eJournals Kodikas/Code 38/1-2

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
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2015
381-2

Max Behland, Walter Krämer & Reiner Pogarell (Hrsg.) 2014: Edelsteine. 107 Sternstunden deutscher Sprache vom Nibelungenlied bis Einstein, von Mozart bis Loriot, Paderborn: IFB Verlag Deutsche Sprache, 671 pp., geb., 25,00 €, ISBN 978-3-942409-31-5

2015
Ernest W. B. Hess-Lüttich
risch analysiert werden. Die Analysen folgen dabei aus Gründen der Vergleichbarkeit einem einheitlichen Aufbau: an die Beschreibung der Situation des jeweiligen Gesprächs schließt sich zunächst eine Grobanalyse des Verbaltranskripts zur narrativen Struktur an, die dann um eine multimodale Feinanalyse erweitert wird. Die jeweilige Auswertung präpariert die dabei zutage tretenden Aspekte (wie z. B. die Rolle multimodaler Metaphern in Traumerzählungen zur Veranschaulichung subjektiver Krankheitstheorien, die Funktion der Erzählung biographischer Erfahrungen und deren narrativer Re-Inszenierung, die Dynamik spontaner Metaphernbildung und die Formen des Wissenstransfers usw.) auf eine den Leser sehr überzeugende (stellenweise auch bewegenden) Weise heraus. Die Ergebnisse dieser Fallanalysen werden dann im abschließenden neunten Kapitel (pp 439 - 492) eingehend diskutiert im Hinblick auf die eingangs begründeten Forschungsebenen, also insbesondere in der makroskopischen Perspektive auf das AIDS-bezogene Krankheitsnarrativ, in der mesoskopischen Perspektive auf die Phasenstruktur der Erzählungen und in der mikroskopischen Perspektive auf die konversationellen Verfahren der Veranschaulichung, auf die Dynamik der Metaphernbildung und die Pragmatik der Metaphernmodifikation sowie auf die Rolle der multimodalen Metapher im Erzählprozess. Ein letzter Abschnitt über die Subjektiven Krankheitstheorien der Betroffenen zu HIV und AIDS schlägt den Bogen zum Ausgangspunkt der Untersuchung und rundet sie hinsichtlich der eingangs formulierten Fragestellungen auf beeindruckende Weise ab (auch wenn der Leser stellenweise verwirrt werden könnte durch die nicht immer ganz einheitliche Abgrenzung zwischen makrostrukturellen und mesostrukturellen Analyseebenen). Es folgt im 10. Kapitel ein Literaturverzeichnis, dessen Umfang (pp 493 - 525) von der einschlägigen Belesenheit des Verf. eindrucksvolles Zeugnis gibt, sowie ein umfangreicher Anhang mit den vollständigen Transkripten (pp 527 - 557), die dem Leser die Einbettung der exemplarischen Analysen in den Zusammenhang des jeweiligen Gesprächs erlauben und die nicht nur vom methodischen Aufwand des Transkriptionsverfahrens zeugen, sondern auch für den spezifisch medizinsoziologisch und krankheitsbiographisch interessierten Leser aus anderen Disziplinen Material von eigenem Gewicht bereitstellen können. Insgesamt hat Ivan Vlassenko, dessen Muttersprache Russisch ist, mit diesem umfangreichen Buch eine ungewöhnlich gelungene, akribisch durchgeführte, auch im formalen Detail überzeugende (freilich auch nicht ganz redundanzfreie) Studie vorgelegt, die in mehreren Hinsichten innovative Ergebnisse zeitigt, nicht nur im Hinblick auf die bislang wenig untersuchte Thematik der subjektiven Krankheitstheorien über die Erfahrung und Wahrnehmung der eigenen Erkrankung durch die von AIDS Betroffenen, sondern auch im Hinblick auf die Multimodalität direkter Interaktion und der multimodalen Konstitution von Metaphern in den konversationellen Erzählungen. Ernest W. B. Hess-Lüttich Max Behland, Walter Krämer & Reiner Pogarell (Hrsg.) 2014: Edelsteine. 