eJournals Kodikas/Code 38/1-2

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
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2015
381-2

Was ist ein 'gutes Gespräch'?

2015
Ernest W. B. Hess-Lüttich
K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 38 (2015) · No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Review Article Was ist ein ‘ gutes Gespräch ’ ? Ernest W. B. Hess-Lüttich (Bern) “ Was ist ein gutes Gespräch ” ? Dieser Frage widmete sich 1978 ein Colloquium der Evangelischen Akademie in Loccum, zu dem Gerold Ungeheuer unter dem Titel “ Gut geführte Gespräche und ihr Wert ” ein Impulsreferat beisteuerte, das die im deutschsprachigen Raum gerade erst beginnende linguistische Gesprächsanalyse nachhaltig beeinflussen sollte (Ungeheuer 1978: 5 - 14; cf. Weydt 1993: 3 - 19). Eine Dekade später, vor mehr als einem Vierteljahrhundert, veröffentlichte Karl-Heinz Göttert unter dem Titel Kommunikationsideale seine Untersuchungen zur europäischen Konversationstheorie (Göttert 1988). Der Titel der von S IMON M EIER (im folgenden: Verf.) vorgelegten Dissertation gemahnt an den dieses Buches. 1 Tatsächlich knüpft der Verf. an diese Untersuchungen in seinem großangelegten Versuch einer Rekonstruktion des Wandels von Gesprächsauffassungen im 20. Jahrhundert ausdrücklich an, wenn er die im deutschsprachigen Raum in mehreren Disziplinen entwickelten Prämissen oder Konzepte modellhaft gelingender dialogförmiger Verständigung einer diskurshistorischen Analyse unterzieht. Dazu wählt er als einen (methodisch mutigen, aber) suggestiven Einstieg die Gegenüberstellung einer Schilderung geselliger Konversation in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften und der nahezu zeitgleich entstandenen philosophischen Reflexion über das ernste Zwiegespräch in Karl Jaspers ’ Philosophie. Der Vergleich dient dem Verf. dazu aufzuzeigen, dass und wie sich die zeitgenössische Gesprächsauffassung um die Zeit des Ersten Weltkriegs verändert hat. Das zweite Kapitel entfaltet sodann die theoretischen und methodischen Grundlagen. Zunächst wird der Untersuchungsgegenstand näher bestimmt als “ die theoretische Reflexion über das Gespräch in ihrer historischen Entwicklung im deutschsprachigen Raum des 20. Jahrhunderts ” (Meier 2013: 9). Die im Zuge solcher Reflexion vorgenommenen Entwürfe vollkommener Gespräche bezeichnet der Verf. als “ Gesprächsideale ” , die er in Anlehnung an Kants Idealbegriff als kontrafaktische Vorstellungen eines vollkommenen Gesprächs bestimmt, die für die Bewertung konkreter Gespräche das Richtmaß vorgeben und als regulative Prinzipien praktische Kraft entfalten können. Die sich durch eine Vielzahl von Texten in mehreren Disziplinen (wie Philosophie, Theologie, Pädagogik usw.) ziehende Figur der normativ-idealisierenden Auseinandersetzung mit dem Gespräch konstituiert in 1 Simon Meier 2013: Gesprächsideale. Normative Gesprächsreflexion im 20. Jahrhundert (= Studia Linguistica Germanica 116), Berlin/ Boston: de Gruyter, 396 pp., geb. 109,95 € , ISBN 978 - 3-11 - 031488 - 5 (Zitate im Text beziehen sich auf diese Ausgabe). thematischer Hinsicht den “ gesprächsreflexiven Diskurs ” . Anschließend begründet der Verf. plausibel seine zeitliche Eingrenzung des gesprächsreflexiven Diskurses auf den Zeitraum 1918 bis 2001 im deutschsprachigen Raum. Aus seinem konzisen Überblick über den Forschungsstand zieht er das Fazit, dass die bisher in Literaturwissenschaft und Linguistik auf die Gesprächsreflexion früherer Epochen angewandten Ansätze auf die des 20. Jahrhunderts zu übertragen seien, welche vornehmlich aus philosophischer, pädagogischer und theologischer Perspektive thematisiert wurden. So wie die Untersuchung der Geschichte des Sprachbewusstseins einen Beitrag zur Erklärung von Sprachwandel liefert (weil