eJournals Kodikas/Code 38/1-2

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
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2015
381-2

Auf den Spuren der Würzburger Schule der Denkpsychologie

2015
Henrik Dindas
K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 38 (2015) · No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Auf den Spuren der Würzburger Schule der Denkpsychologie Henrik Dindas (Essen) The following article focuses on the works and the achievements of the Würzburger Schule (Würzburg School), better known as the Külpe School, named after its dominant advocate Oswald Külpe. It explores ideas of the imageless thought, concentrating on the belief that there is always an objective significance which can be found within experiments of thoughts. As one of the main representatives of the Würzburg School, Oswald Külpe introduced ideas of a systematic experimental introspection as a new research method in the field of the psychology of thought processes. Külpes approach revolutionized the experimental psychology for the simple reason that he implemented and combined ideas of structural psychology and psychological experimentation. The Würzburg scholars managed to shift one ’ s attention to the idea that the human conduct is always determined by their own personal objectives. Hence they developed and thereby improved the process of what became known as systematic experimental introspection. With this the Würzburg School developed an innovational and holistic view, where the main focus was on studying both act and content. In order to point out significant new ideas on how to inspect the human thought process the article focuses upon the essential ideas of the main members of the Külpe School. In connection with the exploration of seldom-discussed scholars of this School, the article explores the innovative methods that modified ideas and beliefs of the Behaviorism, placing special emphasis on the works of Karl Bühler and Otto Selz.The article shows that the many contributions by the Würzburg School, including the systematic experiemental introspecton, imageless thoughts, mental sets and abstraction, are inevitably essential to the field of psychology and yet still relevant to this day. Oswald Külpe Karl Bühler Otto Selz Narziss Ach Karl Marbe August Messer 1 Einführung Versucht man etwas über die Würzburger Schule der Denkpsychologie zu erfahren, so muss eine umfangreiche Literaturrecherche durchgeführt werden, um halbwegs hinreichende Informationen und Quellen zu finden. Wenig ist bisher über die Würzburger Wissenschaftler in Bezug auf ihr dortiges Wirken zusammengetragen worden. Burkhard Vollmers bestätigt diese Ansicht in seiner Arbeit Kreatives Experimentieren (Vollmers 1992), indem er kritisiert, dass eine Geschichte der Würzburger Schule seines Wissens “ bisher noch nicht geschrieben wurde ” (Vollmers 1992: 48). In Joachim Funkes Handbuch der Allgemeinen Psychologie (Funke 2006) wird die Würzburger Schule nur mit einem Satze erwähnt. Laut Funke (2006: 497) war die Grundidee der Würzburger Schule, “ dass Handlungen durch Zielvorstellungen determiniert werden. ” Diese Zielvorstellung sei allerdings nicht beobachtbar und fiele daher in der Blütezeit des Behaviorismus in Ungnade. Auch benennt Funke die Würzburger Wissenschaftler in seinem Werk Problemlösendes Denken (Funke 2003) und beschreibt ihre Erkenntnisse in einem kleinen Abschnitt. Funke bezeichnet dabei Oswald Külpes Erfindung der systematisch experimentellen Introspektion, ganz ähnlich wie zuvor E. G. Boring, als “ einen wesentlichen Impuls für die Denkpsychologie ” , auch wenn Boring die zentrale Annahme von Külpe, Gedanken seien unanschaulich, für widerlegbar hält (cf. Funke 2006: 26). Auch Walter Hussy beschäftigt sich mit der Würzburger Schule in seinem Lehrbuch Denkpsychologie (Hussy 1984). Allerdings wird auch hier, wie in vielen anderen Lehrbüchern, die Würzburger Schule nur in einem kleinen Kapitel mit dem Umfang von eineinhalb Seiten erwähnt. Hans Spada, Herausgeber des Lehrbuchs Allgemeine Psychologie (Spada 2006), widmet der Würzburger Schule der Denkpsychologie zwei Seiten seines Werkes. Spada verordnet den Beginn der Psychophysik in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. So wurde die Psychologie als selbstständige Wissenschaft durch die experimentelle Untersuchung von subjektiven Empfindungen auf einfache Reize reduziert und der Begriff Vorstellung ” diente zur Beschreibung für höhere geistige Funktionen wie das Denken (cf. Spada 2006: 202). Die Mehrzahl der psychologischen Anthologien, wie z. B. Jochen Müsselers Lehrbuch Allgemeine Psychologie (Müsseler 2008), benennen die Würzburger Schule nicht. Daher ist das Ziel dieses Aufsatzes, die wichtigsten Wissenschaftler der Würzburger Schule zu benennen und deren Grundideen aufzuführen, um so eine Einführung in die Methodik der Würzburger Wissenschaftler zu geben. So soll dem Leser ein Überblick verschafft werden, mit welchen Überlegungen und Untersuchungsmethoden die Würzburger Wissenschaftler versuchten, Denkvorgänge zu beschreiben und aufzuschlüsseln. Bei den zugrunde liegenden Nachforschungen im Feld der Psychologie fällt auf, dass besonders das Wirken des deutschen Philosophen und Psychologen Otto Selz in Bezug auf seine entwickelten Methoden zur Analyse der Denkvorgänge in der Psychologie sehr gering rezipiert worden ist. Findet man Informationen zu Otto Selz, so wird er meist mit den Würzburger Wissenschaftlern Oswald Külpe und Karl Bühler in Verbindung gebracht. Insbesondere durch seine Forschungen auf dem Gebiet der Denkpsychologie wird Selz der Würzburger Schule zugeordnet. Einige Bibliographien teilen diese klare Würzburger Zuteilung, andere kritisieren diese Zuordnung, da Selz eine Vielzahl der Auffassungen der Würzburger Wissenschaftler zwar aufnimmt, sie dann jedoch falsifiziert und mit seinen Gedankengängen in Einklang bringend komplett modifiziert. Da die grundlegenden Ideen von Selz auf der Basis der Würzburger Erkenntnisse zu finden sind, müssen die Würzburger Ansätze zuvor näher betrachtet werden. Um folglich eine Zuordnung vornehmen zu können, muss eine geschichtliche Aufarbeitung der Würzburger Schule vollzogen werden, da nur so ein Verständnis für die theoretischen Arbeiten von Selz einhergehen kann. Neben der geringen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Otto Selz ist auch über Karl Bühler, hinsichtlich seiner Zugehörigkeit zur Würzburger Schule, sehr wenig ge- 4 Henrik Dindas (Essen) schrieben worden. Zwar behandeln einige Aufsätze Bühlers Sprachtheorie und viele Schriften stellen Bühlers Erkenntnisse zur geistigen und körperlichen Entwicklung des Kindes dar, jedoch wurden Bühlers Untersuchungen von Denkprozessen sehr wenig wahrgenommen und rezipiert. Zwar ist Karl Bühlers Schaffen abseits der Würzburger Schule keine unbekannte Variable im Feld der Sozialwissenschaften und der Name Bühler taucht in jedem Studium der Erziehungswissenschaften und der Kommunikationswissenschaften auf. Dennoch ist bisher sehr wenig über Bühlers Wirken in der Würzburger Schule der Denkpsychologie geschrieben worden. Im Folgenden wird versucht, einen kurzen Überblick über die bedeutendsten Studien zu geben, die den Arbeiten von Karl Bühler und Otto Selz vorausgehen. Diese geschichtliche Aufarbeitung ist notwendig, um die Originalität des Ansatzes von Bühler zu verstehen, da er die Methoden und Theorien der vorausgehenden Würzburger Wissenschaftler teilweise aufnimmt, sie dennoch in Frage stellt. So ist die geschichtliche Herangehensweise gleichsam von großer Bedeutung, um die Untersuchungen von Selz besser verstehen zu können, da sie auf Bühlers Erkenntnissen aufbauen und ein Einfluss der Würzburger Wissenschaftler nicht von der Hand zu weisen ist. Zwar sind der Geschichte der Würzburger