eJournals Kodikas/Code 38/1-2

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
Neben Landschaft, Wetter und Tierwelt ist auch die Pflanzenwelt eine sehr fruchtbare (!) Ursprungsdomäne für Metaphern. Dieser Beitrag untersucht, inwieweit die zahlreichen Zeichenfunktionen von Pflanzen in Gedichten und Redensarten botanisch korrekt sind. So wird die kausale Beziehung zwischen Aussaat und Ernte oft auf die Textproduktion über-tragen, die im Idealfall auf "blühender Phantasie" beruht. Auch der beliebte Vergleich von Mädchen mit Blüten ist gut begründet, wenn man vom evolutionären Nutzen der Schönheit ausgeht. Ferner dienen Pflanzen als Anzeichen der Jahreszeiten und der Lebensphasen des Menschen. Hierbei ist es sachlich verfehlt, den herbstlichen Laubfall als Symbol für Vergänglichkeit einzusetzen. Vielmehr ist das Abwerfen der Blätter eine aktive Schutzmaßnahme, die das Überleben des Baumes im Winter und sein neues Austreiben im Frühling erst sicherstellt.
2015
381-2

Dichter und ihre grünen Daumen

2015
Dagmar Schmauks
K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 38 (2015) · No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Dichter und ihre grünen Daumen Transdisziplinäres (Miss-)Verstehen am Beispiel dichterischer Pflanzendarstellungen Dagmar Schmauks (Berlin) Neben Landschaft, Wetter und Tierwelt ist auch die Pflanzenwelt eine sehr fruchtbare (! ) Ursprungsdomäne für Metaphern. Dieser Beitrag untersucht, inwieweit die zahlreichen Zeichenfunktionen von Pflanzen in Gedichten und Redensarten botanisch korrekt sind. So wird die kausale Beziehung zwischen Aussaat und Ernte oft auf die Textproduktion übertragen, die im Idealfall auf “ blühender Phantasie ” beruht. Auch der beliebte Vergleich von Mädchen mit Blüten ist gut begründet, wenn man vom evolutionären Nutzen der Schönheit ausgeht. Ferner dienen Pflanzen als Anzeichen der Jahreszeiten und der Lebensphasen des Menschen. Hierbei ist es sachlich verfehlt, den herbstlichen Laubfall als Symbol für Vergänglichkeit einzusetzen. Vielmehr ist das Abwerfen der Blätter eine aktive Schutzmaßnahme, die das Überleben des Baumes im Winter und sein neues Austreiben im Frühling erst sicherstellt. Besides landscape, weather and animal kingdom, also the vegetable kingdom is a fruitful (! ) source domain of metaphors. This contribution investigates, to which extent the numerous sign functions of plants in poems and sayings are botanically valid. For example, the causal relation between sowing and harvesting is often transferred to text production, which ideally is based on a “ fertile imagination ” . Also the popular comparison of girls with flowers is well-founded, assuming the evolutionary benefits of beauty. Furthermore, plants serve as indicators of seasons and of phases of human life. In this connection, it is factually misguided to use the autumnal fall of leaves as a symbol of transience. In contrary, the shedding of leaves is an active strategy, ensuring the tree ’ s survival in winter and its new sprouting in spring. 1 Einführung und Zielsetzung Keimzelle dieser Untersuchung war vor vielen Jahren die Einsicht, wie wenig die zahlreichen Herbstgedichte mit ihrem eindringlich beklagten Laubfall der botanischen Wirklichkeit entsprechen. Gerade der Abwurf der Blätter nämlich stellt das erneute Austreiben der Bäume im nächsten Frühling sicher, weil er sie vor Schneebruch und Vertrocknen schützt. Nun hat zwar jeder die dichterische Freiheit, seine Vanitas-Motive nach Gutdünken zu wählen und den Tod in allen Dingen zu sehen, dennoch halte ich auch poetische Texte dann für schlüssiger, wenn sie nicht frontal mit den Tatsachen kollidieren. Im Folgenden stelle ich daher einige repräsentative Texte einander gegenüber, deren Autoren das wohl verstandene Pflanzenleben kreativ übertragen oder aber es gründlich missverstehen. Aufgrund dieser Fragestellung ist der Beitrag interdisziplinär angelegt. Den Rahmen bildet die Kognitive Linguistik, die durch Analyse sprachlicher Ausdrücke zu erhellen versucht, wie Menschen ihre Welt begrifflich gliedern und beschreiben. Besonders aufschlussreich sind metaphorische Wendungen, die abstrakte und komplexe Zusammenhänge anschaulich und damit leichter verständlich machen sollen. Der linguistische Fachausdruck “ Metapher ” bedeutet wörtlich “ Übertragung ” , nämlich die eines Ausdruck aus seiner konkreten Ursprungsdomäne auf eine abstrakte Zieldomäne. So überträgt die Redewendung “ leeres Stroh dreschen ” das sinnlose Tun des Bauern in abstrakte Bereiche wie die Textproduktion. Im Zentrum der Untersuchung stehen neben alltäglichen Redewendungen ausgewählte Romane und Gedichte, deren Autoren das Pflanzenreich als Ursprungsdomäne gewählt haben. Ein paar griffige Wendungen zu Pilzen werden einbezogen, obwohl sie keine Pflanzen sind. Abschnitt 2 umreißt einleitend, wie stark die menschliche Kultur von der natürlichen Vegetation und den verfügbaren Nutzpflanzen abhängt. Abschnitt 3 untersucht die Pflanzenwelt als Ursprungsdomäne sprachlicher Ausdrücke, deren Bandbreite von punktuellen Übertragungen wie “ Pfirsichhaut ” bis zu komplexen kognitiven Modellen reicht, die etwa Mädchen und Blüten gleichsetzen. In Abschnitt 4 geht es um Saatmetaphern, zu denen neben dem “ fruchtbaren Schaffen ” der Dichter auch die Vorstellung zählt, das gesamte Leben würde im Kosmos gezielt “ ausgesät ” . Abschnitt 5 untersucht die Rolle von Pflanzen als Zeitzeigern, die entweder eine reale Jahreszeit angeben oder die Phasen des Menschenlebens zwischen Kindheit und Tod durch entsprechende Pflanzen kennzeichnen. Eine Schlussbemerkung versucht, den menschlichen Wunsch nach Spiegelung in der Außenwelt zu relativieren. 2 Vegetation und Kultur “ Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde. Geboren werden und sterben, pflanzen und ausreißen, was gepflanzt ist [. . .]. ” Prediger 3,1-2 Da nur Pflanzen, Algen und einige Bakterien Primärproduzenten für Biomasse sind, gäbe es ohne sie keine Tiere und Menschen. Pflanzen erzeugen lebensnotwendigen Sauerstoff und liefern uns Nahrung, Brennstoff, Baumaterial, Fasern, Medikamente und Gifte. Unsere Vorfahren stellten aus Pflanzen lebensnotwendige Gerätschaften wie Werkzeuge, Waffen und Behälter her; später begleiteten Genussmittel wie Tabak, Gewürze und Kaffee den Weg zu kulturell verfeinerten Bedürfnissen (vgl. Schmauks 1997). Da ist es nur angemessen, dass der Ausdruck “ Kultur ” vom lateinischen Wort “ cultura ” (= Landbau, Pflege) abgeleitet ist und daran erinnert, dass die menschliche Kultur im engeren Sinn erst begann, als unsere Vorfahren vom Jagen und Sammeln zu Ackerbau und Viehzucht übergingen. Von der Kohle, die aus Pflanzen früherer Epochen entstanden ist, hängen große Teile unserer heutigen Wirtschaft ab. Die Bionik untersucht Problemlösungen der Evolution daraufhin, inwieweit sie sich technisch nachbauen lassen. So wurde der Klettverschluss tatsächlich von der Klette inspiriert (Patent 1951), während am “ künstlichen Blatt ” zur Energiegewinnung aus Sonnenlicht heute weltweit gearbeitet wird. Wie nahezu alle Objekte lassen sich auch Pflanzen oder deren Teile zu guten oder bösen Zwecken einsetzen. Mit einem abgerissenen Ast kann man Knollen ausgraben oder einen Rivalen erschlagen. Auch gilt grundsätzlich die Warnung des Paracelsus, dass in zu hoher 70 Dagmar Schmauks (Berlin) Dosis alle Dinge zu Giften werden. Er würde gewiss staunen, wie treuherzig die Aussage “ rein pflanzlich ” heute in vielen Werbeanzeigen benutzt wird - ein Verkaufsargument, das ein bereits ein flüchtiger Blick auf starke Giftpflanzen wie den Blauen Eisenhut oder den Rizinusbaum zu entkräften vermag. Spätestens seit Beginn der Industrialisierung lässt sich auch im Bereich der Vegetation die Grenze zwischen Natur (Urwald, Wildnis) und Kultur (Park, Garten) nicht mehr trennscharf ziehen. Falls man von Naturlandschaften fordert, sie dürften gar nicht durch menschliche Eingriffe beeinflusst werden, so gibt es sie heute schon darum nicht mehr, weil Gase und Stäube vom Wind weltweit verdriftet werden. Am wenigsten vom Menschen beeinflusst sind Dschungel, Wüsten, Tundren und Hochgebirge. Diese Landschaftstypen werden oft als “ Wildnis ” bezeichnet, wobei dieser Ausdruck nicht ohne weiteres mit ihrer Auffassung als “ Ökosystem ” vereinbar ist (Kangler und Voigt 2010). Wildnisse im lebensweltlichen Sinn sind Rückzugsgebiete “ naturverbundener ” Lebensweisen und dienen Touristen aus Industrieländern als Orte von Abenteuer und Bewährung. Aber sogar “ undurchdringliche ” Urwälder, “ lebensfeindliche ” Wüsten und “ abweisende ” Hochgebirge werden schließlich doch “ erobert ” , wobei Ausdrücke wie “ jungfräuliche Gipfel ” und “ Erstbesteigung ” aufschlussreiche Querverbindungen nahelegen. Bereits in keltischer Zeit hat der Mensch die ausgedehnten Wälder Mitteleuropas intensiv genutzt, weil er Holz für die Metallbearbeitung brauchte. Seither wurden die Primärwälder zum Teil in Nutzwälder verwandelt, ganz überwiegend aber für Äcker, Viehweiden, Siedlungsflächen und Verkehrswege gerodet. Die Etymologie spiegelt die Ambivalenz dieser Entwicklung, denn “ roden ” ist auch mit “ ausrotten ” verwandt. Heute sind Land- und Forstwirtschaft weitgehend industrialisiert und an Stelle kleinräumig gegliederter Agrarlandschaften sind oft riesige Flächen getreten, die sich effizienter bearbeiten lassen. Während Äcker, Weiden und Nutzwälder vor allem praktischen Nutzen haben, erfüllen Parks, Gärten und Balkonblumen auch ästhetische Bedürfnisse. Interessante “ nachkulturelle ” Landschaften sind die oft riesigen Industrie- und Militärbrachen mit ihrer eigenständigen “ Ruderalvegetation ” (Schäfer 2001) - durch “ Renaturierung ” kann aus ihnen