sprachreflexive Konzeptbildungen, Wertungen und Normsetzungen die Sprachwirklichkeit beeinflussen können), so ist die Untersuchung des Gesprächsbewusstseins und seiner Veränderungen als Teil einer Geschichte des Gesprächs anzusehen. Normative gesprächsreflexive Äußerungen stellen somit, wie der Verf. in Anlehnung an Koselleck formuliert und durch Beispiele veranschaulicht, “ nicht nur Indikatoren, sondern auch Faktoren des historischen Wandels von Gesprächswirklichkeit ” dar (ibid. 38). Da sich die Arbeit nur mit der professionellen Gesprächsreflexion befasst, werden als soziologische Substrate des Gesprächsbewusstseins in Anlehnung an den Wissenschaftssoziologen Ludwik Fleck “ Denkkollektive ” bestimmt, die sich durch gedankliche Wechselwirkung ihrer Mitglieder und durch einen gemeinsamen Denkstil konstituieren. Ein Denkstil geht mit einem typischen Sprachstil einher, so dass sich zur Untersuchung von Denkstilen die Beobachtung des Sprachgebrauchs als geeignete Methode erweist, die an das diskursanalytisch orientierte Programm der linguistischen Mentalitätsgeschichte (Busse, Hermanns) anschließbar ist. Nach Bemerkungen zum ausgreifenden Quellenkorpus werden die Analysemethoden einer diskursanalytisch erweiterten Begriffsgeschichte umrissen. So bietet schon die Untersuchung der expliziten Aushandlung der “ deontischen Bedeutung ” von Gespräch und anderer Ausdrücke des Begriffsfelds der Kommunikation einen ersten Zugriff auf das gesuchte Wissen vom Gespräch. Aber auch umfassenderen bedeutungskonstitutiven Textbestandteilen (wie typische Kollokationen, Metaphern, Präsuppositionen etc.) wird genaue Beachtung zuteil. Im Hinblick auf den Begriff des Denkstils lässt sich dieser methodische Zugriff an neuere Ansätze der Stilistik anschließen, die Stil als bedeutungskonstitutiv betrachten und hierfür auch wiederkehrende textstilistische Muster (wie antithetische Argumentationen oder hypostasierende Beschreibungen) in den Blick nehmen. Vor dem Hintergrund der Besonderheiten des aus wissenschaftlichen Texten bestehenden Quellenkorpus betont der Verf. jedoch, dass diese diskursanalytischen Methoden nur einen Teil der vorzunehmenden Untersuchung des gesprächsreflexiven Diskurses abdecken, die zugleich ein wissenschafts- und theoriehistorisches Interesse verfolgt und sich damit dem Programm der “ Diskurshermeneutik ” (im Sinne von Fritz Hermanns) verpflichtet sieht. Die Relevanz der Untersuchung für die Gesprächslinguistik erweist sich nicht zuletzt schon darin, dass die Auseinandersetzung mit historischen Gesprächsauffassungen die Historizität der heutigen Gesprächslinguistik vor Augen führen und somit ihren eigenen Standort erhellen kann. Das dritte Kapitel zeichnet in groben Zügen die Geschichte der normativen Gesprächsreflexion vor dem 20. Jahrhundert nach, vor deren Hintergrund die Besonderheiten des gesprächsreflexiven Diskurses im 20. Jahrhundert erst deutlich werden. Zunächst wird in knapper Skizze die Entwicklung der Konversations- und Geselligkeitstheorie seit der Antike rekonstruiert, deren Schicklichkeitsideal am Ende des 18. Jahrhunderts durch das Ideal der erkenntnisfördernden Debatte (Garve) ergänzt wird, während im späten 19. Jahrhundert Was ist ein ‘ gutes Gespräch ’ ? 