Schule noch einige andere Wissenschaftler zuzuordnen, diese zu benennen würde jedoch den Umfang dieser Abhandlung übersteigen. Folglich versucht dieser Aufsatz nur, die zu einem Grundverständnis der Würzburger Denkpsychologie wichtigsten Wissenschaftler und Arbeiten zu benennen. Anschließend an den geschichtlichen Überblick soll in dem vorliegenden Aufsatz versucht werden, die Genialität des Ansatzes der Würzburger Schule anhand einer Übersicht von Karl Bühlers Wirken darzustellen. Hier soll ein besonderes Augenmerk auf die verschiedenen Untersuchungen von Karl Bühler gelegt werden. Folglich sollen Bühlers Untersuchungen zusammengetragen werden und die überaus bedeutenden Erkenntnisse für die Psychologie herausgearbeitet werden. Dem folgt eine Betrachtung der Überlegungen von Otto Selz und es soll vermittelt werden, wie die Würzburger Grundannahmen von Selz übernommen und teilweise falsifiziert und dennoch gleichbedeutend modifiziert wurden. Dies ermöglicht die Bedeutsamkeit der Würzburger Schule erneut unterstreichen zu können und es soll veranschaulichen, dass eine neue Hinwendung zu Selz und zu den Würzburger Methoden für die Psychologie von großer Bedeutung wäre. Abschließend sollen mögliche Gründe genannt werden, die versuchen, eine Erklärung zu geben, warum dem Würzburger Ansatz so wenig Beachtung gewidmet wurde. Dabei soll ebenfalls geklärt werden, warum die Würzburger Arbeiten in den 1910er Jahren so jäh unterbrochen wurden und in keinem für sie passenden Rahmen wieder aufgenommen wurden. 2 Geschichte der Würzburger Schule Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden Eigenschaften und Ablaufcharakteristika des Denkens an der Universität Würzburg unter der Leitung von Karl Marbe und Oswald Külpe erforscht. Noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts galt in der Psychologie die Überzeugung, dass sich das Denken durch Assoziationen von Vorstellungen vollziehen würde. Es wurde angenommen, assoziative Vorgänge spielten sich im Bewusstsein ab und das Auf den Spuren der Würzburger Schule der Denkpsychologie 5 Denken wurde als rein innerpsychischer Prozess interpretiert. Aus der Sicht einer Person wurden diese Vorgänge allerdings als nicht bewusst steuerbar, passiv und als richtungslos erlebt. Diese assoziationspsychologische Deutung menschlicher Denkprozesse wurde von der Würzburger Schule stark abgelehnt. So war ihr erster Einwand, dass das Denken empirisch und möglichst experimentell untersucht, also eine neue Forschungsmethodik entwickelt werden müsse. Diese Methode sollte die Introspektion bieten, also die Selbstbeobachtung (cf. Spada 2006: 202). Oswald Külpe (1912: 303) schlussfolgerte dementsprechend: “ Was uns in der Psychologie zu einer anderen Theorie schließlich geführt hat ist die systematische Anwendung der Selbstbeobachtung gewesen. ” Zwar lehrten Psychologen wie Franz Brentano (1866 - 1873) und Carl Stumpf (1873 - 1879) bereits in Würzburg noch vor der Gründung eines Instituts, jedoch werden die Arbeiten und Erkenntnisse nicht direkt den Arbeiten der Würzburger Schule zugeordnet. Brentanos Psychologie, die im Kern schon in Würzburg entstand, hat jedoch eine überdauernde Wirkung bis in die Gegenwart und stellt eine Basis für die Handlungspsychologie dar. Auch Brentano-Schüler Stumpf hat bereits in Würzburg wesentliche Beiträge geleistet, welche einen wichtigen Schritt auf dem Wege zu einer Psychologie als kognitive Wissenschaft und zu den im Verlauf der letzten Jahre aktuellen Erörterungen zur “ Theory of mind ” ebneten (cf. Janke & Schneider 1999: 28). 2.1 Oswald Külpe Der Fokus auf die in der Würzburger Schule entwickelte experimentelle Selbstbeobachtung beinhaltete eine Entkopplung von Reizgabe und Selbstbeobachtung. So wurde die rückschauende Beobachtung nach Abschluss des eigentlichen Experiments explizit gefordert und zugelassen (cf. Vollmers 1992: 47). Oswald Külpe teilte die Skepsis seines Lehrers Wundt gegenüber der Erforschung höherer geistiger Prozesse nicht. So untersuchte er unter Beibehaltung der Introspektionsmethode und unter Hinzunahme der Retrospektionstechnik zusammen mit anderen Kollegen in Würzburg das Lösen einfacher Probleme. Külpe stellte fest, dass das Denken nicht immer logischen Regeln folge. Folglich widersprach ihre Erkenntnis ernsthaft den Überzeugungen der vorliegenden strukturalistischen und behavioristischen Auffassungen und Theorien (cf. Hussy 1984: 30). 2.2 August Mayer und Johannes Orth In der Nachfolge von Külpe und Marbe sind als erste elementare Arbeiten August Mayers und Johannes Orths Überlegungen, veröffentlicht im Jahre 1901, zu nennen. Die Methodik von Spada und Orth war hier noch eine ganz traditionelle, in der qualitative Eigenschaften von Assoziationen untersucht wurden. So verlief ein Versuch der Würzburger Wissenschaftler wie folgt: Sie nannten den Versuchspersonen (VPs) ein Reizwort, worauf diese Probanden das erste Wort nennen sollten, das ihnen in den Sinn kam. Darauf aufbauend berichteten die Probanden über die Vorgänge, die sich zwischen der Nennung des Reizwortes und der Antwort in ihrem Geist abspielten. Hier differenzierten Mayer und Orth unter anderem zwischen Assoziationen mit und ohne eingeschobenen Bewusstseinsvorgängen. 6 Henrik Dindas (Essen) 2.3 Karl Marbe Diese Methodik wurde von Karl Marbe (1901) übernommen und modifiziert, indem er seinen Probanden je ein Gewicht in die linke und rechte Hand gab und diese dann bat, eine Angabe zu machen, welches der beiden Gewichte das schwerere sei. Darauf untersuchte Marbe durch Befragungen, was sich bis zur Abgabe des Urteils in ihrem Geiste abspielte. Marbes Methodik förderte Wahrnehmungen und Vorstellungen zutage, die im Bewusstsein der Probanden vorhanden gewesen waren. Über die Entstehung des eigentlichen Urteils fanden sich in ihren Berichten allerdings keine bemerkenswerten Auffälligkeiten wieder. So gaben die Probanden an, dass die Urteile einfach da waren und bei fast jedem Versuch trafen diese Urteile auch zu. Jedoch konnten sie (die Versuchspersonen) nicht beschreiben, wie es zu diesem Ergebnis kam bzw. wie sie eben zu diesem Ergebnis gekommen waren. Marbes Erkenntnisse widersprachen den bis dato dominierenden Theorien, die Denken als bewusste Verknüpfung von Vorstellungen konzipierten. Folglich modifizierte Marbe die bisherigen Ansätze, indem er den Urteilsprozess als einen nicht rational geleiteten Fluss von Bewusstseinsinhalten ohne eigentliches Schlussfolgern beschrieb und diesen Vorgang mit dem Begriff “ Bewusstseinseinlage ” (Marbe 1901: 15) bezeichnete. Dieser Begriff umfasste alles, was den Probanden beim Lösen einer Aufgabe bewusst durch den Kopf ging. Marbes Theorie führte zu der Schlussfolgerung, dass bei höheren geistigen Prozessen, wie auch bei der Entstehung von Gefühlen, eben keine anschaulichen Bewusstseinsinhalte an die Stelle von anschaulichen, sinnlichen Vorstellungen treten (cf. Spada 2006: 202). In Marbes erster Arbeit, Experimentell-psychologische Untersuchungen über das Urteil (Marbe 1901), versuchte er herauszuarbeiten, “ welche Erlebnisse zu einem oder mehreren Bewußtseinsvorgängen hinzukommen müssen, um dieselben zu Urteilen zu erheben ” (ibid.: 15). Als Vorüberlegung definierte Marbe (ibid.: 9) das an der formalen Logik orientierte Urteil wie folgt: “ Urteile nenne ich Bewußtseinsvorgänge, auf welche die Prädikate richtig oder falsch eine sinngemäße Anwendung finden. ” Marbe betonte jedoch vehement den vorläufigen Charakter dieser Definition, da eine im Voraus aufgestellte Definition ungeeignet sei, um über das Wesen des zu unterscheidenden Gegenstandes eine tiefere Einsicht zu vermitteln. So wurde die Frage nach einer für diese Überlegungen geeigneten Methodik mit dem Hinweis auf die besonderen Möglichkeiten des Experiments beantwortet (cf. Vollmers 1992: 49). Die Würzburger Schule der Denkpsychologie entfernte sich demnach immer weiter von traditionellen Konzepten der Philosophie. Diese klassischen Ansichten und Überzeugungen der Philosophie über menschliches Denken gehen auf Annahmen von Aristoteles zurück. Aristoteles folgerte, Wahrnehmungen hätten ihr Äquivalent in der Seele in Form von Vorstellungen. So beschreibt er beispielsweise in De anima, III, 7, dass für die Denkseele die Vorstellungen an die Stelle der Inhalte der sinnlichen Wahrnehmung treten würden und Vorstellungen so bewusst sein sollten und in großer Anzahl vorkommen würden. So war die Schlussfolgerung, dass Vorstellungen nicht isoliert existieren, sondern untereinander verbunden seien. 