eine “ Natur aus zweiter Hand ” werden. Die Kurische Nehrung ist ein Paradebeispiel für unsere widersprüchliche Auffassung von Natur. Sie entstand vor rund 7.000 Jahren durch Sandanspülungen, wuchs bald zu und blieb bis ins Mittelalter dicht bewaldet. Dann holzten zuerst Angehörige des Deutschen Ordens, später die Armeen des Siebenjährigen Krieges und Kolonisten die Wälder ab. Auf den Kahlschlägen bildeten sich riesige Wanderdünen, die bis zu drei Meter im Jahr vorrückten und zahlreiche Dörfer begruben. Ab etwa 1800 versuchte man zunächst erfolglos, diesen Prozess durch Errichtung einer Vordüne aufzuhalten. Als der vorrückende Sand auch die Fischerei im Haff und die wichtige Poststraße bedrohte, beauftragte Preußen 1870 den Düneninspektor Epha mit neuen umfassenden Sicherungsarbeiten. Jahrzehnte hindurch pflanzte man Kiefern und andere geeignete Bäume innerhalb eng geflochtener Zäune. Diese Aufforstung war so erfolgreich, dass die Nehrung heute wieder weitgehend bewaldet ist. Es verblieben lediglich auf beiden Seiten der russisch-litauischen Grenze einige große Dünen, die zu den beliebtesten Touristenzielen zählen. Über sie lässt sich trefflich streiten: Soll man sie zuwachsen lassen, weil dies ein natürlicher Prozess ist? Oder soll man sie durch Rodung künstlich offenhalten, weil sonst die spektakulären Anblicke verschwinden, die schon die Sommerfrischler des 19. Jahrhunderts priesen? Gewiss wird man sie offenhalten, nur sollte man auf den bis zu 60 Meter hohen Dünen daran denken, dass man (ebenso wie bei Almen Dichter und ihre grünen Daumen 71 und Heidegebieten) eine von Menschen geschaffene Sekundärnatur vor Augen hat, deren Reiz im Aufeinanderprallen von Freiflächen und dichter Vegetation liegt. Insgesamt gibt es also vielfältige und widersprüchliche Umgangsweisen mit Pflanzen, die auf anthropozentrischen Einteilungen und Vorlieben beruhen. Unsere materielle Kultur würde nicht existieren ohne Nutzpflanzen, zu deren Optimierung jeweils modernste Mittel bis hin zur Gentechnik eingesetzt werden. Ferner erfüllen Pflanzen vom Brautstrauß bis zum Grabkranz wichtige symbolische Funktionen. Auf Sportplätzen und in Vorgärten ist makelloser Rasen erwünscht, der intensiver Pflege bedarf. Umstritten sind die früher nützlichen Alleen, da rasante Autofahrer oft an ihnen enden, während das domestizierte “ Straßenbegleitgrün ” positiv bewertet wird. Was von alleine wächst, wird entweder als “ Spontanvegetation ” geduldet oder als “ Unkraut ” bekämpft, wobei die Mittel von großflächiger Brandrodung bis zum Einsatz wirksamer Herbizide reichen. Die extremste absichtliche Vernichtung der Vegetation erfolgt durch Entlaubungsmittel, die erstmals während des Vietnamkriegs allgemein bekannt wurden. Über Wäldern versprüht nehmen sie dem Feind die Deckung, auf Feldern eingesetzt sollen sie ihn langfristig aushungern. Abschließend sei ein Blick auf zwei Strategien geworfen, wo und wie Autoren die von ihnen beschriebene “ Wildnis ” verorten. Um das geistige Unterwegssein im noch Unerschlossenen griffig zu beschreiben, gab Heidegger im Motto zu seinem Sammelband Holzwege (1950) dem Ausdruck “ Holzweg ” eine philosophische Deutung: “ [Holzwege] sind Wege, die meist verwachsen jäh im Unbegangenen aufhören ” . Der grübelnde Philosoph gleicht also einem Wanderer, der einem Holzweg folgt und dabei ins “ Unbegangene ” gerät. Beide müssen also entweder umkehren oder sich weglos vielleicht als Erster durch widerständiges Dickicht kämpfen. Dieses Bild ist soweit recht anschaulich, aber: “ Holzwege ” im forstwirtschaftlichen Sinn führen immer nur zu einem temporären Holzeinschlagsgebiet. Wer ihnen als Wanderer ahnungslos folgt, ist von Anfang an “ auf dem Holzweg ” , also in eine Sackgasse geraten. In seinem Horror-Roman Der Friedhof der Kuscheltiere beschwört Stephen King (1988; vgl. Abschnitt 4.4) immer wieder die geheimnisvollen und gefährlichen “ Indianerwälder ” Maines. Der Leser nimmt also an, sie lägen weit weg von der beschaulichen Kleinstadt Ludlow. Dann jedoch liest er, der Protagonist Louis Creed sei schon nach drei Stunden wieder zu Hause, nachdem er seinen toten Kater bei Nacht durch Nebel, Sumpf, Treibsand und einen Windwurf zu einem magischen Friedhof getragen und dort ohne geeignete Werkzeuge begraben hat. Rechnet man auch nur eine Stunde für diese Mühsal, so liegt das archaische Grauen nur wenige Kilometer hinter Ludlow - wobei diese läppische Entfernung sowohl den Schrecken steigert als auch zum Schmunzeln reizt. 3 Die Pflanzenwelt als Ursprungsdomäne sprachlicher Ausdrücke Dieser Abschnitt soll einen Eindruck davon vermitteln, für wie viele Sachverhalte die Pflanzenwelt als fruchtbare Ursprungsdomäne dient. Zahlreiche sprachliche Ausdrücke beziehen sich auf das Aussehen von Pflanzen (3.1) oder ihre Lebensphasen (3.2). Sobald eine starre Pflanzensymbolik geschaffen wird, tauchen auch bald deren Parodien auf (3.3). Abschließend geht es um die sachliche Basis des beliebten Vergleichs von Mädchen mit Blüten (3.4). 72 Dagmar Schmauks (Berlin) 3.1 Aussehen und Verhalten von Pflanzen “ Der Gerechte blühet der Palme gleich, wie die Zeder im Libanon wächst er empor. ” Psalm 92,13 Blüten, Früchte und andere Pflanzenteile haben oft charakteristische Farben und Formen, welche die Prägung beschreibender Ausdrücke motivieren. Besonders zahlreich sind zusammengesetzte Farbadjektive. l Farbe: lilienweiß, mohnrot, maisgelb, olivgrün, enzianblau, kastanienbraun, ebenholzschwarz l Form: Bananenstecker, Bananenflanke (Fußball), Menschentraube, Atompilz, Stopfpilz l Wuchs: gerade wie eine Tanne, biegsam wie eine Weide Weitere Wendungen bewerten das Aussehen von Menschen oder Landschaften. l attraktiv: Pfirsichhaut, Rosenwangen, Apfelbäckchen, Erdbeermund l unattraktiv: Orangenhaut, welke Haut, Spargeltarzan (= magerer Mann) l Sumpfgewächs (= moralisch anfechtbar) l durch Windräder verspargelte Landschaften Linguistisch wenig ergiebig sind Wendungen, die punktuell die Eigenschaften einer bestimmten Pflanze übertragen. Sie liefern zwar spontan verständliche und einprägsame Bilder, werden aber nicht zu systematischen Modellen ausgebaut. l an jdm. hängen wie eine Klette l sich in die Nesseln setzen l stachlig wie ein Kaktus l empfindlich wie eine Mimose l zittern wie Espenlaub l in den sauren Apfel beißen müssen l Äpfel mit Birnen vergleichen l eine harte Nuss zu knacken haben l Tomaten auf den Augen haben l jdn. ausquetschen wie eine Zitrone Vergleichsweise viele Schimpfwörter für Kleinigkeitskrämer beziehen sich auf kleine Früchte. l Erbsen-, Graupen-, Linsenzähler l Korinthenkacker, Kümmelspalter Auch für menschliche Dummheit liefert die Pflanzenwelt griffige Beschreibungen, wobei es jedoch rätselhaft bleibt, warum ausgerechnet Bohnenstroh so beispielhaft dumm sein soll. l Pflaume, taube Nuss, eine weiche Birne haben l dumm wie Bohnenstroh, nicht alle Rillen auf der Erbse haben l Seerosengießer Dichter und ihre grünen Daumen 73 Wichtige und gut erkennbare Pflanzenteile hingegen motivieren ganze Metapherngruppen und einschlägige Sprichwörter. l auf dem absteigenden Ast sein l den Ast absägen, auf dem man sitzt l auf keinen grünen Zweig kommen l Zweigstelle; Berufs-, Industrie-, Studienzweig l einen dornenreichen Weg gehen, jdm. ein Dorn im Auge sein l sofort zum Kern einer Sache kommen, Kerngedanke l kernfaule Organisation l In einer harten Schale steckt oft ein weicher Kern. l etw. ist die Wurzel allen Übels, das Übel an der Wurzel packen l zurück zu den Wurzeln (= zum Ursprung) gehen Menschen werden am häufigsten mit Bäumen verglichen, weil diese auch langlebige Individuen sind und aufrecht dastehen (Haerkötter und Haerkötter 1989: 17 ff); ihr deutlichstes Gegenbeispiel ist das massenhaft vorhandene Gras (vgl. Abschnitt 5.4). Mensch und Baum haben eine klare vertikale Gliederung und brauchen starke “ Wurzeln ” für einen festen Stand. l fest verwurzelt in der Tradition, dastehen wie angewurzelt l im Alter nicht verpflanzt werden wollen, entwurzelt l Wer hoch wachsen will, muss tief wurzeln. Auch die klar erkennbaren Lebensphasen von Bäumen lassen sich mit denen des Menschen vergleichen. Der junge Mensch ähnelt “ hochstrebenden ” und “ lichthungrigen ” Bäumchen, der alternde sieht sich von morschen Bäumen verwandtschaftlich berührt. In Thomas Manns Erzählung Die Betrogene (vgl. Abschnitt 5.3) bewundert die ältere Witwe Rosalie von Tümmler die Tapferkeit einer alten knorrigen Eiche (Mann 1971: 704). Hat manchen Sturm erlebt und wird noch manchen überleben. [. . .] zu voller Belaubung reicht es nicht mehr. Aber es kommt seine Zeit, da steigen die Säfte ihm doch [. . .]. Einige Mythen führen die Ähnlichkeiten zwischen Menschen und Bäumen sogar auf Verwandlungen zurück (Schmauks 1997: 142 f). So verwandeln die Götter in Ovids Metamorphosen die Nymphe Daphne in einen Lorbeerbaum, um sie vor den Nachstellungen Apolls zu bewahren. Ein Nachklang solcher Vorstellungen ist das Ritual, bei Geburten einen Baum zu pflanzen, dessen Gedeihen oder Verkümmern künftig das Wohlbefinden des Kindes spiegeln soll. Selbst die Philosophie bezieht sich auf die Pflanzenwelt, wenn sie deren Strukturen auf Begriffssysteme überträgt. Traditionelle Systeme nehmen die oberirdischen Teile von Bäumen als Vorbild, so dass sich hierarchisch gegliederte Systeme ergeben. Auf Ideen von Plato und Aristoteles geht der “ Baum des Porphyrius ” zurück, bei dem aus einem Stamm durch binäre Unterteilungen die Äste und Zweige hervorgehen. Zum Beispiel gliedern sich die Lebewesen in nicht-empfindende (= Pflanzen) und empfindende, und diese wiederum in nicht-vernünftige (= Tiere) und vernünftige (= Menschen). Ähnliche “ Baumdiagramme ” finden sich in vielen Bereichen von der Genealogie ( “ Stammbaum ” ) bis zur logischen 74 Dagmar Schmauks (Berlin) Rekonstruktion von Abläufen ( “ Entscheidungsbaum ” ). Ein moderner Gegenentwurf von Deleuze und Guattari lehnt solche binären Hierarchien als zu einfach ab, weil sie keine Überschneidungen und Neustrukturierungen erlauben. Er postuliert ein dichtes Geflecht von Begriffen, das folgerichtig “ Rhizom ” genannt wird wie das Wurzelgeflecht einer Pflanze. Umfangreichere Übertragungen beziehen auch das Verhalten von Pflanzen mit ein; so ist eine “ Großstadtpflanze ” vermutlich lärmresistent und trubelbedürftig. Während Kate Middletons Verlobungszeit mit dem britischen Prinzen William wurden Kate und ihre Schwester Pippa in Boulevardzeitungen oft als “ wisteria sisters ” bezeichnet. “ Whisteria ” ist der botanische Namen des Blauregens - “ wunderschön, überaus wohlriechend und wild darauf, sich hochzuranken ” ( “ highly decorative, terribly fragrant and with a ferocious ability to climb ” , Daily Mail online vom 2. 