107 Sternstunden deutscher Sprache vom Nibelungenlied bis Einstein, von Mozart bis Loriot, Paderborn: IFB Verlag Deutsche Sprache, 671 pp, geb., 25,00 € , ISBN 978- 3-942409-31-5 Der Journalist Max Behland, der Statistiker Walter Krämer und der Linguist Reiner Pogarell haben in diesem fast 700 Seiten dicken Buch über 100 Texte zusammengetragen, vom ostgotischem Attar unsar aus Wulfilas früher Bibelübersetzung um 370 n. Chr. und Beispielen aus den mittelfränkischen Merseburger Zaubersprüchen bis zur Dankesrede des kürzlich verstorbenen Feuilleton-Chefs der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Frank Schirrmacher anlässlich der Verleihung des Jacob-Grimm-Preises oder der Gedenkrede des Bundespräsidenten Joachim Gauck auf der Danziger Westerplatte, in der er 2014 an den 75. Jahrestag des Einfalls der Deutschen in Polen erinnerte. Der Aufmerksamkeit mancher selbstbewussten Germanisten, Linguisten und Semiotiker wird das Buch möglicher- 174 Reviews weise entgehen, denn sie kennen die Herausgeber als in ihren Augen fachfremde Aktivisten des Vereins Deutsche Sprache (VDS), der sich der Pflege des Deutschen in Wissenschaft und Alltag, in Politik und Medien verschrieben hat. Insbesondere Linguisten, die den gegenwärtigen Sprachgebrauch nichts als beschreiben wollen, sind Krämers kritische Kommentierungen von dessen Eigenheiten etwa in der Werbung (Anglizismen) oder im öffentlichen Umgang (Politjargon) ein Dorn im Auge. “ Unwissenschaftlich ” lautet meist das Verdikt von Linguisten, die fasziniert sind von allerlei Soziolekten wie dem sog. ‘ Kiezdeutsch ’ deutsch-türkischer Jugendlicher in Berlin, dem sie eine eindrucksvolle Kreativität bescheinigen, die indes Personalchefs kaum zu würdigen wissen, die solche Jugendlichen einstellen sollen. Germanisten mag befremden, dass die Sammlung der Texte erkennbar abweicht von den ihnen vertrauten Anthologien sprachlicher Meisterwerke der deutschen Literaturgeschichte, vielmehr alle möglichen Textarten enthält, die den Herausgebern als für die Vielfalt der deutschen Sprache irgendwie bedeutsam erscheinen, also auch, wie der Klappentext verheißt, Reportagen und Patentanmeldungen, Briefe und Beipackzettel, Libretti und Verordnungen. Die Texte sind nicht textsortentypologisch sortiert, sondern in chronologischer Folge locker aneinandergereiht. Manche sind jedem Schüler vertraut, andere völlig unbekannt. Man nimmt den Band also vielleicht nicht ohne die wissenschaftsbetriebsübliche Skepsis zur Hand - aber dann liest man sich fest, wird man hineingezogen in den eigentümlichen Sog, den die Texte aus ca. 12 Jahrhunderten entfalten; man lässt sich berühren vom fremden Klang der ersten Zeugnisse im Althochdeutschen, man erkennt die vertrauten Verse des Nibelungenliedes wieder und spricht sie auswendig mit ( “ Uns ist in alten mæren/ wunders vil geseit/ von helden lobebæren/ von grôzer arebeit/ von fröiden, hôchgezîten/ von weinen und von klagen/ von küener recken strîten/ muget ír nu wunder h œ ren sagen ” ), man erinnert aus der frühen Neuzeit die sieben Todsünden (und allerlei weitere) in Sebastian Brants Narrenschiff, man versichert sich noch einmal des 1516 erlassenen deutschen Reinheitsgebots Wilhelms IV von Bayern und wünschte sich heute ähnlich