2.4 Henry Jackson Watt Als einen weiteren Denkschritt der Würzburger Schule ist das Wirken von Henry Jackson Watt (1905) aufzuführen. Watt teilte den Ablauf des Prozesses von der Aufgabenstellung bis Auf den Spuren der Würzburger Schule der Denkpsychologie 7 zur Antwort, die die Probanden zu Protokoll gaben, in ein Vier-Phasen-Modell ein. So beschreibt er die erste Phase als eine Vorbereitungsphase, nach welcher die Phase des zu bedenkenden Satzes oder Sachverhaltes folgte. Phase drei, die Suche nach der Antwort, leitete zur letzten Phase über, in welcher als Reaktion die Antwort definiert wird. Hier fokussierte Watt jeweils eine einzelne Phase des Vorgangs und bat seine Probanden, ihr Augenmerk bei der Introspektion nur auf jeweils eine der Phasen zu richten, um dadurch möglichst unverfälscht und vollständig diese Phase wiedergeben zu können. Watt erhoffte sich, den eigentlichen Denkvorgang in Phase drei, der Suche nach der Antwort, zu finden. Nun konnten aber gerade in dieser Phase die Probanden am allerwenigsten berichten, wohingegen die Vorbereitungsphase - Phase eins - von größerer Bedeutung schien. Die weiteren Prozesse erfolgten weitgehend automatisch und ohne Beteiligung des Bewusstseins, sobald Watts Probanden den Umfang der an sie gerichteten Aufgabe verstanden hatten. Der Vorgang der Befragung und des Verstehens der Frage verlief jedoch unter voller Beteiligung des Bewusstseins, wodurch die Aufgabe und die durch sie hervorgerufene Einstellung eine wichtige Funktion für den weiteren Ablauf der Bearbeitung erhielt (cf. Spada 2006: 202). Watt verzichtete bei seiner Anordnung auf motorische Reaktionen und mit einem Übergang zu sinnvollem Versuchsmaterial verloren quantitative Größen, wie Dauer der Reaktionszeit oder Anzahl der richtigen Lösungen gemäß der Instruktion des Versuchsleiters, an Bedeutung (cf. Vollmers 1992: 52). 2.5 Narziß Kaspar Ach Fast simultan begann Narziß Kaspar Ach mit seinen Untersuchungen über das Denken und Handeln. Hier fanden sich in der im Jahre 1905 veröffentlichten Arbeit deutliche Parallelen zu Watts Phasenmodell. So erschien Ach ebenfalls die Vorbereitungsphase als die entscheidende Richtungsgebung für den weiteren Ablauf von Denkprozessen und der folgenden Handlungsvorbereitung. Hierfür führte er den Begriff der “ determinierenden Tendenz ” (Ach 1905: 191) ein. Diese unbewusste Motivation war dem Probanden nicht bewusst, obwohl vor allem diese und weniger der experimentelle Reiz die Reaktion beeinflusste - es kam bei allen Versuchen in bestimmter Form vor (cf. Vollmers 1992: 52). Dieses war als ein Generalangriff auf die Annahme richtungsloser, assoziationspsychologischer Verbindungen zwischen Vorstellungen zu deuten und Ach stellte somit erstmals einen differenzierten Ansatz über das Phänomen der Aufmerksamkeit vor (cf. Spada 2006: 202). Bei der Studie von Ach wurde den Probanden Karten mit sinnlosen Silben oder Karten in verschiedenen Farben vorgegeben. Untersucht wurde die Reaktion der Probanden, die entweder auf auszuwählende Tasten drücken mussten oder bestimmte zuvor gelernte Silbenreihen umstellen bzw. frei assoziierte Silben aussprechen mussten. Hier erhoffte sich Ach eine Analyse der Bewusstseinsvorgänge der Probanden zwischen der Kartenvorgabe und der Reaktion, die Ach als Willenstätigkeit bezeichnete, in den Mittelpunkt zu stellen. So wurden die Probanden nach jedem Versuch ausführlich zu den erlebten unterschiedlichen Bewusstseinsprozessen befragt (cf. Vollmers 1992: 50). Hier forderte Ach (1905: 18): “ Es ist die Pflicht des Versuchsleiters (VL), sich mit völlig unbefangener, voraussetzungsloser, aber doch kritischer Hingabe in das Erlebnis der Versuchsperson zu vertiefen. ” Ach erhoffte sich durch diese Forderung, die Probleme des Nachvollzuges der Bewusstseinserlebnisse der Probanden durch den Versuchsleiter zu bewältigen. Ein Hineinversetzen 8 Henrik Dindas (Essen) in die Versuchsperson sollte dadurch gefördert werden, dass Ach als Versuchsleiter selbst als Versuchsperson an den Experimenten teilnahm (cf. Vollmers 1992: 52). 2.6 August Messer August Messer bestimmte als das Ziel seiner Würzburger Arbeit “ die Erforschung der Bewußtseinsvorgänge bei einfachen Denkprozessen ” (Messer 1906: 1). So wurde erstmals explizit der Denkvorgang als Ganzes Gegenstand der Untersuchung. Messer glaubte, dass bei der Erforschung des Denkens von den “ elementaren Gebilden ” des Denkens ausgegangen werden müsse, ganz so, wie sie in der Logik definiert seien. Messer ging davon aus, dass die drei Elemente “ Begriff ” , “ Urteil ” und “ Schluss ” die Basis für die noch zu erforschenden komplexen Denkfiguren seien (cf. Messer 1906: 2). Im Mittelpunkt seiner Darstellung stand die qualitative Beschreibung von Denkvorgängen, welche jeweils durch Beispiele aus den Versuchsprotokollen belegt wurden und Messer nahm bei der Auswertung keine Differenzierung bezüglich der verschiedenen Versuchsreihen vor, sondern betrachtete alle Versuchsprotokolle auf einmal. So belegte seine Studie eine Zusammenhanglosigkeit zwischen Reaktionszeit und Denkprozess und führte dazu, dass bei den folgenden Studien der Würzburger Schule auf die zuvor benutzten mechanischen Apparaturen verzichtet wurde (cf. Vollmers 1992: 54). 2.7 Karl Bühler Die Introspektionsmethode wurde von Karl Bühler ergänzt, indem er ganz vorurteilsfrei in den Bericht der Probanden einen Eingriff vornahm und um die Beantwortung von Fragen bat. Dies hatte zur Folge, dass seine Arbeiten in der Erkenntnis mündeten, dass Denkprozesse vornehmlich unanschaulichen Charakter besitzen und nicht als Abfolge sinnlicher Vorstellungen zu beschreiben sind. Sie folgen in der Regel dem Gedanken, wenn es zu sinnlichen Vorstellungen im Denkprozess kommt und nicht umgekehrt. Bühler kam zu dem Fazit, dass das Denken nicht mit einem besonderen Grad an Bewusstsein ausgestattet ist, ganz entgegen der bis dahin geltenden Annahme. Dieses Erlebnis bezeichnete Bühler Aha-Erlebnis, das schlagartige Erkennen von Gestalten und Zusammenhängen, welches ein tiefes Verständnis für die Lösung eines Problems signalisiert und plötzlich und unvermutet am Ende eines Denkprozesses auftritt. So folgt der Bewusstseinsakt zeitlich gesehen dem Denkprozess und kann daher mit dem Denken selbst nicht gleichgesetzt werden. Später löste die von den Würzburger Wissenschaftlern verwendete Introspektionsmethode viel Kritik aus, da eine massive Möglichkeit für Verfälschung durch die Probanden und eine stark erhöhte Anfälligkeit für Fehler gegeben war. So konnten z. B. Gedächtnisfehlleistungen diese Fehler entstehen lassen. Kritisiert wurde diese Methodik unter anderem von Wilhelm Wundt, der seinem Schüler und späteren Würzburger Kollegen Oswald Külpe von der Erforschung des Denkens ohnehin ausdrücklich abriet. Wundt nannte Bühlers Methoden mit beißender Ironie “ Ausfrageexperimente ” . Dieser Form von Datenerhebung des Erlebens wurde vorgeworfen, dass die Ergebnisse nur stark subjektiv gefärbt und verfälschbar seien, da z. B. Vorannahmen über das psychische Geschehen in die Selbstberichte, in die Nachfragen und in die Interpretation einfließen würden (cf. Spada 