eJournals Kodikas/Code 38/1-2

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
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2015
381-2

In der Ferne so nah und in der Nähe so fern

2015
Arne Klawitter
K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 38 (2015) · No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen In der Ferne so nah und in der Nähe so fern Die hybriden Zeichen des chinesischen Künstlers Xu Bing Arne Klawitter (Tokyo) In 1988, Xu Bing ’ s Books from the Sky (chin. tianshu) aroused much discussion, and since then, the artist has been celebrated in China and abroad. After Xu Bing moved to the U. S. in 1990, he created a new hybrid script under the name of Square Word Calligraphy. The article analyzes the theoretical and semiotic implications of this very exceptional and unique script. “ Das Chinesische ist wie gemacht für die Kalligraphie. Eine Sprache, die zum inspirierten Schriftzug verleitet, die ihn provoziert. ” (Michaux 1994: 23) 1 “ Fernwestliche ” Schriftzeichen Ein westlicher Betrachter, der diese Schriftzeichen zum ersten Mal sieht, wird sicherlich auf den ersten Blick hin und ohne zu zögern glauben, dass er es mit einer chinesischen Kalligraphie zu tun habe, ohne zunächst zu erkennen, wie sehr er sich irrt. Er selbst könnte diese Zeichen sogar mit Leichtigkeit entziffern, wenn er nur zumindest vorübergehend seine eingeübten Sehgewohnheiten ablegen und jene quadratisch angeordneten Zeichenkonstrukte auf neue Weise in den Blick nehmen würde. Denn diese Zeichen werden in dem Moment lesbar, in dem man die Voraussetzungen ändert und nicht mehr davon ausgeht, dass dies wirklich genuine chinesische Schriftzeichen seien, sondern vielmehr dem Impuls folgt, dass es sich hier womöglich um eine unserer Sehweise unvertraute Kombination lateinischer Buchstaben handeln könnte. Mit etwas Phantasie wird man dann, links beginnend, ein F erkennen sowie ein A und ein R, und auf der rechten Seite dann die Buchstaben W E s t, woraus sich zwingend der Schluss ergibt, dass wir es hier mit zwei englischen Wörtern und einer programmatischen Bedeutung zu tun haben. “ Far west ” assoziiert, wie könnte es anders sein, eine Umkehrung der Perspektive, denn gewöhnlich wird von “ Far east ” , also “ Fernost ” , gesprochen, was im Übrigen, als wäre es selbstverständlich, eine westliche Blickrichtung voraussetzt. Doch wie erscheint der “ ferne Westen ” aus der Sicht des “ fernen Ostens ” ? Was würde die Um- Abb. 1: Xu Bing: Square Word Calligraphy, “ Far west ” kehrung der Perspektive für uns, die wir gewöhnlich nur von “ Fernost ” sprechen, bedeuten? Dieser Frage soll hier, und zwar unter besonderer Berücksichtigung der ebenso künstlerisch wie raffiniert gestalteten Zeicheninstallationen von Xu Bing und ihrer semiotischen Implikationen, nachgegangen werden. Der Künstler, von dem diese im wahrsten Sinne des Wortes ‘ transkulturellen ’ Zeichenkonstrukte stammen und dessen unlesbare Schriftzeichen in seinen Büchern des Himmels ich bereits in Kodikas/ Code 35 (2012) Heft 1 - 2 vorgestellt habe, wurde 1955 in der Stadt Chongqing in der Provinz Sichuan geboren. In der Schule erlebte er während der Ägide von Mao Zedong jene umfassende Schriftreform, die mit ihrer Vereinfachung der Schriftzeichen einen radikalen Bruch mit der chinesischen traditionellen Schriftkultur bewirkte. Er wurde gezwungen, die neuen Schriftzeichen zu lernen und die alten, die er sich gerade ein Jahr zuvor mühevoll hatte einprägen müssen, zu vergessen. Doch die von Mao Zedong angeordnete Schriftvereinfachung verlief keineswegs so unproblematisch wie erwünscht, und so kam es, wie Xu Bing in einem Interview äußerte, immer wieder dazu, dass die neuen Zeichen nicht akzeptiert wurden und man dann