11. 2008). Gottfried Benn erläutert seine Auffassung absoluter Prosa anhand einer Pflanzenmetapher. In seinem autobiographischen Text Doppelleben nennt er den Montagestil einen “ Orangenstil ” , weil seine Bestandteile nur durch eine gemeinsame Achse verbunden sind (Benn 1968: 1998 f). Eine Orange besteht aus zahlreichen Sektoren, alle gleich, alle nebeneinander, gleichwertig, die eine Schnitte enthält vielleicht einige Kerne mehr, die andere weniger, aber sie alle tendieren nicht in die Weite, in den Raum, sie tendieren in die Mitte, nach der weißen zähen Wurzel, die wir beim Auseinandernehmen der Frucht entfernen. Diese zähe Wurzel ist der Phänotyp, der Existentielle, nichts wie er, nur er, einen weiteren Zusammenhang der Teile gibt es nicht. Während “ Phänotyp ” in der Genetik die Gesamtheit der Merkmale eines Organismus bezeichnet, meint Benn damit viel spezieller “ das Individuum einer jeweiligen Epoche, das die charakteristischen Züge dieser Epoche evident zum Ausdruck bringt ” (ebenda 2009 f). Die Vermehrung von Pflanzen motivierte den auf alle Lebewesen angewendeten Ausdruck “ Fortpflanzung ” , wobei die Strategien vom vitalen Wuchern bis zur gezielten Veredelung durch den Menschen reichen. l Fortpflanzung, Sprössling, Stammhalter l ein Ableger des Unternehmens, ein junges Reis am Stammbaum l ins Kraut schießen (= schnell wachsen) l sich vermehren wie Unkraut l aufschießen wie Pilze nach dem Regen l wachsender Groll überwuchert schöne Erinnerungen l jdm. etw. aufpfropfen (= etw. Fremdes aufzwingen) Die vermeintliche Bewegungslosigkeit von Pflanzen regte die Prägung negativer Ausdrücke an. l am Existenzminimum dahinvegetieren l couch-potato (= fett und faul) Und schließlich werden auch die Strategien der Pflanzenvernichtung kreativ übertragen. l Gerüchte im Keim ersticken l den Wildwuchs zurechtstutzen l etw. mit Stumpf und Stiel ausrotten l Kahlschlag in der Jugendarbeit Dichter und ihre grünen Daumen 75 In umgekehrter Richtung liest man menschliche Handlungen in die Pflanzenwelt hinein. Der Ausdruck “ Pionierpflanzen ” umfasst alle Arten, die als erste unwirtliche Zonen besiedeln und durch ihren Humus nachfolgenden Arten das “ Fußfassen ” ermöglichen. Ähnlich militärisch ist die Rede von “ unbeugsamen ” oder “ tapferen ” Pflanzen als “ Vorposten der Blütenpflanzen ” (Schmauks 1997: 140). Praktisch wichtig ist das Wissen, wie man eine Pflanze leicht und sicher bestimmen kann. Populärwissenschaftliche Bestimmungsbücher enthalten Bilder, die neben der ganzen Pflanze auch besonders charakteristische Teile wie Blüten, Blätter, Früchte oder Rinde zeigen. Diese Funktion bestimmter Pflanzenteile formuliert das Lukasevangelium als Gleichnis, um die Beziehung des Menschen zu seinen Taten zu verdeutlichen. Denn jeder Baum wird an seiner eigenen Frucht erkannt; denn von Dornen sammelt man nicht Feigen, noch liest man von einem Dornbusch Trauben (Lukas 6, 44). Dieselbe Rolle kennzeichnender Teile greift Bertolt Brecht in sozialkritischer Absicht auf. Sein Bäumchen hat “ zu wenig Sonn ” , so dass es gar keine Früchte trägt und sich die Baumart lediglich an seinen Blättern erkennen lässt. Es liegt nahe, den Baum als Symbol eines Menschen zu sehen, dem dürftige Lebensumstände eine “ naturgemäße ” Entfaltung versagen (Brecht 1967: 49). Bertolt Brecht: Der Pflaumenbaum Im Hofe steht ein Pflaumenbaum, Der ist so klein, man glaubt es kaum. [. . .] Dem Pflaumenbaum, man glaubt ihm kaum, Weil er nie eine Pflaume hat. Doch er ist ein Pflaumenbaum: Man kennt es an dem Blatt. 3.2 Die Phasen des Pflanzenlebens “ Die Blumen des Frühlings sind die Träume des Winters. ” Kahlil Gibran Deutlich unterscheidbare Lebensphasen von Pflanzen sind brauchbare Anzeiger der Jahreszeiten (vgl. Abschnitt 5). Alltäglichen Wendungen übertragen vor allem den Dreischritt “ Blühen → Reifen → Welken ” auf das Menschenleben, wobei der Frühling die Zeit des Blühens und der Jugend ist. l eine blühende Phantasie haben, Blütenträume (= Illusionen) l Jugend-, Mädchenblüte; Blütezeit (einer Kultur, Kunstform usw.) l etw. treibt üppige Blüten, ein Geschäft floriert, im Flor stehen (veraltet) l in der Blüte seiner Jahre stehen, Spätblüher l einen zweiten Frühling erleben 76 Dagmar Schmauks (Berlin) Im Sommer reifen die Früchte und die Lebenspläne des Menschen. Das meist reichlich vorhandene Gras, das auch Heu liefert, hebt sich deutlich von selteneren Nutzpflanzen ab (vgl. Abschnitt 5.4). l frühreife Kinder vs. Spätentwickler l unreif, noch grün hinter den Ohren, junges Gemüse l Reifezeugnis, ein Plan reift, sich etw. reiflich überlegen l Geld wie Heu haben (= im Überfluss) l Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht (afrikanisches Sprichwort). Der Herbst ist die Zeit der Ernte, aber auch die von Prozessen wie Verwelken und Laubfall, die oft als Zeichen von Vergänglichkeit eingesetzt werden (vgl. Abschnitt 5.2). l im Herbst seines Lebens stehen Im Winter schließlich ruht die Vegetation, bis sie durch wachsende Tageslänge und steigende Temperaturen wieder “ erwacht ” . Der Ausdruck “ Brache ” hingegen bezeichnet oft eine Ruhezeit von Äckern außerhalb des Winters. In dieser (kürzeren oder längeren) Zeit wird der Boden nicht bestellt, damit er sich erholen kann, oder um bestimmten Tierarten ein Überleben zu ermöglichen. Seit Beginn des Ackerbaus beobachtete der Mensch aufmerksam das Leben seiner Nutzpflanzen und überlieferte seine Erkenntnisse etwa in Bauernregeln. Vor allem die Aussaat wurde eine produktive Ursprungsdomäne, wobei es jedoch manchmal nur um die Art der räumlichen Verteilung geht. l Aufträge streuen (= auf mehrere Firmen verteilen) l Fachkräfte sind dünn gesät Andere Wendungen übertragen den kausalen Zusammenhang zwischen Aussaat und Ernte ausdrücklich auf ein “ Säen ” und “ Ernten ” in abstrakteren Bereichen (vgl. Abschnitt 4). l Gerüchte ausstreuen, Misstrauen (Zweifel) säen l die Saat der Auflehnung verbreiten l Keime des Radikalismus l die Drachensaat geht auf l jdm. die Liebe zur Heimat ins Herz pflanzen l ein Forschungsfeld beackern, Neuland unter den Pflug nehmen Nur kundige Bauern dürfen im Herbst eine gute Ernte einfahren, während andere erfolglos bleiben. l die Früchte seines Fleißes ernten l an verbotenen Früchten naschen l die Spreu vom Weizen trennen l leeres Stroh dreschen, abgedroschene Phrasen Ein bekanntes Sprichwort hingegen stellt fest, man könne trotz erheblicher Dummheit großen Erfolg haben - die Glücksgöttin verteilt ihre Gaben offenbar nach abweichenden Kriterien . . . l Die dümmsten Bauern haben die dicksten Kartoffeln. Dichter und ihre grünen Daumen 77 Zwei komplexere Wendungen sollen belegen, wie produktiv die Phasen der Feldbestellung sind. Das Sprichwort l Wer Wind sät, wird Sturm ernten. verknüpft den kausalen Zusammenhang zwischen Säen und Ernten mit einer Steigerung des Windes zum Sturm. Anders als in der Landwirtschaft sind hier nämlich zwei Personen oder Parteien beteiligt. Der mögliche Angreifer wird also gewarnt, der überfallene Gegner könnte sich mit noch stärkeren Mitteln rächen. In der Psychologie spricht man von der Fähigkeit zum “ Bedürfnisaufschub ” , wenn eine Person gelernt hat, dass ihre Wünsche oft erst später erfüllt werden. Hingegen beschreibt die Wendung l Saatfrucht vermahlen das kurzsichtige Verhalten, vorhandene Reserven sofort zu verbrauchen, anstatt sie für ihren eigentlichen Zweck aufzusparen (vgl. Grober 2013). Für frühe Ackerbauern war es vermutlich eine gewaltige kognitive Leistung, gerade die besten Samen für die nächste Aussaat aufzusparen und nicht als erste aufzuessen (Dawkins 2008: 58 und 557). Andererseits kann natürlich nur der im nächsten Frühling säen, der im Winter nicht verhungert ist . . . Thomas Mann beschreibt mit dieser Wendung in seiner Novelle Der Tod in Venedig die “ Jugendsünden ” des Schriftstellers Aschenbach (Mann 1971: 361). Aschenbach war problematisch, war unbedingt gewesen wie nur irgendein Jüngling. Er hatte dem Geist gefrönt, mit der Erkenntnis Raubbau getrieben, Saatfrucht vermahlen, [. . .] die Kunst verraten [. . .]. “ Saatgut ” ist eine überzeugende Parallelbildung etwa zu “ Bildungsgut ” , “ Kulturgut ” und “ Rechtsgut ” , denn ohne Vegetation wären “ höhere ” Güter gar nicht möglich. Diese Einsicht motivierte unter anderem die Schaffung des Samendepots “ Global Seed Vault ” , das auf Spitzbergen die Samen wichtiger Nutz- und Wildpflanzen archiviert und langfristig aufgewahrt (wobei manche Getreidesorten über 1.000 Jahre keimfähig bleiben). 