2006: 13). Auf den Spuren der Würzburger Schule der Denkpsychologie 9 2.8 Otto Selz Im Jahre 1909 kam Otto Selz zur Würzburger Schule. Als wissenschaftlicher Außenseiter begann Selz sein Wirken an der Universität Würzburg, nachdem Külpe sie bereits verlassen hatte. Selz modifizierte die Ansätze der Würzburger Schule, indem er eine besondere Form des Denkens zu untersuchen begann. So fokussierte er in seinen Forschungen das Problemlösen und betonte dabei die in der Forschung unumgängliche Zielgerichtetheit und Organisiertheit menschlichen Handelns. Diese Ansätze wurden später von der Berliner Schule der Gestaltpsychologie aufgegriffen und mit eigenen Grundannahmen zu fruchtbarer denkpsychologischer Forschung weitergeführt (cf. ibid.: 202). Die wesentliche Methode aller Würzburger Wissenschaftler war die experimentelle Erfassung kognitiver Prozesse mit Hilfe der Retrospektion. Sie erschufen neue Methodiken zur Untersuchung von Denkvorgängen, die vor dieser Zeit noch sehr bedingt untersucht wurden. Die Würzburger Schule ist daher als Geburtsort der Denkpsychologie zu benennen. Besonders Karl Bühlers Untersuchungen führten zu einer stetigen Modifikation und schließlich zur Ablöse von den vorherigen philosophischen assoziativen Denkvorstellungen. 3 Karl Bühlers Wirken in der Würzburger Schule. Eine Phänomenologie des Denkens Burkhard Vollmers stellt in seinem Text Kreatives Experimentieren (Vollmers 1992) eine sehr gute und ausführliche Zusammenfassung der Bühlerschen Untersuchungsmethode zusammen. Im Folgenden wird, basierend auf Vollmers Text, die Entwicklung der Bühlerschen Methodik zur Würzburger Schule skizziert und kommentiert. Dies soll die Genialität des Bühlerschen Ansatzes verdeutlichen und dem Leser ein tieferes Verständnis über den Ansatz der Würzburger Schule vermitteln. Bestehend aus drei Teilen, befasst sich der erste Teil der Bühlerschen Untersuchung mit der Analyse der Gedanken an sich. Bühler versucht in diesen Untersuchungen zu bestimmen, was eigentlich den Kern der Gedanken ausmacht. Im nächsten Schritt widmet sich Bühler der Rolle des Wissens und er versucht, diese Rolle als vermittelndes Glied zwischen den Gedanken zu analysieren. Schließlich untersucht Bühler im dritten Teil, “ Über Gedankenerinnerungen ” (Bühler 1908 b), in welcher Weise ein für eine Person neuer Gedanke aufgefasst wird. Dieser letzte Schritt geschieht stets unter Bezugnahme auf bereits in der Person vorhandene Gedanken und in ihm muss mithin an Vorhandenes erinnert werden (cf. Vollmers 1992: 54). Eine so zielgerichtete und gestaffelte Hinwendung zur Analyse der Gedanken, des Wissens und der Erinnerungen hat vor ihm noch kein Würzburger Wissenschaftler vollzogen. Zwar sind Bühlers Versuchsanordnungen als eine Fortführung der Würzburger Methoden zu verstehen, jedoch wird im Folgenden verdeutlicht, dass Bühler eine ganz eigene Auffassung von der Ermittlung der Denkvorgänge hatte und durch diese Methoden die Würzburger Schule stark modifiziert, aber auch geprägt hat. Insgesamt führte Bühler 1234 Versuche durch, wobei 882 Experimente auf der Basis von vier verschiedenen Versuchsreihen für die Untersuchung der Neuauffassung von Gedanken durchgeführt wurden. Die Ergebnisse bildeten die Basis für die ersten beiden Teile der Untersuchung, die mit den Titeln “ Über Gedanken ” (Bühler 1907) und “ Über Gedankenzusammenhänge ” (Bühler 1908 a) benannt wurden. 10 Henrik Dindas (Essen) Im nächsten Abschnitt werden die ersten beiden Teile der Habilitationsschrift vorgestellt. Hierzu werden die Versuchsanordnung und das Versuchsmaterial näher beschrieben. 3.1 Bühlers erste Versuchsreihen Bühler sah seine Arbeit durchaus als Fortführung der bisherigen Studien seiner Kollegen Ernst Dürr und Oswald Külpe. Mit deren beider Hilfe wurden auch die meisten der 352 Einzelversuche von Bühler durchgeführt, obgleich er die von seinen Vorgängern verwendete Methodik und die damit erzielten Ergebnisse radikal in Frage stellte. So kritisierte Bühler, dass die vorherigen Methoden nur ganz einfache Denkprozesse untersucht hätten und somit den Denkprozess in einzelne wohldefinierte Bestandteile zerlegt haben. Diese lehnten sich an die Begrifflichkeiten der formalen Logik an, in der Hoffnung, durch das Studium elementarer Denkoperationen allmählich zu einem Verständnis komplexerer Denkprozesse zu gelangen (cf. Bühler 1907: 300 f.). Bühler modifizierte die Methodik, da er es für notwendig hielt, das Denken als Ganzes zu untersuchen und verzichtete deshalb auf jede im vorab erfolgende abstraktive Zerlegung des Denkprozesses. Folglich stellte er eine allgemeine Ausgangsfragestellung bei seinen Experimenten: “ Was erleben wir, wenn wir denken? ” (ibid.: 303) Bühlers Grundgedanke und die Idee zur Konstruktion der experimentellen Anordnung, die aus dieser offenen Fragestellung heraus entstand, sollte das Denken für den Forscher in seinen extremen, außergewöhnlichen Formen zugänglich machen. So sollte sich der Forschungsgegenstand - das Denken - dem Wissenschaftler nicht in seinen gewöhnlichen Formen offenbaren. Dieser Versuchsanordnung zufolge wählte Bühler für seine Probanden schwere Denkaufgaben, wobei die Bestimmung dessen, was als schwer anzusehen ist, von den Probanden abhängig gemacht wurde: Was stofflich dazu fähig ist, wird natürlich ganz von der Vp. abhängen, denn was etwa einen Primaner in Verlegenheit zu bringen vermag, wird vielleicht auf einen geübten Denker weniger Eindruck machen. Meine Vp. waren Professoren und Doktoren der Philosophie (ibid.: 304). So entschied Bühler, seinen Versuchspersonen philosophische Aphorismen vorzulegen. Diese Aphorismen waren z. B. Nietzsches, “ Und wenn das Gewürm Euch Ekel macht, daß Ihr seinetwegen einen Schritt schneller emporsteigt, so soll es zu Recht bestehen ” und “ Die Vergangenheit befruchten und die Zukunft zeugen, daß sei mir Gegenwart ” (cf. ibid.: 311). Zusätzlich wurden spezielle Fragen eingeführt, deren Funktion es war, anschauliche Vorstellungen zu erzeugen. Demnach fragte Bühler z. B. “ Wissen Sie, mit wieviel Grundfarben die Sixtinische Madonna gemalt ist? ” oder “ Wissen Sie, wieviele Personen das Böcklinsche Bild im Spiele der Wellen enthält? ” (cf. ibid.: 352). Hinzu kamen noch Fragen, die besonders umfangreiche Gedanken produzieren sollten. Diese dienten zur Prüfung der im Laufe der Untersuchung aufgetretenen Frage, inwieweit Gedanken Gegenstände unmittelbar oder nur mittelbar meinen. Demnach fragte Bühler sehr abstrakte und komplexe Fragen wie, “ Was ist Kultur? ” oder “ Was ist Renaissance? ” (cf. ibid.: 339 ff.). Wichtig bei der Versuchsdurchführung war die Tatsache, dass den Probanden jede Aufgabe maximal einmal vorgelegt wurde, wobei der Versuchsleiter der Versuchsperson unmittelbar gegenüber saß. Zuerst las der VL den experimentellen Satz vor und die VP musste die speziell formulierte Frage mit Ja oder Nein beantworten. Folglich benutzte der VL Auf den Spuren der Würzburger Schule der Denkpsychologie 11 Formulierungen wie “ Verstehen Sie ” oder “ Begreifen Sie, wie man dazu kommen kann, zu sagen [. . .]? ” . Bühlers Grundidee hierbei war, dass der Denkprozess eben nicht von dem Bemühen der VP um Formulierung eines vollständigen Satzes beeinträchtigt werden sollte (cf. Vollmers 1992: 57). Die Probanden mussten anschließend in der Rückschau ihren bis zum Aussprechen des Ja bzw. des Nein erlebten Denkprozess rekapitulieren und dies wurde vom VL wörtlich mitprotokolliert. Zwar war sich Bühler bewusst, dass das Protokoll eines einzelnen Denkvorganges Lücken aufweisen würde, er war jedoch davon überzeugt, dass die mangelnde Vollständigkeit des Einzelprotokolls sich über alle Protokolle hinweg ausgleichen würde. Folglich sollte bei der Betrachtung aller Denkprotokolle der Denkprozess dennoch vollständig erfasst werden können (cf. ibid.). 