doch zum Teil zu den alten oder den ihnen näheren Varianten zurückkehrte (vgl. Silbergeld 2006: 114). Seine Eltern (sein Vater war Professor für chinesische Geschichte an der Beijing Universität und seine Mutter arbeitete in einer Bibliothek) ließen ihn in dieser Zeit weiter die alten chinesischen Klassiker kopieren, so dass er gleichsam in zwei Schriftwelten gleichzeitig aufwuchs. Zwischen 1974 und 1977 wurde Xu Bing wie viele Intellektuelle und deren Kinder in China aufs Land verschickt. Als Sohn eines “ Reaktionärs ” war er mehr als andere bestrebt, der Parteilinie zu folgen, und er wurde schnell zu einer “ nützlichen Person ” , und zwar im Sinne eines “ Schreibinstruments der Kulturrevolution ” , indem er im Propagandabüro der Partei Poster und Plakate entwarf, mit denen die Partei ihre Losungen unters Volk brachte. Zurückblickend auf diese Zeit vergleicht sich Xu Bing mit buddhistischen Mönchen, die Wort für Wort die heiligen Sutren kopierten, obgleich sie nicht jedes Wort von dem verstanden, was sie nachschrieben, und ihr ganzes Leben damit zubrachten, um auf diesem Wege den Eingang in die nächste Welt zu finden (vgl. Erickson 2001: 16 - 17). Danach war Xu Bing mehrere Jahre als Lehrer in einem entlegenen Dorf nordwestlich von Beijing tätig, wo er u. a. Anzeigen für Feierlichkeiten anfertigte. Unter dem Einfluss der Volkskunst kombinierte er dabei die Zeichen einer Redewendung zu einem so kunstvollen Zeichenarrangement (Abb. 2). 1 Abb. 2: Chinesischer Neujahrsgruß 招財進寶 (zhao cai jin bao) als Zeichenarrangement. Das Grundelement ist dabei das dritte Zeichen 進 (jin), das links steht und soviel bedeutet wie ‘ (herbei-) kommen ’ , gefolgt vom zweiten Zeichen 財 (cai, dt. ‘ Geld ’ ) und dem ersten Zeichen 招 (zhao, dt. ‘ veranlassen ’ ). Das letzte Zeichen ist im Zentrum des Arrangements zu finden, jedoch gleichsam zerlegt, denn es teilt sich ein Element mit dem zweiten Zeichen, und kann als 寶 (bao, dt. ‘ Juwel ’ , ‘ Edelstein ’ , ‘ Schatz ’ ) gelesen werden. 1 Die chinesische Schriftkultur hat auch eine lange Geschichte solch kunstvoller Zeichenzusammensetzungen, die vor allem als Glücksbringer auf Amuletten oder als Kalligraphien Verwendung fanden. Vgl. dazu die Internetseite http: / / homepage2.nifty.com/ Gat_Tin/ kanji/ sinji.htm [Zugriff am 20. Februar 2014]. In der Ferne so nah und in der Nähe so fern 51 Nach seiner Rückkehr in die Hauptstadt war es ihm - nunmehr als ein ‘ Sohn von Bauern ’ - möglich, in Beijing ein Studium an der Zentralen Akademie für Bildende Künste zu beginnen. Statt jedoch die Ölmalerei zu erlernen, wie er es sich gewünscht hatte, wurde er mit Drucktechniken vertraut gemacht, darunter auch mit der traditionellen Holzschneidetechnik, die als nicht-elitär galt und daher gefördert wurde, besonders wohl aber, weil sie für den Massendruck eingesetzt werden konnte. 1984 schloss er sein Studium an der Akademie ab und bekam 1987/ 88 seine erste eigene Ausstellung: “ Grafiken von Xu Bing ” . Erstmals wurden bei der Kunstschau China Avant-Garde auch Ausschnitte aus A Book from the Sky gezeigt, was Xu Bing nicht nur schlagartig bekannt, sondern ihn gleichzeitig zu einer Galionsfigur der zeitgenössischen chinesischen Kunst machte. Seitdem gilt er neben Gu Wenda, Wu Shanzhuan, Geng Jianyi, Huang Yongping, Wang Guangyi und anderen zu den Vertretern des “ 85 New Wave Movement ” , obwohl er selbst erst etwas später zu dieser Gruppe stieß. Abb. 3: Xu Bing: The Book from the Sky (1988 - 1991) Auf der Ausstellung präsentierte Xu Bing eine Reihe von Büchern, die wie klassische kanonische Bücher aussahen, aber in Wahrheit nicht entzifferbare Schriftzeichen enthielten. So sehr sich die Besucher auch bemühten, war doch niemand imstande, die Zeichen als Ganzes zu lesen, deren