eJournals Kodikas/Code 38/1-2

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2015
381-2

Shortology

2015
Achim Eschbach
K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 38 (2015) · No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Review Article Shortology Über Schlüsselwerke der Kulturwissenschaften 1 Achim Eschbach (Essen) Claus Leggewie, der Direktor des Essener Kulturwissenschaftlichen Instituts (KWI), hat zusammen mit Darius Zifonun, Anna Lang, Marcel Siepmann und Johanna Hoppen den 341 Seiten umfassenden Band Schlüsselwerke der Kulturwissenschaften herausgegeben. In acht Kapiteln und diversen Unterkapiteln werden in kurzen Texten, die selten mehr als zwei bis drei Seiten umfassen, 106 Autoren und Texte vorgestellt, die aus allen möglichen Bereichen der Geistes- und Sozialwissenschaften stammen. Weshalb der Renaissance-Philosoph Giambattista Vico, der Wiener Sprachpsychologe Karl Bühler oder der Kunsthistoriker Aby Warburg auf die Liste der Schlüsselwerke der Kulturwissenschaft geraten sind, wäre ebenso erklärungsbedürftig wie die Nennung des Soziologen Georg Simmel, des Anthropologen Clifford Geertz oder der Semiologin Julia Kristeva, was nicht deren Exzellenz in Zweifel ziehen soll, sondern lediglich nach den Gemeinsamkeiten fragt. In ihrer Einleitung räumen die HerausgeberInnen mit entwaffnender Offenheit um nicht zu sagen Chuzpe ein, daß die Schlüsselwerke “ ohne Furcht eklektisch ” seien und den “ notwendigen Mut zur Lücke ” aufbrächten, keinen “ Anspruch auf Vollständigkeit und theoretische Konsistenz ” erhöben und folglich keine Kanonbildung beabsichtigten (13 f.). Wo hat man denn jemals in einem Werk mit dem nicht gerade unbescheidenen Titel Schlüsselwerke der Kulturwissenschaften gelesen, daß es keine Konsistenzansprüche erhebe, obwohl eine solche Erwartung bereits an eine Seminararbeit gerichtet werden muß. So löblich diese Ehrlichkeit erscheint, sollte man das Buch doch aus der Perspektive seiner zukünftigen Nutzer beurteilen und das werden in der Regel Studienanfänger und noch keine gestandenen Fachleute sein. Deshalb wird der Eindruck entstehen, daß die Herausgeber aufgrund ihrer fachlichen Kompetenz die rund 100 wichtigsten kulturwissenschaftlichen Werke ausgewählt und präsentiert haben. Weshalb gerade diese Werke der ausgewählten Autoren vorgestellt werden, wird der Anfänger nicht hinterfragen (können), weil das 1 Rezension zu Leggewie, Claus; Zifonun, Darius; Lang, Anne; Siepmann, Marcel; Hoppen, Johanna (Hg.) 2012: Schlüsselwerke der Kulturwissenschaften. Bielefeld: transcript, 344 pp., kart., 25,80 € , 978 - 3-8376 - 1327 - 8 (Zitate im Text beziehen sich - soweit nicht anders markiert - auf diese Ausgabe). schließlich voraussetzt, daß der entsprechende Leser bereits Kenntnis von der Existenz einschlägiger Werke des betreffenden Autors besäße, was in der Regel bei Anfängern nicht der Fall sein dürfte. Daß sich der Umfang der zu präsentierenden Werke und deren Komplexität stets in das zwei bis drei Seitenschema einpassen läßt, wird den Anfänger genauso wenig verblüffen wie sich der Tagesschaubetrachter darüber wundert, daß täglich gerade so viel passiert, daß man in einer Viertelstunde darüber berichten kann. Wenn man das Inhaltsverzeichnis der Schlüsselwerke aufmerksam durchmustert, werden einem sehr bald einzelne herausragende Kulturwissenschaftler oder sogar ganze Schulrichtungen ins Gedächtnis kommen, die in dem vorliegenden Werk mit keinem Wort erwähnt werden: Wo ist etwa von dem äußerst erfolgreichen Tübinger Studiengang ‘ Empirische Kulturwissenschaft ’ die Rede? Weshalb werden die ‘ cultural studies ’ völlig ausgeblendet, die dem Essener KWI politisch gesprochen doch gar nicht so unsympathisch sein dürften? Wo sind Arnold Hauser, Hartmut Böhme, Aleida Assmann etc., die ein jeder von uns gelesen und präsent haben muß. Auch wenn man gewisse