3.2 Die Auswertung der Selbstbeobachtungsprotokolle Zur Auswertung der Protokolle stellte Bühler erneut die Fragen, die er bereits an die Versuchspersonen stellte und suchte die dazu passenden Antworten in den Protokollen. Hier wurden stets alle Protokolle auf einmal betrachtet, demnach trat Bühler also in einen Dialog mit den ihm vorliegenden Texten. 1 Interessant ist hierbei, dass die von Bühler gefundenen Antworten nicht unmittelbar in den Protokollen enthalten waren. So stellten sie mehr Zusammenfassungen verschiedener Phänomene dar. Die Aussagen der Probanden sind folglich als Äußerungsformen eines nicht unmittelbar beobachtbaren Geschehenstypus aufzufassen. Problematisch bei der Auswertung von Selbstbeobachtungsprotokollen fremder Personen ist die Tatsache, dass der Auswertende die Aussagen der VP in dem von ihr intendierten Sinne versteht und deutet. Demnach stellte Bühler die Forderung auf, der VL müsse sich unmittelbar in die Gedankenwelt der VP einfühlen: Für den Versuchsleiter bringt das freilich neue Lasten; er muß sich einfühlen in die Lage seiner Vp., muß miterleben, wenn er sie ordentlich verstehen will; er muß auf ihre Eigentümlichkeiten eingehen und mit ihr in ihrer Sprache reden können. Das gibt diesem Zusammenarbeiten ein eigentümliches, vertrautes Gepräge (Bühler 1907: 309). Aufgrund seines innigen Kontakts zu seinen Kollegen, auch außerhalb der experimentellen Situation stellte sich für Bühler das Problem des Nichtverstehens als nicht existent heraus. 2 1 Bei diesen Ausführungen von Bühler stellt sich die Frage, ob der Denkprozess denn immer ein und demselben Muster folgt. Stecken hinter den verschiedenen Denkprozessen nicht auch verschiedene Denkmuster? Ein Denkprozess hängt vielmehr von vielen Variablen ab, die von Fragestellung zu Fragestellung variieren können. So vollzieht sich ein Denkprozess in einer ganz anderen Weise, wenn die Versuchsperson bei der Fragestellung z. B. in einer anderen emotionalen Verfassung ist. Es ist ebenfalls zu bemerken, dass “ der Geist ” nie frei von anderen Gedanken sein kann und dass somit beim Beantworten der Denkaufgaben immer andere untergründige Gedanken dazukommen, die den Denkvorgang auf ihre Weise beeinflussen. 2 Es ist in keiner Weise sichergestellt, dass das, was die andere Person ausdrückt, von der ersten Person auch wirklich verstanden wird. Gerade das innige Verhältnis zu der VP verfälscht das Ergebnis. Dies ist mit dem Phänomen gleichzusetzen, das bei Neugeborenen und ihren Eltern auftritt. So werden Gestik und Mimik des Neugeborenen gerade wegen des innigen Verhältnisses überinterpretiert und eine objektive Beurteilung des Verhaltens ist nicht mehr möglich. So besteht auch die Gefahr bei Bühlers Anordnung mit VPs, die ihm sehr gut vertraut sind. Dies führt zu dem Problem, dass eine Objektivität nicht in dem Maße möglich ist, wie es bei einer unbekannten Person gegeben ist, da hier auch bestimmte Aussagen auf der Basis der Vorkenntnisse über die Person anders interpretiert werden können. 12 Henrik Dindas (Essen) Hier variierten die Konstruktion und Durchführung der Versuchsreihen, da Bühler sie an die besonderen Vorlieben seiner Untersuchungspersonen anpasste. So stimmten die Versuchsreihen von Külpe und Dürr nicht vollständig überein. Bühler kam es nicht auf eine Standardisierung der Versuchssituation an. So wollte Bühler sicherstellen, eine motivierte VP vorzufinden. Eine hohe Motivation der VP wurde ebenfalls durch den Umstand der Alltagsnähe der Experimente unterstützt. Diese Übereinstimmung zwischen der experimentellen Situation und der alltäglichen außerexperimentellen Situation der VP, die “ ökologische Validität eines Experiments ” (Vollmers 1992: 59), sollte zur Aufklärung ihres eigenen Verhaltens im Alltag beitragen. Obgleich die Experimente in einem psychologischen Labor durchgeführt wurden, so verstand sie Bühler als unmittelbar repräsentativ für Alltagserlebnisse. Bühlers Grundgedanke bei seinem dialogischen Vorgehen bei der Analyse der Denkprotokolle besteht darin, dass sich der Gegenstand durch den Forschungsprozess selbst sukzessive ergibt. So erschließt sich dem Forschenden die vollständige Struktur des Gegenstandes durch die verschiedenen Fragen. Folglich entsteht die Definition des Gegenstandes durch den Forschungsprozess und ist erst an dessen Ende vollständig. Bühler vermied es daher explizit, vorab Definitionen aufzustellen und zugleich war es für ihn von großer Bedeutung, die Aussagefreiheit der VP in keiner Weise durch vorgegebene Kategorien einzuschränken (cf. Bühler 1907: 303 & 309). Dies unterschied Bühlers Vorgehensweise erheblich von der seiner Würzburger Kollegen, die es noch zu Beginn der Würzburger Untersuchungen für unumgänglich erachteten, gerade durch Definitionen im Voraus die Exaktheit eines Experiments zu gewährleisten. Bühlers erste Untersuchungen - die das ganzheitliche Denken betreffen - können durch folgendes Bild geistig veranschaulicht werden: Der fragende Forscher sieht sich dem menschlichen Denken als Gegenstand gegenüber, der zuerst ein unorganisiertes Ganzes darstellt, das durch die vorliegenden Protokolle als Manifestation dieses unorganisierten Ganzen aufgefasst werden kann. Nun hat eine bestimmte Frage eine Wirkung auf diese Masse zur Folge, was bedeutet, dass sich in ihr eine tätige Verrichtung an einem Gegenstand verbirgt. Dieser Gegenstand wird durch jede einzelne Frage bearbeitet, demnach wird je nach Fragemodus etwas voneinander getrennt, zusammengefügt, herausgenommen, hinzugetan, ausgegrenzt usw. (cf. Vollmers 1992: 60). Dies veranschaulicht, dass Bühlers Vorgehensweise stark von der Phänomenologie Husserls beeinflusst worden ist. So war der Begriff der “ Intention ” bereits mit dem expliziten Bezug auf Husserl von Bühler eingeführt worden. Bei einem Gedankenakt tritt das Denken einem Gegenstand gegenüber, wobei die Beziehung zu diesem Gegenstand, sog. “ Wasbestimmtheit ” (Bühler 1907: 348), mehr dem Inhalt des Gegenstandes gegenüber tritt. Diese Wasbestimmtheiten der Gedanken können schon durch Vorstellungen gegeben sein, jedoch ist dies nicht notwendigerweise der Fall. Für Bühler fallen demzufolge die Begriffe “ Gegenstand ” und “ Gedanke ” in seinen Untersuchungen zusammen und die Unterscheidung zwischen einem transzendentalen Gegenstand und einem phänomenologischen Denken dieses Gegenstandes bezeichnet Bühler als nicht sinnvoll, da “ alle Gegenstandsbestimmtheiten, um die ich weiß, weiß ich in oder durch Modifikationen meines Bewußtseins ” (ibid.: 355). Folglich stellt sich für Bühler die Frage, ob die Wasbestimmtheiten einen Gegenstand an sich oder nur das Denken dieses Gegenstandes durch einen Menschen konstituieren, nicht. Das Verhältnis von Wasbestimmtheiten und Intention lässt sich beim Auseinanderfallen der beiden beim direkten “ Meinen ” bestimmen, Auf den Spuren der Würzburger Schule der Denkpsychologie 13 beim indirekten “ Meinen ” dagegen verschmelzen beide. In Übereinstimmung mit Husserl bezeichnet Bühler die Bezugnahme auf einen Gegenstand als “ Meinen ” . Bühler unterscheidet vier Arten von Denkerlebnissen. So gibt es die anschaulichen Vorstellungen, Gefühle, Bewusstseinseinlagen wie Zweifeln und Abwarten, und als vierte Art, die anschauungslosen Gedanken, wobei Vorstellungen und Gedanken wesentliche Bestandteile unserer Denkerlebnisse sind. Ganz entgegen der in den damaligen Psychologie vorherrschenden Denktheorien legte Bühler fest, dass die Gedanken die “ letzten Erlebniseinheiten unserer Denkerlebnisse ” darstellen, sie demnach nicht mehr weiter untergliederbar sind (cf. ibid.: 325 - 329). 