einzelne Bestandteile allen bekannt waren. Xu Bing hatte lesbare Schriftzeichen in die ihnen zugrunde liegenden Einzelelemente zerlegt und neu zusammen- 52 Arne Klawitter (Tokyo) gesetzt, aber auf eine - linguistisch betrachtet - ganz unkonventionelle Weise, sodass man die so zustande gebrachten Zeichensimulakren weder lesen noch ihnen einen Laut oder eine Bedeutung zuordnen konnte. Da aber die einzelnen Bestandteile der Zeichen sehr wohl erkennbar waren, bestand immerhin die Möglichkeit, ihnen zumindest eine imaginäre Bedeutung zu unterlegen. Die Zeicheninstallation, die ursprünglich den Titel The Mirror of the World - An Analyzed Reflection on the End of this Century (xishi jian) trug und dann aber als The Book from the Sky, chin. tianshu, bekannt wurde, löste in China heftige Diskussionen aus. Sowohl vom Publikum als auch von der Kunstkritik wurde sie als Provokation aufgefasst, denn man verstand die Aussage des Künstlers so, als habe die Schriftreform unter Mao Zedong die gesamte Kulturgeschichte Chinas unlesbar gemacht. Die Zeichen auf den Papierrollen und Buchseiten erschienen den Betrachtern wie ein vom Himmel gesandter, den Menschen unverständlicher Text. (Abb. 3) Doch blieb Xu Bing nicht bei den unlesbaren Zeichen stehen, sondern schuf in den Folgejahren eine ganz neuartige Hybridschrift, die ihrerseits wieder lesbar sein sollte. 2 Transkulturelle Klangresonanzen und Schrifträume Als nach dem Massaker an den demonstrierenden Studenten auf dem Tiananmen-Platz auch die Künstler-Avantgarde ins Blickfeld der Parteizensoren geriet und als konterrevolutionär diffamiert wurde, emigrierte Xu Bing im Juli 1990, unmittelbar nachdem man seiner Zeicheninstallation The Book from the Sky “ heimtückische Tendenzen ” vorgeworfen hatte, in die USA. Das Exil bedeutete für ihn nicht nur ideologisch und politisch, sondern vor allem auch sprachlich und kulturell einen tiefen Bruch mit der ihm vertrauten Welt. Zunächst musste er im Umfeld der fremden westlichen Kultur deren Sprache erlernen, um sie in seine künstlerische Arbeit integrieren zu können. Seit Mitte der 1990er Jahre versuchte Xu Bing in seinen Werken dann durch die Schaffung eines neuen Sprachraums Beziehungen zwischen dem Chinesischen und das lateinische Schriftsystem verwendenden Sprachen herzustellen, in dem es zur Überlagerung und zum Austausch von graphischen und klanglichen Elementen, von Wahrnehmungsweisen und Lesetechniken beider Kulturen kommt. Der erste Schritt in diese Richtung war das Projekt ABC aus dem Jahr 1991, dessen Durchführung aus insgesamt 38 Tonquadern besteht, auf deren einen Seite ein chinesisches Schriftzeichen, auf der anderen aber ein lateinischer Buchstabe zu sehen ist. Sobald die graphisch unterschiedlichen, aber dennoch materiell und damit handgreiflich zusammengehörigen Zeichen ausgesprochen werden, wird der Bezug zwischen ihnen aufgrund ihrer Klangähnlichkeit unmittelbar deutlich: Das ausgesprochene Sinogramm 哀 / ai/ korrespondiert in etwa der englischen Aussprache des Vokals A, im Laut des chinesischen Zeichens 彼 / bi/ klingt der englische Buchstabe B an und im Zeichen 西 (in der Umschrift xi, aber gesprochen / ɕ i: / ) der Buchstabe C. Die Bedeutung der Schriftzeichen ist dabei irrelevant; es kommt hier allein auf die Klangresonanz und ein akustisches Wiedererkennen an. Die ABC-Installation ermöglicht eine erste Annäherung zwischen den “ fernwestlichen ” und fernöstlichen Sprach- und Schriftkulturen, und zwar über den Weg des Klanges. Doch stößt die Schaffung von Klangbezügen schnell an ihre Grenzen, denn es entstehen dabei keine Sinnbezüge, keine intelligiblen Strukturen, weshalb sich Xu Bing schon bald wieder der graphischen Dimension der Schrift zuwendet. In der Ferne so nah und in