165 eine zunehmende Idealisierung des Zwiegesprächs (Nietzsche, Lazarus) festzustellen ist. Anschließend werden frühe Ansätze einer Philosophie des Gesprächs bei Schleiermacher und Humboldt nachgezeichnet, welche schließlich zu einer ersten Formulierung des später so genannten ‘ dialogischen Prinzips ’ bei Feuerbach führen. Schließlich wird anhand von zeitgenössischen Wörterbüchern aufgezeigt, dass der Reflexionsgegenstand Gespräch am Ende des 19. Jahrhunderts “ zwischen den Polen der geselligen Konversation, des vertraulichintimen Gesprächs etwa unter Freunden sowie des argumentativen, auf Erkenntnisgewinn ausgerichteten Austauschs ” (ibid. 75) steht. Die folgenden Kapitel sind wohlbegründet in sieben chronologisch geordnete und nach den einzelnen ‘ Denkkollektiven ’ differenzierte Abschnitte gegliedert. Der erste (Kapitel 4) widmet sich den dialogphilosophischen Entwürfen aus dem Zeitraum 1918 bis 1942, die von der sprachtheoretisch fundierten Unterscheidung zwischen wechselseitigen Ich-Du-Verhältnissen und einseitigen Ich-Es-Verhältnissen ausgehen. Dabei stehen zunächst die religiös geprägten dialogphilosophischen Grundlagenschriften von Buber und Ebner sowie Kracauers gesprächsreflexive Essays, die als profanierte Fassungen der dialogphilosophischen Beiträge gelten können, im Vordergrund. Gemeinsam ist diesen Ansätzen die Idealisierung des persönlich-ernsten Zwiegesprächs, das von empraktischer Kommunikation, sachlicher Argumentation und geselliger Konversation kritisch abgegrenzt wird. Vor dem Hintergrund der zivilisationskritischen Motive in Bubers Texten geht der Verf. anschließend der auf Tönnies zurückgehenden und durch die Jugendbewegung zu breiter Wirkung gekommenen Unterscheidung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft nach, deren begriffliche und sprachliche Ausgestaltung (etwa durch Metaphern) den gesprächsreflexiven Diskurs der 20er Jahre prägt. Anhand einer Vielzahl von Texten (auch anderer Disziplinen) zeigt der Verf., wie zu dieser Zeit die Antithese Gemeinschaft - Gesellschaft als “ diskursive Grundfigur [. . .] die Art und Weise der Thematisierung von zwischenmenschlicher Kommunikation und die damit verbundenen Haltungen von Grund auf prägt ” (ibid. 111) und das Begriffsfeld der Kommunikation entsprechend strukturiert. Dies gilt auch für die anschließend thematisierten phänomenologischen Weiterentwicklungen der Dialogphilosophie (Löwith, Gadamer, Binswanger), die einerseits an die Gesprächsphilosophien des 19. Jahrhunderts anknüpfen, andererseits in Fortführung von Heideggers Theorie des ‘ Man ’ durch eine rigorose öffentlichkeitskritische Grundhaltung gekennzeichnet sind. Darüberhinaus wird die dialogphilosophisch inspirierte Essayistik in den Blick genommen, in der das Ideal des “ echten ” Gesprächs weiter ausgestaltet wird. Dabei zeigt der Verf. überzeugend, wie durch eine Reihe von textstilistischen Mustern (z. B. den Gebrauch organischer Metaphern) oder durch die personifizierende Beschreibung des Gesprächs (bzw. dessen vornehmlich negative Kennzeichnung) dem Gespräch Eigenständigkeit zugeschrieben wird und wie sich der antisubjektivistische Denkstil der Dialogphilosophie somit auch sprachlich manifestiert. Im zweiten Abschnitt (Kapitel 5) thematisiert der Verf. die zwischen 1919 und 1938 entwickelte Theorie der ‘ existentiellen Kommunikation ’ von Karl Jaspers, dessen gesonderte Behandlung er durch dessen Zugehörigkeit zu einem anderen Denkkollektiv rechtfertigt. Dabei rekonstruiert er die von Jaspers entworfene normative Gesprächstypologie, an deren Spitze das Ideal der existentiellen Kommunikation steht, die auf das “ Wirklichwerden des Ich als Selbst ” (Jaspers) abzielt. Trotz der indikativischen Form haben die kommunikationsreflexiven Aussagen eindeutig appellativen Charakter und können somit als “ eine Tugendlehre der Kommunikation in nuce gelesen werden ” (ibid. 150), die auf den Forderungen nach wechselseitiger Anerkennung, Niveaugleichheit und Offenheit aufbaut. Zudem erweist sich 166 Ernest W. B. Hess-Lüttich (Bern) vor dem Hintergrund von Jaspers ’ zeitdiagnostischer Schrift Die geistige Situation der Zeit sein “ zeitlos ” formuliertes Ideal der existentiellen Kommunikation als Gegenentwurf zum vergesellschafteten Dasein des Menschen in der Moderne. Die gesellschafts- und öffentlichkeitskritisch motivierte Hochschätzung des