3.3 “ Blüh wie das Veilchen im Moose ” . Konventionelle Pflanzensymbole und ihre Parodien Pflanzen dienen bei vielen Ritualen als kulturspezifische Symbole, etwa rote Rosen als Liebesgabe (vgl. Abschnitt 3.4) oder “ Trauerpflanzen ” bei Beerdigungen (vgl. Abschnitt 5.4). Im 18. Jahrhundert baute man diese Symbolik zu einer echten “ Blumensprache ” aus, die vielen Pflanzen feste und oft komplexe Bedeutungen zuordnete. Nun mahnte eine Distel “ Des Lebens Poesie geht an Dir spurlos vorüber ” , und die Zahl von Glockenblumen gab die Uhrzeit eines Treffens an (Krampen 1994: 233). Zwar wirkt diese Blumensprache auf heutige Leser weit hergeholt, aber auch wir kennen Symbolpflanzen wie die rote Nelke der Arbeiterbewegung, den vierblättrigen “ Glücksklee ” und das Alpen-Edelweiß als Logo des Deutschen Alpenvereins. Pflanzensymbole sind jedoch immer kultur- und epochenspezifisch. So kann man den roten Mohn mit dem Opiumhandel in Verbindung bringen, an die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs denken (ein bekanntes englisches Gedicht beginnt mit der Zeile “ In Flanders fields the poppies blow ” ) oder ihn als erfreuliches Zeichen einer nicht überdüngten Feldflur sehen. Hinzu kommen personenspezifische Zusammenhänge. So taucht der blaue Enzian in Thomas Manns Roman Der 78 Dagmar Schmauks (Berlin) Zauberberg immer dann auf, wenn Hans Castorp im einem abgelegenen Wiesengrund an Clawdia Chaudat denkt, während der deutsche Schlager ihn mit “ Blau, blau, blau blüht der Enzian ” beträllert (Heino 1972). Mitunter gewinnen auch mythische oder reale Einzelbäume symbolische Bedeutung. Die Weltenesche Yggdrasil der nordischen Mythologie stiftet den Zusammenhalt aller Welten. In der jüdisch-christlichen Schöpfungsgeschichte wird der Baum der Erkenntnis zur Ursache von Sündenfall und Vertreibung aus dem Paradies. Siddharta Gautama gewann seine Erleuchtung unter einer Pappelfeige, die Legenden zufolge als “ Bodhi-Baum ” immer noch durch Ableger existiert. Der heute auf Schloss Ribbeck von Touristen bewunderte Birnbaum hingegen ist das Ergebnis sorgfältiger Nachzüchtung, die durch Theodor Fontanes Gedicht “ Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland ” inspiriert wurde (von Ribbeck: Website). Keineswegs nur auf Pflanzen bezogen ist die schillernde Bedeutung der Farbe Rot zwischen Leidenschaft und Gewalt (Schmauks 2008). Leuchtendes Rot ist in der Natur selten und zieht daher als Signalfarbe immer die Aufmerksamkeit auf sich, etwa wenn Verletzungen stark bluten. Weitere Beispiele reichen von reifen Erdbeeren inmitten grüner Blätter über die aufgerissenen Rachen von bettelnden Nestlingen bis zu den leuchtend roten Gesäßschwielen von Pavianweibchen während ihrer Brunst. Man kann es daher als physiologisch durchaus motiviert ansehen, dass Menschen einander als Zeichen leidenschaftlicher Liebe rote Rosen schenken. Ein interessanter Sonderfall verschränkt Pflanzen- und Namenssymbolik. Als sich Effi Briest in Fontanes gleichnamigem Roman mit dem Landrat Geert von Innstetten verlobt, wagt ihr Vater eine botanische Allegorie: “ Geert, wenn er nicht irre, habe die Bedeutung von einem schlank aufgeschossenen Stamm, und Effi sei dann also der Efeu, der sich darum zu ranken habe ” (Fontane 1985: II, 447). Wie häufig weist ihn seine Frau zurecht: “ Briest, sprich was du willst, und formuliere deine Toaste nach Gefallen, nur poetische Bilder, wenn ich bitten darf, laß beiseite, das liegt jenseits deiner Sphäre ” . Wie leicht die unkritische Suche nach Symbolen in der Natur aufs Glatteis zu führen vermag, veranschaulicht Robert Gernhardt in vollendeter Form (Gernhardt 2009: 13). Robert Gernhardt: Lehrmeisterin Natur Vom Efeu können wir viel lernen: er ist sehr grün und läuft spitz aus. Er rankt rasch, und er ist vom Haus, an dem er wächst, schwer zu entfernen. Was uns der Efeu lehrt? Ich will es so umschreiben: Das Grünsein lehrt er uns. Das rasche Ranken. Den spitzen Auslauf und, um den Gedanken noch abzurunden: auch das Haftenbleiben. Eilers folgert: “ Der Mensch kann vom Efeu gar nichts lernen. Das vermeintliche Sinngedicht über den Symbolgehalt der Natur endet mit der Aufdeckung der Absurdität des Vergleichs ” (Eilers 2011: 445). Sobald ein symbolischer Bezug immer konventioneller, also gar nicht mehr individuell gesehen wird, tauchen auch bald Parodien auf. Dies lässt sich einprägsam am Beispiel der Linde zeigen, die durch viele Jahrhunderte besungen wurde. Walter von der Vogelweide führt den Reigen mit einem seiner “ Mädchenlieder ” (um 1200) an, in dem ein verliebtes Mädchen Dichter und ihre grünen Daumen 79 von einer Liebesbegegnung am Waldesrand erzählt: “ Under der linden an der heide, dâ unser zweier bette was . . . ” Früher versammelten sich die Menschen abends unter der Dorflinde zum Plausch, Liebespaare schnitten ihre Namen in die Rinde, und Friedrich Hebbel leitet in seinem Gedicht Linde den Namen des Baumes vom “ linden Duft ” seiner Blüten ab. Heute noch bekannt ist ein Gedicht aus dem Zyklus Die Winterreise von Wilhelm Müller (1823). Es wurde von Franz Schubert vertont und von Thomas Mann in seinem Roman Der Zauberberg mehrfach an entscheidenden Stellen zitiert. Am Brunnen vor dem Thore Da steht ein Lindenbaum: Ich träumt ’ in seinem Schatten So manchen süßen Traum. Ebenso beliebt ist ein Volkslied von Anton Wilhelm von Zuccalmaglio (1840). Kein schöner Land in dieser Zeit, als hier das unsre weit und breit, wo wir uns finden wohl unter Linden zur Abendzeit. Gottfried Benn greift das Motiv der Linde in einem Brief an F. W. Oelze vom 10. 9. 1936 auf. Anlässlich des Nürnberger Parteitages beklagt er, wie sehr die Nationalsozialisten die Kunst für politische Zwecke nutzen: “ Der deutsche Baum ist die Linde: süss, innig u. man kann Thee draus kochen ” (Benn 1979: 145). Fast dieselbe Formulierung findet sich im Prosatext Weinhaus Wolf, einer verbitterten Abrechnung mit dem Nationalsozialismus: “ An ihren Metaphern sollt ihr sie erkennen! [. . .] ja die Linde ist ihr Baum: süß, innig und man kann Tee daraus kochen. ” (Benn 1968: 1314). Diese Verhöhnung entspricht formal der beliebten “ Dreierregel ” (Vorhaus 2001: 162 ff): Nach zwei verwandten Ausdrücken, die ein bestimmtes Wortfeld eröffnen, bezeichnet der dritte Ausdruck etwas ganz Anderes, oft völlig Entgegengesetztes, und verletzt so die Erwartungen des Lesers. Ziel des Autors ist oft eine geistreich verpackte Aufklärung wie hier, wo Benn der kitschigen Süße der Lindenblüte ihre banale Nutzung entgegenstellt. 3.4 Im Schatten junger Mädchenblüte. Der evolutionäre Nutzen von Schönheit “ Die Ros ’ ist ohn ’ Warum, sie blühet weil sie blühet. Sie acht ’ t nicht ihrer selbst, fragt nicht, ob man sie siehet. ” Angelus Silesius Die zitierten Verse aus dem Cherubinischen Wandersmann können als Lob der Schöpfung gelesen werden, deren Schönheit in der Rosenblüte aufscheint, aber auch Mahnung an den Menschen, der oft auf Wirkung aus ist. Die Behauptung jedoch, für die Rose sei Gesehenwerden unwichtig, greift deutlich zu kurz. Denn obwohl Blütenpflanzen nicht bewusst ihre wahrnehmbare Erscheinung gestalten, spielt diese doch eine entscheidende Rolle bei ihrer 80 Dagmar Schmauks (Berlin) Fortpflanzung. Alle Pflanzen, die nicht vom Wind bestäubt werden, locken durch auffällige Farben, Formen und Gerüche geeignete Bestäuber an - vor allem Insekten, aber auch Vögel und Fledermäuse. Da sich also diese Eigenschaften zunächst nur in Ko-Evolution mit Bestäubungstieren entwickelt haben, versteht es sich keineswegs von selbst, dass auch wir viele Pflanzen als “ schön ” empfinden. Seit der Antike griff der Mensch dann züchterisch ein, und heute wechseln die Trendfarben von Zierpflanzen ähnlich wie die von Kleidung. Der häufige Vergleich von Mädchen mit Blumen ist sachlich gut begründet, denn bei beiden hat die Schönheit denselben evolutionären Zweck: Sie soll Bestäubungstiere bzw. Männer anlocken und somit die nächste Generation sicherstellen (Schmauks 2008: 124 f). In einem traditionellen patriarchalischen Weltbild ist es dann auch schlüssig, eine voreheliche Entjungferung als Blumenpflücken zu beschreiben wie in Goethes Gedicht vom Heideröslein. Abgebrochene Blüten entwickeln keine Früchte und vorehelich geschwängerte Mädchen gebären keine legitimen Erben. Goethe kennt diesen Zusammenhang sehr klar, denn während sich sein Heideröslein vergeblich gegen seinen Angreifer wehrt und einen “ sozialen Tod ” erleidet, appelliert im Gedicht Gefunden das namenlose “ Blümlein ” erfolgreich an die Großmut des Ich-Erzählers und wird von ihm in seinen Garten “ verpflanzt ” . Auch Eigennamen spiegeln Ähnlichkeiten zwischen Mädchen und Blumen. Die jungfräuliche römische Göttin Flora hat dem gesamten Pflanzenreich ihren Namen gegeben, und in vielen Sprachen tragen Mädchen die Namen besonders schöner oder wohlriechender Pflanzen wie “ Erika ” , “ Jasmin ” , “ Violetta ” (= Veilchen) oder “ Marigold ” (= Ringelblume). Allerdings ist als Kehrseite dieser Gemeinsamkeit jede jugendliche Schönheit schnell vergänglich. Blüten verwelken (und werden daher gern auf Bildern “ verewigt ” ), und für das derzeit herrschende menschliche Schönheitsideal gilt das natürliche Altern als höchst unerwünschter Prozess, der durch vielerlei aufwändige “ Anti-Aging ” -Maßnahmen zumindest verlangsamt werden soll. Eine recht uncharmante Parodie der Blumenmetapher verwendet Heinrich Heine in seinem Gedicht Alte Rose. Eine Rückschau berichtet, wie ein schönes Mädchen zu “ voller Blüte ” aufschoss und das Werben des Dichters hochmütig ablehnte. Nun ist die damals Angebetete “ verwelkt ” und umwirbt umgekehrt ihren einstigen Verehrer. Der aber sieht nun ganz neue Ähnlichkeiten zwischen Frau und Rose (Heine 1991, Bd. 3/ 1: 104). Sticht mich jetzt etwa ein Dorn, Ist es an dem Kinn der Schönen. 