klare Lebensmittelschutzgesetze, man ist auch als notorisch Ungläubiger ergriffen von der kraftvollen Sprache der Lutherschen Bibelübersetzung, man schmunzelt über die Aktualität der frühen Polemik gegen sprachlichen Mischmasch im Buch von der deutschen Poeterey des Martin Opitz und freut sich in Zeiten der zunehmenden Englisch-Pflicht an den Universitäten über Christian Thomasius ’ Mut, 1687 sein Kolleg über Gratian erstmals in Deutsch zu halten. Und so geht es fort, Leibniz und Lichtenberg und Lessing! Kant! Das sapere aude, das jedem und gerade dem von weither Zugezogenen Mut mache, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Man blättert und stößt auf ein Lied von Bach oder ein Gedicht von Hölderlin, auf einen von der Schulzeit her vertrauten Textausschnitt aus Werken der Weimarer Klassik oder Romantik. Man kann sich aber auch mit Franz Bopp über das “ Conjugationssystem der Sanskritsprache in Vergleichung mit jenem der griechischen, lateinischen, persischen und germanischen Sprache ” informieren oder über die Patentanmeldung des ersten Automobils von Carl Friedrich Benz, über Die Prinzipien der Mechanik von Heinrich Hertz oder über die von Einstein beschriebene Elektrodynamik bewegter Körper. Dazwischen Kostproben aus Texten philosophischer Sprachgenies wie Schopenhauer, Nietzsche oder Wittgenstein, bedeutende Rechtstexte, politische Programmschriften (Marx, Herzl, Rosa Luxemburg), Meilensteine der deutschsprachigen Wissenschaftsliteratur (Freud, C. G. Jung, Gödel, Zuse, Heisenberg). Wer sich davon erholen möchte, blättere weiter und ergötze sich an den aberwitzigen Definitionsanstrengungen von Juristen, die in der Käseverordnung dem Lebensmittel ein für allemal begriffliche Form zu verleihen streben, an Robert Gernhardts Ode auf den Ernst oder Loriots herrlicher Dankesrede anlässlich der Verleihung des Jakob-Grimm-Preises 2004 in Kassel, in der er sich Gedanken macht über die Fährnisse der Verständigung: “ Ich war mehrere Jahre Analphabet ” . In diesem Buch wird jeder fündig. “ Wer vieles bringt, wird manchen etwas bringen ” , hofft, mit Goethe, einer der Herausgeber, lauter bits ’ n ’ pieces, ungeordnet bunt durcheinander, mag man einwenden, Wichtiges fehlt, anderes mag entbehrlich scheinen - und dennoch: ein Lesevergnügen, ein Lese-Buch, das Bekanntes Reviews 175 und Unbekanntes und Vergessenes einbettet in begleitende Erläuterungen; 47 Autoren - sie werden in einem Anhang vorgestellt - kommentieren die ausgewählten Texte (deren Kenntnis sie mehr oder weniger voraussetzen), stellen sie und ihre Verfasser in den zeitlichen Zusammenhang, dem sie entstammen, begründen mehr oder weniger plausibel ihre Auswahl, zeichnen ihre Wirkung nach und heben ihre Bedeutung für die Entwicklung deutsche Sprache in all ihrer Vielfalt hervor. Das Literaturverzeichnis regt zum Weiterlesen an. Bei aller Begeisterung der Linguisten für die sprachliche Abgrenzungsphantasie Jugendlicher, bei aller Sympathie für die Wachsamkeit der feministischen Sprachpolizei, bei aller Faszination angesichts des technisch induzierten Sprachwandels in den Mini-Texten der sozialen Medien: wären nicht jene Eltern und Lehrer zu loben, die ihren Schülern und Schützlingen dieses Buch zum Stöbern empfehlen, auf dass sie ein wenig sensibler würden für die Wirkung von Worten und lernten, ‘ pfleglich ’ umzugehen mit ihrer Sprache? Ernest W. B Hess-Lüttich 176 Reviews