eJournals Kodikas/Code 38/1-2

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2015
381-2

Was unterscheidet Mensch und Tier?

2015
Sarah Baumann
K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 38 (2015) · No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Was unterscheidet Mensch und Tier? Eine Analyse verschiedener Sprachursprungstheorien Sarah K. Baumann The following article focuses on the origin of the human language, contrasting philosophical and scientific-orientated views. It illuminates modern language theories and puts an emphasis on main differences of the very own forms of interaction among humans and animals. Since language is closely linked to the cognitive abilities of the human species, the article depicts three theories and ideas of renowned-scientists Michael Tomasello, Robin Dunbar and Karl Bühler. The article shows that the many different theories and contributions to the field of the origin of language differ in various contents and interpretations, hence shows that it is inevitably important to differentiate and clarify innovative ideas and views. It explores ideas of the three concepts, concentrating on the ideas that Karl Bühler elaborates in his “ Sprachtheorie ” , concluding that even though Bühlers ideas are historically prior to the two others, it still persists as a reasonable deliberations up to this very recent day. 1 Einführung Die Frage nach dem Ursprung der Sprache wird seit vielen Jahrhunderten in verschiedenen Wissenschaften diskutiert. Vor allem im Zeitalter der Aufklärung stand der naturwissenschaftlichen Position eine philosophische gegenüber. Eine der philosophischen Sichtweisen vertrat unter anderem Johann Gottfried Herder, welcher sich in seiner Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772) dazu äußerte. Im Jahr 1851 war es Jacob Grimm, der in einem Vortrag seiner Meinung Ausdruck verlieh, dass es die Aufgabe der Sprachwissenschaften sei, den Ursprung der Sprache zu klären (cf. Jäger 2009). Die Evolutionsbiologie geht von einer stufenweisen Entwicklung des frühen Menschen aus, zu welcher sich zeitgleich auch die Sprache entwickelte. Der Anthropologe Andre Leroi- Gourhan formulierte es als “ eine Kette der Befreiungen ” (cf. Leroi-Gourhan 2009), welche mit der Aufrichtung des Ganges begann. Da die Hände nun nicht mehr zur Fortbewegung nötig waren, eröffnete sich die Möglichkeit der handgestützten Kommunikation sowie die Entwicklung des technischen Handelns. Das Gesicht wurde von der Aufgabe des Ergreifens der Nahrung entlastet. Durch den aufrechten Gang veränderte sich außerdem die Aufhängung des Schädels, aus dem sich eine gravierende Zunahme des Gehirns ergab. Das neu entstandene Gebiet - der Kortikalfächer - beherbergt heute die Bereiche, die für die Steuerung von Hand und Gesicht als auch für die Sprachareale verantwortlich sind. Aufgrund der verschiedenen Ausgangspositionen der einzelnen Wissenschaften bleibt nicht aus, dass es verschiedene Theorien zum Ursprung der Sprache gibt. Wie es tatsächlich zur Sprache kam und aus welchen Gründen sie entstanden ist, kann nicht mit absoluter Gewissheit gesagt werden und soll auch nicht die Aufgabe dieses Aufsatzes sein. In diesem Aufsatz werden aktuelle Theorien zum Ursprung der Sprache mit Blick auf die Abgrenzung zwischen Mensch und Tier analysiert. Da die Sprache eng mit den kognitiven Fähigkeiten verbunden ist, sollen auch diese mit Rücksicht auf die Unterscheidung betrachtet werden. Die Ausrichtung dieses Aufsatzes soll schon in der gezielten und punktierten Darstellung der Theorien erkennbar werden. Die Darstellungen der Theorien erheben aus diesem Grund auch keinen Anspruch auf Vollständigkeit, da dies den Umfang dieses Aufsatzes überschritten hätte. Zunächst soll ein Überblick über drei verschiedene Sprachursprungstheorien gegeben werden. Die erste Theorie des Verhaltensforschers Michael Tomasello ist die zurzeit aktuellste und zeichnet sich durch seine besonderen Forschungen aus. Tomasello beschäftigt sich sowohl mit der Erforschung von Menschenaffen als auch mit der Ontogenese des Menschen. Dadurch ist es ihm gelungen, einen entscheidenden Teil zur Abgrenzung zwischen Mensch und Tier zu erörtern. Die zweite Position ist von Robin Dunbar, der durch die Beobachtungen von Menschenaffen und ihrem erkennbaren sozialen Verhalten auf eine mögliche evolutionäre Geschichte des frühen Menschen schließt. Ausschlaggebender Punkt für seine Theorie ist der Zusammenhang zwischen der relativen Größe des Neokortex und der Gruppengröße, in der die verschiedenen Arten der Säugetiere zusammenleben. Die dritte und grundlegendste Theorie ist von Karl Bühler, welche er zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte. Auch Bühler nutzt vor allem die Ontogenese des Menschen als wichtige Quelle zur Unterstützung seiner Theorie. Ebenfalls beschäftigte er sich mit der Forschung über die Verhaltensweisen von Menschenaffen. Im Anschluss an die Darstellungen werden die Sprachursprungstheorien in einer kontrastiven Gegenüberstellung hinsichtlich ihrer entscheidenden Merkmale miteinander verglichen. Die Analyse soll als Basis für eine Bewertung der Sprachursprungstheorien fungieren. Abschließend soll die Ausgangsfragestellung (was unterscheidet Mensch und Tier? ) aufgegriffen und im Sinne der Theorien beantwortet werden. 2 Die Darstellung der Sprachursprungstheorien 2.1 Die Sprachursprungstheorie von Michael Tomasello Die Grundlage für die erste Position dieses Aufsatzes ist die Publikation Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation (2009), welche von Michael Tomasello, einem amerikanischen Anthropologen und Verhaltensforscher, verfasst wurde. Tomasello forscht seit dem Jahr 1997 am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig und lehrt zudem als Professor an der Universität Leipzig. Anhand seiner Forschungserkenntnisse der letzten Jahre, die auf empirischen Studien zur Kommunikation von Menschenaffen sowie dem Spracherwerb von Kleinkindern beruhen, entwickelte er sein Konzept der geteilten Intentionalität. Mit diesen Forschungen versucht Tomasello unter anderem, die Unterschiede zwischen Mensch und Tier in Bezug auf die Sprache zu verdeutlichen und zu benennen. 26 Sarah K. Baumann 2.1.1 Intentionale Kommunikation der Primaten Gleich zu Beginn führt Tomasello die Unterscheidung zwischen intentionaler und kooperativer Kommunikation ein, welche für seine weiteren Untersuchungen von hoher Bedeutung ist. Unter intentionaler Kommunikation versteht er eine, die das Verhalten oder die psychologischen Zustände des Empfängers absichtlich zu beeinflussen versucht. Möchte der Kommunizierende mit dem Empfänger der Kommunikation etwas teilen oder ihm helfen, spricht Tomasello von kooperativer Kommunikation (cf. Tomasello 2011: 25 f.). 1 Er untersucht zunächst die intentionale Kommunikation der Primaten und führt eine weitere Unterscheidung ein - die zwischen Kommunikationsdisplays und Kommunikationssignalen. Bei den Kommunikationsdisplays handelt es sich um starre körperliche und verhaltensbezogene Äußerungen, die an emotionale Zustände gebunden sind, über welche das Individuum keine Kontrolle hat (cf. ibid.: 25). Displays sind etwas Stimmliches, also Vokalisierungen, die vor allem in Gefahrensituationen an die gesamte Gruppe ausgesandt werden. Sie sind außerdem genetisch festgelegt. Dafür spricht die Tatsache, dass selbst in Isolation aufgewachsene Primaten über ein Repertoire an Warnrufen verfügen, welches mit dem der Artgenossen identisch ist (cf. ibid.: 27). Sie sind durch evolutionäre Prozesse und vor allem durch die Notwendigkeit, in Gefahrensituationen schnell zu reagieren entstanden, so vermutet Tomasello. Dies würde auch erklären, wieso bisher alle Versuche, Menschenaffen neue Vokalisierungen beizubringen, gescheitert sind (cf. ibid.: 28). Die Kommunikationssignale lassen sich nur bei Primaten, genauer bei den Menschenaffen, aber bei keinem anderen Tier nachweisen. Sie sind im Gegensatz zu den Displays flexibel einsetzbar und werden an die Umstände angepasst. Hierzu zählt Tomasello auch die auf Gesten basierende Kommunikation. 2 Es gibt auch Gesten, die Primaten zum Austausch verwenden, welche genetisch festgelegt sind. Diese zählt Tomasello aber zu den Displays. Er nennt diese Form von Gesten auch Intentionsbewegungen. Hierbei wird nur der erste Schritt einer normalen Verhaltenssequenz vollzogen, um eine Reaktion beim Empfänger auszulösen (cf. ibid.: 33). Der andere Teil der Gesten wird erlernt und flexibel genutzt. Diese betreffen soziale Interaktionen, welche evolutionär weniger erforderlich waren wie z. B. spielen (cf. ibid.: 31). Interessant ist, dass Primaten diese Gesten nur verwenden, wenn der Empfänger ihnen gegenüber aufmerksam ist, und darüber hinaus warten sie auch die Antworten ab. Man könnte diese Gesten daher als Intentionsbewegungssignale bezeichnen, da sie das Verhalten des Empfängers zu beeinflussen versuchen. Tomasello geht davon aus, dass diese ontogenetisch ritualisiert werden, um sie dann flexibel einsetzen zu können (cf. ibid.: 36 f.). Menschenaffen erkennen, wenn der potenzielle Empfänger ihrer Kommunikation sie nicht wahrnimmt, und dann sorgen sie dafür, dass sie die benötigte Aufmerksamkeit erhalten. Dies geschieht durch die sogenannten Aufmerksamkeitsfänger (z. B. anstupsen oder etwas werfen), mit denen sie den Fokus des Empfängers auf eine Geste lenken wollen (cf. 1 Die Terminologie wird hier als auch an anderen Stellen von Tomasello übernommen. 