3.3 Bühlers Untersuchungen zu den Gedankenverbindungen Bühlers zweiter Teil der Untersuchungen ergab, dass für das Verstehen von Sätzen bzw. von Gedanken ein Beziehungserlebnis konstitutiv ist. Dieses “ Bewusstwerden einer logischen Beziehung zwischen einem gebotenen und einem schon gehabten, schon zu unserem geistigen Besitz gehörenden Gedanken ” (Bühler 1908 a: 19) ist demzufolge eine der grundlegenden Erkenntnisse der Bühlerschen Untersuchungen. Gedankenverbindungen können in verschiedenen Verhältnissen auftreten. Die Bewusstseinsinhalte sind als zwischengedankliche Beziehungen zu verstehen, bei denen die sog. Zwischenerlebnisbeziehungen dem Denkenden Auskunft geben, was mit ihm geschieht. Des Weiteren, gibt es den Typus der Zwischengegenstandsbeziehungen, welche dem Denkenden bewusst machen, in welcher Weise ein Gedanke, als eigentlich logische Beziehung, mit dem anderen inhaltlich zusammenhängt. So ist das Denken im Wesentlichen als das Bewusstwerden bestimmter Beziehungen zu verstehen (cf. Vollmers 1992: 64). Wenn eine Person im Zuge eines Versuches nun einen Satz oder ein Wort versteht, bringt diese Person dem zu Verstehenden etwas entgegen. Die Person geht mit diesem eine Verbindung bzw. eine bewusst logische Beziehung ein. Diese Beziehung bringt dann das Verhältnis des zu verstehenden Gedankens zum Bewusstsein (cf. Bühler 1908 a: 13). Als ein “ Aha- Erlebnis ” betitelt Bühler nun die Vollendung des Verstehens des Denkenden. 3.4 Bühlers Erinnerungsversuche Bei Bühlers Untersuchungen zu den Erinnerungsversuchen war der Grundgedanke, dass sich der Gegenstand dem Wissenschaftler am ehesten in seinen Extremformen offenbart, derselbe wie in den vorherigen Untersuchungen. In dieser letzten Versuchsreihe wurde der VP eine Liste mit jeweils zwei zusammengehörenden Gedanken vorgelegt. So offerierte Bühler dem Probanden folgende Gedankenpaare: “ Die adelnde Macht des Gedankens - das Bildnis Kants ” , oder “ Die Weltherrschaft der Römer - Die Völkerwanderung ” (Bühler 1908 b: 27 ff.). Zwischen diesen Gedanken bestand ein bestimmtes Verhältnis und die VP sollte sich diese vorgelegten Gedankenpaare einprägen. In der anschließenden Reproduktionsphase legte der VL nur noch einen Teil des Paares vor und die VP sollte den dazu passenden Teil finden bzw. sich an ihn erinnern. Wie in allen anderen Versuchsreihen wurde auch bei diesem Versuch der zum Auffinden des zweiten Teils führende Denkprozess zurückschauend protokolliert. Bühler ermittelte, dass der Einprägungsvorgang der VP in erster Linie aus der Herstellung einer gedanklichen Verbindung zwischen den beiden vorgegebenen Teilen bestand (cf. ibid.: 29). Mit diesem Ergebnis rüttelte Bühler stark an der bis dato vorherr- 14 Henrik Dindas (Essen) schenden Assoziationstheorie, die besagte, dass allein die unmittelbare Aufeinanderfolge zwischen zwei Elementen für deren gedankenmäßigen Zusammenhang entscheidend sei (cf. Vollmers 1992: 68). Folglich hätte ein Assoziationstheoretiker bei Bühlers Versuchsreihe eingewendet, dass allein die zeitliche Kontinuität und nicht die inhaltliche Verbindung zwischen den Teilen eines Paares entscheidend sei. Diesen Einwand widerlegte Bühler mit einer Ergänzungsversuchsreihe, bei der er als nächsten Schritt der VP eine Reihe von Teilgedanken vorlas, die die VP sich einprägen sollte. Die erste Reihe enthielt Teilgedanken wie “ Besser auf des Berges Gipfeln mit den wilden Tieren weilen - “ oder “ Ein junger Mensch, der auf eigenen Wegen irre geht - “ (Bühler 1908 b: 31 f.), und es folgte auf diese erste Reihe eine mit anderen Tätigkeiten gefüllte Pause. Darauf las der VL eine zweite Reihe von Teilgedanken vor und forderte die VP auf, das zu einem Glied jeweils passende Gegenglied zu reproduzieren. Auch hier wurde anschließend der Denkprozess protokolliert. Die Ergänzungsversuche bestanden aus zwei Satzteilen, die nur zusammen einen vollständigen Satz ergaben. Diese Anordnung ermöglichte es Bühler, die VP den ersten Teil durch logisches Konstruieren anhand bestimmter Schlüsselworte erarbeiten zu lassen, ohne das reale Verhältnis zwischen beiden Satzteilen tatsächlich erfasst zu haben (cf. Vollmers 1992: 68). Bühler führte noch eine weitere, dritte Versuchsreihe durch bei der er zwei zueinander gehörende Gedanken vorgab, die jeweils einen separaten Satz konstituierten. Bei diesem standen die beiden Sätze in einem Analogieverhältnis. Als allgemeines Ergebnis dieser Versuchsreihe ermittelte Bühler, dass der VP nach der Darbietung des zweiten Gedankens die erste Reihe als eine Konkretisierung des allgemeinen Gedankens bewusst wurde. Dies bedeutete, dass in der Vorstellung die erste Reihe nicht sukzessiv abgesucht wird, “ wie man etwa nach den heute in den Kognitionswissenschaften üblichen Computermodellen annehmen würde ” (ibid.: 69). Vorbild für die vierte und letzte Versuchsreihe war die in Enzyklopädien anzutreffende Funktion von Begriffen. In dieser Stichwortsuche wurde der VP eine Reihe von Sätzen vorgegeben, die sie anschließend zu einer Reihe einzelner Stichworte den jeweils ursprünglichen Gedanken, aus dem dieses Stichwort stammte, wiedergeben sollte. Bühlers Untersuchungen führten zu dem Ergebnis, dass die Probanden beim Erinnern einen allgemeinen Gedanken ins Gedächtnis riefen. Dies kann durch das Folgende verdeutlicht werden: Die VP beschäftigt sich beim Erinnern mit dem vorgelegten Gedanken und versucht ihn zu verstehen. Bei diesem Suchen fällt der VP etwas von einem früheren Gedanken ein, so, wie sie einen Moment den Gedanken näher ins Auge fasst oder sich dem tiefer liegenden Sinn des Satzes in einem allgemeineren Gedanken ins Gedächtnis ruft (cf. Bühler 1908 b: 46). Bühler unterscheidet hierbei drei Momente während des Erinnerungsprozesses, nämlich ein Ausgangsglied, ein im Gedächtnis liegendes Zielglied und die zwischen beiden bestehende Beziehung. Diese Beziehung stellt den eigentlichen Erinnerungsvorgang dar. Wichtig ist hierbei die Erkenntnis, dass diese drei Elemente nicht in einer wohl geordneten zeitlichen Abfolge auftreten und dass es sich bei den Momenten nicht um selbstständige Teile handelt. Eine solche Herangehensweise war bis dato noch nicht durchgeführt worden. Viele Wissenschaftler, so auch Wilhelm Wundt, orientierten die Vielzahl ihrer Experimente am Vorgehen der Naturwissenschaft. Insbesondere eine Orientierung an der Chemie findet sich bei Wundts auf die Elemente des Bewusstseins ausgerichteten Vorgehen wieder. So gab es mannigfache Unterschiede im Vorgehen von Bühler und in dem von Wundt: “ The work of Wundt and the Structural School involved a direct analysis of the contents of consciousness, Auf den Spuren der Würzburger Schule der Denkpsychologie 15 but the Würzburg School with its study of imageless thought [. . .] and the functionalist movement all showed the inadequacy of this approach ” (Erickson 1967: 4). Die Vorgehensweise der Würzburger Schule war für sich schon ein Gegenstück zu Wundts oftmals sehr statischem Herangehensweise. 