4 Saatmetaphern “ Sehet die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht [. . .], und euer himmlischer Vater nährt sie doch. ” Matthäus 6,26 Der klassische Ackerbau hat etwas Geheimnisvolles: Man versenkt winzige Samen in der Erde, aus denen in absehbarer Zeit nützliche Pflanzen wachsen. Ein interessanter Vorläufer sind die Pilzgärten der Blattschneiderameisen, die arbeitsteilig errichtet und betreut werden. Die Ameisen zerkauen Blätter zu einem nahrhaften Substrat, in dem das Pilzgeflecht wächst und von den Ameisen ständig gesäubert wird. Dichter und ihre grünen Daumen 81 Nach einem Blick auf die Rolle des Bodens (4.1) geht es zunächst um Metaphern, welche die Textproduktion mit dem Tun des Sämanns vergleichen (4.2). Eine früher häufige Vorstellung sah in der Erdbestattung eine Form des Säens (4.3), und eine kosmologische These behauptet gar, das Leben auf allen Himmelskörpern entstehe durch die gezielte Aussaat von Keimen (4.4). 4.1 Die Rolle des Bodens Die biologische Lesart des Ausdrucks “ Boden ” bezeichnet die oberste und oft nur sehr dünne Schicht der Erdkruste. Sobald sie hinreichend verwittert und nährstoffreich ist, bildet sie die Lebensgrundlage zahlreicher Arten. Tiefgründige Böden mit hohem Humusanteil sind besonders fruchtbar und gehen oft in metaphorische Wendungen ein. l ein Nährboden für radikale Thesen l fruchtbare Diskussionen, ertragreiche Zusammenarbeit l ersprießliche Verhandlungen Das Gegenteil fruchtbarer Böden sind Wüsten, Sümpfe und Dschungel sowie Gebiete, die der Mensch durch Rodung oder Überweidung unfruchtbar gemacht hat. l eine Diskussion versandet, jdn. mit dürren Worten abspeisen l Servicewüste, eine Oase in der Kulturwüste l Korruptionssumpf, Spendensumpf l Paragraphendschungel, ein Dickicht von Floskeln l ein Thema ist abgegrast, Kahlschlagpolitik 4.2 Fruchtbares Schaffen. Der Dichter als Sämann Dem Markusevangelium zufolge erinnert Jesus daran, dass viele Saatkörner auf steiniger Erde verdorren oder von Vögeln gefressen werden, während andere vielfältige Frucht tragen (Markus 4, 1 - 8). Auf Nachfragen hin macht er sein Gleichnis deutlicher: “ Der Sämann sät das Wort ” (ebenda 4, 14). Nur wenn das Herz des Hörenden “ tiefgründig ” ist und der Satan die Keime nicht zerstört, trägt die Lehre Frucht, führt also zu christlichem Handeln (ebenda 4, 15 - 20). Schiller überträgt diesen Zusammenhang in einem seiner Gedankengedichte (1795) auf das dichterische Schaffen (Schiller 1993, Bd. 1: 233). Friedrich von Schiller: Der Sämann Siehe, voll Hoffnung vertraust du der Erde den goldenen Samen Und erwartest im Lenz fröhlich die keimende Saat. Nur in die Furche der Zeit bedenkst du dich Taten zu streuen, Die von der Weisheit gesät still für die Ewigkeit blühn? Auch Gottfried Benn benutzt die Saat-Metapher häufig. So würdigt er im autobiographischen Text Doppelleben seinen langjährigen Briefwechsel mit dem Bremer Kaufmann F. W. Oelze: “ vieles von dem, was in meinen neuen Büchern steht, fand sich als Keim und Setzling in unseren schriftlichen Gesprächen ” (Benn 1968: 2036). Botanisch unverständlich ist die Redeweise, ein Dichter würde “ Keime legen ” oder “ Keime streuen ” , da ein Sämann ja Saatkörner und keine Keime in die Erde einbringt. Bereits 82 Dagmar Schmauks (Berlin) gekeimte Saat wächst nicht an, schon gar nicht, wenn man sie ungezielt “ ausstreut ” . Möglich ist lediglich das sog. “ Pikieren ” oder “ Vereinzeln ” , bei dem man von zu dicht stehenden Keimlingen einen Teil verpflanzt. Die Wendung des Keime-Legens findet sich etwa in Heinrich Manns Laudatio zum 60. Geburtstag von Gerhart Hauptmann: “ Wer wirkt, frage niemals auf wen. Genug, daß er Keime legt ” (Mann 1922: 7). Diese Aussage zitiert Benn wiederum in erweiterter Form in seinem Text Heinrich Mann zum sechzigsten Geburtstag (Benn 1968: 701). Wer wirkt, frage niemals auf wen. Genug, daß er Keime legt. Sie verbreiten sich, indes er vielleicht zweifelt. Sie treiben - sieh, sie treiben schon in würdigeren Herzen. Im Vortrag “ Soll die Dichtung das Leben bessern? ” formuliert Benn noch einprägsamer, aber ebenso unrichtig (ebenda 1157). Die Dichtung bessert nicht, aber sie tut etwas viel Entscheidenderes: sie verändert. [. . .] Sie bringt ins Strömen, wo es verhärtet und stumpf und müde war, in ein Strömen, das verwirrt und nicht zu verstehen ist, das aber an Wüste gewordenen Ufer Keime streut, Keime des Glücks und Keime der Trauer, das Wesen der Dichtung ist Vollendung und Faszination. Sachlich wäre im Hinblick auf dieses “ Strömen ” zu ergänzen, dass die schwimmfähigen Samen tropischer Bäume gerade durch Flüsse weit stromab verbreitet werden. Botanisch unklar bleibt auch das Gedicht Aprèslude, in dem Benn den alternden Dichter mit einem Baum vergleicht (ebenda 326). Niemand weiß, wo sich die Keime nähren, niemand, ob die Krone einmal blüht - Halten, Harren, sich gewähren Dunkeln, Altern, Aprèslude. Der Plural “ die Keime ” kann sich nur auf zahlreiche Keime beziehen, die sich nicht alle zu Bäumen entwickeln, während “ die Krone ” nur einen Baum nennt. Der Leser darf also rätseln: Meint Benn mit “ die Keime ” vielleicht “ die Wurzeln ” , die Nährstoffe aus dem Boden saugen? 4.3 Die Erdbestattung als Säen von Leichen für eine Ernte im Himmel Einer transzendenten Ausweitung des Saat-Gedankens zufolge werden bei der Erdbestattung Leichen “ gesät ” , damit Gott sie im Himmel “ ernten ” kann (was auch als Einwand gegen die Feuerbestattung diente). “ Gottesacker ” bezeichnete ursprünglich einen Begräbnisplatz in den Feldern, “ Friedhof ” hingegen den umfriedeten Platz rund um eine Kirche. Im ersten Korintherbrief beschreibt Paulus dieses Säen und betont, wie sehr sich irdische und himmlische Leiber unterscheiden (1 Kor 15, 42 - 44). Gesät wird in Vergänglichkeit, auferweckt wird in Unvergänglichkeit; gesät wird in Ehrlosigkeit, auferweckt wird in Herrlichkeit; gesät wird in Schwachheit, auferweckt wird in Kraft; gesät wird ein seelischer Leib, auferweckt ein geistlicher Leib. Friedrich von Schiller greift diesen Gedanken im Lied von der Glocke auf (Schiller 1993, Bd. 2: 233). Dichter und ihre grünen Daumen 83 Dem dunkeln Schoß der heil ’ gen Erde Vertrauen wir der Hände Tat, Vertraut der Sämann seine Saat Und hofft, daß sie entkeimen werde Zum Segen, nach des Himmels Rat. Noch köstlicheren Samen bergen Wir trauernd in der Erde Schoß Und hoffen, daß er aus den Särgen Erblühen soll zu schönerm Los. Viele heutige Leser dürfte das “ Leichen-Säen ” befremden, weil es Bilder unterirdischer Verwesung weckt - schließlich wird die Feuerbestattung oft auch deshalb bevorzugt, weil sie den Leichnam in optisch und hygienisch unbedenkliche Asche verwandelt. Eine weitere Querverbindung besteht zum Fachausdruck “ Body Farm ” . Er bezeichnet Flächen, auf denen die Leichen von Körperspendern in kontrollierten Umgebungen wie Hohlraum, Gebüsch oder offenes Gelände untergebracht werden, damit Wissenschaftler die Gesetzmäßigkeiten der Verwesung studieren können. 4.4 Teuflische Saat Horror-Texte bemühen gern die Metapher der Aussaat, um die naturgesetzliche und damit unabwendbare Herkunft des Bösen zu betonen. Filme wie The Bad Seed/ Böse Saat (Mervyn LeRoy 1956) und Inseminoid/ Samen des Bösen (Norman J. Warren 1981) stellen diese Überzeugung bereits in ihren Titeln klar. Eine makabre Travestie dieses Saat-Gedankens enthält Stephen Kings Horror-Roman Der Friedhof der Kuscheltiere (1988). Tiere und Menschen, die auf diesem Friedhof begraben werden, stehen schrecklich verwandelt wieder auf und verstören die Lebenden durch befremdliches Verhalten. Die Handlung beschreibt wenige Monate, nachdem Louis und Rachel Creed mit ihren Kindern und Kater Church nach Maine umgezogen sind. Als Church stirbt, begräbt Louis ihn auf einem alten Indianerfriedhof und der Kater taucht nur mäßig verändert wieder auf. Dies ermutigt Louis, auch seinen kleinen Sohn Gage dort zu begraben, nachdem dieser von einem Lastwagen überfahren wurde. Im schaurigen Finale kämpfen die wiedergekehrten Toten mit den Lebenden, bis nur noch die Tochter Ellie lebt. Schon beim ersten gemeinsamen Besuch des Tierfriedhofs stellt der neue Nachbar Jud Crandall lakonisch fest: “ Steiniger Boden [. . .]. Hier kann man wohl ohnehin nichts pflanzen als Leichen ” (45). Diese lakonische Aussage wird in den emotionalen Bereich übertragen und wie ein unheimlicher Refrain immer wieder geäußert, während sich die Handlung zuspitzt. Zunächst röchelt der sterbende Student Victor Pascow: “ Der Acker im Herzen eines Mannes ist steiniger. Ein Mann bestellt ihn . . . und lässt darauf wachsen, was er kann ” (79), wenig später wiederholt Jud diese Feststellung fast wörtlich (155). Von nun an gehen Louis bei jedem neuen Schrecken diese Worte durch den Kopf, nämlich als Church eine Krähe zerfetzt (211), nachdem Crandalls Frau gestorben ist (242), als er die “ Auferstehung ” seines Sohnes Gage plant (285) und nachdem er sie vollendet hat (421). 84 Dagmar Schmauks (Berlin) 4.5 Kosmische Saat Die umfassendste Ausweitung der Saat-Metapher trägt den Namen “ Panspermie ” (= All- Saat). Schon der griechische Naturforscher Anaxagoras vermutete im 5. Jahrhundert v. Chr., die Welt sei von Anfang an voller Samen von allem gewesen, aus denen durch Zusammenballung gleichartiger Bestandteile auch Lebewesen entstanden (Capelle 1968: 260 ff). Eine moderne und viel speziellere Theorie behauptet, das Leben würde absichtlich und gezielt im All verbreitet. Francis Crick (1960) zufolge wird diese interstellare “ Aussaat ” von Außerirdischen gelenkt, die den Menschen technisch weit überlegen sind und einen Satz von “ Lebenssporen ” auch auf die Erde geschickt haben. Auf eine viel spätere kulturelle Entwicklung zielt Erich von Dänikens Annahme, viele Zeugnisse früher Hochkulturen seien von Außerirdischen geschaffen worden. In Büchern wie Aussaat und Kosmos (1972) sieht er alle fruchtbaren Planeten als Ackerflächen, auf denen (bemerkenswert altruistische) Außerirdische die materiellen und spirituellen Samen einer Kultur einpflanzen und deren Wachsen auch weiterhin fürsorglich im Auge behalten. Alle diese Theorien sind kaum widerlegbar, vor allem wenn man annimmt, dass die Außerirdischen ihre Spuren sorgfältig verwischen, um den gesäten Kulturen eine ungestörte Entwicklung zu ermöglichen. Ferner verlagern sie die grundsätzliche Frage, wie das Leben entstanden ist, nur in eine gar nicht mehr überprüfbare räumliche und zeitliche Ferne. 