli, Edoardo, Gemalte Wörter. 214 chinesische Schriftzeichen - Vom Bild zum Begriff. Ein Schlüssel zum Verständnis Chinas, seiner Menschen und seiner Kultur, 5. Aufl., Wiesbaden: Fourier 1991. Foucault, Michel (1971), Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt: Suhrkamp. Foucault, Michel (2003), Schriften zur Literatur. Frankfurt: Suhrkamp. Greenblatt, Stephen (1995), “Resonanz und Staunen.” In: Ders., Schmutzige Riten. Betrachtungen zwischen Weltbildern. Frankfurt: Fischer: 7-29. Arne Klawitter 86 Harrist Jr., Robert E. (2006), “Book from the Sky at Princeton: Reflections on Scale, Sense, and Sound”. In: Jerome Silbergeld und Dora C.Y. Ching (eds.), Persistence/ Transformation. Text as Image in the Art of Xu Bing. Princeton: Princeton Univ. Press: 25-45. Köppel-Yang, Martina (2003), Semiotic warfare: A semiotic analysis, the Chinese avant-garde, 1979-1989. Hongkong: timezone 8. Lloyd, Ann Wilson (2004), “Die verschwindende Tusche.” In: “Sprachräume”. Xu Bing in Berlin. Ausstellungskatalog, Museum für Ostasiatische Kunst Berlin: 22-29. Michaux, Henri (1994), Ideogramme in China. Graz, Wien: Literaturverlag Droschl. Palumbo-Liu, David (1993), “Schrift und kulturelles Potential in China”. In: Hans Ulrich Gumbrecht und Ludwig K. Pfeiffer (eds.), Schrift. München: Fink: 159-167. Taylor, Insup und M. Martin Taylor (1983), The Psychology of Reading. New York, London: Academic Press. Anmerkungen 1 Der klassische Kanon des Konfuzianismus wird durch fünf Bücher (die sogen. “Fünf Klassiker”) gebildet, dem Buch der Wandlungen (Yijing), dem Buch der Lieder (Shijing), dem Buch der Urkunden (Shujing), dem Buch der Riten (Liji) und den Frühlings- und Herbstannalen (Chunqiu), einer Chronik der historischen Ereignisse des Staates Lu vom 8. bis zum 5. vorchristlichen Jhd. 2 Der ursprünglich von Xu Bing gewählte Titel lautete: The Mirror of the World - An Analyzed Reflection on the End of this Century. 3 Z.B. aus dem Shuowen jiezi, das als erstes Zeichenlexikon der chinesischen Sprache um 100 n. Chr. von dem Gelehrten Xu Shen zusammengestellt worden war und das wichtigste Wörterbuch der chinesischen Schrift ist. Es umfasst etwa 10.000 Zeichen, die nach 540 Radikalen geordnet sind. 4 Man denke hier an Robert Walsers Mikrogramme, geschrieben in einer Miniaturschrift, von der man zunächst annahm, dass sie eine “nicht entzifferbare Geheimschrift” (Carl Seelig) sei. Tatsächlich handelt es sich jedoch um eine verkleinerte Sütterlinhandschrift, die seit den 1970er Jahren nach und nach durch Jochen Greven und Martin Jürgens entschlüsselt und transkribiert wurde, so dass die Texte (darunter einige unbekannte) der Forschung zugänglich gemacht werden konnten. In den 1980er Jahren begannen dann Bernhard Echte und Werner Morlang mit der systematischen Transkription des gesamten Mikrogramm-Konvoluts von 526 Blättern; vgl. Bleistiftgebiete. Mikrogramme von Robert Walser, hg. von Bernhard Echte und Werner Morlang, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000. 5 Harrist beruft sich hierbei auf einen Aufsatz von Brendan Weekes, May Jane Chen und Bo-lin Yin: “Repetition Priming Effects of Chinese Characters and Pseudocharacters”. In: Hsuan-Chih Chen (ed.), Cognitive Processing of Chinese and Related Asian Languages. Hongkong: The Chinese Univ. Press 1997: 171-186. 6 Vgl. z.B. Palumbo-Liu (1993): 159-167. 7 Das geht aus einem bislang noch nicht publizierten Interview mit Ann Wilson Lloyd hervor. Vgl. dazu Lloyd 2004: 26.