der Nähe so fern 53 Das Ergebnis der daraus resultierenden Überlegungen und künstlerischen Versuche nennt er Square Word Calligraphy. Xu Bing bezieht sich hierzu auf die äußerliche Erscheinung chinesischer Zeichen, um auch Buchstaben dieser Vorgabe folgend gleichsam kalligraphisch auszuführen, d. h. er arrangiert jene Buchstaben, die er optisch dem Aussehen chinesischer Schriftzeichen angleicht, nunmehr in quadratischer Form, sodass sie, derartig kombiniert, jeweils ein Wort ergeben, das in englischer (oder gegebenenfalls auch in deutscher) Sprache lesbar und verständlich ist. Einige Zeichen wie 山 und 口 gleichen ganz und gar chinesischen Zeichen, und erst das Wissen (oder die Hypothese), dass wir nach lateinischen Buchstaben zu suchen haben, lässt uns in ihnen ein W und ein O erkennen. Bestimmte Buchstaben wie z. B. das große A ähneln durchaus chinesischen Zeichen, wie in diesem Fall dem 人 (ren) mit der Bedeutung ‘ Mensch ’ , nur dass Xu Bing hier einen Querstrich hinzugefügt hat, sodass es überraschend als Buchstabe A in Erscheinung tritt. Außerdem kann man einzelne Radikale (sogen. Wurzelzeichen) finden, die im Chinesischen als einzelne Zeichen zwar nicht vorkommen. Da es sich bei den “ Square Words ” aber um Buchstabenzusammensetzungen handelt, treten sie stets in Kombination mit anderen Zeichenelementen auf, wie z. B. das Radikal 阝 als Buchstabe B, was zusammen mit 口 die Buchstabenfolge “ bo ” ergibt (siehe Abb. 4). Das Verfahren der Square Word Calligraphy gestattet es auf diese Weise, auch längere Texte zu kreieren, die entweder vertikal zu lesen oder bei denen sogar verschiedene Leserichtungen möglich sind. In der vertikalen Leserichtung von links nach rechts ergibt sich folgendes Satzfragment “ Little bo peep has lost her sheep and can. . . ” , also der Anfang eines bekannten englischen Kinderreims, was überraschen mag, aber nicht muss. Die Square Word Calligraphy eröffnet einen transkulturellen Zwischenraum, in dem sich kulturell verschieden geprägte Blicke gegenseitig kreuzen, Gewohnheiten und Wahrnehmungsschemata auf die Probe gestellt und verunsichert werden, und wo aufgrund einer doppelten Verfremdung die Reflexion auf die Bedingtheit der jeweils eigenen Wahrnehmungsweise gelenkt wird. Man könnte sagen, dass in diesem In-Between Wahrnehmung und Denken in Bezug auf sich selbst verfremdet bzw. verschoben werden. Die bisher gewohnte Sehweise wird außer Kraft gesetzt; man ist für einen Moment irritiert, weil man nichts versteht, doch dann wird man förmlich dazu gezwungen, nach anderen Möglichkeiten der Betrachtung und Entzifferung zu suchen. Dass die gewohnten Wahrnehmungsraster Abb. 4: Little Bo Peep ” als Square Word Calligraphy 54 Arne Klawitter (Tokyo) einschließlich der Entzifferungs- und Lesetechniken in diesem Zwischenbereich nicht mehr funktionieren, muss also kein Manko bedeuten, sondern lässt sich durchaus als ein Mehrwert verstehen. Man sieht sich dazu veranlasst, seinen Blick für das Andere zu öffnen, bislang nicht Berücksichtigtes in die Betrachtung aufzunehmen, einen neuen Standpunkt zu beziehen und neue Wahrnehmungsweisen zu erproben. In diesem In-Between, wo es zu Überkreuzungen, Aussetzern, Fehlschlägen, erneuten Versuchen, Modifizierungen und Verschiebungen kommt, wird ein komplexer Prozess in Gang gesetzt, der ein Hinterfragen derjenigen Schranken, welche die eigene Wahrnehmung begrenzen, sowie eine Revision desjenigen Standpunktes einschließt, den man aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schriftkultur automatisch einnimmt; ein Prozess, der schließlich zur Einsicht führt, dass die Ordnung, die einer bestimmten Weltsicht unterliegt und die man den Zeichen aufgrund der eigenen kulturellen Prägung unterstellt, nicht die einzig mögliche