5 Dichter als Phänologen. Pflanzen als Zeitzeiger Ein kundiger Betrachter kann Pflanzen in vielerlei Hinsicht als Anzeichen “ lesen ” (Schmauks 1997: 136 ff). Die an einem Ort wachsenden Pflanzengesellschaften informieren nicht nur über Höhenlage, Temperatur- und Lichtverhältnisse, Feuchtigkeit und Bodenart, sondern lassen auch frühere Ereignisse wie Lawinenabgänge oder ehemalige Almwirtschaft noch erkennen (vgl. Ringler 2009 für den Beispielraum Alpen). Aus Form und Duft einer Blüte lässt sich darauf schließen, welche Tiere sie bestäuben. Sogar die Blätter von Laubbäumen sehen nicht überall gleich aus, sondern sind in wärmeren Gegenden als Schutz gegen Wasserverlust schmaler und glattrandiger (Coombes 2012). Während diese Zusammenhänge eher Botaniker interessieren, sind Pflanzen als Zeitzeiger allgemein bekannt. Die vier Jahreszeiten der gemäßigten Breiten beginnen jeweils an astronomischen Fixpunkten, nämlich den Sonnenwenden und Tag-und-Nacht-Gleichen. Die Phänologie hingegen verwendet als Fixpunkte bestimmte Ereignisse im Pflanzenreich und gewinnt so eine viel feinere regionale Gliederung in zehn Jahreszeiten. So beginnt der Vorfrühling mit der Blüte des Schneeglöckchens, der Frühsommer mit der Holunderblüte und der Vollherbst mit dem Reifen der Rosskastanie. Mitunter werden die phänologischen Jahreszeiten praktisch wichtig, so informieren im Herbst Neuenglands alle Medien die Touristen darüber, wo die beeindruckende Laubfärbung ( “ foliage ” ) gerade ihren Höhepunkt erreicht. Jahreszeitliche Rhythmen werden von Dichtern häufig beschrieben, wobei dieser Abschnitt sich auf vier Aspekte konzentriert. Zunächst geht es um die “ Bewegung ” des Frühlings im geographischen Raum (5.1). Wenn das Aufblühen bestimmter Blumen oder Reifen bestimmter Früchte eine bestimmte Jahreszeit kennzeichnet, vermag ihre Nennung den Text in der Lebenswelt des Lesers zu verankern (5.2). Eine speziellere Metapher projiziert Dichter und ihre grünen Daumen 85 das Menschenleben in ein Jahr, so dass die Jugend dem Frühling und das Alter dem Herbst entspricht, wobei sich der Mensch in den jeweiligen Blumen gespiegelt sieht (5.3). Schließlich wird das Pflanzenleben auch als Zeichen entweder für Vergänglichkeit oder aber Wiedergeburt benutzt (5.4). 5.1 “ Hasch mich, ich bin der Frühling ” . Das Fortschreiten des Frühlings im Raum Macht man den Frühlingsbeginn am Beginn der Apfelblüte fest, so kann man auf einer Landkarte alle Orte verbinden, an denen sich die Blüten am gleichen Tag öffnen. Diese Linienscharen heißen in der Kartographie “ Isolinien ” und machen anschaulich, wie der Frühling mit steigender Tageslänge und Temperatur fortschreitet. In Europa beginnt er im Südwesten Portugals und legt auf seinem Weg nach Nordosten täglich rund 40 Kilometer zurück. Im Gebirge beginnt der Frühling in den Tälern und bewegt sich die Hänge hinauf, deshalb zieht das Weidevieh im Frühling auf die Hochalmen und kehrt im Herbst ins Tal zurück. Der “ Osterspaziergang ” in Goethes Tragödie Faust I belegt, wie sich diese Tatsachen sehr präzise darstellen und zugleich mit der alten Vorstellung eines personifizierten Winters parallel führen lassen, der sich in größere Höhen zurückzieht und erfolglose Rückzugsgefechte versucht (Goethe 1964: 31 f). Vom Eise befreit sind Strom und Bäche Durch des Frühlings holden, belebenden Blick, Im Tale grünet Hoffnungsglück; Der alte Winter, in seiner Schwäche, Zog sich in rauhe Berge zurück. Von dort her sendet er, fliehend, nur Ohnmächtige Schauer körnigen Eises In Streifen über die grünende Flur. Ganz ähnlich stellt Jens Peter Jacobsen in seinem Roman Niels Lyhne sehr poetisch dar, wie die herabstürzenden Schmelzwasser den Blüten im Tal den Frühling verkünden wollen, obwohl er dort schon längst angekommen ist (Jacobsen ca. 1910: 120). Um sie herum feierte der Frühling sein schönheitsschwangeres Fest. [. . .] Hundert kleine Bergströme stürzten kopfüber in das Tal hinab, um zu melden, das der Frühling gekommen sei, und sie kamen alle zu spät, denn wo sie zwischen grünen Ufern dahinflossen, standen die Primeln in Gold und die Veilchen in Blau und nickten: wir wissen es, wir wissen es, wir haben es vor dir vernommen! Während Goethe und Jacobsen die Natur sehr genau beobachten und beschreiben, steht das Gedicht Frühling von Hermann Hesse in äußerstem Gegensatz zu den Tatsachen. Hesse lässt den personifizierten Frühling von den Gipfeln herab ins Tal schreiten - wobei auch das Verb “ aufquellen ” anfechtbar ist, da es angesichts zarter Blüten seltsam unappetitlich klingt und im Hinblick auf Vogellieder gänzlich abwegig ist (Hesse 2002, Bd. 10: 144). Wieder schreitet er den braunen Pfad Von den stürmeklaren Berge nieder, Wieder quellen, wo der Schöne naht, Liebe Blumen auf und Vogellieder. 86 Dagmar Schmauks (Berlin) 5.2 Pflanzen als Anzeiger der Jahreszeit Naturverbundene Menschen warten oft sehnsüchtig auf die ersten Frühlingsboten oder das Aufblühen ihrer Lieblingspflanzen. Durch Erwähnung solcher Zeitzeiger können Dichter also ihre Aussagen klar und einfach in der Erfahrung ihrer Leser verankern. So nennt Gottfried Benn bekannte Blütenpflanzen ganz bewusst in zeitlicher Reihenfolge (Benn 1968: 325). Gottfried Benn: Letzter Frühling Nimm die Forsythien tief in dich hinein und wenn der Flieder kommt, vermisch auch diesen mit deinem Blut und Glück und Elendsein, dem dunklen Grund, auf den du angewiesen. Langsame Tage. Alles überwunden. Und fragst du nicht, ob Ende, ob Beginn, dann tragen dich vielleicht die Stunden noch bis zum Juni mit den Rosen hin. Auch in anderen Gedichten verwendet Benn bestimmte Blüten oder Früchte als Anzeiger der Jahreszeit. l Frühling: “ Blüht nicht zu früh, ach blüht erst, wenn ich komme ” (März. Brief nach Meran, ebenda 291). l Hochsommer: “ Astern - schwälende Tage, alte Beschwörung, Bann ” (Astern, ebenda 174). l Herbst: “ Ebereschen - noch nicht ganz rot, von jenem Farbton, wo sie sich entwickeln zu Nachglut, Vogelbeere, Herbst und Tod ” (Ebereschen, ebenda 324). Ähnlich einprägsame Beispiele finden sich im Roman Der Zauberberg von Thomas Mann. Im Juni trifft Hans Castorp in einem Sanatorium bei Davos ein und erlebt die unklar geschiedenen Jahreszeiten des Hochgebirges. Noch der Oktober bringt so sonnige Tage, dass man das Nahen des Winters nur an den Wiesenblumen erkennen kann: “ Nur noch der Enzian, die kurzaufsitzende Herbstzeitlose waren zu sehen und gaben Bescheid über eine gewisse innere Frische der oberflächlich erhitzten Atmosphäre [. . .] ” (Mann 1967: 240). Im nächsten Juni jährt sich Castorps Aufenthalt und er sieht dieselben Blumen, mit denen sein Vetter ihn zur Ankunft begrüßte: “ Schafgarbe und Glockenblumen - ein Zeichen für ihn, daß das Jahr in sich selber lief ” (ebenda 389). Im folgenden Herbst erlebt Castorp den Wechsel der Vegetation noch bewusster (ebenda 448). Das Rad schwang. Der Weiser rückte. Knabenkraut und Akelei waren verblüht, die wilde Nelke ebenfalls. Die tiefblauen Sterne des Enzian, die Herbstzeitlose, blass und giftig, zeigten sich wieder im feuchten Grase [. . .]. 5.3 Pflanzen als Anzeiger der Lebenszeit Zwei gebräuchliche und eng verwandte Metaphern projizieren das gesamte Menschenleben in einen leichter überschaubaren Zeitraum. Wählt man als Ursprungsdomäne einen irdischen Tag, so entstehen Wendungen wie “ Mittag des Lebens ” und “ Lebensabend ” , Dichter und ihre grünen Daumen 87 während die Wahl eines Kalenderjahres Ausdrücke wie “ Jugendblüte ” und “ Herbst des Lebens ” motiviert (vgl. Abschnitt 3.2). So führt Lenau in seinem Gedicht Herbst sehr gezielt Menschenleben und Jahreszeiten parallel (Lenau 1969: 59). Und mir verging die Jugend traurig, Des Frühlings Wonne blieb versäumt, Der Herbst durchweht mich trennungsschaurig, Mein Herz dem Tod entgegenträumt. Interessanter werden solche Vergleiche bei unklaren Fällen und Abweichungen vom konventionellen Ablauf. So vermag die Herbstzeitlose, die dem Krokus ähnelt, die Verflechtungen von Leben und Tod zu illustrieren. In Thomas Manns Erzählung Die Betrogene erlebt die ältere Witwe Rosalie von Tümmler mit dem jungen Englischlehrer ihres Sohnes einen “ zweiten Frühling ” . Sie sieht ihre mädchenhafte Verliebtheit trotz vorgerückten Alters in der Ähnlichkeit von Frühlings- und Herbstpflanzen gespiegelt, als sie die ersten Krokusse sieht (Mann 1971: 740). Ist es nicht merkwürdig [. . .], wie er der Herbstzeitlose gleicht? Es ist ja so gut wie dieselbe Blume! Ende und Anfang - man könnte sie verwechseln, so ähneln sie einander, - könnte sich in den Herbst zurückversetzt meinen beim Anblick des Krokus und an den Frühling glauben, wenn man die Abschiedsblume sieht. Während sich für Rosalie die Jahreszeiten vermischen, verschwimmt im Zauberberg sogar die Grenze zwischen unbelebter und belebter Natur. Im Frühling erleben Castorp und sein Vetter angesichts einer vermeintlichen Schneefläche eine “ märchenhafte ” Überraschung (Mann 1967: 384). [. . .] sie beugten sich staunend darüber, - das war kein Schnee, es waren Blumen, Schneeblumen, Blumenschnee, kurzstielige kleine Kelche, weiß und weißbläulich, es war Krokus [. . .], millionenweise dem sickernden Wiesengrunde entsprossen. 