2 Tomasello geht davon aus, dass Kommunikationssignale der Primaten mehr mit der menschlichen Kommunikation gleich haben als etwa Kommunikationsdiplays. Darauf aufbauend entwickelt er die These, dass die sprachliche Kommunikation der Menschen aus der gestischen der frühen Menschen hervorgeht (cf. Tomasello 2011: 32). Bühler würde Tomasello daher als einen “ Stoffdenker ” bezeichnen, da er von Materiellem - der Geste - auf Immaterielles - die Sprache - schließt. Es handelt sich also um eine klassische “ Stoffentgleisung ” (cf. Bühler 1978: 165 f.). Aufgrund der Fragwürdigkeit dieser These, soll diese in der weiteren Darstellung keine Rolle spielen. Was unterscheidet Mensch und Tier? 27 ibid.: 38 f.). Es gibt auch Aufmerksamkeitsfänger, die ohne Gesten funktionieren. Diese gehen nach Tomasello in die Richtung der gegenstandsbezogenen Kommunikation, und daher bezeichnet er diese als “ referentielle ” 3 Intention. Die Aufmerksamkeitsfänger sollen den Fokus des Empfängers auf einen Gegenstand lenken, in der Erwartung, dass dieser etwas Bestimmtes damit macht. Die referentielle Intention unterscheidet Tomasello von der sozialen Intention, welche sich dadurch kennzeichnet, dass der Kommunizierende den Empfänger zu einer Handlung motivieren möchte (cf. ibid.: 41). Menschenaffen reihen Aufmerksamkeitsfänger und Intentionsbewegungen zu Sequenzen aneinander, diese verfügen allerdings nicht über grammatikalische Strukturen. Viel mehr werden verschiedene Möglichkeiten ausprobiert, und zwar solange bis die gewünschte Reaktion des Empfängers eintritt. In der Kommunikation mit Menschen erlernen Menschenaffen zwar keine neuen Vokalisierungen, aber dafür gestische Fertigkeiten, welche sie gegenüber von Menschen einsetzen. Die häufigste Geste ist das Zeigen, welche auch als imperative Geste verstanden wird (cf. ibid.: 47). Im Käfig eingesperrte Menschenaffen zeigen z. B. auf Futterquellen, damit der Mensch ihnen etwas davon gibt. Dieses Verhalten lässt sich nach Tomasello als Aufforderung verstehen. Andere Möglichkeiten der Aufforderung sind auch den Menschen an der Hand zu etwas hinzuziehen oder auf eine verschlossene Tür zu zeigen (cf. ibid.: 48). Alle diese Zeigegesten haben keine andere Funktion, als die des Aufforderns. Menschenaffen informieren nicht, noch wollen sie durch das Zeigen etwas mit anderen Individuen teilen (cf. ibid.: 50). In verschiedenen Untersuchungen konnte Tomasello nachweisen, dass Menschenaffen informatives Zeigen nicht einmal richtig deuten können. Wahrscheinlich liegt es daran, dass sie selbst nur auffordern können, und über kein Verständnis für andere als altruistisch handelnde Akteure verfügen (cf. ibid.: 53). Weiter noch verwenden Menschenaffen die Zeigegesten nur gegenüber von Menschen. Tomasello begründet dies mit der möglichen Erkenntnis ihrerseits, dass Artgenossen nicht so motiviert sind, ihren Aufforderungen nachzukommen, wie Menschen es sind (cf. ibid.: 49). Die Flexibilität, mit welcher die Menschenaffen verschiedene Gesten einsetzen, zeigt, dass auch bei ihnen so etwas wie Lernen eine Rolle spielt. Dabei könnte es sich um einfaches Lernen handeln: In bestimmten Situationen sind bestimmte Gesten wirksam und in anderen Situationen andere Gesten. Es könnte sich aber auch um komplexe kognitive Prozesse handeln, welche ein Verständnis der Intentionalität des Empfängers beinhalten. Diese These vertritt Tomasello in seiner Theorie (cf. ibid.: 57). Ein Großteil der Kommunikation der Primaten ist zwar genetisch fixiert, um aber in bestimmten Situationen eine angemessene Geste zu verwenden, bedarf es eines kognitiven Modells. Dieses gibt an, wie der Empfänger etwas wahrnimmt und wie er darauf reagieren könnte. Tomasello und andere konnten durch Forschungen zeigen, dass Menschenaffen ein Verständnis dafür haben, wie andere als intentionale und wahrnehmende Akteure funktionieren. Ein Beleg dafür ist, dass Menschenaffen in verschiedenen Tests erkennen konnten, ob jemand etwas absichtlich misslingen ließ oder ob er es tatsächlich nicht konnte (cf. Kapitel 2.2.3). Wenn ein Mensch nach etwas griff, was außerhalb seiner Reichweite lag, 3 Anführungszeichen wurden von Tomasello übernommen. Er setzt diese, da sich die Bezugnahme auf Gegenstände der Affen, der des Menschen zwar ähnelt, aber sich auch davon unterscheidet (cf. Tomasello 2011: 41). 28 Sarah K. Baumann “ half ” 4 der Affe ihm es zu bekommen. Menschenaffen erkennen demnach, dass Individuen Dinge in der Welt wahrnehmen und darauf reagieren. Sie verstehen andere damit als intentionale Akteure (cf. ibid.: 58 f.). Für Tomasello ist die Annahme plausibel, nach welcher Menschenaffen über etwas wie eine individuelle Intentionalität verfügen. Sie wissen was andere wollen, sehen oder machen. Tomasello macht auch darauf aufmerksam, dass diese Annahme allerdings nicht überinterpretiert werden sollte, und den tierischen Verhaltensweisen keine menschliche Interpretation zugeschrieben werden darf (cf. ibid.: 62). Es gibt einen bedeutenden Unterschied zur menschlichen Kommunikation: Der menschliche Empfänger fragt nach dem “ Warum ” , woraus sich eine andere Art des Schlussfolgerns ergibt (cf. Kapitel 2.2.3). Menschliche Kommunikation wird stark durch kooperative Motive beeinflusst, daher spricht Tomasello im Zusammenhang mit Menschen auch von einer geteilten Intentionalität, im Gegensatz zu der individuellen Intentionalität der Menschenaffen (cf. ibid.: 65). 2.1.2 Kooperative Kommunikation der Menschen Seine Untersuchung der menschlichen Kommunikation beginnt Tomasello nicht bei der Sprache, da der sprachliche Code auf einer Infrastruktur begründet sein muss, welche selbst nicht sprachlich sein kann. Dies würde nach Tomasello nämlich voraussetzen, was es zu begründen gilt. Er geht davon aus, dass sprachliche Codes auf einer Struktur des intentionalen Verstehens sowie einem gemeinsamen begrifflichen Hintergrund basieren. Deshalb wählt Tomasello als Ausgangspunkt seiner Untersuchung die “ unkodierte Kommunikation ” und als Kandidaten dafür sieht er die “ natürlichen Gesten ” (ibid.: 69 f.). 5 Er konzentriert sich auf Gesten, die weder als Ergänzung zur Sprache noch als Ersatz für diese verwendet werden. Tomasello geht davon aus, dass dies die beste Möglichkeit sei, um die verschiedenen Bestandteile der kooperativen Kommunikation zu erkennen. Er legt den Schwerpunkt der Untersuchung daher auf Kleinkinder, welche sich noch vor dem Spracherwerb befinden (cf. ibid.: 71). Es gibt zwei Grundformen der gestischen Kommunikation des Menschen. Lenkt der Kommunizierende die Aufmerksamkeit des Empfängers auf etwas räumlich Anwesendes, wird dies als deiktische Geste bezeichnet. Lenkt der Kommunizierende die Einbildungskraft des Empfängers auf etwas, das räumlich oder zeitlich abwesend oder nicht ersichtlich ist, handelt es sich um eine ikonische Geste (cf. ibid.: 72). Die deiktische oder auch Zeigegeste gilt als Prototyp der menschlichen Gesten, so Tomasello. Damit der Empfänger die Geste, aber vor allem die dahinterstehende soziale Intention des Kommunizierenden versteht, bedarf es seinerseits zusätzlicher kognitiver 4 Merkwürdig, dass Tomasello an dieser Stelle den Begriff des Helfens verwendet, da es doch im Widerspruch dazu steht, dass Affen anderen aufgrund ihrer mangelnden altruistischen Fertigkeiten nicht helfen können. 5 Stark zu kritisieren ist hier der Begriff der “ unkodierten Kommunikation ” . Kommunikation ist immer kodiert, da die gegenseitige Steuerung, die dadurch intendiert wird, als solche aufgefasst und interpretiert werden muss, um eben sinnvoll zu werden. Interessant ist, dass Tomasello dies im Folgenden als die “ kognitive Arbeit des Empfängers der Kommunikation ” beschreibt. Seine Argumentation und seine Terminologie weisen an dieser Stelle eine unübersichtliche Inkonsistenz auf. Des Weiteren beschreibt er die “ natürlichen Gesten ” als besten Kandidaten für die “ unkodierte Kommunikation ” . Auch Gesten können weder unkodiert noch natürlich sein, weil sie als Zeichen für etwas stehen, dass es zu erfassen gilt. Was unterscheidet Mensch und Tier? 29 Arbeit. Ob und wie der Empfänger die Zeigegeste dann interpretiert oder ob sie für ihn sinnvoll wird, hängt von dem geteilten Hintergrundwissen ab (cf. ibid.: 74 f.). Die ikonische Geste 6 kommt dann zum Einsatz, wenn der Bezugsgegenstand nicht gegenwärtig ist. Der Kommunizierende vollzieht mit vollem Körpereinsatz eine Handlung, um einen Gegenstand oder eine Handlung darzustellen. Der Empfänger muss hier die doppelte kognitive Arbeit leisten. Er muss den Bezugsgegenstand oder die Handlung erschließen und erkennen, warum der Kommunizierende ihn darauf aufmerksam machen möchte, also die referentielle Intention als auch die soziale Intention (cf. ibid.: 77). Das funktioniert nur auf der Grundlage eines gemeinsamen begrifflichen Hintergrundes. Vor allem muss der Empfänger aber verstehen, dass hinter der ikonischen Geste auch eine kommunikative Absicht steckt. Beide Gestenformen lassen sich bei Kleinkindern vor dem Spracherwerb nachweisen, und da stellt sich die Frage, wie Gesten, ohne dass sie aus einem sprachlichen Code hervorgehen, auf eine solche Weise kommunizieren können (cf. ibid.: 81 f.). Tomasellos Antwort darauf ist das Kooperationsmodell der menschlichen Kommunikation. 2.1.2.1 Das Kooperationsmodell der menschlichen Kommunikation Durch einfache Gesten können Menschen auf komplexe Weise handeln: Sie verstehen diese durch soziales Interagieren und Kooperieren. Die Kooperation beinhaltet zudem Prozesse geteilter Intentionalität (cf. ibid.: 83). Tomasello bezieht sich auf Searle, der dies wie folgt beschrieb: “ Collective intentionality presupposes a background sense of the other as a candidate for cooperative agency; that is, it presupposes a sense of others more than mere conscious gents, indeed as actual or potential members of a cooperative activity ” (Searle 1990: 414). Tomasello gliedert dieses Verständnis von den anderen als kooperative Akteure für die weitere Theorienbildung wie folgt auf: Es bedarf kognitiver Fähigkeiten zur Erzeugung gemeinsamer Intentionen, Aufmerksamkeit und anderer Formen eines gemeinsamen begrifflichen Hintergrundes. Und es bedarf der sozialen Motivation, anderen zu helfen und zu teilen sowie der Bildung der gegenseitigen Erwartungen an diese kooperativen Motive (cf. Tomasello 2011: 84). Tomasello stellt zu Beginn die Frage, woher die kognitive Komplexität von Zeigegesten stammen könne. Eine mögliche und einfache Antwort wäre: aus dem Kontext. Tomasello bemängelt allerdings, dass diese Antwort mehr als unzureichend sei, denn ein Kommunikationskontext beinhalte viel mehr als nur die unmittelbare Umgebung. Dazu gehören auch der geteilte Kontext, ein gemeinsamer Aufmerksamkeitsrahmen sowie der intersubjektive Kontext. Letzteres meint, das was beide wissen, was sie gemeinsam wissen. Der intersubjektive Kontext ist für den Empfänger wichtig, denn nur so weiß er, worauf der Kommunizierende die Aufmerksamkeit legt und wieso er dies macht. Der Empfänger erschließt so die referentielle, als auch die soziale Intention des Kommunizierenden. Wichtig ist, dass der gemeinsame Hintergrund in direkter Konkurrenz immer die individuelle Bedeutsamkeit übertrifft (cf. ibid.: 86 f.). 6 Diese Gesten hängen stark mit Symbolisierungen zusammen und werden aufgrund dessen, so Tomasello, von Menschenaffen nicht verübt (cf. Tomasello 2011: 77). 