privat-intimen Zwiegesprächs gehört somit “ zu den Auffassungen, die unter Intellektuellen zur Zeit zwischen den Weltkriegen weithin als selbstverständlich gelten ” (ibid. 161). Dem gesprächsreflexiven Diskurs in der Nachkriegszeit (1945 bis ca. 1968) ist der dritte Abschnitt gewidmet (Kapitel 6). Dem Gespräch wird jetzt “ die Funktion zugeschrieben, die durch Krieg und Kapitulation erschütterte soziale Ordnung in Deutschland sowie ihre Normen und Werte neu zu begründen [. . . und . . .] von der vermeintlichen Gesprächsfeindlichkeit des Nationalsozialismus abzugrenzen ” (ibid. 164), indem das Gespräch zu einer demokratischen Praxis stilisiert wird. Gesprächsreflexion dient somit der Stiftung kollektiver Identität. Zunächst zeigt der Verf., wie den Diskussionsformaten im Zuge der (anfangs fast euphorisch angenommenen) ‘ Reeducation ’ -Maßnahmen der Alliierten seit den frühen 50er Jahren eine als spezifisch deutsch bezeichnete, dialog- und existenzphilosophische Traditionen fortführende Gesprächsauffassung entgegengehalten wurde. Diese Kontinuität früherer Ansätze weist der Verf. anschließend in linguistischen Mikroanalysen auch auf der sprachlichen Ebene überzeugend nach. Dazu nimmt er u. a. die organische Metaphorik sowie das wiederkehrende syntaktische Muster der nicht-sondern-Konstruktion als sprachliche Grundlage einer emphatischen Redeweise und einer antithetischen Argumentation in den Blick, durch die das Gespräch als eigenständige, von den Handlungen der Gesprächspartner unabhängige Größe konzeptualisiert wird. Da dem Gespräch die Funktion zugeschrieben wird, soziale Ordnung neu zu begründen, wird vor allem sein gemeinschaftsstiftendes Potential betont und der Gesellschaft und Öffentlichkeit entgegengesetzt. Die Reflexion über das Gespräch als eigenständiges und nichtinstitutionalisierbares Geschehen in einer natürlich gewachsenen Gemeinschaft könne vor diesem Hintergrund auch als “ Abwehr alliierter Demokratisierungspolitik ” (ibid. 217) gelesen werden; das diskursive Konstrukt Gespräch erfülle im Deutschland der Nachkriegszeit somit eine “ sozial- und häufig sogar nationalsymbolische Funktion ” (ibid. 218). Nach einem ausführlichem Exkurs über das Thema Freundschaft, das häufig als “ Bezugspunkt normativer Gesprächsreflexion ” fungiere (Kapitel 7), die sich in die Gemeinschaftsideologie einfüge und die Abgrenzung des Gesprächs von angelsächsisch konnotierten, öffentlich-politischen Kommunikationsformen plausibilisieren und historisch verbürgen solle, geht der fünfte Abschnitt der pädagogischen Gesprächsreflexion insbesondere seit 1945 nach, die aufgrund der Formulierung von Didaktiken, Lehrplänen und Bewertungsrichtlinien maßgeblichen Anteil an der praktischen Wirksamkeit der aus der theoretischen Reflexion hervorgegangenen Gesprächskonzepte hat (Kapitel 8). Dabei zeigt der Verf. zunächst, wie in der Nachkriegszeit die schon in der Reformpädagogik der 20er und 30er Jahre reflektierte Erziehung durch das Gespräch um die Erziehung zum Gespräch ergänzt wird, wobei diese zunächst im Sinne der ‘ Reeducation ’ -Maßnahmen der Alliierten als Grundlage einer Erziehung zur Demokratie gedacht ist und dementsprechend die Diskussion als oberstes Lernziel auszeichnet. In den 50er Jahren wird dagegen in Anknüpfung an dialog- und existenzphilosophische Ansätze die Begegnungspädagogik (Bollnow, Derbolav u. a.) entwickelt, in der das ‘ echte ’ (d. h. persönliche, nicht planbare) Gespräch zum Ideal erhoben und Gesprächsfähigkeit als eine durch Vorbehaltlosigkeit, Anerkennung und Wohlwollen gekennzeichnete Haltung bestimmt wurde. Die so gegründete “ Ethik des Gesprächs ” nimmt z. T. die Was ist ein ‘ gutes Gespräch ’ ? 