ist und auch keineswegs immer eine Lösung bereit hält. Alle gerade genannten Eigenschaften lassen diesen Zwischenbereich der Überkreuzung, Infragestellung und Verschiebung als einen genuin transkulturellen Raum erscheinen. Bemerkenswert ist dabei jedoch, wie beide Seiten gleichermaßen dazu angeregt werden, ihren ursprünglichen Standpunkt zu reflektieren und zu modifizieren: Für die Einen sind Xu Bings Schriftzeichen verfremdete Buchstaben, die auf eine besondere Weise zu Blöcken geordnet werden, aber - unter gewissen Schwierigkeiten allerdings und wider Erwarten - doch lesbar sind; für die Anderen bilden sie das verwirrende Simulakrum ihrer eigenen und damit bekannter Schriftzeichen, die nur über den Umweg eines anderen Zeichencodes (in diesem Falle nicht nur einer anderen Sprache, sondern zugleich eines anderen Schriftsystems) lesbar werden, nämlich als lateinische Buchstaben, die in ihrer quadratischen Anordnung, richtig kombiniert, einzelne bekannte Wörter bilden. Einem Betrachter aus dem westlichen Kulturkreis erscheinen diese Zeichen, obwohl sie ihm alle vertraut sein müssten, aufgrund ihrer Schreibweise und Anordnung zunächst fremd, da sie auf den ersten Blick wie chinesische Schriftzeichen aussehen (und einige gleichen den chinesischen Zeichen tatsächlich voll und ganz) und ungewöhnlich arrangiert sind: Sie werden vom Künstler in voller Absicht in ein Quadrat gezwängt, wodurch sie eine innere Balance erhalten und Ausgewogenheit suggerieren. Dadurch erwecken sie den Eindruck einer kunstvollen, aber fremden Zeichenkomposition, die sich nicht lesen und von der sich zunächst einmal auch keine Lesbarkeit erwarten lässt. Auf viele Chinesen hingegen wirken dergleichen Schriftzeichen, gerade weil sie für sie auf den ersten Blick vertraut und lesbar erscheinen, obwohl sie es nicht sind, wie archaische Zeichen, denen man fast automatisch eine Lesbarkeit unterstellt, auch wenn man sie nicht realisieren kann. Sie fühlen sich vor allem durch die ungewöhnliche Anordnung überrascht, die sie als Erstes vermuten lässt, dass es sich bei dem, was sie sehen, um sehr alte kalligraphische Schriftbilder handeln dürfte. Die Auflösung dieser Rätselschrift wird dann einen Chinesen ebenso erstaunen wie einen Betrachter aus einem anderen Kulturkreis. Beide Seiten aber werden durch dieses Spiel von Gestaltung, Arrangement, Blickrichtung, Leseverlauf und Codierung dazu gebracht, ihre überkommene, d. h. eingeübte Wahrnehmung von Schriftzeichen mitsamt den vorgegebenen Lesegewohnheiten zu reflektieren und zu hinterfragen. Wichtig in diesem Kontext ist vor allem der Umstand, dass jemand nur dann in der Lage ist, Zeichen zu entziffern, wenn er/ sie sich auf eine alternative Sichtweise einlässt, d. h. wenn man den Schriftbildern entweder die Gestalt von Zeichen einer jeweils fremden Schriftsprache zubilligt oder aber, von einer ganz neuen Perspektive aus betrachtet, In der Ferne so nah und in der Nähe so fern 55 den Code einer anderen Sprache. Gerade dieser Zwang, wenn auch nur zeitweilig, die Position des Anderen einzunehmen, ist es, der die Präkodierung des Blicks als eine Beschränkung spürbar werden lässt. 3 Die ästhetische Resonanz der Square Word Calligraphy Xu Bing hat mit der Square Word Calligraphy nicht nur eine Möglichkeit gefunden, ein transkulturelles In-Between in der Überkreuzung bereits vorkodierter Blicke und Zeichenpraktiken sichtbar zu machen; es gelingt ihm darüber hinaus zu verdeutlichen, wie in diesem Zwischenbereich zugleich ein neuer Diskurs zu entstehen vermag. Vom westlichen Standpunkt aus gesehen, entspinnt sich unter dem Anschein unlesbarer Ideogramme, die zunächst als nicht-signifikative Zeichenfigurationen erscheinen und dem entsprechend als kunstvolle Ornamente einer