30 Sarah K. Baumann Tomasello schlägt eine Art Typologie des gemeinsamen Hintergrunds vor, welche auf folgenden drei Unterscheidungen beruhen soll. Ist der gemeinsame Hintergrund auf gemeinsame Erfahrungen oder die unmittelbare Wahrnehmung gegründet, nennt Tomasello dies die “ gemeinsame Aufmerksamkeit ” (ibid. 89). Der gemeinsame Hintergrund kann aber auch durch Top-down-Prozesse, als auch durch Bottom-up-Prozesse erzeugt werden. Dies bedeutet, man arbeitet auf ein gemeinsames Ziel hin oder, beide nehmen etwas wahr, von dem sie wechselseitig wissen, dass sie es wahrnehmen. Eine weitere Möglichkeit des gemeinsamen Hintergrundes sind verallgemeinerbare Dinge, etwas wie das gemeinsame kulturelle Wissen. Für Tomasello ist es in diesem Zusammenhang wichtig zu betonen, dass die Beziehung zwischen der Kommunikation und dem Hintergrundwissen eine komplementäre ist, d. h. je größer der gemeinsame Hintergrund, desto weniger muss offen kommuniziert werden (cf. ibid.: 90). Daraus schließt er, die leistungsstarken Eigenschaften, die der Sprache zugeschrieben werden, können in grundlegender Weise auch der kooperativen Kommunikation durch einfache Gesten zugeschrieben werden (cf. ibid.: 93). Die soziale Motivation hinter der Kommunikation teilt Tomasello in drei elementare Kommunikationsmotive auf: Das erste Motiv ist das Auffordern, welches die Menschen mit den Menschenaffen teilen. Allerdings unterscheidet sich die menschliche Weise des Aufforderns dadurch, dass über Wünsche informiert werden kann oder jemand um etwas bittet. Diese Art des Aufforderns nennt Tomasello kooperative Imperative, im Gegensatz zu den imperativen Aufforderungen der Tiere (cf. ibid.: 95 f.). Das zweite Motiv ist das Informieren, man bietet dabei Hilfe aus altruistischen Gründen an. Dieses Motiv taucht in der Ontogenese der Menschen schon früh auf, ist aber bei den Tieren oder gar den Menschenaffen nicht zu erkennen (cf. ibid.: 96 f.). Teilen, welches das dritte Motiv darstellt, meint den Austausch von Gefühlen und Einstellungen. Das Teilen von Gefühlen ist zudem eine Möglichkeit zur Erweiterung des gemeinsamen Hintergrundes (cf. ibid.: 98). Über die sozialen Motivationen hinaus entstehen wechselseitige Annahmen der Hilfsbereitschaft. Durch diese Art der Kooperation, nach welcher beide annehmen, dass die Kommunikation zu ihrem oder von gemeinsamem Nutzen ist, entsteht nach Tomasello eine zusätzliche Schicht der Intentionalität (cf. ibid.: 100). Zudem werden diese wechselseitigen Erwartungen an andere zu kontrollierbaren sozialen Normen sowie Verpflichtungen. Tomasello bezeichnet diese als kooperative Schlussfolgerungen, da Menschen die Normen verstehen als auch darauf reagieren (cf. ibid.: 105 f.). Die motivationale Struktur der menschlichen Kommunikation ist demnach eine rekursive und gerade diese Rekursivität ist für die Anerkennung der Normen der Kooperation unentbehrlich. Diese entscheidende Fähigkeit des Menschen liegt im rekursiven Erkennen von Intentionen (cf. ibid.: 107 f.). 2.1.2.2 Die Grundzüge des Kooperationsmodells anhand der Ontogenese Die ontogenetische Entwicklung des Menschen ist für Tomasello die wichtigste Belegquelle für sein Kooperationsmodell der Kommunikation. Es gibt viele Studien, welche die Kommunikationsakte von Kleinkindern vor dem Spracherwerb festhalten und für wichtige Bestandteile seiner Theorie relevant sind. Darüber hinaus lassen sich anhand der Ontogenese wichtige Fragen klären, z. B. “ ob die Entstehung kooperativer Kommunikation [. . .] mit dem Entstehen umfassender Fertigkeiten und Motivationen geteilter Intentionalität verbunden ist ” (ibid.: 122). Was unterscheidet Mensch und Tier? 31 Mit etwa zwölf Monaten beginnen Kleinkinder, deiktische Gesten zu verwenden, noch bevor sie ihre ersten Worte sprechen. Ob sie diese durch ein Verhalten ritualisieren oder sie die Gesten durch Imitation erlernen, ist nicht geklärt. Tomasello hat die Vermutung, dass sie auf natürliche Weise zum Zeigen kommen, was dahingestellt sei (cf. ibid.: 124). Es stellt sich daher aber die Frage, warum Kleinkinder nicht schon früher mit dem Zeigen beginnen. Tomasello glaubt, dass es mit den noch fehlenden Fertigkeiten der Intentionalität zusammenhängt, welche sich erst um den ersten Geburtstag herum entwickeln (cf. ibid.: 152). Mit dem Auftreten der Intentionalität entwickeln sich zunehmend die sozialen Intentionen der kooperativen Kommunikation. Kleinkinder verwenden Zeigegesten aus verschiedenen sozialen Intentionen. Sie fordern nicht nur im klassischen Sinne der imperativen Geste auf, sondern wollen andere in Bezug auf Gegenstände dazu bringen, eine bestimmte Handlung zu vollziehen. Neben dem Auffordern nutzen Kinder die Zeigegesten auch, um andere auf etwas aufmerksam zu machen, also als deklarative Geste. Kleinkinder können nach Tomasello durch das Zeigen ebenfalls auf räumlich oder zeitlich Abwesendes aufmerksam machen. Dies ist ein Beleg dafür, dass Kleinkinder schon vor dem Spracherwerb über die Wahrnehmungsebene hinweg kommunizieren und über geistige Repräsentationen von Dingen verfügen (cf. ibid.: 128 f.). Aus den imperativen und deklarativen Zeigegesten von Kleinkindern lassen sich weitere Motive ableiten, so Tomasello. Er unterteilt die deklarativen Gesten in zwei Untertypen, die den Motiven des Teilens und Helfens entsprechen (cf. ibid.: 130). Kleinkinder verfügen demnach schon vor dem Spracherwerb über die drei Klassen der sozialen Intention (cf. ibid.: 136). Der gemeinsame Hintergrund spielt bei der Verwendung von Zeigegesten von Kleinkindern eine wichtige Rolle. Anhand seiner Forschungen konnte Tomasello zeigen, dass Kinder die Zeigegesten eines anderen nicht aus ihrem eigenen Interesse heraus deuten, sondern dass die zuvor geteilte Aufmerksamkeit, also der gemeinsame Hintergrund, für die Deutung entscheidend ist (cf. ibid.: 140 f.). In den folgenden Jahren entwickelt sich die intentionale Struktur der Kinder weiter. Kinder können erst ab dem Alter von drei bis vier Jahren so etwas wie eine verborgene Urheberschaft oder Verheimlichungen verstehen, und auch erst dann sind sie selbst in der Lage zu lügen (cf. ibid.: 146). 2.2 Die Sprachursprungstheorie von Robin Dunbar Der Evolutionspsychologe Robin Dunbar, welcher bis zum Jahr 2007 als Professor an der Universität von Liverpool tätig war, veröffentlichte erstmals im Jahr 1996 das Buch Grooming, Gossip and the Evolution of Language. Dieses dient als Grundlage für die zweite Position dieses Aufsatzes. Dunbar sorgte mit seiner These, die Sprache sei lediglich entstanden, um sich über andere austauschen zu können, für Aufsehen in der Wissenschaft. Er begründet die Entstehung der Sprache als eine notwendige Weiterentwicklung des zeitaufwendigen Kraulens unter Primaten, welches die Gruppe zusammenhält. Aufgrund des evolutionären Drucks mussten sich die Gruppen der frühen Menschen vergrößern, und es blieb nicht mehr genügend Zeit zum Kraulen. Sie mussten eine andere Möglichkeit finden, um ihre Gruppen zusammenzuhalten. - Im folgenden Kapitel soll diese Argumentation zur Entstehung der Sprache, in Bezug auf die Unterschiede zwischen Mensch und Tier, anhand ihrer wichtigen Punkte beschrieben werden. 32 Sarah K. Baumann 2.2.1 Von der Gehirnzur Gruppengröße Für Dunbar ist die Größe des Gehirns in Relation zum Körpergewicht zu Beginn seiner Untersuchung von Interesse. Denn es ist ein Fakt, dass ein großes Gehirn nicht zufällig vorhanden sein kann, da es ein zu anspruchsvolles Gewebe ist (cf. Dunbar 2000: 76 f.). Das menschliche Gehirn macht nur rund zwei Prozent des Körpergewichtes aus, verbraucht aber zwanzig Prozent der zugeführten Energie. Auffällig ist für Dunbar, dass Primaten in einer Tabelle, welche die Relation des Gehirns zur Körpergröße verschiedener Tiere wiedergibt, sehr viel höher stehen als andere Säugetiere. Nach gleicher Methode der Berechnung ist das Gehirn des Menschen etwa neunmal größer als das anderer Säugetiere, und der Mensch steht damit an der Spitze der Tabelle (cf. ibid.: 77). Eine Hypothese aus den Siebzigerjahren besagt, dass ein großes Gehirn notwendig sei, um das Überleben der Spezies zu sichern. Die verschiedenen Spezies waren demnach unterschiedlichen Schwierigkeiten im Alltag ausgesetzt und je schwieriger das alltägliche Leben, desto größer musste das Gehirn sein. Diese Hypothese, auch als ökologische Hypothese bekannt, wird durch viele Indizien gestützt, steht aber in Konkurrenz zur machiavellistischen Intelligenzhypothese aus den Achtzigerjahren. Nach dieser ist das Gehirn einer Spezies größer, wenn sie in komplizierteren und komplexeren sozialen Gebilden lebt. Diese Hypothese, wie oft beklagt, sei zu ungenau, und es gibt zu wenig Beweise, welche sie stützen könnten (cf. ibid.: 80 f.). Dunbar vertritt allerdings die Meinung, dass einige wichtige Indizien, welche die ökologische Hypothese stützen, verwechselt wurden. Die Kausalbeziehungen zwischen den Variablen Gehirngröße, Körpergröße, Reviergröße und dem Früchteessen sind nur schwer zu entwirren (cf. ibid.: 82). Dunbar erkennt eine mögliche Ursache des Problems, dass bei den Untersuchungen, wie auch bei seinen bisherigen, die Gesamtgröße des Gehirns von Bedeutung war. Das Gehirn besteht aus verschiedenen Teilen und eines davon, die Großhirnrinde, lässt sich nur bei Säugetieren finden. Ein Bereich der Großhirnrinde - der Neokortex - welcher auch als “ denkender ” Teil des Gehirns bezeichnet wird, ist bei den Primaten überdurchschnittlich vergrößert (cf. Kapitel 2.3.1). Demnach ist nicht die Gesamtgröße des Gehirns entscheidend für die Untersuchungen, sondern die Größe des Neokortex in Relation zur gesamten Gehirngröße (cf. ibid.: 83). Anhand von weiteren Untersuchungen konnte Dunbar einen engen Zusammenhang zwischen der relativen Größe des Neokortex und der Gruppengröße der Primaten nachweisen. Die Gruppengröße nutzt Dunbar aus zwei Gründen als ein Maß für soziale Komplexität. Zum einen ist es ein Faktor, den Freilandforscher immer festhalten, und zum anderen, weil die soziale Komplexität mit der Gruppengröße automatisch zunimmt (cf. ibid.: 86). Warum aber leben Primaten überhaupt in Gruppen zusammen? Hauptsächlich dient das Leben in der Gruppe der gemeinsamen Verteidigung gegen Raubtiere. Damit ist die Geselligkeit ein Hauptbestandteil der Selbsterhaltung und Evolutionsstrategie. Die Tiere müssen in der Gruppe allerdings ständig die Balance zwischen zwei Kräften halten. Da ist die Neigung zum Zusammensein, zum Schutz vor Gefahren und das Streben nach Einsamkeit mit den dazugehörigen Annehmlichkeiten. Das Produkt dieses Balanceaktes ist für Dunbar die daraus resultierende Gruppengröße (cf. ibid.: 31). Zwar ist die Gruppengröße nur ein grober Maßstab, sie aber bietet Hinweise darauf, wie viele Informationen ein Tier verarbeiten muss, und ist damit ein Argument zugunsten der machiavellistischen Intelligenzhypothese (cf. ibid.: 85 f.). Was unterscheidet Mensch und Tier? 33 Allerdings gibt es andere Möglichkeiten, den Zusammenhang zwischen Gruppengröße und Neokortex zu deuten. Neben der Anzahl der Beziehungen könnte es auch um die Qualität dieser gehen, so Dunbar. Er stellt daher die Fragen, ob und wie Primaten das Wissen über andere Nutzen. Dunbar geht davon aus, dass ein Koalitionsverhalten nur möglich ist, weil Primaten eben verstehen, wie ihre Artgenossen reagieren und wie gut sie sich in Gefahrensituationen als Verbündete eignen. 