Präferenzen einräumen würde, kann man kulturwissenschaftliche Schlüsselwerke doch nicht unter Ausschluß von Maurice Halbwachs, Susan Sontag, Johan Huizinga, José Ortega y Gasset, Umberto Eco, Irene Portis Winter etc. diskutieren; hier wäre deutlich mehr als nur die Proklamation des “ Muts zur Lücke ” fällig gewesen; was fehlt ist eine ausgewachsene Kriteriologie, die dem Anfänger Auskunft und Orientierung geboten hätte. Der Leser der Schlüsselwerke wird sich nicht über die Kürze der Texte und die Sparsamkeit im Umgang mit weiterführenden Hinweisen beklagen, denn schließlich hat er in seinem Studium ja auch noch andere Texte zur Kenntnis zu nehmen und außerdem entspricht die Knappheit und Bündigkeit dem gehetzten Zeitgeist, der Fakten, Fakten, Fakten verlangt und keine langatmigen und unverständlichen Argumentationen und Begründungen. Während man sich früher noch die Zeit für einen mehrseitigen Brief nahm, schickt man heute eine mail oder SMS, weshalb es nur konsequent ist, wenn Yahoo für die Komprimierung einer Nachricht dem 17-jährigen Nick D ’ Aloisio einen zweistelligen Millionenbetrag gezahlt hat. Man sollte dann aber den Nutzer der Schlüsselwerke auch nicht dafür schelten, wenn ihm bei der Nennung eines Namens - sagen wir Max Weber - als Paßwort nur “ protestantische Werkethik ” und sonst gar nichts mehr einfällt. Diese atemlose, lakonische Kürze entspricht im Übrigen voll und ganz den Erwartungen, die an die berufsqualifizierenden Bachelorstudien gerichtet werden; wer damit noch nicht zufrieden ist, muß sich halt in weiteren zwei Jahren zum Wissenschaftler ausbilden lassen. Georg Simmels Essay über den Streit, der im vorliegenden Band von Thorsten Bonacker und Lars Schmitt vorgestellt wird, kreist um ein Kulturverständnis, das die Herausgeber- Innen in ihrer Einleitung in Anlehnung an Clifford Geertz als ein Gewebe von Bedeutungen bezeichnen, die es zu interpretieren gilt (cf. 13). Nicht nur an dieser Stelle des Bandes springt ins Auge, daß an den Platz des Kulturbegriffs ohne jede Verrenkung der Kommunikationsbegriff treten könnte, was ausdrücklich von dem Simmelschüler Kurt Singer in dessen Studie The Idea of Conflict (Singer, 1973) und von dem amerikanischen Semiotiker Charles William Morris vollzogen worden ist. Die Parallelführung der Kultur- und Kommunikationsverständnisse dürfte mit wechselseitigem Gewinn noch ein ganzes Stück fortgesetzt werden, denn das Inhaltsverzeichnis der Schlüsselwerke und die Lektüreliste des Essener Instituts für Kommunikationswissenschaft weisen zahlreiche Überschneidungen auf, was besagen soll, daß man aus ähnlichen Quelle schöpfen und bei unterschiedlich akzentuierten Fragestellungen dennoch zu andersartigen, wenngleich komplementären Resultaten gelangen kann. 146 Achim Eschbach (Essen) In ihrem Artikel über Karl Bühlers Sprachtheorie stellt Gisela Zifonun die Behauptung auf: Das Zeichen selbst ist gleichzeitig ‘ konkretes Schallphänomen ’ und Bestandteil des abstrakten Sprachsystems - zugleich token und type. [. . .] Nur durch diese Integration der Bezüge kann erklärt werden, wie mittels sprachlicher Zeichen Verhalten gesteuert, Interaktion hergestellt werden kann. Dieser integrative Wert des Organon-Modells ist für die kulturwissenschaftliche Sprachwissenschaft der entscheidende Gesichtspunkt (67). Leider ist zu befürchten, daß Frau Zifonun die eigentliche sematologische Pointe des Bühlerschen Werkes völlig entgangen ist. Bühler hat wiederholt erklärt: Meinen Vorschlag kennen Sie: Man vergleiche die Sprache mit anderen Darstellungsgeräten. Wären wir soweit und könnten eine allgemeine Zeichenlehre, eine ausgewachsene Sematologie vorlegen, so wäre unser Beitrag geleistet. Eine allgemeine Sematologie - das ist es, was zustande gebracht werden muß und hier werden von allen Seiten die heute noch getrennten Beiträge einmünden (Bühler, TS 90: 4) Die