167 Diskursethik Apels und Habermas ’ vorweg, bleibt allerdings anders als diese auf das privatintime Gespräch als Teil einer Gemeinschaftserziehung bezogen. In den 70er Jahren wird die Gesprächserziehung unter dem Einfluss der kritischen Theorie Habermas ’ sowie der Konjunktur der Kommunikationswissenschaft in eine kommunikative Pädagogik überführt, die “ politische Mündigkeit und Kritikfähigkeit als Erziehungsziel ansetzt und die rationale Diskussion zum Ideal erhebt ” (ibid. 267). Die weitere insbesondere durch den Einfluss der Sprachwissenschaft gekennzeichnete Entwicklung verfolgt der Verf. bis zu den Ansätzen der späten 90er Jahre, die den Begriff der Gesprächskompetenz ganz auf methodisch-technische Aspekte der Gesprächsführung ausrichten, das “ Wissen um die Vielfalt und Komplexität kommunikativer Wirklichkeit zum primären Lernziel der Gesprächsdidaktik ” (ibid. 267) erklären und damit die Orientierung am idealen Gespräch aufgeben. Im vorletzten Abschnitt (Kapitel 9) widmet sich der Verf. dem Ideal der herrschaftsfreien Diskussion, wie es in einem soziologisch orientierten Denkkollektiv um Habermas, Dahrendorf, Apel u. a. seit den 60er Jahren entwickelt wurde, und beschreibt dieses als Ausdruck einer umfassenden “ Politisierung des Gesprächs ” . Bei Habermas würden die Ausdrücke des Begriffsfeldes der Kommunikation “ deontisch so konnotiert, dass sich in ihre Verwendung die Forderung nach politischer Beteiligung unmittelbar einschreibt ” (ibid. 281). Neben der breiten Rezeption des Ideals der öffentlichen Diskussion innerhalb der Soziologie (und Pädagogik) hebt der Verf. besonders die praktische Rezeption durch die Studentenbewegung hervor, welche die Diskussion als kommunikative Praxis fest in ihren Aktivitäten verankerte und somit ein Beispiel dafür liefert, dass normative gesprächsreflexive Äußerungen “ Indikatoren und Faktoren des historischen Wandels von Gesprächswirklichkeiten darstellen ” (ibid. 287). Anschließend geht der Verf. der philosophischen Weiterentwicklung des Ideals der herrschaftsfreien Diskussion hin zu einer Theorie der kommunikativen Rationalität nach, welche neben Überlegungen des späten Jaspers auch die im Umkreis der Erlanger Schule (Paul Lorenzen, Kuno Lorenz) ausgearbeitete dialogische Wahrheitstheorie aufgreift. Sowohl die in Anknüpfung an die Sprechakttheorie ausgearbeitete Universalpragmatik mit der charakteristischen Figur des Vorgriffs auf die ideale Sprechsituation als auch die später entwickelte Diskursethik stellen das Ideal der herrschaftsfreien Diskussion mit der zeittypischen Aufwertung von Öffentlichkeit in den Mittelpunkt. Trotz ihrer Formalisierung sind sie klar auf öffentlich-politische Handlungskontexte und das Problem der Legitimierung politischer Normsetzungen zugeschnitten, was der Verf. anhand der Rezeption diskursethischer Positionen im Bereich der sog. “ Technikfolgenabschätzung ” exemplarisch aufzeigt. In den hier aufscheinenden normativen Gesprächskonzepten treten die in früheren Ansätzen so stark betonten personalen Aspekte des Gesprächs vollständig hinter den sachlichargumentativen zurück, was sich auch sprachlich in einem deutlich sachlicheren, durch objektiv-distanzierte und stärker fachterminologisch geprägte Argumentationen gekennzeichneten Stil niederschlägt. Der letzte Abschnitt im Hauptteil des Buches (Kapitel 10) thematisiert in der Form eines Ausblicks den Dialog der Religionen und den Dialog der Kulturen als Bereiche, in denen sich “ die normative Gesprächsreflexion bis in die Gegenwart fortsetzt und die die aktuelle Semantik insbesondere des Ausdrucks Dialog maßgeblich prägen ” (ibid. 322). Zunächst geht der Verf. am Beispiel einer begriffsgeschichtlichen und -systematischen Analyse der Enzyklika Ecclesiam suam der kirchlichen Rezeption des Dialogbegriffs in erster Linie seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil 1962 - 1965 nach, welches den Dialog zur