7 Für solche Schlussfolgerungen bedarf es auf der kognitiven Ebene komplexer sozialer Erkenntnisse 8 (cf. ibid.: 36). Eine weitere Möglichkeit zur Bildung und Festigung von Koalitionen zwischen Primaten ist nach Dunbar vor allem das gegenseitige Kraulen. Neben den Hygieneaspekten, wie dem Entfernen von Schuppen, dient es dem Ausdruck der Freundschaft und dem sozialen Austausch (cf. ibid.: 34). Das Kraulen hat wissenschaftlich nachgewiesene Auswirkungen auf die Hormonausschüttungen. Es beruhigt die Einzelnen und wirkt sich so positiv auf die gesamte Gruppe aus. Es kann verschiedene Bedeutungen vermitteln; welche Interpretation die Primaten entnehmen, ist die Grundlage ihres sozialen Seins und hängt damit zusammen, dass sie ein Verständnis für die Handlungen des anderen besitzen (cf. ibid.: 9). Bevor Menschen in modernen Gesellschaften zusammenlebten, verweilten sie in kleinen Horden als Jäger und Sammler. Anhand der Größe des Neokortex in Relation zur Gehirngröße konnte Dunbar auch die ungefähre Gruppengröße errechnen, in der die frühen Menschen miteinander lebten. Er bestimmte dabei einen Wert von 150 Menschen. Um diese Zahl nachzuweisen, sucht Dunbar nach Völkern, die noch heute so leben, wie damals die Jäger und Sammler. Tatsächlich leben diese in Gruppen von circa 150 Menschen zusammen (cf. ibid.: 92 f.). Die Gruppengröße der so genannten Clans, wie die der australischen Ureinwohner, der Aborigines, liegt im Durchschnitt bei der errechneten Zahl. Aber auch Kirchengemeinden, so Dunbar, haben die ideale Gruppengröße bei unter zweihundert Personen erreicht (cf. ibid.: 94, 98). Den Vorwurf, es handele sich dabei lediglich um Zahlenspielereien, erkennt Dunbar und wendet ihn ab, indem er auf die hohe Trefferrate verweist. Er macht weitere Einschränkungen zugunsten der errechneten Summe, wenn er zwischen dieser und der Summe der Menschen einer Sympathiegruppe unterscheidet, welche circa fünfzehn beträgt. Auch ist ihm bewusst, dass die Gruppe derer, dessen Namen man kennt, deutlich größer ist. Dennoch sei die Zahl von 150 Menschen die Obergrenze, zu denen man eine Art von zwischenmenschlicher Beziehung pflegen kann (cf. ibid.: 100 f.). Dunbar errechnete für Primatengruppen, wie z. B. Schimpansen, eine Zahl von circa fünfzig Tieren. Diese Zahl ist die Obergrenze von Tieren, die in einer Gruppe zusammenleben können, da das Mittel des Zusammenhalts, das Kraulen, eben durchaus 7 Zweifelhaft, ob es ein “ Verständnis ” ist, das sie zusammenführt. Es ist vermutlich eher etwas wie der Überlebensinstinkt. 8 Nach Dunbar nutzen Primaten diese komplexen sozialen Erkenntnisse auch, um anderen zu schaden, was er anhand verschiedener Beispiele zu erläutern versucht (cf. Dunbar 2000: 36, 41). In einem Beispiel stößt ein Pavian “ bewusst ” einen Schrei aus, um zu seinen Gunsten die Situation zu verändern. Die Deutungen dieser Situationen ist fragwürdig. Dunbar interpretiert den Schrei als absichtlich ausgestoßen. Dies steht im Widerspruch dazu, dass Vokalisationen von Primaten fixiert und nicht flexibel einsetzbar sind und es sich eher um einen Ausdruck der Emotionen handelt. Zudem bedeutet “ eine Täuschungsabsicht ” haben, dass der Pavian über Intentionalität eines bestimmten Grades verfügen muss, was nicht bewiesen ist. In einem weiteren Beispiel unterstellt Dunbar zwei Makaken-Männchen, sie würden in “ gemeinsamem Interesse ” handeln, er unterstellt weiter, die Affen würden sich helfen. Es ist allerdings plausibler davon auszugehen, dass sie instinktmäßig handeln. Man könnte es auch so formulieren: Beide handeln in ihrem eigenen Interesse, um ihr jeweiliges Wohl zu vertreten. 34 Sarah K. Baumann zeitaufwendig ist. Dem Kraulen stehen zeitlich die ökologischen Aufgaben gegenüber, wie etwa Futtersuchen, welche der Lebenserhaltung dienen (cf. ibid.: 120). Damit standen die frühen Menschen vor einem Problem. Es gibt einen Zeitrahmen, der die Obergrenze der Gruppe festlegt, aber auch den ökologischen Zwang zur Vergrößerung der Gruppen (cf. ibid.: 103). Warum dies so war, ist nicht genau zu sagen, dennoch stellt Dunbar einige Vermutungen an. Es gab zwei Faktoren, die die Größe der Gruppe begünstigen. Die Gefahr, selbst zur Beute zu werden, und die Notwendigkeit, die eigenen Nahrungsquellen zu verteidigen (cf. ibid.: 153). 2.2.2 Von der Gruppengröße zur Sprache Die frühen Menschen lösten das Zeitproblem durch die “ Erfindung der Sprache ” . Da sie gleichzeitig mit mehreren Menschen sprechen und sie sich außerdem über ein großes Geflecht austauschen konnten, sparten sie Zeit. Das ist ein Vorteil der Sprache: Sie bietet die Möglichkeit, Erfahrungen über andere Menschen auszutauschen, so wurde nicht nur das Berichten, sondern vor allem das Warnen vor Betrügern möglich, und es entstand das Tratschen (cf. ibid.: 104 f.). Einige Theoretiker gehen allerdings davon aus, dass sich Sprache entwickelte, um gemeinschaftliche Tätigkeiten, wie z. B. das Jagen, besser zu koordinieren, folglich aus ökologischen Zwecken. Die Sprache ist nicht plötzlich entstanden, sondern hat sich über längere Zeit hinweg entwickelt. Nach Dunbar verlief die Evolution der Sprache 9 in drei Stadien. Ihren Ursprung hat sie in Kontaktrufen, so die Vermutung, welche auch für Menschenaffen typisch sind. Es handelt sich dabei um eine Art “ Kraulen auf Distanz ” 10 . Als dies nicht mehr ausreichte, hielten sie den Kontakt durch einen ständigen Strom von Geschnatter aufrecht, dessen Inhalt praktisch gleich null war. Dunbar geht davon aus, dass der vokale Austausch als Bindungsmechanismus nach und nach das körperliche Kraulen ablöste. Das dritte und letzte Stadium sei die Entwicklung hin zu Lautäußerungen mit Bedeutungen und dem wesentlichen Inhalt des Zwischenmenschlichen (cf. ibid.: 148 f.). Erst wesentlich später kommt es zur Symbolsprache, die dazu geeignet ist, auch abstrakte Vorstellungen zu benennen. Dieses späte Auftreten der Symbolsprache begründet Dunbar mit der plötzlich auftretenden Veränderung der Werkzeuge (cf. ibid.: 150). Menschen verwenden die Sprache als Bindungsmittel. Ein Beweis dafür ist die Zeit, die Dscheladas mit dem Kraulen verbringen. Sie ist ähnlich hoch wie die Zeit, die Menschen mit zwischenmenschlichen Kontakten verbringen. Neben der Tätigkeit des Kraulens sind Affen sehr stimmbegabt und können durch Laute ihre Gruppenbewegungen koordinieren. In den Achtzigerjahren vermuteten Primatenforscher erstmals, dass das Grunzen der Meerkatzen mehr zu bedeuten hat, als man zunächst annahm. Heraus fand man, dass die verschiedenen Rufe auch unterschiedliche Bedeutungen hatten. So können Tiere durch ihre Laute auf unterschiedliche Feinde aufmerksam machen, was anhand des Verhaltens der Gruppe nachgewiesen wurde (cf. ibid.: 64 f.). Dunbar nimmt des Weiteren an, dass die Lautäußerungen der Dscheladas, z. B. beim Essen, dazu dienen, den 9 Der Begriff der Sprache wird hier im Sinne von Lautäußerungen verwendet. Dunbar arbeitet terminologisch nicht eindeutig und klar. 10 Anführungszeichen nach Dunbar (cf. Dunbar 2000: 148). Was unterscheidet Mensch und Tier? 35 Kontakt zu ihren Kraulpartnern aufrechtzuerhalten und auch in der Lage sind, ihre Wünsche zu äußern. Es handelt sich hierbei nicht bloß um geistloses Geschwätz, so Dunbar, sondern um reale Mitteilungen der augenblicklichen Erregung. Angesichts dieser Befunde 11 zieht er den Schluss in Zweifel, nachdem nur Menschen über Sprache verfügen (cf. ibid.: 68 f.). Dunbar ist sich bewusst, dass es vieles gibt, was gegen diese Sichtweise spricht, und er geht daher auch auf die Gegenpositionen ein. Linguisten und auch Psychologen betonen, dass nur Menschen über eine echte Sprachfähigkeit 12 verfügen. Bei Tieren hingegen handelt es sich um reine Kommunikation, da sie durch ihre Lautäußerungen nicht in der Lage sind, abstrakte Begriffe darzustellen. Zudem beschränkt sich die tierische Kommunikation auf den Ausdruck von Gefühlen (cf. ibid.: 69). Dunbar war nicht der Erste und Einzige mit der Vermutung, nach welcher Primaten über eine einfache Form der Sprache verfügen. Diese Annahme führte bereits zu den Versuchen, ihnen die menschliche Sprache beizubringen. Die bekanntesten Versuche an Schimpansen sind aus den Fünfzigerjahren. 13 Es wurde schnell deutlich, dass es unmöglich ist, ihnen eine Lautsprache beizubringen. Die biologische Erklärung dafür sei der fehlende Stimmapparat. Aufgrund dessen wurde versucht, den Schimpansen eine Zeichensprache beizubringen. Einige Schimpansen lernten um die einhundert Zeichen, was für einige Psychologen lediglich der Beweis dafür war, dass sie über die Fähigkeit des Nachahmens verfügen. Diese Schimpansen waren in der Lage, zwei bis maximal drei Zeichen aneinanderzureihen. Mehr als das war allerdings nicht möglich, und damit befinden sich Primaten auf der Stufe von etwa zweijährigen Menschenkindern (cf. ibid.: 72). 14 2.2.3 Die Theorie des Geistes Dunbar vertritt die Überzeugung, der menschliche Geist nimmt an, dass andere mit ihm kommunizieren wollen. Nach Dunbar sind deshalb Signale, wie die Körpersprache oder auch das eigentliche Reden, wie folgt zu deuten: Es geht weniger um die tatsächliche Bedeutung, sondern darum, was der Geist annimmt, was es bedeutet. Der Geist fragt ständig nach dem “ Was ” und dem “ Warum ” der Kommunikation (cf. Kapitel 2.1.1). Dunbar geht davon aus, dass Menschen über die Veranlagung verfügen, in allem einen Sinn zu suchen, und aufgrund dessen unterstellen sie Tieren und teilweise auch Gegenständen eine Art von Bewusstsein. 15 11 Dies als “ Befunde ” zu bezeichnen, ist fragwürdig. Es scheint, als handele es sich hierbei erneut um eine Fehlinterpretation. Zunächst ist zu kritisieren, dass die Lautäußerungen an Einzelne, an den Kraulpartner, gehen sollen. Die Lautäußerungen sind für alle Gruppenmitglieder gleichermaßen wahrnehmbar, und sie spiegeln lediglich die emotionale Erregung der Tiere beim Essen wider. Dass Tiere dadurch ihre Wünsche äußern, ist ein Anthropomorphismus. 12 Gemeint ist eine auf Symbolen basierende Sprache, welche tatsächlich nur den Menschen zukommt (cf. Kapitel 2.3.3 Bühlers drittes Axiom). 13 Es handelte sich dabei um die englische Sprache. Zwei Familien zogen ihr eigenes Neugeborenes und einen neugeborenen Schimpansen auf. Es bestand die Ansicht, die Schimpansen würden so gleichermaßen sprechen lernen, wie das menschliche Neugeborene. 14 Ein Unterschied liegt schon hier in den Sprachmotiven, welche sich bei den Schimpansen auf das Auffordern beschränken (cf. Kapitel 2.1). 15 Aufgrund dieser Veranlagung machte wohl auch Dunbar die Äußerung, dass ein Dschelada einen Wunsch von sich geben würde. 36 Sarah K. Baumann Wir nehmen an, daß alle anderen mit ihrem Verhalten einen bewussten Zweck verfolgen, und verwenden einen großen Teil unserer Zeit auf den Versuch, uns in sie hineinzuversetzen und ihre Absichten zu erraten. Diese Wahrnehmung ist so tief in uns verwurzelt, daß wir sie leicht auf Tiere und manchmal sogar auf die unbelebte Welt übertragen (ibid.: 107). 