5.4 Sterblichkeit und Wiedergeburt. Pflanzen als Todes- und Lebenssymbole Pflanzen sind zwar die Grundlage der Tier- und Menschenwelt, aber auch selbst sterblich wie alle Lebewesen. Während manche Zierpflanzen viele Generationen menschlicher Besitzer überleben, werden andere zum baldigen Verbrauch gezüchtet wie die “ Wegwerftöpfe ” als Tischdekoration. Ferner ist zu unterscheiden zwischen schnell welkenden Blüten und der ganzen Pflanze, die immer wieder neu austreiben kann. Je nachdem, welche Aspekte man in den Vordergrund rückt, werden Pflanzen zu Symbolen für Vergänglichkeit und Tod oder aber für Unsterblichkeit bzw. Auferstehung. Vor allem langlebige Bäume sind kraftvolle Lebenssymbole. Ein Mann soll traditionell “ Ein Kind zeugen, ein Haus bauen und einen Baum pflanzen ” , und auch zu offiziellen Anlässen wie einem Vertrag pflanzt man Gedenkbäume. Andererseits wird der herbstliche Laubfall in vielen bekannten Gedichten als Symbol für Vergänglichkeit benutzt - eine Bedeutung, die dieser Abschnitt relativieren soll. Sachlich gesehen ist der Laubfall gemäßigter Zonen keineswegs eine passiv erlittene Gewalttat, die den Baum seiner Blätter “ beraubt ” , sondern eine aktive und sehr raffinierte Schutzmaßnahme gegen die drohenden Gefahren des Winters. Sinkende Temperaturen und 88 Dagmar Schmauks (Berlin) abnehmende Tageslängen lösen einen Prozess aus, der den Blättern die Nährstoffe entzieht und sie im Inneren des Baumes für den nächsten Frühling speichert. Das Abwerfen der Blätter bewahrt den Baum vor Schneebruch und Austrocknung durch Verdunstung, er gewährleistet also ein erneutes Austreiben im Frühling. Bei Buchen etwa sieht man sogar an den Sollbruchstellen der Blattstiele bereits im Herbst die neuen Knospen. Für den Menschen steht der Laubfall im Schnittbereich von zwei völlig verschiedenen Zeitvorstellungen (Schmauks 2010). Unsere Vorfahren orientierten sich zunächst wie alle Lebewesen an natürlichen Rhythmen, nämlich der täglichen scheinbaren Sonnenbewegung, den Mondphasen und den Jahreszeiten, die wiederum das Verhalten von Pflanzen und Tieren beeinflussen. Diesen zyklischen Abläufen stehen lineare gegenüber, nämlich die Evolution, die Menschheitsgeschichte und vor allem das individuelle Leben zwischen Geburt und Tod. Diese doppelte zeitliche Verankerung ist Ursache widersprüchlicher Empfindungen: Wenn der Herbst beginnt, ist im linearen Zeitmodell fast schon wieder ein Jahr vergangen (und kehrt nie wieder! ), während man im Modell natürlicher Rhythmen schon auf einen neuen Frühling hoffen darf. Die Lyrik folgt oft dem linearen Modell, hier ist der Laubfall ein stark strapaziertes Vanitas-Symbol. Nikolaus Lenau vergleicht im Gedicht Herbstgefühl die herbstliche Laubfärbung mit der ungesunden Hautröte von Todkranken (Lenau 1969: 52). Der Buchenwald ist herbstlich schon gerötet, So wie ein Kranker, der sich legt zum Sterben [. . .]. Im Gedicht Das dürre Blatt spielt er gezielt mit der Mehrdeutigkeit des Ausdrucks “ Blatt ” (ebenda 78). Durchs Fenster kommt ein dürres Blatt, Vom Wind hereingetrieben; Dies leichte, offne Brieflein hat Der Tod an mich geschrieben. Rainer Maria Rilkes mehrschichtiges Gedicht Herbst führt von der Beobachtung des Laubfalls zu weit ausgreifenden Behauptungen über Vergänglichkeit und Hoffnung. Zunächst weist er den Blättern eine innere Einstellung zu, die sie “ mit verneinender Gebärde ” fallen lässt. Dann weitet er die Bewegung des “ Fallens ” auf alle natürlichen Prozesse aus, so dass sogar die Erde durch den Weltraum “ fällt ” (was im Rahmen der Newtonschen Mechanik durchaus richtig ist - unser Sturz in die Sonne wird jedoch durch die Fliehkraft verhindert). Die beiden letzten Zeilen jedoch heben diese umfassende Klage tröstend auf, da Gott alles Fallen in Händen “ hält ” - also wohl “ auffängt ” (Rilke 1996, Bd. 1: 282 f). Rainer Maria Rilke: Herbst Die Blätter fallen, fallen wie von weit, als welkten in den Himmeln ferne Gärten; sie fallen mit verneinender Gebärde. Und in den Nächten fällt die schwere Erde aus allen Sternen in die Einsamkeit. Wir alle fallen. Diese Hand da fällt. Und sieh dir andre an: es ist in allen. Dichter und ihre grünen Daumen 89 Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält. Eine zweite Pflanzengruppe im Spannungsfeld zwischen Vergänglichkeit und Auferstehung ist das Gras und das ihm verwandte Getreide. Das Substativ “ Gras ” bezeichnet sowohl die einzelne Pflanze als auch zusammenhängende mit Gras bewachsene Flächen. Diese wiederum haben je nach Entstehung und Nutzung speziellere Namen, wobei es gleitende Übergänge gibt. l Steppe (in Nordamerika Prärie): baumlose Graslandschaft der gemäßigten Breiten, geht ohne scharfe Grenze in die Savanne über l Weide: landwirtschaftliche Fläche für Nutztiere, die sich darauf aufhalten und sie abweiden l Wiese: artenreich, meist landwirtschaftlich genutzt l Rasen: artenarm, von Menschen angelegt und ständig gepflegt, innerhalb von Siedlungsgebieten (Gärten, Parks, Sportplätze . . .) Durch Mähen des Graslandes gewinnt man den Wintervorrat an Heu oder Silage für das Vieh. Ohne regelmäßige Mahd würden Wiesen schnell verbuschen und schließlich zu Wäldern werden. Für die Gräser selbst ist das Mähen ein Wachstumsreiz, der ähnlich wie das Abgefressenwerden durch Weidetiere eine nachhaltige Nutzung erst gewährleistet. Mit Blick auf Wildtiere kann ein zeitlich verteiltes Mähen (sog. “ Staffelmahd ” ) sicherstellen, dass sie ständig Nahrung und Deckung finden. Gängige Redensarten greifen alle Eigenschaften von Gras auf: Es ist massenhaft vorhanden, siedelt sich von selbst auf freien Flächen an, ist aber auch durch Überweidung oder menschliche Eingriffe gefährdet. l das Gras wachsen hören (= kleinste Anzeichen wahrnehmen und deuten) l dem Gras beim Wachsen zusehen (= sich langweilen) l Gras über eine Blamage wachsen lassen l ein Thema ist abgegrast l da wächst kein Gras mehr l ins Gras beißen (= sterben) Vergleiche zwischen Mensch und Gras beziehen sich auf zwei sichtbare Eigenschaften: Grashalme sind empfindlich und sehen alle gleich aus. Der erste Aspekt ist zu relativieren, da zwar die oberirdischen Grashalme durch Begehen oder Abweiden leicht beschädigt werden, ihre Wurzelgeflechte jedoch bei nachhaltiger Beweidung immer wieder neu austreiben. Ferner scheinen im Gegensatz zu “ individuellen ” Bäumen alle Gras- oder Getreidehalme gleich zu sein. Aus der Nähe betrachtet unterscheiden sie sich zwar, aber Menschen sehen sie in der Regel “ summarisch ” . Ein entsprechender Vergleich findet sich bereits in einem Psalm Davids (Psalm 103, 15 - 17). Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras, er blüht wie eine Blume auf dem Feld; wenn der Wind darüber geht, so ist sie nimmer da, und ihre Stätte kennt sie nicht mehr. Die Gnade aber des HERRN währet von Ewigkeit zu Ewigkeit. Johannes Brahms formulierte diesen Gedanken in seinem Werk Ein deutsches Requiem mit den Worten: “ Denn alles Fleisch, es ist wie Gras ” . Das Motiv des Mähens wird von vielen Text- 90 Dagmar Schmauks (Berlin) und Bildsorten aufgegriffen. Todesanzeigen zeigen stehende Ähren als Zeichen eines “ fruchtbaren ” Lebens, aber auch geknickte Ähren als Zeichen der Vergänglichkeit, insbesondere bei jung Verstorbenen. Seit dem Mittelalter wird der Tod als “ Sensenmann ” personifiziert, der alle Menschen “ hinmäht ” und sie damit gleich macht - während die drei Parzen der griechischen Mythologie jedem Menschen seinen eigenen Lebensfaden spannen, zumaßen und abschnitten. Sogar die saloppe Wendung “ Jetzt ist Sense! ” , die das unverzügliche Ende einer Handlung ankündigt oder fordert, hängt inhaltlich mit dem “ Schnitter Tod ” zusammen. Schließlich werden auch Prozesse, die menschliche Siedlungen wieder in Grünland oder Äcker verwandeln, zu Zeichen für Vergänglichkeit. Andreas Gryphius wagte angesichts der Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges in seinem Sonett Es ist alles eitel (1637) eine beklemmende Vorhersage (Gryphius 1963, Bd. 1: 7). Wo jetzt noch Städte stehn, wird eine Wiese sein, Auf der ein Schäferskind wird spielen mit den Herden. Adelbert von Chamisso beschreibt seinen persönlichen Verlust im Gedicht Das Schloss Boncourt (1827). Eingeleitet durch “ Ich träum als Kind mich zurücke ” beschwören sechs Strophen seine Erinnerungen an das “ schimmernde ” Schloss seiner Ahnen. Erst danach erfährt der Leser, dass Boncourt schon lange nicht mehr existiert und Chamisso sich mit dieser Tatsache ausgesöhnt hat (Chamisso 1975, Bd. 1: 192 f). So stehst du, o Schloss meiner Väter, Mir treu und fest in dem Sinn, Und bist von der Erde verschwunden, Der Pflug geht über dich hin. Sei fruchtbar, o teurer Boden, Ich segne dich mild und gerührt, Und segn ’ ihn zwiefach, wer immer Den Pflug nun über dich führt. Chamissos tröstliche Vorstellung, das frühere Schlossgelände sei fruchtbarer Ackerboden geworden, leitet über zu Pflanzen, die ausdrücklich mit positiven Bedeutungen wie “ Unsterblichkeit ” oder “ Auferstehung ” verknüpft werden. Es liegt nahe, immergrüne Pflanzen wie Buchsbaum und Efeu als ebenso symbolträchtige wie pflegeleichte Grabbepflanzung zu wählen. Weiße Blüten stehen für Reinheit, Überwindung des Irdischen und Auferstehung. Auch Pflanzen, die im Winter blühen, gehören in diesen Symbolkreis. Die Christrose öffnet ihre großen weißen Blüten um Weihnachten und steht demnach in enger Beziehung zu Christi Geburt. Die Zaubernuss blüht bereits im Winter und verheißt damit das Nahen des Frühlings bzw. christlich gedeutet die künftige Auferstehung. Langlebige Pflanzen überspannen oft mehrere Generationen, so haben Waldbesitzer früher Bäume ausdrücklich “ für ihre Kinder und Kindeskinder ” gepflanzt. In Eichendorffs Gedicht Der alte Garten rufen bestimmte Blumen eine lange versunkene Epoche wach (Eichendorff 1987, Bd. 1: 402). Kaiserkron ’ und Päonien rot, Die müssen verzaubert sein, Dichter und ihre grünen Daumen 91 Denn Vater und Mutter sind lange tot, Was blühn sie hier so allein? Der Dichter begegnet im alten Garten “ denselben ” Gartenblumen wie damals als Kind. Dieser unmittelbare Eindruck scheint jedoch seinem Wissen zu widersprechen, dass die Eltern längst verstorben sind. Botanisch gesehen ist es jedoch durchaus möglich, dass er “ dieselben ” Pflanzen oder deren unmittelbare Nachkommen sieht, denn Kaiserkronen und Päonien (= Pfingstrosen) treiben jährlich neu aus und vermehren sich durch Zwiebeln bzw. Rhizome. Viel häufiger hingegen wissen wir nichts über das Schicksal von Pflanzen und sogar von langlebigen Bäumen. In seiner Erinnerung an die Marie A. erinnert sich Bertolt Brecht an eine lange zurückliegende Liebesbegegnung “ unter einem jungen Pflaumenbaum ” . Er überlegt, was seine damalige Geliebte wohl heute macht und was aus dem Baum geworden ist. Dabei decken seine beiden Vermutungen die ganze Bandbreite zwischen Sterben und Überleben ab (Brecht 1967: 12 f), denn in der zweiten Strophe heißt es “ die Pflaumenbäume sind wohl abgehauen ” , in der dritten hingegen “ die Pflaumenbäume blühn vielleicht noch immer ” . 