Pflicht eines 168 Ernest W. B. Hess-Lüttich (Bern) jeden gläubigen Katholiken erhebt. Der Begriff des Dialogs wird einerseits ganz im Sinne überkommener Gesprächskonzepte ausgedeutet, andererseits wird er aber auf den offiziellen Austausch zwischen Vertretern verschiedener Glaubens- und Weltanschauungssysteme übertragen. Damit einher geht die Etablierung einer neuen, synekdochalen Verwendungsweise des Ausdrucks Dialog (der Kirche, des Christentums, mit dem Islam etc.), der nun verschiedenste Kommunikationsprozesse von der spontanen Begegnung bis hin zu institutionalisierten Arbeitsgruppen bezeichnen kann. Dieses Dialogverständnis wird später auch auf die internationale Politik und das Programm des Dialogs der Kulturen übertragen, das der Verf. in Anlehnung an die kritischen Analysen von Gesine L. Schiewer als Resümee des gesprächsreflexiven Diskurses des 20. Jahrhunderts in den Blick nimmt, da in diesem “ nahezu das gesamte in diesem Zeitraum ‘ zum Selbstverständlichen sedimentierte kollektive Wissen ’ (Busse) vom Gespräch und der normativen Ordnung zeitgenössischer Gesprächswelten enthalten ” sei (ibid. 341). Statt einer Zusammenfassung greift der Verf. in einem kurzen Fazit dieser in jeder Hinsicht herausragenden Darstellung die Frage nach der Relevanz der Untersuchung für die Gesprächslinguistik auf und zeigt anhand einiger Texte zu einer linguistischen Theorie des Gesprächs (Ungeheuer, Schwitalla, Adamzik u. a.), wie die Bevorzugung des handlungsentlasteten, privat-intimen Gesprächs die linguistische Begriffsbildung immer noch prägt, während seine “‘ gesprächsbewusstseinsgeschichtliche ’ Perspektive ” dazu beitragen könne, “ den gesprächslinguistischen Denkstil historisch zu situieren und damit auch kritischdistanziert zu reflektieren ” (ibid. 330). Das Buch, das zudem übrigens durch ein umfassendes Literaturverzeichnis und ein Personenregister ergänzt wird, stellt m. E. einen echten Forschungsfortschritt dar, hinter den künftige Untersuchungen zum Thema nicht zurückfallen sollten. Es erfüllt für den deutschen Sprachraum in vorbildlicher Weise endlich die schon von Hess-Lüttich (1980: 6; id. 1996) oder Ehlich (2007: 134) markierten Forschungsdesiderate im Interferenzbezirk zwischen Philosophie, Linguistik und Wissenschaftsgeschichte des Gesprächs. Bibliografie Ehlich, Konrad 2007: “ Schulischer Diskurs als Dialog? ” , in: id. 2007: Sprache und sprachliches Handeln, vol. 3: Diskurs - Narration - Text - Schrift, Berlin/ New York: de Gruyter, 131 - 167 Göttert, Karl-Heinz 1988: Kommunikationsideale. Untersuchungen zur europäischen Konversationstheorie, München: iudicium Hess-Lüttich, Ernest W. B. 1980: Grundlagen der Dialoglinguistik, Berlin: Erich Schmidt Hess-Lüttich, Ernest W. B. 1981: “ Literatur und Konversation. Der literarische Dialog als Gegenstand empirischer Textwissenschaft ” , in: id. (ed.) 1980: 5 - 22 Hess-Lüttich, Ernest W. B. (ed.) 1981: Literatur und Konversation. Sprachsoziologie und Pragmatik in der Literaturwissenschaft, Wiesbaden: Athenaion Hess-Lüttich, Ernest W. B. 1996: “ Sechs Ansichten vom Dialog ” , in: Erwin Hasselberg, Ludwig Martienssen & Frank Radtke (eds.) 1996: Der Dialogbegriff am Ende des 20. Jahrhunderts, Berlin: Hegel-Institut, 19 - 34 Meier, Simon 2013: Gesprächsideale. Normative Gesprächsreflexion im 20. Jahrhundert (= Studia Linguistica Germanica 116), Berlin/ Boston: de Gruyter Ungeheuer, Gerold 1978: “ Gut geführte Gespräche und ihr Wert ” , in: Karl Ermert (ed.) 1978: Was ist ein gutes Gespräch? Zur Bewertung kommunikativen Handelns, Loccum: Loccumer Protokolle, 5 - 14 Weydt, Harald 1993: “ Was ist ein gutes Gespräch? ” , in: Heinrich Löffler et al. (eds.) 1993: Dialoganalyse IV. Referate der 4. Arbeitstagung Basel 1992, Tübingen: Niemeyer, 3 - 19 Was ist ein ‘ gutes Gespräch ’ ? 169