16 Es gibt philosophische Theorien, wie z. B. die von Descartes, die ins genaue Gegenteil umschlagen. Nach Descartes besitzen Menschen einen Geist, aber Tiere sind Maschinen, die nicht über einen Geist verfügen. Diese Beurteilung hat die Sicht auf Tiere geprägt und darüber hinaus auch die Art und Weise, wie sie behandelt wurden, verändert. Eine weitere Theorie, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts auftauchte, hat der Vorstellung, nach welcher Tiere über eine Art Geist verfügen könnten, ein erneutes Ende bereitet. Dunbar spricht hier vom Behaviorismus, nach dem man sich nur mit beobachtbaren Dingen beschäftigen sollte, da dies als wissenschaftlicher gilt (cf. ibid.: 108 f.). In Bezug auf die Bewusstseinszustände gab es in den letzten Jahren aber ein radikales Umdenken. Es entstand eine neue Denkrichtung, welche auch als Theorie des Geistes bezeichnet wird. Über eine Theorie des Geistes zu verfügen bedeutet, dass für ein Individuum nachzuvollziehen ist, was andere denken. Es schreibt anderen Hoffnungen, Überzeugungen, Wünsche und Ängste zu und geht davon aus, andere durchleben diese Geisteszustände tatsächlich. Jemand hat eine geistige Position über die geistige Position eines anderen und der hat wiederum eine über dessen geistige Position. Dementsprechend gibt es verschiedene Stufen der Intentionalität. Nach Dunbar gibt es Gründe zur Annahme, dass die meisten Menschen über eine Intentionalität der sechsten Ordnung verfügen (cf. ibid.: 110 f.). Kinder verfügen bei ihrer Geburt noch nicht über eine Theorie des Geistes, sondern müssen sich diese erst im Laufe ihrer Entwicklung aneignen. Sie sind zu Beginn ihrer Entwicklung selbst zentriert, sie gehen davon aus, andere nehmen die Umwelt genauso wahr, wie sie selbst. Im Alter von vier bis fünf Jahren finden Kinder heraus, dass andere Menschen nicht unbedingt mit ihnen die gleichen Ansichten teilen. Interessant ist für Dunbar, dass sie zuvor auch nicht in der Lage sind, zu lügen oder jemanden zu täuschen (cf. Kapitel 2.1.2.2). Nachzuweisen ist diese Erkenntnis an verschiedenen Spielen, die mit Kindern vor und nach diesem Alter vollzogen wurden. Psychologen entwickelten dafür den Test der falschen Überzeugung. Man gab Kindern eine Dose Smarties, die wider Erwarten nicht mit diesen, sondern mit Buntstiften gefüllt war. Fragte man ein Kind vor dem entsprechenden Alter von vier bis fünf Jahren, was wohl das nachfolgende Kind annehmen wird, was sich in der Dose befände, antwortete es: Buntstifte. Ein Kind im Alter von sechs Jahren hingegen antwortete: Smarties. Es verstand bereits die Täuschung und auch, dass andere dieser erliegen würden (cf. ibid.: 112 f.). Dunbar stellt die entscheidende Frage, wie Tiere im Vergleich zu Menschen auf der Skala der Intentionalität stehen. Er geht davon aus, wenn es Tiere mit einer Fähigkeit zur Theorie des Geistes gibt, dann sind es die nächsten Verwandten, die Menschenaffen. Das Problem hierbei ist, einen geeigneten Test zu finden, um die gegebenen Annahmen fehlerfrei zu überprüfen (cf. ibid.: 119 f.). In einem Test konnte aber nachgewiesen werden, dass Schimpansen ein Verständnis für die Absichten anderer haben. In diesem sollte ein Schimpanse einen Menschen wählen, der ihm Saft gibt. Ein Mensch verschüttete den 16 Dieses Zitat steht im Widerspruch zu dem Schluss, welchen Dunbar im vorherigen Kapitel zog, dass Tiere womöglich über eine echte Sprachfähigkeit verfügen. Es wird hier nicht deutlich, welche Meinung Dunbar nun vertritt, da er sich nicht weiter in klarer Weise dazu äußert. Was unterscheidet Mensch und Tier? 37 Saft mit Absicht, der andere aus Versehen. Der Schimpanse wählte letzteren, da er offensichtlich den Unterschied zwischen der Absicht und dem Versehen, also der dahintersteckenden Intention verstand (cf. ibid.: 128). Anhand der Beobachtungen von Schimpansen zeigte sich auch offensichtlich die Fähigkeit zu taktischen Täuschungen, so Dunbar. Ein Schimpanse befindet sich an einer Futterstelle, die zunächst verschlossen ist und sich dann öffnet. Als ein anderer hinzukommt, tut der Schimpanse so, als sei die Futterkiste noch verschlossen, damit der andere das Interesse daran verliert. Dieser Schimpanse verlässt den Ort, bleibt aber in Sichtweite, um zu überprüfen, ob er nicht reingelegt wurde (cf. ibid.: 125 f). 17 Dunbar geht folglich davon aus, dass Menschenaffen in irgendeiner Weise über eine Theorie des Geistes verfügen, welche aber bei Weitem nicht so hoch entwickelt ist, wie die der Menschen. 2.3 Die Sprachursprungstheorie von Karl Bühler Die dritte Theorie dieses Aufsatzes stammt von Karl Bühler, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts Bemerkenswertes über die Ursprünge der Sprache und die Unterschiede zwischen Mensch und Tier festhielt. Bühler beschäftigte sich unter anderem mit der Denk- und Entwicklungspsychologie, als auch der Sprachpsychologie und Philosophie. Im Folgenden werden einige wichtige Erkenntnisse Bühlers skizziert, da sie einen Einfluss auf diesen Aufsatz und die anstehende Analyse nehmen sollen. In den ersten beiden Teilen des Kapitels ist auf die Ideen und Unterscheidungen aus dem Werk Die geistige Entwicklung des Kindes (1918) einzugehen. Von Bedeutung ist vor allem der Aufbau der Stufen - Instinkt, Dressur und Intellekt - da Bühler anhand dieser die Unterscheidung zwischen Mensch und Tier in Bezug auf deren Betätigungsweisen verdeutlicht. Im Anschluss daran soll der Aufbau der Stufen durch die Betrachtung der Entwicklung des Kindes verdeutlicht werden. Im dritten Teil des Kapitels folgt eine Erläuterung der Axiomatik der Sprachtheorie Bühlers, welche er in dem Werk Die Krise der Psychologie (1927) formuliert und in der Sprachtheorie (1934) ausarbeitet. Die Axiomatik ist ein wesentlicher Punkt bei der Unterscheidung von Mensch und Tier in Bezug auf die Sprache. 2.3.1 Instinkt, Dressur und Intellekt Anhand der Betrachtung der Betätigungsweisen von Mensch und Tier lässt sich ein Aufbau aus drei Stufen erkennen - Instinkt, Dressur und Intellekt. Der Instinkt ist die unterste Stufe, aus der sich die beiden anderen entwickeln. Anhand von Beispielen erläutert Bühler, was unter Instinkt zu verstehen ist. Einige Tiere stehen nach ihrer Geburt auf und beginnen direkt mit der Nahrungssuche, wie z. B. das Küken. Bühler nennt dies die Instinkttätigkeiten. Diese werden den Tieren weder vorgemacht noch haben sie diese aus schlechten oder guten Erfahrungen erlernt (cf. Bühler 1929: 2). Instinkttätigkeiten sind von Geburt an abrufbar und werden eben ohne vorherige Übung ausgeführt. Sie sind bei allen Individuen einer Art 17 Dunbar neigt auch hier zur Überinterpretation und er unterstellt dem zweiten Schimpansen eine Intentionalität vierter Ordnung, welche dafür erforderlich wäre. Wie schon an anderen Stellen wäre eine, in ihren Hypothesen, sparsamere Erklärung zu wählen, ganz nach dem Prinzip des Ockhamschen Rasiermessers. Es könnte sich z. B. um eine Dressur der Schimpansen handeln (cf. Kapitel 2.3.1). 38 Sarah K. Baumann gleichermaßen zu erkennen, sie sind also “ ein gebrauchsfertiges Erbgut von Verhaltungsweisen, die nur einer bestimmten, im Naturplan vorgesehenen Auslösung bedürfen ” (ibid.: 3). Das bedeutet auch, dass Instinkte nur funktionieren, wenn alles nach vorgesehener Ordnung verläuft. Sie sind demnach etwas Starres und sie versagen, wenn die Individuen in neue Lebensverhältnisse geraten (cf. ibid.: 5). Die Grenze des Instinktes sowie seine Starrheit galt es zu überwinden. Die Individuen erhielten durch die Natur die Fähigkeit, sich an ihre Lebensumstände anzupassen, sie wurden lernfähig. Bühler geht hier den Schritt in die Richtung “ assoziatives Gedächtnis ” , was er auch als Dressur bezeichnet (cf. ibid.: 5). Die Dressur baut auf dem Instinkt auf, indem sie einige Verhaltensweisen unterdrückt, andere fördert und neue Kombinationen ermöglicht. Nach Bühler ist es die Lust am Erfolg, die die Förderung bestimmter Verhaltensweisen mit sich bringt sowie die Unlust am Misserfolg, die anderes zu unterdrücken vermag. Die ursprünglichste Form der Dressur hingegen ist die “ Überproduktion an Bewegungen ” und ein “ zielloses Probieren ” , was durch Zufall den Erfolg bringt (ibid.: 6). Anhand verschiedener Insekten und Tiere erläutert Bühler die verschiedenen Grade der Dressierbarkeit. An oberster Stelle stehen dabei die Säugetiere und da die Primaten. Dieser Entwicklungsgang hängt mit der Ausbildung eines bestimmten Bereiches der Großhirnrinde zusammen (cf. ibid.: 7 f.). Für die hoch dressierbaren Säugetiere hat die Natur eine Art Ausbildungszeit vorgesehen, in der sie dem Schutz anderer unterstehen. Diese Zeit der Jugend verbringen die Individuen mit dem Spielen, was die Übung der noch unfertigen Anlagen fördert, wodurch sie auf das Leben vorbereitet werden. Bereits an dieser Stelle unterscheidet sich der Mensch von den übrigen Tieren, denn kein anderes Geschöpf muss so viel lernen wie der Mensch, so Bühler. Dementsprechend ist die Ausbildungszeit des Menschen länger als die der Tiere. Die Dressur des Menschenkindes beginnt bereits in den ersten Wochen und wird durch Erwachsene gefördert. Bühler führt an, dass Menschen außerdem in der Lage sind, sich für Zusatzdressuren zu entscheiden, wie z. B. Sport oder das Handwerk (cf. ibid.: 8 f.). Der benötigte Zeitaufwand und die dazugehörige Geduld sind die Nachteile der Dressur gegenüber dem Instinkt. Bühler geht daher von der Notwendigkeit einer weiteren Einrichtung aus: ” Wie wäre es aber mit einer dritten Einrichtung, welche die Vorteile von Instinkt und Dressur in sich vereinigt? Eine solche Einrichtung ist tatsächlich im Plane der Entwicklung vorgesehen und heißt Intellekt ” (ibid.: 9). Bühler bezeichnet diesen Satz selbst als den entscheidenden in seiner Lehre der geistigen Entwicklung, und er gelangt damit an die Stufe, die den Menschen endgültig von den Tieren unterscheidet. Der Intellekt ist das, was den Menschen dazu befähigt, durch Überlegung und Einsicht Erfindungen zu machen. Bühler betont, dass er “ Erfindungen im echten Sinne des Wortes ” meint (ibid.: 9). Lange Zeit hielt sich die Ansicht, die Erschaffung und Benutzung von Werkzeugen unterscheide die Menschen von den Tieren. Doch anhand von Untersuchungen an Schimpansen wurde deutlich, dass das nicht unbedingt stimmt. 