4 Die Bühler-Wundt-Kontroverse Als Leiter des ersten Experimentallabors der Psychologie in Leipzig unterschied Wundt zwischen einer Form der Introspektion, wie sie für den Alltag charakteristisch ist, bei Selbstbeobachtung und Selbstreflektion und zwischen einer wissenschaftlichen Form der Selbstbeobachtung in experimentell kontrollierten Situationen durch trainierte Personen. Diese wissenschaftliche Vorgehensweise wollte Wundt allerdings auf Inhalte wie Wahrnehmung und Gedächtnis beschränken, da nur in ihnen aus seiner Sicht ein naturwissenschaftlich experimentelles Vorgehen möglich war (cf. Spada 2006: 12). Bereits nach dem Erscheinen des ersten Teils von Bühlers Untersuchungen veröffentlichte Wundt in seiner Zeitschrift Psychologische Studien (Wundt 1907) eine harsche Kritik an der Methodik. Wundts mechanistische Auffassung vom Experiment widerstrebten den Bühlerschen Versuchsanordnungen. So verlangte Wundt, dass ein Experiment wiederholbar und an Messungen gebunden sein müsse und kritisierte, dass die VP den Denkprozess nicht exakt beobachten könne, da sie auf die Lösung der Denkaufgaben fixiert sei und die unerfüllbare Forderung gestellt werde, die “ Persönlichkeit zu verdoppeln ” (Wundt 1907: 332). Zudem träten Zufalls- und Störeinflüsse auf, da es keine planmäßige Variation der Versuchsbedingungen gebe, was zur Folge hat, dass sobald der VL weitere Nachfragen zum Bericht der VP stelle, man mit Suggestionswirkungen rechnen müsse (cf. ibid.: 339). Mit einem Zitat von Külpe (1912: 94) konterte Bühler die Polemik von Wundt: “ Was ich da erlebe, kommt mir vor wie etwas, was mir auch sonst bei meiner täglichen Arbeit aufstoßen kann, es ist etwas ganz Natürliches, nichts Gekünsteltes. ” Bühler schlussfolgerte, dass man bei allen Einwänden gegen die experimentelle Selbstbeobachtung nicht auf diese verzichten könne, da der VL sonst die Versuchsergebnisse im Sinn der eigenen, subjektiven Erwartungen interpretiere, so wie es in den Arbeiten von Wundt “ mehr als einmal ” geschehen sei (cf. Vollmers 1992: 78). Bei den beiden anderen Teilen der Bühlerschen Untersuchungen fügte er einen Aufsatz bei, der eine Aussage Külpes aufnahm und betonte, dass es bei seinen Experimenten keine Störeinflüsse gegeben habe, da die Versuchspersonen dies selbst gesagt hätten (cf. ibid.). Es eröffnete sich ein hitziger Dialog zwischen den beiden Wissenschaftlern, bei dem sich Wundt auf Bühlers Ausführungen hin veranlasst sah, eine Replik zu geben. In seinem Aufsatz “ Kritische Nachlese zur Ausfragemethode ” (Wundt 1908) betonte er, Bühlers Untersuchungen seien “ Scheinexperimente ” (Wundt 1908: 454) und Wundt sprach ihnen jeden wissenschaftlichen Status ab. Erneut unterstrich er die Maßgabe einer objektiven Messung und den Einfluss von Störvariablen wie das Zusammenarbeiten im gleichen Raum, das Geräusch der Straße, die wechselnden Bedingungen der Erwartung zwischen VL und VP und die Spannung der Aufmerksamkeit, die allesamt auf den Versuch ausgeübt würden (cf. ibid.: 447). Infolgedessen könne Wundt die Aussage Bühlers, die VPs hätten sich nicht gestört gefühlt, nicht akzeptieren, “ so lange nicht durch wirklich exakte sphymographische und pneumographische Versuche der Gegenbeweis geführt ist ” (ibid.: 450). Besonders deutlich tritt hier Wundts geradezu mystifizierende Auffassung von Messung und Zahl hervor und 16 Henrik Dindas (Essen) lässt erkennen, dass für ihn nur etwas dann gemessen oder gezählt worden ist, welches in den Stand wissenschaftlicher Erkenntnis erhoben werden kann. Bühler war ihm also einen Schritt voraus, da aus Sicht der heutigen statistischen Auffassung die Streuungen innerhalb von Gruppen zu denen von anderen Gruppen ins Verhältnis gesetzt wird, um zu stochastischen Aussagen zu gelangen und nicht wie Wundt auslegte, Streuung über Versuchspersonen der Ausdruck von Störungen sei (cf. Vollmers 1992: 79). Bühler verteidigte ganz deutlich seine Position, indem er in seinem Aufsatz “ Zur Kritik der Denkexperimente ” (Bühler 1909) erneut darauf hinwies, dass die alleinige Streuung nichts aussage, da auch bei einem identischen quantitativen Ergebnis ganz unterschiedliche Qualitäten von Bewusstseinsvorgängen vorliegen können und eine Messung lasse keinen Rückschluss über die Qualität der zugehörigen Bewusstseinsinhalte zu (cf. Vollmers 1992: 80). Erst mit dem Wirken von Otto Selz gewann die Zeitmessung als “ objektive Kontrolle der qualitativen Aussagen ” (Selz 1913: 11) der VPs gegenüber den Experimenten von Bühler wieder an Bedeutung. Bühlers Ideen und Grundannahmen wurden jedoch nach seiner Zeit als Würzburger Wissenschaftler nicht ganz aus den Augen verloren, da Karl und Charlotte Bühler in die klassische Wiener Entwicklungspsychologie übersiedelten und dort kinder- und jugendpsychologische Arbeiten anfertigten, die auf einigen Erkenntnissen der Würzburger Untersuchungen weitergeführt wurden. 5 Otto Selz und die Würzburger Schule Zu Beginn einer Betrachtung von Otto Selz steht oft zur Debatte, ob Selz überhaupt den Wissenschaftlern der Würzburger Schule zuzuordnen ist, obgleich er ganz deutlich einige der grundlegenden Ideen dieser Schulrichtung weiterentwickelt hat. So übernahm Selz z. B. viele Ideen und Techniken der damaligen Forschungsrichtung. Berücksichtigt man jedoch lediglich historische Tatbestände, so erscheint es kaum möglich, Otto Selz als Wissenschaftlerpersönlichkeit historisch über seine Zugehörigkeit zur Würzburger Schule zu charakterisieren. Zu diesem Ergebnis der fraglichen Zugehörigkeit gelangt man ebenfalls, wenn man sich Selzens wissenschaftliche Grundüberzeugungen und deren weiterführende Entwicklung anschaut. Vergleicht man diese mit dem Ideenbestand der Würzburger Schule, erkennt man große Diskrepanzen (cf. Herrmann 1996: 6). Selz war ein Außenseiter, dessen wissenschaftliches Werk schon zu Lebzeiten in Deutschland und anderswo nicht die Anerkennung gefunden hat, die vielen anderen Psychologen zuteil geworden ist. Auch ist er seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in den letzten fünfzig Jahren in Deutschland so gut wie nie rezipiert worden. Mögliche Gründe sind hier definitiv in Otto Selz bedauernswertem Leben zu finden. Nach seiner Entlassung aus dem Professorenamt zu Beginn der Naziherrschaft wurde er nach einem kurzen Lebensabschnitt als Soldat im Heer auf dem Weg nach Auschwitz im August 1943 ermordet (cf. ibid.: 1). Trotz schlimmster persönlicher Verhältnisse hielt Selz im jüdischen Ghetto in Amsterdam Kurse für jüdische Lehrkräfte ab, nachdem er seit 1933 fast ohne wissenschaftlichen Kontakt und persönlich vereinsamt in Mannheim gelebt hatte. Im Herbst 1938 kam er in das KZ Dachau und erkrankte schwer. Trotz einer erfolgreichen Emigration nach Holland holten ihn dort deutsche Besatzungsgruppen ein und brachten ihn für die letzten Auf den Spuren der Würzburger Schule der Denkpsychologie 17 wenigen Jahre seines Lebens ins jüdische Ghetto, wo er kurz darauf ermordet wurde (cf. ibid.: 7). Otto Selz begann seine fünfjährige Schaffensphase an der Würzburger Schule, als er im Jahre 1909 - Selz war 28 Jahre alt - bei Oswald Külpe eine Tätigkeit aufnahm. Külpe war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in Würzburg, sondern seit kurzem in Bonn tätig. Besonders zu Karl Bühler, damals Privatdozent in Bonn, hielt Selz eine innige kollegiale Verbindung. Ein wichtiger Einfluss für Selzens Gedankenwelt war sein ehemaliger Doktorvater Theodor Lipps, bei dem er neben einem Jura-Studium auch Philosophie studierte. Lipps versuchte damals eine psychologisch-introspektive Grundlegung von Logik, Ethik und Ästhetik herzustellen, indem er die unmittelbare psychische Erfahrung als Ausgangspunkt der Philosophie setzte und folglich in der philosophischen Ästhetik als einflussreicher Vertreter der Einfühlungslehre gilt (cf. ibid.: 2). Theo Herrmann, emeritierter Professor für Allgemeine Psychologie an der Universität Mannheim, stellt in seinem Forschungsbericht “ Otto Selz und die Würzburger Schule ” (Herrmann 1996) eine sehr gute Zusammenfassung von Selzens Wirken und Auffassungen zusammen. Folgend wird dieser Forschungsbericht als Basis verwendet, um den Gedankengang von Otto Selz und die Parallelen zur Würzburger Schule zu ermitteln. Hierbei soll die Genialität von Selzens Untersuchungen in der Nachfolge der Würzburger Ansätze, die bereits auf Bühler einen großen Einfluss hatten, dargestellt werden. 