unlesbaren Schrift wahrgenommen werden, ein lesbarer Diskurs. Auch wenn sich der Betrachter dann auf die Entzifferung der Zeichen konzentriert, geht deren ästhetischer Wert dabei nicht verloren. Es entsteht vielmehr eine Art Hybridschrift im doppelten Sinne: zum einen, weil sie aus den Komponenten zweier grundsätzlich verschiedener Schriftsysteme besteht; zum anderen, weil den Zeichen, wenn man sie denn entziffert hat, nicht nur ein Sinn abgerungen, sondern zudem ein ästhetischer Mehrwert zugestanden wird, der ihnen auch nach ihrer Entzifferung zueigen bleibt. Diese Ästhetik drückt sich in der Kunst der Kalligraphie aus, die in der chinesischen Kultur auf eine lange Tradition zurückblickt, die aber auch der europäischen Kultur durchaus vertraut war, denn es gab vom frühen Mittelalter an bis zum Spätbarock eine Schönschreibekunst, und auch danach wie z. B. im Jugendstil oder im Kontext der Pressendrucke immer wieder Neuansätze, dergleichen Traditionen aufzugreifen und neu zu beleben. Auch die Square Word Calligraphy ließe sich aus westlicher Sicht als ein solcher Versuch betrachten, wobei noch hinzukommt, dass Xu Bing in seinen Folgeprojekten (Square Word Calligraphy Classroom und An Introduction to New English Calligraphy, 1994 - 96) das Erlernen einer Hybridschrift nicht nur wie das Erlernen einer fremden Schrifttradition inszeniert, sondern auch wie das von inzwischen fast vergessenen Schreibtechniken der eigenen Vergangenheit. Zur Beschreibung der ästhetischen und affektiven Wirkung von Xu Bings Square Word Calligraphy bieten sich vor allem die von Stephen Greenblatt entwickelten Begriffe “ Resonanz ” und “ Staunen ” an. Bei Greenblatt richtet sich die Analyse der Resonanz ganz auf die Wirkung eines Objektes oder Textes, wobei er Resonanz im Sinne von Austauschprozessen kultureller Energie begreift, nämlich als “ Ergebnis ausgedehnter Entlehnungen, kollektiver Tauschprozesse und wechselseitiger Begeisterungen ” (Greenblatt 1993: 17). Unter “ Resonanz ” versteht er “ die Macht des ausgestellten Objekts, über seine formalen Grenzen hinaus in eine umfassendere Welt hineinzuwirken und im Betrachter jene komplexen, dynamischen Kulturkräfte heraufzubeschwören, denen es ursprünglich entstammt und als deren - sei es metaphorischer oder bloß metonymischer - Repräsentant es vom Betrachter angesehen werden kann. ” (Greenblatt 1995: 15) Seinem Begriff der Resonanz stellt Greenblatt den des Staunens (wonder) zur Seite. “ Staunen ” versteht er als Reaktion auf “ die Macht des ausgestellten Objekts, den Betrachter aus seiner Bahn zu werfen, ihm ein markantes Gefühl von Einzigartigkeit zu vermitteln, eine Ergriffenheit in ihm zu provozieren ” . (Greenblatt 1995: 15) 56 Arne Klawitter (Tokyo) Wendet man den eben genannten Resonanzbegriff auf Xu Bings Zeicheninstallationen an, dann ließe sich folgendes feststellen: Im Book from the Sky wird eine kulturhistorische Resonanz durch die an sich exakt an historischen Vorbildern orientierende Anwendung traditioneller Druck- und Buchbindetechniken erzeugt. Gleichzeitig unterläuft Xu Bing aber diese Resonanz, wenn er seine Schriftzeichen im Raum des Bedeutungslosen stehen lässt, sie also ihrer kulturellen Bedeutung beraubt. Das wiederum erzeugt Staunen. Die Schriftzeichen vermitteln durch ihre Unlesbarkeit ein “ markantes Gefühl von Einzigartigkeit ” und provozieren im Betrachter jene “ Ergriffenheit ” , die Greenblatt unter dem Begriff des “ Staunens ” subsumiert hat. Bei der Square Word Calligraphy hingegen werden Staunen und Irritation durch die Resemantisierung der pseudo-chinesischen Schriftzeichen evoziert, die, wie Greenblatt es in seiner Definition der “ Resonanz ” formuliert, über ihre “ formalen Grenzen hinaus in eine umfassendere Welt ” (Greenblatt 1995: 15) wirken und es vermögen, diejenigen Kulturkräfte heraufzubeschwören, denen sie ursprünglich entstammen, nämlich die lange Tradition der Kalligraphie. Diese Kulturkräfte werden dann von Xu Bing vor allem in den erwähnten Folgeprojekten (Square Word Calligraphy Classroom und An Introduction to New English Calligraphy) in die Installation einbezogen und genutzt. Abb. 5: Xu Bing: An Introduction to Square Word Calligraphy, 1994 - 1996. Links wird die richtige Haltung des Pinsels erklärt. In der Ferne so nah und in der Nähe so fern 57 Unübersehbar ist in der Square Word Calligraphy der transkulturelle Aspekt, denn mit den verfremdeten Buchstaben werden ja (zumindest aus westlicher Sicht) chinesische Schriftzeichen und die Tradition der Kalligraphie assoziiert. Die damit verbundene Zeichenresonanz beschränkt sich also nicht auf die formalen Aspekte der Schrift, sondern wirkt in die Praktiken des Schreibens hinein. Daraus ergibt sich auch die große Resonanzwirkung, die sich gerade dadurch erzeugen lässt, dass diese transkulturelle Hybridschrift nicht nur kulturell bedingte Wahrnehmungs- und Lesetechniken, sondern auch die mit ihnen verbundenen Schreibpraktiken hinterfragt. Zu ihnen gehören zunächst jene Utensilien, die der modernen europäischen Kultur für den Vorgang des Schreibens fast ausnahmslos fremd sind: Pinsel, Tusche, Reibestein und saugfähiges, das Licht absorbierendes, leicht gelbgetöntes Papier. Mit diesen Materialien verbunden ist eine besondere Art der Pinselhaltung, die eine Kultur- und Schriftgeschichte voraussetzt, deren Zeichen der traditionellen Überlieferung nach Tierspuren nachgeahmt worden sind (siehe dazu Abb. 5). Die Pinselhaltung wiederum ist mit einer aus westlicher Sicht eher ungewöhnlichen Sitzweise und Körperhaltung verbunden. Kalligraphie, so Xu Bing, ist etwas anderes als Schreiben: “ Sie ist nicht nur ein Mittel der Kommunikation, sondern eine Tätigkeit, die künstlerischen Ausdruck mit geistiger Kraft verbindet. Vom ersten Strich bis zur Vollendung des Wortes geht es um unseren ganzen Körper. [. . .] Durch diese Übung werden unser Geist, unser Körper und unsere Gedanken ein neues Reich betreten. ” (Xu Bing, zit. n. Erickson 2001: 69) Die Square Word Calligraphy ist folglich viel mehr als nur ein intellektuelles Spiel mit Zeichen verschiedener Schriftsysteme; sie ist eine Schreibpraxis, deren Resonanzraum, der sich im transkulturellen In-Between durch die Überkreuzung der verschieden geprägten Blickrichtungen, durch das Spiel der Distanzen und die Erprobung von Wahrnehmungs-, Schreib- und Entzifferungstechniken konstituiert, im Sinne von Homi Bhabha als ein “ dritter Raum ” verstanden werden kann, d. h. als ein Raum des Austausches, des Wandels, der gegenseitigen Stimulation und auch als ein Raum der Hybridisierung und kreativen Neuschöpfung. (Vgl. Bhabha 1994: 53 f.) Bibliographie Bhabha, Homi K. 1994: The Location of Culture, London/ New York: Routledge. Erickson, Britta 2001: Words Without Meaning, Meaning Without Words. The Art of Xu Bing, Washington, D. C./ Seattle: University of Washington Press in association with the Arthur M. Sackler Gallery, Smithsonian Institution. Greenblatt, Stephen 1993: Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance, Frankfurt a. M.: Fischer. Greenblatt, Stephen 1995: Schmutzige Riten. Betrachtungen zwischen Weltbildern, Frankfurt a. M.: Fischer. Michaux, Henri 1994: Ideogramme in China, Graz/ Wien: Droschl. Silbergeld, Jerome und Dora C. Y. Ching (eds.) 2006: “ Question and Answer Session. ” In: Persistence/ Transformation. Text as Image in the Art of Xu Bing, Princeton: Princeton Univ. Press. Xu Bing 1996: Introduction to Square Word Calligraphy, Selbstverlag. 58 Arne Klawitter (Tokyo)