18 Der Unterschied hier, so Bühler, liegt im Geschehen selbst. Affen suchen oftmals Stunden nach der Lösung eines Problems (wie z. B. zwei Stöcke ineinander zu schieben) und stoßen eher plötzlich als auch zufällig auf die Lösung (cf. ibid.: 10 f.). Bühler bezeichnet diese Art der Erfindung von 18 Bühler bezieht sich hier auf die Untersuchungen von Wolfgang Köhler, der als Leiter der Anthropoiden- Forschungsstation auf Teneriffa in den Jahren von 1913 - 1917 neun Schimpansen untersuchte. Seine Ergebnisse veröffentlichte er in dem Werk Intelligenzprüfungen an Anthropoiden (1917). Was unterscheidet Mensch und Tier? 39 Werkzeugen daher als Einfall. Ein Einfall ist dadurch zu charakterisieren, dass er durch eine uneinsichtige Leistung, d. h. ohne Überlegungen zustande kommt und daher nicht wirklich als eine Leistung des Intellekts bezeichnet werden kann (cf. ibid.: 19). Die Unterscheidung von Einsicht und Einfall liegt im Vorgehen, eine einmal gelungene Lösung eines Problems in veränderten Umständen erneut anzuwenden (cf. ibid.: 26). Weitere Fakten warnen vor einer Überschätzung der Leistung der Schimpansen. Es gibt keine Erkenntnisse über die Weitergabe von Erfindungen von Generation zu Generation oder über darstellende Zeichnungen sowie eine darstellende Sprache. All das muss nach Bühler innere Gründe haben (cf. ibid.: 27 f.). Bühler erkennt eine mögliche anatomische Erklärung für die dritte Stufe, den Intellekt. Die Großhirnrinde, anhand deren relativer Größe sich auf die Grade der Dressierbarkeit der Tiere schließen lässt, gibt auch Aufschluss über den Intellekt der Individuen. Es gibt eine relative Steigerung des Gehirngewichts von den Primaten hin zum Menschen, welche eben der Großhirnrinde zugutekommt (cf. ibid.: 29 f.). Anhand der Ontogenese des Kindes verdeutlicht Bühler den zeitlichen Aufbau der drei Stufen. Das neugeborene Menschenkind ist arm an Instinkten und besonders hilfebedürftig, es schreit aus verschiedenen Gründen, z. B. aus Hungergefühlen oder Unbehagen, zudem saugt und schluckt es. Das Neugeborene besitzt einige Schutzreflexe, wie das Schließen der Augen bei starkem Lichteinfall. Nach Bühler sind diese und ähnliche Reflexe alles, was das Kind von Geburt an mit sich bringt (cf. ibid.: 78). Der Instinkt bringt das Kind aber dazu, sitzen oder gehen zu lernen. Bühler geht davon aus, dass in diesem langen Lehrgang, der erstmal wie ein Nachteil gegenüber Tieren wirkt, eine Notwendigkeit besteht. Der Mensch konnte seine große Plastizität nur durch die Aufgabe einiger Instinkte erlangen (cf. ibid.: 79 f.). Die Dressur des Kindes beginnt mit dem Erlernen von Fertigkeiten, wie z. B. dem Greifen nach Gegenständen oder dem Erwerb der Sprache (dazu im nächsten Abschnitt mehr). Es handelt sich hierbei auch um eine Art der Selbstdressur, da Kinder beim Spielen die Fertigkeiten nach und nach einüben. Zur Selbstdressur kommt hinzu, dass Erwachsene mit dem Kind etwas wie z. B. die Sprache einüben (cf. ibid.: 80 f.). Im Alter von zehn bis zwölf Monaten machen Kinder ihre ersten Erfindungen, die zwar durchaus primitiv sind und den Leistungen der Schimpansen ähneln, weshalb Bühler diesen Zeitraum auch als Schimpansenalter bezeichnet, dennoch lassen diese Beobachtungen auf Intellekt schließen (cf. ibid.: 82). Interessant ist, dass die Leistungen der Schimpansen unabhängig von der Sprache funktionieren, dass aber auch das Werkzeugdenken im Leben des Menschen nur zu kleinen Teilen an Sprache gebunden ist, jedoch vielmehr von anderen Formen des Denkens abhängt. Daraus schließt Bühler, zu Beginn der Menschwerdung stand nicht die Sprache, vielmehr war es das Werkzeugdenken und das Erfassen von Zusammenhängen (cf. ibid.: 85 f.). 2.3.2 Die Entwicklung der Sprache des Kindes Bühler beginnt seine Untersuchung zum Spracherwerb des Kindes mit dem Schreien eines Neugeborenen. Er bezweifelt aber, dass das Schreien etwas mit Bewusstseinszuständen zu tun haben kann, da es den natürlichen Zweck verfolgt, die Umgebung auf Unbehagen aufmerksam zu machen, aber nicht den Lautschatz an sich bereichert. Aufgrund dessen legt Bühler seine Konzentration auf das Lallen, welches schon im Alter von etwa drei 40 Sarah K. Baumann Monaten auf Zustände des Wohlbehagens schließen lässt. Das Kind beginnt damit verschiedene Laute aneinanderzureihen und es wirkt, als würde es die Artikulation im Spiele einüben, woraufhin auch die Anzahl der unterschiedlichen hervorgebrachten Laute schnell ansteigt (cf. ibid.: 214 f.). Während die Schreilaute von Anfang an fest in einem Instinktmechanismus, der den Naturzweck erfüllt, die Pfleger auf die Bedürfnisse des Kindes aufmerksam zu machen, eingebaut sind, bleiben die ersten Lallworte, die das Kind in reiner Spielfreude formt, lange Zeit bedeutungsfrei (ibid.: 218). Diese zunächst bedeutungsfreien Lalllaute, welche instinktiv gebildet werden, sind das Ausgangsmaterial aller menschlicher Sprachen. Zu klären bleibt, wie aus den bedeutungsfreien Lauten ein sinnvolles Sprechen wird. Nach Bühler geht dem Sprechen ein Verstehen voraus, demnach betrachtet er zunächst die Entstehung des Verstehens. Die ersten Wirkungen auf gehörte Worte sind Gefühlswirkungen sowie Reaktionswirkungen. Dabei kommt es nicht auf das Gesagte selbst an, sondern auf das Schallphänomen an sich (cf. ibid.: 218 f.). Dies erkannte Bühler anhand der Aufmerksamkeit des Kindes gegenüber den Sprachlauten und weiter noch am Aufsuchen mit den Augen nach der Lautquelle, dem Sprecher. Demgegenüber stehen die Gefühlseffekte sowie die Bewegungsaffekte, welche nur auf einen bestimmten Laut hin auftreten. Zum einen richtet sich die Aufmerksamkeit des Kindes auf den durch den Laut bezeichneten Gegenstand, was Bühler als Blickrichtungsreaktionen bezeichnet. Zum anderen vollzieht das Kind aufgrund eines Lautes, z. B. einer Aufforderung, auch bestimmte Bewegungen, welche Bühler als Dressureffekte benennt (cf. ibid.: 219 f.). Auf dieser Stufe der Entwicklung steht das Kind nicht lange. Es begreift das Sprechen eines anderen als Einwirkungen auf sich. Darüber hinaus erkennt das Kind, dass Gegenstände als auch Tatbestände in seiner Umgebung durch das Sprechen dargestellt werden. Hierzu sind zunächst Gebärden nützlich, da das Kind diese früher versteht als Worte. So zeigt die Mutter z. B. bei der Nennung eines Gegenstandes auch darauf und schafft somit für eine Verknüpfung zwischen Laut und Objekt (cf. ibid.: 221). Die ersten vom Kind selbst gesprochenen und sinnvollen Worte lassen sich im Alter von circa einem Jahr nachweisen. Sie entstehen, wenn sich ein Lallen oder ein durch Nachahmung erlangter Lautkomplex für das Kind mit einem Sinn verknüpft, oder aber auch umgekehrt, so Bühler. Die Benennung der Dinge tritt erstmal in den Hintergrund, und es geht den Kindern hauptsächlich um die Äußerung von Wünschen und Affektzuständen (cf. ibid.: 221 f.). Erst von dieser Stufe des Spracherwerbs aus beginnen Kinder Wörter in der Nennfunktion zu verwenden. Sie begreifen die Beziehung zwischen Wort und Objekt, dass ein Zeichen zum Stellvertreter für z. B. einen Gegenstand wird. Bühler nennt dies die Ausbildung des Zeichenbewusstseins, welche er anhand des Auftretens der Benennungsfragen und des schnellen Wachsens des Wortschatzes erkennt. Der Erwerb des Zeichenbewusstseins ist nicht nur ein wichtiger Schritt im Spracherwerb, sondern führt auch “ zu einer sichtbaren Revolution im Seelenleben des Kindes ” (ibid.: 224). 2.3.3 Zur Axiomatik der Sprachtheorie Im Folgenden soll die von Bühler ausgebildete Axiomatik skizziert werden. Der Schwerpunkt liegt in der Unterscheidung zwischen Mensch und Tier in Bezug auf die Sprache. Bühler sieht Was unterscheidet Mensch und Tier? 41 eine Zweckmäßigkeit darin, erst die Phänomenologie der menschlichen Sprache zu betrachten und anschließend einen phylogenetischen Gedankengang vorzunehmen (cf. Bühler 1978: 37). Er begründet diese Abfolge so: “ Die Semantik im Tierreich erführe dann eine Beleuchtung von oben, von dem reicheren menschlichen System her, und erwiese sich (soweit wir sie heute kennen) um eine volle Dimension ärmer als die menschliche Sprache ” (ibid.: 37). Betreffend des Aufbaus seiner Axiomatik entscheidet sich Bühler aber für eine geschichtliche Ordnung, welche er anhand einer vorausgehenden kritischen Auseinandersetzung mit der Wundtschen Theorie 19 entwickelte. Demnach soll der Ursprung der Semantik nicht im Einzelnen, sondern in der Gemeinschaft gesucht werden. Hinweise darauf erlangt Bühler durch die logische Erkenntnis, dass Kundgabe und Kundnahme wechselseitig aufeinander bezogene Begriffe sind, zu einem Zeichengeber gehört auch immer ein Zeichennehmer. Bühler geht auch davon aus, dass die Semantik von Beginn an den Grund der Ordnung des Gemeinschaftslebens hatte. Er sieht die Semantik demnach nicht nur als etwas dem Gemeinschaftsleben Entsprungenes, sondern als eine Voraussetzung jeden Gemeinschaftslebens, ob des menschlichen oder des tierischen (cf. ibid.: 38 f.). Bühler betont des Weiteren ein Merkmal des Gemeinschaftslebens, welches die gegenseitige Steuerung des sinnvollen Benehmens der Gemeinschaftsmitglieder meint. Es muss einen Kontakt und “ kraft seiner eine dynamische Konkordanz ” (ibid.: 39), eine zeitlich nachweisbare Regulierung des Benehmens aufweisen. Auf einer solchen Art der Regulierung sollte die Konzentration liegen, so Bühler, denn diese wäre ohne Semantik nicht möglich. Eine Steuerung liegt auch vor, wenn die Handlungen von Menschen oder Tieren wortlos und gestenlos ineinandergreifen. In gemeinsamen Wahrnehmungssituationen liegt die Steuerung in der Einstellung der Einzelnen im gegenseitigen Verstehen der Tätigkeit des anderen. Der Begriff des einfühlenden Verstehens hat hier seinen Ursprung und mit ihm eben der der Semantik (cf. ibid.: 39 f.). Zur gegenseitigen Steuerung bedarf es in gemeinsamen Wahrnehmungssituationen eines Richtpunktes dieser. Überschreitet der Richtpunkt der Steuerung den gemeinsamen Wahrnehmungsbereich in irgendeiner Weise, ist ein “ Kontakt höherer Ordnung ” (ibid.: 41) erforderlich. Eine mögliche Überschreitung des Richtpunktes ist die räumliche, welche Bienen z. B. durch eine Art Werbetanz mit einer Duftprobe der bestimmten Blüte überwinden, um die anderen zum Ausfliegen aufzufordern. Eine andere Möglichkeit der Überschreitung des Richtpunktes ist die zeitliche, welche durch die menschliche Sprache überbrückt wird. Im dritten Fall ist der Richtpunkt der Steuerung zwar wahrnehmbar, allerdings nicht im Bereich der Aufmerksamkeit des Empfängers, was durch eine Zeigegeste auf das Objekt geändert werden kann (cf. ibid.: 41). Aufgrund der bisherigen Ausführungen kommt Bühler zum ersten Axiom: Wo immer ein echtes Gemeinschaftsleben besteht, muß es eine gegenseitige Steuerung des sinnvollen Benehmens der Gemeinschaftsglieder geben. Wo die Richtpunkte der Steuerung nicht in der gemeinsamen Wahrnehmungssituation gegeben sind, müssen sie durch einen Kontakt höherer Ordnung, durch spezifisch semantische Einrichtungen vermittelt werden (ibid.: 50). 19 Bühler bezieht sich auf Wilhelm Wundt, welcher in seinem Werk Völkerpsychologie (in 10 Bänden von 1900 - 1920 erschienen) unter anderem auch eine Untersuchung der Sprache vornahm. 