sematologische Pointe seines Ansatzes hat Karl Bühler bereits dreißig Jahre früher im ersten Satz seiner Habilitationsschrift formuliert: Es gibt wohl kaum eine andere einzelwissenschaftliche Frage, auf die man so viele verschiedene Antworten erhalten kann als auf die: was ist Denken? Denken ist Verknüpfung, Denken ist Zerlegung. Denken ist Urteilen. Denken heißt Apperzipieren. Das Wesen des Denkens liegt in der Abstraktion. Denken ist Beziehen. Denken ist Aktivität, ist ein Willensvorgang (Bühler, 1907: 297). Es geht also darum, immaterielle Gedanken und materielle Laute so zu verknüpfen, daß das sinnvolle Benehmen der Gemeinschaftsmitglieder wechselseitig gesteuert werden kann, wie es in der Krise der Psychologie (Bühler, 1927: 50) heißt. In demselben Buch findet sich allerdings ebenfalls der § 14: “ Freud, der Stoffdenker ” , in dem Bühler den Schluß vom Materiellen auf das Immaterielle als einen schweren Fehler, als eine Stoffentgleisung (Bühler, 1927: 165) geißelt. In seinem wichtigen Aufsatz von 1931 “ Phonetik und Phonologie ” spricht Bühler nicht wie Frau Zifonun davon, daß das Zeichen sowohl type als auch token sei, sondern er spricht von dem Laut, der phonetisch beschreibbar ist und fordert dann dazu auf, in einer völlig neuen Betrachtungsweise ein Zeichen zu konstituieren und ein konstituiertes Zeichen kann man nicht mit den Mitteln der Phonetik messen, sondern man kann es nur denken, wie Bühler schon in seiner Habilitationsschrift unter dem Stichwort ‘ Apperzeption ’ ausgeführt hatte. Auf diesen Gedanken hätte Frau Zifonun allerdings auch bei der Lektüre der Sprachtheorie stoßen können, wo Bühler die apperzeptive Ergänzung behandelt. Eine apperzeptive Ergänzung ist ein echtes Erweiterungsurteil, das Charles Sanders Peirce in seinen Pragmatismus-Vorlesungen als Wahrnehmungsurteil bezeichnet. Ein Wahrnehmungsurteil ist ein Extremfall abduktiven Schließens und eine Abduktion ist nichts anderes als ein Zeichen, das sich auf ein Perzeptuum bezieht, das Peirce meistens als dynamisches Objekt bezeichnete und wofür Immanuel Kant den Terminus ‘ Erscheinung ’ benutzte. Wir sehen also, daß Bühler ebenso wie Peirce nicht von einem janusköpfigen materiell/ immateriellen type/ token redet, sondern von einem Prozeß der fortschreitenden Verzeichnung. Gisela Zifonun gelangt am Ende ihres Artikels zu dem Eindruck, “ daß Bühler einen oft unsystematischen, abschweifenden und z. T. auch begrifflich unklaren Stil ” (68) pflege; das ist Shortology 147 die Folge davon, daß der Fokus auf die Sprachtheorie von 1934 verengt wurde. Hätte Frau Zifonun die Schriften zur Sprachtheorie (Bühler, 2012) zur Kenntnis genommen, hätte sie nachvollziehen können, wie Bühler seine Argumentation mit großer Konsequenz Schritt für Schritt entfaltet hat; außerdem hätte ihr die umfangreiche Sekundärliteratur (cf. Kamp, 1984: 273 - 289 sowie Bühler, 2012: 229 - 247) sicherlich zum besseren Verständnis geholfen. Luise Röska-Hardy strickt in ihrem Beitrag zu den kulturwissenschaftlichen Schlüsselwerken munter weiter an dem goldenen Gründungsmythos der strukturalistischen Linguistik. In ihren Literaturhinweisen erwähnt sie zwar Ludwig Jägers lesenswerte de Saussure- Einführung, die 2010 im Junius-Verlag erschienen ist, ohne aber die geringsten Konsequenzen daraus abzuleiten. Stattdessen verpasst sie dem Herausgeber der ersten kritischen Edition des Cours de linguistique générale den schönen Vornamen ‘ Payot ’ und einer der Cours-Herausgeber hätte sich bestimmt nicht über die Verhunzung seines Familiennamens gefreut. Dafür schwadroniert Frau Röska-Hardy über den “ dyadischen Zeichenbegriff ” (64) als wäre nicht seit mehr als einem Dritteljahrhundert bekannt, daß Ferdinand de Saussure sich mit aller Macht gegen die dualistische Etikettentheorie der Sprache gestemmt hat. Vielleicht sollte sie sich einmal der Mühe unterziehen