6 Schlussbemerkung Die hier besprochenen Texte belegen eindrucksvoll das Bestreben des Menschen, auch außerhalb der Menschenwelt nach Phänomenen zu suchen, in denen er sein Erleben gespiegelt sieht. Eine weitere Möglichkeit neben den Pflanzen sind ganze Landschaften. Da die Savanne unseren Vorfahren alles bot - Nahrung, Wasser sowie gleichermaßen Überblick und Deckung - , bevorzugen Menschen auch heute noch offene Landschaften wie Heiden, Almen und weitläufige Parks. Nennt man die ganzheitliche Anmutung einer Landschaft in der Tradition Alexander von Humboldts ihre “ Physiognomie ” , so lassen sich Ausdrücke prägen wie “ heiteres Hügelland ” , “ düsterer Kiefernwald ” oder “ abweisende Felsenklippen ” . Wie beliebt das Wetter als weitere Projektionsfläche ist, belegen bereits Adjektive wie “ sonnig ” , “ heiter ” und “ düster ” , die gleichermaßen Wetterlagen und Stimmungen beschreiben. Hierbei kann das Wetter der menschlichen Stimmung entsprechen oder aber in scharfem Kontrast zu ihr stehen (Delius 1971). Auch die Tierwelt motiviert zahlreiche Textsorten. Klassische Fabeln kritisieren menschliche Fehler in tierischen Verkleidungen, wobei auch hier das Verhalten der “ anderen Wesen ” oft gründlich missverstanden wird. In Äsops Fabel Der Fuchs und der Rabe veranlasst der “ schlaue ” Fuchs den “ eitlen ” Raben zum Singen, nur damit dieser einen Käsebrocken fallen lässt. Die Lehre ist also, man solle nicht hochmütig sein und sich vor Schmeichlern hüten. Zoologisch würde man von Imponier- und Täuschungsverhalten sprechen, und da Raben ihre Artgenossen raffiniert täuschen und sogar Werkzeuge benutzen, sind sie Füchsen kognitiv klar überlegen. Heutige Schimpfwörter von “ Aasgeier ” bis “ Ziege ” verorten den Beschimpften außerhalb der Menschenwelt und sprechen ihm “ tierische ” Eigenschaften zu. Umgekehrt benannte der Mensch viele Tierarten aufgrund anthropozentrischer Übertragungen ( “ Faultier ” ) oder durch Vergleich mit mythischen Wesen ( “ Gespensterheuschrecke ” , “ Teufelsrochen ” ). 92 Dagmar Schmauks (Berlin) Insgesamt nutzen wir also die gesamte Tier- und Pflanzenwelt nicht nur praktisch, sondern auch symbolisch, insbesondere als Projektionsfläche unseres Innenlebens. Ein Blick, der vor allem ein Bild des Sehenden sucht, versteht jedoch oft das Gesehene gar nicht. Brechen etwa im Herbst die Zugvögel nach Süden auf, so beneidet der Mensch sie oft um ihre Freiheit und ihren “ Winterurlaub im Süden ” . Unbeachtet bleibt, wie instinktgebunden und gefährlich diese langen Reisen sind. Angesichts dieser anthropozentrischen Suche (oder Sucht) nach Spiegelung möchte ich mit dem Wunsch enden, man möge doch häufiger andere Lebewesen von ihren ganz eigenen Bedürfnissen und Fähigkeiten her zu verstehen versuchen. Es wäre schon viel gewonnen, wenn wir nicht mehr den herbstlichen Laubfall als Todeszeichen beklagen. Sollte man nicht sogar vermuten, dass unsere Vorfahren gerade durch genaue Beobachtung der zyklischen Lebensweise von Bäumen die religiöse Vorstellung einer Wiedergeburt entwickelten? Die umgekehrte Auffassung vom Tod als absolutem Ende legen eher Erlebnisse mit Tierkadavern nahe. Denn jeder Savannenbewohner wusste, wie schnell diese von Aasfressern skelettiert und dann vom Wind zermahlen und verdriftet werden. Vielleicht entstehen auch ganz neue und viel stimmigere Metaphern. Die moderne Botanik entdeckt nämlich immer deutlicher, dass die Pflanzenwelt keineswegs so dumpf und passiv ist, wie sie oft vorgestellt wurde. Viele Pflanzen haben ausgeklügelte Taktiken entwickelt, um ihre Samen über große Entfernungen zu verbreiten. Andere wehren sich gegen Fressfeinde nicht nur durch Dornen oder Nesselhaare, sondern warnen auch artgleiche Nachbarn durch freigesetzte Geruchsstoffe, die zur schnellen Erzeugung von Bitterstoffen anregen. Manche Orchideen locken sogar männliche Bestäubungsinsekten durch Blüten an, die den Weibchen der betreffenden Art gleichen. Es gibt also viel zu entdecken und in griffige Wendungen zu prägen . . . Bibliographie Benn, Gottfried 1960: Gesammelte Werke in 8 Bänden. Wiesbaden: Limes Benn, Gottfried 1979: Briefe an F. W. Oelze, 1932 - 1945. Frankfurt a. M.: Fischer Brecht, Bertolt 1967: Ausgewählte Gedichte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Capelle, Wilhelm (ed.) 1968: Die Vorsokratiker. Stuttgart: Kröner Chamisso, Adelbert von 1975: Sämtliche Werke. München: Winkler Coombes, Allen J. 2011: The Book of Leaves. Chicago: University Press. Deutsch: Blätter und ihre Bäume. 600 Porträts. Bern: Haupt 2012 Crick, Francis 1960: Life Itself: Its Origin and Nature. New York: Simon and Schuster Däniken, Erich von 1972: Aussaat und Kosmos. Spuren und Pläne außerirdischer Intelligenzen. Düsseldorf: Econ Dawkins, Richard 2004: The Ancestor ’ s Tale. A Pilgrimage to the Dawn of Life. London: Weidefeld & Nicolson. Deutsch: Geschichten vom Ursprung des Lebens. Eine Zeitreise auf Darwins Spuren. Berlin: Ullstein 2009 Delius, Friedrich Christian 1971: Der Held und sein Wetter. Ein Kunstmittel und sein ideologischer Gebrauch im Roman des bürgerlichen Realismus. München: Hanser Eichendorff, Joseph von 1987: Werke in sechs Bänden. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag Eilers, Tobias 2011: Robert Gernhardt. Theorie und Lyrik. Erfolgreiche komische Literatur in ihrem gesellschaftlichen und medialen Kontext. Münster: Waxmann Fontane, Theodor 1985: Romane und Erzählungen in drei Bänden. München und Wien: Hanser Gernhardt, Robert 2009: Reim und Zeit. Gedichte. Stuttgart: Philipp Reclam jun. Goethe, Johann Wolfgang von 1964: Faust. Erster und zweiter Teil. Klagenfurt: Kaiser Grober, Ulrich 2013: “‘ Saatfrüchte sollen nicht vermahlen werden ’ . Eine kleine Zeitreise in die Geschichte des Nachhaltigkeitsbegriffs ” , in: Der kritische Agrarbericht 2013. Konstanz: AgrarBündnis e. V.: 251 - 255 Dichter und ihre grünen Daumen 93 Gryphius, Andreas 1963: Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke. Tübingen: Niemeyer Haerkötter, Gerd und Marlene 1989: Macht und Magie der Bäume. Sagen - Geschichte - Beschreibungen. Frankfurt a. M.: Eichborn Heine, Heinrich 1991: Sämtliche Werke. Düsseldorfer Ausgabe. Hamburg: Hoffmann & Campe Hesse, Hermann 2002: Sämtliche Werke. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Jacobsen, Jens Peter ca. 1910: Niels Lyhne. Leipzig: Insel Kangler, Gisela und Annette Voigt 2010: “ Kann Wildnis Ökosystem sein? Kritische Reflexion eines widersprüchlichen Begriffspaars im Naturschutz ” , in: Zeitschrift für Semiotik 32: 367 - 387 King, Stephen 1983: Pet Sematary. Garden City NY: Doubleday. Deutsch: Friedhof der Kuscheltiere. München: Heyne 1988 Krampen, Martin (ed.) 1994: Pflanzenlesebuch. Pflanzenstudium - Pflanzennutzung - Pflanzenpoesie. Der Wandel menschlicher Einstellungen zu Pflanzen im Laufe der Geschichte. Hildesheim: Olms Lenau, Nikolaus 1969: Gedichte. Ed. Günter Kunert. Frankfurt a. M.: Fischer Mann, Heinrich 1922: “ Grußwort ” . In: Felix Hollaender (ed.): Festschrift zum 60. Geburtstag Gerhart Hauptmanns. Berlin: Mosse 1922: 7 Mann, Thomas 1967: Der Zauberberg. Frankfurt a. M.: Fischer Mann, Thomas 1971: Sämtliche Erzählungen. Frankfurt a. M.: Fischer Rilke, Rainer Maria 1996: Werke in vier Bänden. Frankfurt a. M.: Insel Ringler, Alfred 2009: Almen und Alpen. Höhenkulturlandschaft der Alpen. Ökologie, Nutzung, Perspektiven. München: Verein zum Schutz der Bergwelt e. V. Schäfer, Burkhard 2001: Unberühmter Ort. Die Ruderalfläche im Magischen Realismus und in der Trümmerliteratur. Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang Schiller, Friedrich 1993: Werke. Weimar: Böhlau Schmauks, Dagmar 1997: “ Pflanzen als Zeichen ” , in: Zeitschrift für Semiotik 19: 135 - 149 Schmauks, Dagmar 2008: “ Rotes Blut und rote Blüten. Vergewaltigung und Lustmord im Spiegel der Lyrik ” , in: Kodikas/ Code 31: 119 - 134 Schmauks, Dagmar 2010: “ Orientierung in der Zeit ” , in: Zeitschrift für Semiotik 32: 103 - 119 von Ribbeck, Friedrich: Die Birne ist wieder da! Im Internet unter http: / / www.vonribbeck.de/ html/ alte-birnen.html [15. 8. 2014] Vorhaus, John 1994: The Comic Toolbox. To Be Funny Even If You ’ re Not. Los Angeles: Silman-James Press. Deutsch: Handwerk Humor. Frankfurt a. M.: Zweitausendeins 2001 94 Dagmar Schmauks (Berlin)