42 Sarah K. Baumann Dieses Axiom beinhaltet den Quellpunkt der Semantik bei Tier und Mensch und betrifft die erste Sinndimension der Auslösung. Dieses Axiom überschneidet sich mit der Zeichenhaftigkeit der Sprache als Signal (cf. Bühler 1982: 28). Des Weiteren kommt hinzu, dass auch Inneres, wie die Stimmung oder Bedürfnisse eines Individuums, zur gegenseitigen Steuerung beitragen kann. Dies geschieht durch die Kundgabe und Kundnahme, womit Bühler bei dem zweiten Axiom ist: “ Soll der Eigenbedarf und die Eigenstimmung der an einem Gemeinschaftsakt beteiligten Individuen bei der gegenseitigen Steuerung zur Geltung gelangen, so müssen sie zur Kundgabe und Kundnahme gelangen ” (Bühler 1978: 50). Das zweite Axiom eröffnet dem Gebiet der Semantik den Aspekt der Erlebnispsychologie. Die Sinndimension der Kundgebung dient dem Ausdruck der Innerlichkeit und schneidet sich mit der Zeichenhaftigkeit der Sprache als Symptom (cf. Bühler 1982: 28). Die folgende Sinndimension der menschlichen Sprache überragt die zwei Grundfunktionen der Semantik der Tiere. Den Tieren fehlt es an der dritten, der Darstellungsfunktion. Das dritte Axiom lautet: “ Durch Zuordnung der Ausdruckszeichen zu den Gegenständen und Sachverhalten gewinnen sie eine neue Sinndimension. Damit eine unabsehbare Steigerung ihrer Leistungsfähigkeit als Kommunikationsmittel. Das eine durch das andere ” (Bühler 1978: 50 f.). Die Sinndimension der Darstellung entspricht der Zeichenhaftigkeit der Sprache als Symbol. Durch abstrakte Zeichen löst sich der Ausdruck vom Objekt oder Sachverhalt und das Zeichen erhält einen Stellvertretercharakter (cf. Bühler 1982: 28 f.). Bislang konnte man im Tierreich keine Gebärden oder Laute nachweisen, die als eine Darstellung von Sachverhalten oder Gegenständen dienen (cf. Bühler 1978: 51). Er nennt zwei Kriterien, die erfüllt sein müssen, damit die Tiersemantik auf der dritten Entwicklungsstufe stehen könnte. Die bereits erwähnten Bienen müssten imstande sein, aus ihrem Gedächtniseindruck und ohne Duftstoffe ihren Artgenossen zu vermitteln, wo sich eine bestimmte Blüte im Feld befindet. Damit ist die “ Entstofflichung der Zeichen ” gemeint (ibid.: 52). Das zweite Kriterium meint “ eine prinzipielle Ablösbarkeit von Dingen, als deren Zeichen es fungiert ” (ibid.: 54). 3 Eine Analyse der Sprachursprungstheorien Im Folgenden sollen die Sprachursprungstheorien einer Analyse unterzogen werden. Hinsichtlich der Ausgangsfragestellung wird der Schwerpunkt in der Unterscheidung zwischen Mensch und Tier in Bezug auf die Sprachfähigkeiten liegen. Die Theorien werden dabei in kontrastiven Gegenüberstellungen auf ihre Merkmale hin verglichen. Dabei sollen die Gemeinsamkeiten als auch die Unterschiede der Theorien herausgearbeitet werden, so dass im Anschluss daran eine Bewertung ermöglicht wird. 3.1 Tomasello und Dunbar Die Ontogenese ist für Tomasello, neben der Verhaltensforschung von Primaten, eine wichtige Belegquelle für verschiedene Aspekte seiner Theorie. Er verdeutlicht anhand der Entwicklung des Kindes die Sprachmotive sowie das Auftreten der Fertigkeiten der individuellen und der geteilten Intentionalität. Zudem lässt sich die Reihenfolge des Auftretens und damit auch die Zusammenhänge zwischen den kognitiven Fertigkeiten Was unterscheidet Mensch und Tier? 43 und der Sprache bestimmen. Tomasello erkennt die Wichtigkeit der Ontogenese für die Untersuchung zum Ursprung der Sprache. Bei Dunbar spielt Ontogenese lediglich in Bezug auf die Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten oder der Theorie des Geistes eine minimale Rolle. Genau wie Tomasello erkennt er, dass sich diese erst im Laufe der Jahre entwickelt. Das Kind ist zu Beginn der Entwicklung selbst zentriert, und es nimmt an, dass andere die Welt genauso wahrnehmen wie es selbst. Erst im Alter von circa fünf Jahren erkennen Kinder etwas wie verborgene Urheberschaften oder Täuschungen. Tomasello und auch Dunbar erkennen, Kinder sind erst ab diesem Alter zur Lüge fähig. Dunbar verzichtet ganz auf eine Untersuchung der Entwicklung der Sprachfertigkeiten des Kindes und damit auf interessante Erkenntnisse, welche seine Theorie hätten bereichern können. Er hätte dadurch auch einige Widersprüchlichkeiten in seiner Theorie erkannt. Dunbar glaubt z. B., Affen verfügen über die Fähigkeit, andere absichtlich zu täuschen, was nicht damit zu verwechseln ist, dass sie die Absichten anderer erkennen können (siehe auch Tomasello). Auf der anderen Seite vergleicht er das auf Gesten basierende Ausdrucksvermögen der Menschenaffen mit dem Ausdrucksvermögen eines zweijährigen Menschenkindes. 20 Wie bereits angemerkt, ist Dunbar bewusst, dass Kleinkinder erst ab dem Alter von circa fünf Jahren über die Fertigkeiten verfügen, Täuschungen zu erkennen, als auch sie zu begehen. Zudem unterscheiden sich Tomasello und Dunbar in Bezug auf die sozialen Motivationen der Kommunikation der Menschen. Tomasello unterteilt diese in Auffordern, Informieren und Teilen. Wobei sich die beiden Letzten ausschließlich auf die kooperative Kommunikation des Menschen beschränken. In der menschlichen Kommunikation bedeutet Auffordern nicht nur die imperative Form dessen, sondern erstreckt sich über das Bitten bis hin zum Wünschen. Das Auffordern im imperativen Sinne ist das einzige Kommunikationsmotiv, welches Tomasello auch der Kommunikation der Menschenaffen zuschreibt. Die soziale Motivation in Dunbars Theorie liegt im Austausch des Zwischen-Menschlichen, was er als Tratschen bezeichnet. Der Grund dafür sei die Zusammenhaltung der Gruppe und die Zeitersparnis gegenüber dem Kraulen. In Bezug auf die Menschenaffen geht Dunbar ebenfalls vom Kommunikationsmotiv des Aufforderns aus. Im Unterschied zu Tomasello neigt Dunbar aber zu Überinterpretationen und Vermenschlichungen der Tatsachen, weshalb er das Auffordern auch als Wünschen bezeichnet. Abgesehen von den inhaltlichen Unterscheidungen, welche lediglich angerissen wurden, unterscheiden sich Tomasello und Dunbar auch in der Art und Weise der Darstellung der Ergebnisse ihrer Forschungen. Dunbar arbeitet oftmals terminologisch sehr ungenau, er verwechselt an einigen Stellen den Begriff der Sprache mit der reinen Lautäußerung oder Kommunikation. Er macht sich oftmals nicht die Mühe, etwas genauer zu erörtern. So schreibt er z. B., dass Schimpansen in irgendeiner Form über eine Theorie des Geistes verfügen. 21 Zudem ist es schwierig in Dunbars Theorie, den roten Faden zu erkennen, was auf eine Unübersichtlichkeit im Aufbau seiner Argumentation hinweist. In Bezug auf einige Segmente seiner Theorie wird außerdem nicht klar, welche Meinung Dunbar vertritt, da er 20 Dunbar trennt hier nicht zwischen der Aneinanderreihung von den Gesten des Affen und von Worten auf der Seite des Kindes. Das Kind ist dem Affen hier schon deutlich überlegen, allein dadurch, dass es sich durch eine auf Symbolen basierende Sprache ausdrückt. 21 Im Gegensatz zu Tomasello, der die kognitiven Fähigkeiten der Menschenaffen als individuelle Intentionalität bezeichnet und dies ausführlich erläutert. 44 Sarah K. Baumann zwischen verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten einzelner Aspekte schwankt und sich zu keiner Interpretationsmöglichkeit explizit bekennt. Im Gegensatz dazu erarbeitet Tomasello anhand seiner Forschungsergebnisse eine ausgereifte Terminologie, welche er ausführlich zu Beginn erläutert und im weiteren einsetzt. 22 Dadurch gelingt es ihm, einige der Unterschiede zwischen Mensch und Tier zu benennen und zu verdeutlichen. Seine Prämissen stellt Tomasello in einer sinnvollen Reihenfolge und einer verständlichen Gliederung dar. 3.2 Bühler und Dunbar Die Theorien von Bühler und Dunbar ähneln sich in einem Punkt: Sie nutzen beide die relative Größe des Neokortex als biologische Begründung für ihre Argumentation. Der Unterschied liegt aber nicht nur in den Begründungen selbst, sondern vielmehr in der Notwendigkeit dieser für die Theorien. Dunbar erkennt Parallelen in der relativen Größe des Neokortex der verschiedenen Arten und der Gruppengröße, in welcher sie zusammenleben. Auf diese Erkenntnis des Zusammenhangs baut Dunbar seine gesamte folgende Theorie auf. Bühler stellt einen Bezug zwischen der relativen Größe des Neokortex und dem Grad der Dressierbarkeit der verschiedenen Arten sowie des Intellekts fest. Er nutzt dieses Wissen, um seine Annahmen zu unterstreichen, nicht aber, um darauf aufzubauen. Für Bühler liegt der Ursprung der Semantik nicht bloß in der Gemeinschaft, sondern hatte von Beginn an den Grund der Ordnung der Gemeinschaft. Dies steht im Zusammenhang mit dem Kommunikationsmotiv der Bühlerschen Theorie, welches die gegenseitige Steuerung des sinnvollen Benehmens der Gemeinschaftsmitglieder meint. Dunbar geht davon aus, dass der Ursprung dessen, was er als Sprache bezeichnet, im Kraulen liegt. Durch das Kraulen wurden die Gruppen der Primaten zusammengehalten, aber durch die nötige Vergrößerung der Gruppen der frühen Menschen wurde es zu zeitaufwendig. In diesem Sinne ist das Motiv der Sprache der Zusammenhalt der vergrößerten Gruppe. Nach Dunbar vollzog sich die Entwicklung der “ Sprache ” in drei Stufen, von Kontaktrufen, über sinnloses Geschnatter, hin zu Äußerungen mit Bedeutung. Die beiden ersten Stufen lassen sich allerdings nicht als Sprache im Sinne menschlicher Symbolsprache verstehen. Vielmehr handelt es sich um Lautäußerungen, die eventuell einer Kommunikationsabsicht dienen. Auffällig wird hier wieder, dass Dunbar terminologisch nicht klar arbeitet. Die Theorien unterscheiden sich betreffend der Vorteile der Sprache ebenfalls. Bühler sieht die Vorteile in der Darstellung des räumlich oder auch zeitlich Abwesenden. Dies geschieht durch einen “ Kontakt höherer Ordnung ” , durch sprachliche Zeichen, die für etwas stehen, aber gleichzeitig davon entstofflicht sind. Die Zeichen werden dadurch zum Stellvertreter des Objektes und ermöglichen daher die Darstellung des räumlich oder zeitlich Abwesenden. Deutlich wird hier Bühlers Zeichenbegriff, nach dem die Leistung des Zeichens in der Entstofflichung, also in seiner Objektungebundenheit liegt. Dunbar sieht die Vorteile der Sprache in der Zeitersparnis gegenüber dem Kraulen. Die Sprache ermöglicht den Menschen, sich mit mehreren gleichzeitig, als auch über andere auszutauschen. Wie bereits angemerkt, vertritt Dunbar die These, die Sprache sei eine Weiterentwicklung des Kraulens. Er schließt von Materiellem, dem Kraulen und den damit 22 Ausgenommen davon sind die Begriffe der “ unkodierten Kommunikation ” als auch der “ natürlichen Gesten ” . Was unterscheidet Mensch und Tier? 45 verbundenen körperlichen Empfindungen, auf etwas Immaterielles - die Sprache. Laut Bühler handelt es sich hierbei um eine Stoffentgleisung. Der Ursprung der Sprache kann nicht in materiellen Dingen begründet werden. 