und Ludwig Jägers Düsseldorfer Dissertation studieren, die 1975 unter dem Titel Zu einer historischen Rekonstruktion der authentischen Sprachidee Ferdinand de Saussures eingereicht worden ist. Es würde auch nicht schaden, die verdienstvollen Werke der zahlreichen Saussure-Forscher (Robert Godel, Rudolf Engler, Jean Starobinski, Johannes Fehr, Christian Stetter, Peter Wunderli, um nur einige zu nennen) zur Kenntnis zu nehmen. An dem Saussure-Beispiel läßt sich ein besonders problematischer Aspekt der Schlüsselwerke drastisch veranschaulichen: Immer wieder ist selbst von linguistischen Fachkollegen in seltener Unbekümmertheit zu hören, der Cours de linguistique générale habe doch schließlich eine derart beeindruckende Rezeptionsgeschichte absolviert, daß man ihn heute unmöglich außer Acht lassen könne. Das erinnert in verblüffender Weise an den Stolberger Schrebergärtner, der im Schatten der Bleihütte vergnügt an seinen selbstgezüchteten Radieschen knabbert, während auf der Nachbarweide die Kühe vergiftet zusammenbrechen, und jede Warnung mit der Begründung in den Wind schlägt, der Vater und der Großvater hätten schließlich auch schon hier gegärtnert. Vielleicht sollte man einmal die unkritische und ahistorische Umgangsweise mit dem Cours mit der Behandlung apokrypher Schriften seitens der katholischen Kirche vergleichen: Der Studienanfänger wird sich dann unversehens in der Rolle des ahnungslosen Laien wiederfinden, der treu und brav das nach Hause trägt, was man ihm von der Kanzel aus gepredigt hat - kritische Wissenschaft geht anders! Wenn Joachim Fischer in seinem Beitrag über Helmuth Plessners Die Stufen des Organischen und der Mensch schreibt: Für die Kulturwissenschaften im biologischen Zeitalter bleibt Plessners Text der Goldstandard, weil die dort grundgelegte Philosophische Anthropologie angesichts der fortwährenden evolutionsbiologischen Herausforderung einerseits und der konstruktivistischen Verkapselung andererseits theorietechnisch eine dritte Möglichkeit anbietet, Kulturwissenschaften zu betreiben (254), dann fragt man sich schon, wie dies mit der Erklärung vereinbar ist: Andererseits wäre es ein Mißverständnis, Kulturwissenschaften als Sammelbegriff für alle Geistes- und Sozialwissenschaften zu verstehen. In diesen finden sich bedeutsame und wirk- 148 Achim Eschbach (Essen) mächtige Denkströmungen, die dezidiert nicht - oder gar antikulturwissenschaftlich sind, da sie in ihren Deutungen und Erklärungen z. B. auf universale Denkstrukturen der biologischen Determinanten rekurrieren und gerade nicht auf Kultur. Entsprechend finden sich Schlüsselwerke dieser Wissenschaftstradition hier nicht ” (14). Ob man aber dann noch so apodiktisch wie Plessner von einer säuberlichen Hemisphärentrennung sprechen darf (cf. 253) oder ob nicht vielmehr von gleitenden Übergängen die Rede sein sollte, wie bereits Karl Bühler nahelegte und Thomas A. Sebeok energischer postulierte, indem er unermüdlich Gegenbeispiele türmte, sollte ernsthaft bedacht werden. Eine Gesamteinschätzung eines Sammelbandes, der über einhundert bedeutende Werke der Kulturwissenschaften vorstellt, fällt von der Natur der Sache her nicht leicht und richtet sich nicht gegen die Entscheidung für oder gegen den einzelnen Klassiker, sondern gegen die Art der Präsentation, die einfach zu kurz ausfällt, um der Komplexität der präsentierten Werke gerecht zu werden. Ließe sich garantieren, der vorliegende Band würde wie eine kommentierte Bibliographie benützt, die nach den Appetithäppchen das Studium der gesamten Werke folgen ließe, müßte man die Schlüsselwerke rückhaltlos empfehlen; weil diese Hoffnung aber aller Wahrscheinlichkeit nach enttäuscht wird, besteht Grund zu der Annahme, daß einmal mehr des im Stil der BA/ MA-Studien hektischen Herunterwürgens viel zu vieler unverdaulicher Brocken Vorschub geleistet wird. Shortology 149