3.3 Bühler und Tomasello Bühler und Tomasello verbindet, dass sie auf zwei Ebenen zwischen Mensch und Tier differenzieren. Sie unterscheiden die kognitiven Fähigkeiten, welche Voraussetzungen für das Kommunikationsvermögen sind. Bühler unterteilt die Betätigungsweisen, welche für kognitive Fähigkeiten stehen, in drei Stufen - Instinkt, Dressur und Intellekt. Die ersten beiden kommen den Menschen als auch den Tieren zu. Die dritte Stufe, der Intellekt, zeichnet sich dadurch aus, dass Individuen in der Lage sind, Erfindungen zu machen. Es gibt Beobachtungen an Menschenaffen, die für die dritte Stufe sprechen. Allerdings grenzt Bühler “ echte ” Erfindungen, die durch Überlegungen und Einsicht gemacht wurden, von denen ab, die sich aufgrund eines spontanen oder zufälligen Einfalls ergeben. Letzteres ist bei Menschenaffen der Fall. Demnach unterscheiden sich Menschen auf der Ebene der kognitiven Fähigkeiten von den Tieren dadurch, dass sie über Intellekt verfügen. Tomasello macht einen Unterschied zwischen der individuellen und der geteilten, auch rekursiven, Intentionalität. Menschenaffen sind laut Tomasello in der Lage, die Absichten anderer zu erkennen und zudem nehmen sie andere als Akteure wahr, welche ihre Ziele verfolgen. In diesem Sinne kommt ihnen eine individuelle Intentionalität zu. Im Vergleich dazu sind Menschen in der Lage, zu erkennen, dass ihnen jemand helfen möchte. Durch diese Art der Kooperation entstehen wechselseitige Erwartungen an die sozialen Motivationen der anderen. Darüber hinaus entsteht eine zusätzliche Schicht der Intentionalität. Nach Tomasello verfügen Menschen über eine geteilte Intentionalität. Bühler und Tomasello beobachten die Entstehung der kognitiven Fähigkeiten anhand der Entwicklung des Kindes. Tomasello konnte die Entwicklung der Intentionalität bei Kindern im Alter von neun bis zwölf Monaten erkennen, er spricht in diesem Zusammenhang auch von der “ Neunmonatsrevolution ” (cf. Tomasello 2011: 152). Auch Bühler konnte Kindern im Alter von circa zwölf Monaten ihre ersten Erfindungen nachweisen, demnach die Entwicklung des Intellekts. Zudem fand er heraus, dass sich in diesem Alter ein Zeichenbewusstsein entwickelt, was zu einer Revolution des Seelenlebens führt. Auf der Ebene der Kommunikationsfertigkeiten konnte Tomasello erkennen, dass Menschenaffen über ein hohes Maß an Flexibilität in der Gestenkommunikation verfügen. Ihre Kommunikationsmotive beschränken sich allerdings auf das Auffordern. Tomasello geht daher bei Menschenaffen von intentionaler Kommunikation aus, im Gegensatz zur kooperativen Kommunikation der Menschen. Diese zeichnet sich durch die sozialen Motivationen, wie dem Helfen und dem Teilen aus. Tomasello vertritt die These, dass die sozialen Motivationen sich schon bei Kindern in der auf Gesten basierenden Kommunikation nachweisen lassen, also noch vor dem Spracherwerb. Durch die Axiomatik der Sprachtheorie vollzieht Bühler die Unterscheidung von Mensch und Tier. Die Semantik im Tierreich ist um eine ganze Dimension ärmer als die menschliche Sprache, was das Fehlen der Darstellungsfunktion meint. Die Besonderheit der menschlichen Sprachen liegt in der Entstofflichung der Zeichen und in der Ablösbarkeit von den 46 Sarah K. Baumann Objekten, als deren Zeichen sie fungieren. Das Zeichen selbst ist demnach immateriell und kann für Abwesendes stehen. Die ontogenetischen Ursprünge der Sprache sieht Bühler im Lallen des Kindes, durch welches es verschiedene Laute einübt. Ab dem Alter von circa zwölf Monaten, wenn das Kind lernt zu verstehen, verknüpft es die Laute mit Gegenständen, Sachverhalten oder auch inneren Zuständen. Zu Beginn stehen die Worte zwar nicht für die Objekte selbst, sondern für Aufforderungen, und erst darauf aufbauend verwenden Kinder die Worte auch in der Nennfunktion. Für Tomasello liegen die Ursprünge der Sprache phylogenetisch als auch ontogenetisch in der auf Gesten basierenden Kommunikation. Er erkennt neben dem Auffordern noch vor dem tatsächlichen Benennen der Gegenstände die anderen sozialen Motivationen, wie Helfen oder Teilen. Dass die Sprache aber aus Gesten entsteht, ist nach Bühler eine Stoffentgleisung, denn auch Tomasello schließt von Materiellem, in diesem Fall der Geste, auf etwas Immaterielles - die Sprache. Die auf Gesten basierende Kommunikation ist für Tomasello etwas Vorsprachliches, er begreift diese als “ unkodierte Kommunikation ” und spricht auch von “ natürlichen Gesten ” . Wie schon erläutert, steht das im Widerspruch zu seiner eigenen Annahme, dass bei der Gestenkommunikation der Empfänger die kognitive Arbeit der Entschlüsselung der Geste leisten muss. 4 Schlussbetrachtung Abschließend sollen die Ergebnisse der Analyse der Sprachursprungstheorien zu einer Bewertung dieser verhelfen. Die Theorie von Tomasello ist interessant und aufschlussreich in Bezug auf die Unterscheidung zwischen Mensch und Tier. Er untersucht die Fähigkeiten von Menschen, vor allem von Kindern sowie Menschenaffen in Bezug auf ihre Verhaltensweisen und ihr Ausdrucksvermögen. Er hält die Ergebnisse seiner Forschungen in einer gut definierten Terminologie und einer strukturierten Argumentation fest. Ein Nachteil seiner Theorie ist, dass er Gesten als “ unkodierte Kommunikation ” versteht und erkennt, dass selbst diese entschlüsselt werden müssen. Dieser Fehlschluss führt zur Annahme, die Sprache sei aus den Gesten entstanden. Der Theorie von Dunbar ist nicht viel Positives abzugewinnen. Er arbeitet, wie bereits erwähnt, nicht sehr wissenschaftlich, und auch Dunbar ist nach Bühler ein Stoffdenker. Die Idee, die Sprache sei aus dem Kraulen entstanden und zum Tratschen da, ist mehr als fraglich. Denn wie Dunbar selbst anmerkt, ist die Sprache sehr viel leistungsstärker. Menschen können sich über wichtige Themen austauschen und ihr Wissen von Generation zu Generation weitergeben, aber sie verbringen die meiste Zeit doch damit, sich über andere auszutauschen. Bühler hat im Gegensatz zu Tomasello und Dunbar eine Theorie zur Sprache, die die Ursprünge und die Unterscheidung zwischen Mensch und Tier formuliert, an der es nichts zu kritisieren gibt. Zudem entwickelt Bühler einen Zeichenbegriff, welcher die Leistungsstärke der menschlichen Sprache verdeutlicht. Die Ausgangsfrage lässt sich abschließend im Zusammenhang der Darstellung und der Analyse der Theorien wie folgt beantworten: Tomasello konzentriert sich auf die Unterscheidung der Menschen von ihren nächsten Verwandten, den Menschenaffen. Ihnen spricht Tomasello eine individuelle Intentionalität zu, da sie in der Lage sind, zu erkennen, was andere sehen, tun oder wollen. Menschen sind demgegenüber zusätzlich in der Lage, Was unterscheidet Mensch und Tier? 47 wechselseitig von den Absichten der anderen zu wissen. Dadurch entsteht eine zusätzliche Schicht von Intentionalität, eine geteilte oder auch rekursive Intentionalität. In Bezug auf die Kommunikationsfähigkeiten spricht Tomasello den Menschenaffen die intentionale Kommunikationsfertigkeit zu. Sie sind in der Lage, das Verhalten ihres Gegenübers bewusst zu beeinflussen. Beim Menschen geht Tomasello von der kooperativen Kommunikation aus, was im engen Zusammenhang mit den Motiven der Kommunikation steht, dem Helfen und Teilen. Dunbar vertritt die Theorie des Geistes und glaubt, dass diese in einem gewissen Sinne auch den Tieren und vor allem den Menschenaffen zukommt. Allerdings nicht in der gleichen Weise wie dem Menschen. Nach Dunbar verfügen Menschenaffen mindestens über eine Intentionalität sechster Ordnung. Zu den Kommunikationsfähigkeiten von Mensch und Tier trifft Dunbar keine explizite Unterscheidung. Er gibt an, dass dem Menschen die Sprache zukommt, allerdings ist der Begriff der Sprache in seiner Theorie nicht klar definiert. Er neigt außerdem dazu, die Kommunikationsmotive der Menschenaffen zu vermenschlichen. Im Hinblick auf ihre Betätigungsweisen schreibt Bühler den Tieren Instinkt zu. Einigen Säugetieren kommt außerdem die Dressierbarkeit zu, aber kein einziges Tier verfügt über Intellekt, so wie Menschen darüber verfügen. Der Intellekt äußert sich in Erfindungen, welche durch Überlegungen und Einsicht zustande kommen. Bezüglich der Kommunikationsfähigkeiten der verschiedenen Arten unterscheidet Bühler ebenfalls drei Stufen, und auch hier ist es die letzte, die Darstellungsfunktion der menschlichen Sprache, die den Menschen und das Tier voneinander unterscheidet. Menschen können Abstraktes oder Abwesendes benennen und somit an die Vorstellungskraft ihres Gegenübers appellieren. Bühler spricht in diesem Zusammenhang von einem “ Kontakt höherer Ordnung ” und einer Ablösung des Zeichens von dem Objekt, welches es benennt. In Anbetracht der Bewertung der Theorien und ihrem Beitrag zur Klärung der Ausgangsfrage fällt auf, dass die älteste der drei Theorien, die von Karl Bühler, die sowohl aufschlussreichste als auch grundlegendste ist. Diese Tatsache steht offensichtlich im Widerspruch dazu, dass die Wissenschaft ein fortlaufender und sich stetig entwickelnder Prozess ist. Es sollte anzunehmen sein, dass Wissenschaftler vor der Beschäftigung mit einem gewissen Thema oder einer Fragestellung das bereits veröffentlichte Material berücksichtigen, ob im anerkennenden oder verneinenden Sinne. Tomasello bezieht sich in seinem Werk zwar unter anderem auch auf Bühler, allerdings in einem anderen Zusammenhang, als den in diesem Aufsatz diskutiertem. Der Bühlersche Zeichenbegriff hätte Tomasello davor bewahrt, die Ursprünge der Sprache in der Gestenkommunikation zu suchen oder zumindest davor, diese als unkodierte Kommunikation zu verstehen. Bei der Beschäftigung mit der Frage nach dem Ursprung der Sprache ist wichtig zu beachten, dass diese wahrscheinlich nie vollständig zu klären sein wird. Dennoch sollte diese Tatsache nicht dazu verleiten, Prämissen aufzustellen, welche nicht logisch begründbar sind. Weiter noch sollten gewisse Prinzipien der Wissenschaft beachtet werden. In Anspielung auf Dunbar ist hier die Exaktheit der Terminologie, als auch die Vermeidung von unbegründbaren Hypothesen zu nennen. Außerdem sollte in einer vermeintlich wissenschaftlichen Schrift der Aufbau einer Argumentation zu erkennen sein. Die Verbindung von einzelnen Wissenschaften und die Zusammenführung verschiedener Erkenntnisse und Ansätze ist oft aufschlussreicher als die Beschränkung auf eine Sichtweise. Dies ist ein möglicher Grund, weshalb Tomasello, aber vor allem Bühler, bessere Ergebnisse erlangten als Dunbar. 48 Sarah K. Baumann Bibliographie Bühler, Karl 5 1929: Die geistige Entwicklung des Kindes, Jena: Gustav Fischer Bühler, Karl 1978: Die Krise der Psychologie (= Ullstein-Buch 3460), Frankfurt am Main/ Berlin/ Wien: Ullstein Bühler, Karl 1982: Sprachtheorie, Stuttgart/ New York: Gustav Fischer Dunbar, Robin 2000: Klatsch und Tratsch. Warum die Frauen die Sprache erfanden, München: Goldmann Jäger, Ludwig 2009: Neuere Befunde zur Audiovisualität des menschlichen Sprachvermögens, im Internet unter http: / / www.literaturkritik.de/ public/ rezension.php? rez_id=12740 [02. 04. 2009] Leroi-Gourhan, André 1 2009: Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Frankfurt am Main: Suhrkamp Searle, John R. 1990: “ Collective intentions and actions ” , in: P. Cohan, J. Morgan & M. Pollack (eds.) 1990: Intentions in Communication, Cambridge: MIT Press, 401 - 416 Tomasello, Michael 2011: Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation, Frankfurt am Main: Suhrkamp Was unterscheidet Mensch und Tier? 49