5.1 Der Grundgedanke bei Otto Selz Selz vertritt die Auffassung, dass in der Anerkennung der Existenz bewusstseinsunabhängiger Dinge in einer realen Außenwelt eine “ Hypothese ” enthalten ist, die es ermöglicht, “ zahllose verwickelte Erfahrungstatbestände zu erklären und in einer unbegrenzten Menge von Fällen die Erscheinungen vorherzubestimmen ” (Selz 1910 a: 108 ff.). Keine andere Hypothese vermag dasselbe zu leisten. Seine Grundidee, aus der er vieles andere ableiten konnte, basierte auf einer Zusammenstellung diverser Auffassungen aus verschiedenen Bereichen der Psychologie: Die Assoziationstheorie in ihren unterschiedlichen Ausprägungen, für die zum Beispiel Hermann Ebbinghaus und Georg Elias Müller stehen, die Wundt-Schule, aber auch die Würzburger Schule vertreten im Grunde eine und dieselbe Auffassung: Gegenstand der psychologischen Analyse sind Erlebnisinhalte bzw. Bewußtseinstatsachen (Wundt), mag es sich dabei um Vorstellungen oder um Gedanken, Bewußtheit oder Bewußtheitseinlagen à la Würzburg handeln. Gemeinsames Thema der Psychologie sind für alle diese Schulrichtungen also mentale Gegebenheiten, Erscheinungen von der Art der Bewußtseinsinhalte oder Erlebnisse. Die Würzburger reklamierten dabei, daß zu diesen mentalen Gegebenheiten auch unanschauliche Gedanken, also nicht nur anschauliche Vorstellungen gehören (Herrmann 1996: 7). Kontrovers zwischen diesen unterschiedlichen Positionen ist die Frage, wie die mentalen Gegebenheiten sowie die Bewusstseinsinhalte zusammenhängen und zugleich zusammenwirken. Georg Elias Müller genügte hier als Erklärung das Assoziationsprinzip. So wirken für Müller stärkere oder schwächere aktivierende und hemmende Einflüsse zwischen mentalen Inhalten - primär durch Kontiguität gesteuert - zusammen. Diese Herangehensweise 18 Henrik Dindas (Essen) kritisierte Narziß Ach und damit die Würzburger Schule der Denkpsychologie, die dem Assoziationsprinzip das Prinzip willentlicher Manipulation der psychischen Inhalte sowie determinierende Tendenzen und generell das Wollen an sich zur Seite stellen (cf. ibid.: 7). Hier vertraten unter anderem Henry Jackson Watt und Ach eine Überlagerungstheorie, in der die Assoziationsdynamik der psychischen Inhalte von determinierendem, voluntativem Geschehen überlagert wird. Selz falsifizierte diese Würzburger Auffassung und vollzog bei der Betrachtung des Seelenlebens einen veritablen Paradigmenwechsel. So ist das Seelenleben kein Muster von psychischen Erlebnisbeständen, sondern vielmehr eine “ sich selbst ergänzende zielstrebige Tätigkeitsstruktur ” 3 Gegenstand der Psychologie von Selz sind folglich nicht die Bewusstseinsinhalte, ob anschaulich oder auch unanschaulich. Es ist vielmehr dasjenige, was er gegen Ende seines Lebens “ geistige Verhaltensweisen ” (Selz 1991: 75 ff.) nannte. Entscheidend für Selz war nun, wie diese geistigen Verhaltensweisen beschaffen sind, und so verglich er sie mit “ zweckmäßigen Körperbewegungen ” , deren Verknüpfung der geistigen Verhaltensweisen “ reflexodial ” (ibid.: 75) sind. Anders als die Auffassungen von Karl Stumpf und Bühler oder entgegen der Tradition von Brentano und Lotze handelte es sich bei ihnen nicht um die psychischen Funktionen oder Akte, die den psychischen Erscheinungen oder Inhalten gegenüberstehen (cf. Herrmann 1996: 8). So erwirbt der Mensch bei Selz “ ein geordnetes System von zweckmäßigen geistigen Verhaltensweisen ” , welche sich zu mentalen Gesamtleistungen zusammenschließen und eben kein “ System von richtungslosen Vorstellungen ” (Selz 1991: 75 ff.) darstellt. Selz (1927: 273) fasste seine Grundidee beim VIII. Internationalen Kongress für Psychologie wie folgt zusammen: Das intellektuelle Geschehen ist kein System diffuser Reproduktionen, wie die Assoziationspsychologie es sich dachte, sondern es ist ebenso wie das System der Körperbewegungen, insbesondere der Reflexe, ein System spezifischer Reaktionen, in dem eine für den Regelfall eindeutige Zuordnung allgemeiner und speziellerer intellektueller Operationen zu ganz bestimmten Auslösungsbedingungen herrscht. Vom Geburtszeitpunkt an sind einige geistige Verhaltensweisen in bereits ausgereifter Form und von Beginn an in einem geordneten Zusammenhang vorhanden. Diese basieren auf einer bestimmten Erbausstattung. 4 Im Laufe der Entwicklung werden neue operative Komponenten in diesen geordneten geistigen Verhaltenszusammenhang eingefügt und ältere geistige Verhaltensweisen durch bessere ersetzt. Diese Entwicklung des immer größer werdenden, doch sehr strikt geordneten Musters von geistigen Verhaltensweisen dient der Bewältigung von Lebensaufgaben und ist daher zweckmäßig. So kann die mentale Entwicklung des Menschen als ein plastisches, bildsames Wachstum verstanden werden, welches dem Zwecke dient, die Lebensaufgaben der Umwelt und der Kultur zu bewältigen (cf. Herrmann 1996: 9). Basierend auf dem Erbgut als Grundkapital unseres Geisteslebens wird der Kulturbesitz unserer Gesellschaft an uns Individuen übertragen. Dies geschieht, indem wir Fertigkeiten von anderen Menschen übernehmen und zudem dann diejenigen geistigen 3 Selz 1983: Notiz zu einem Brief. Aus: Herrmann 1996: 8. 4 Es stellt sich die Frage, ob das intellektuelle Geschehen unterdrückt werden kann. Es ist zwar möglich, Körperbewegungen zu kontrollieren und man kann sogar trainieren, Reflexe zu unterdrücken. Ist es aber nun nicht geradezu unmöglich das intellektuelle Geschehen zu unterdrücken? Ein Gedanke kann zwar durch eine moralische Wertung im Kopf hin- und hergeschoben werden bzw. es kann versucht werden, ihn “ beiseite zu schieben ” . Jedoch kann dieser aber dennoch nicht vollkommen unterdrückt werden. Auf den Spuren der Würzburger Schule der Denkpsychologie 19 Verhaltensweisen hinzukommen, die von uns selbst neu dazuerworben werden. Diese stellen, so Selz, unser “ persönliches Gut ” (Selz 1991: 85 ff.) dar, wobei Selz in diesem Zusammenhang das instinktbedingte, automatische und einsichtige Lernen unterscheidet. Ganz in der Tradition von Karl Bühlers Überlegungen ist für alles Lernen die Antizipation des Erfolges entscheidend. Folglich heißt Lernen im ersten Schritt, Aufgaben in ihrer Struktur zu erkennen und im zweiten Schritt, Mittel für die Lösung der Aufgaben zu finden. Der Schwerpunkt liegt demnach bei der analogisierenden Übertragung der Lösungsmethoden von bekannten “ Mustersituationen ” auf noch unbekannte Situationen und nicht bei der Findung abstrakter Regeln. Dies unterscheidet den Selzen Ansatz von dem der Würzburger Wissenschaftler. So ist eine voll verstandene Aufgabe nichts anderes als die Antizipation des Ziels, wobei die Zielantizipation, ganz wie ein innerer Reiz, spezifische Lösungsmethoden auslöst. Diese “ Auslösungsbedingungen ” bestimmen, welche Teillösungsmethoden “ kumulativ ” bis zu der Erreichung des Ziels hintereinandergeschaltet werden und welche von diesen Teillösungsmethoden im Falle eines Misserfolges als “ Ersatzoperationen ” ausgewählt werden. So betont Selz, man müsse diese Handlungen im Sinne einer “ Reflextheorie ” imaginieren (ibid.: 140 ff.). 5.2 Selzens Ablehnung der Würzburger Schule Es ist bemerkenswert, dass Selz in seiner Doktorarbeit frühere Arbeiten von Oswald Külpe zum Problem der Außenwelt nicht zitiert hat, obwohl diese bereits auf den Hypothesencharakter des philosophischen Realismus hinweisen. Die Frage, ob es außerhalb unseres Bewusstseins eine objektive Welt der Dinge gibt und ob bzw. wie wir diese bewusstseinstranszendente Welt erkennen können, behandelte Selz im Jahre 1909 in seiner Doktorarbeit unter der Berücksichtigung des Englischen Empirismus. In diesem Jahr behandelte auch Külpe diese Transzendenzproblematik, welche Erkenntnisse heute insbesondere von der Popper-Schule, dem Kritischen Rationalismus, in Anspruch genommen werden. So vertrat Külpe die Auffassung, der Standpunkt, dass es eine objektive Außenwelt gibt, sei kein sicheres Wissen, sondern eine metaphysische Hypothese. Nun ermöglicht eine Akzeptanz dieser Hypothese aber, Sachverhalte zu erklären, die von den Realwissenschaften entdeckt wurden (cf. Herrmann 1996: 3). Zwar apostrophierte Selz in seiner bei Oswald Külpe angefertigten Habilitationsschrift diesen als “ verehrten Lehrer ” (Selz 1913), bezog sich aber dennoch an keiner Textstelle auf ihn, sowie er auch in späteren Schriften nie als relevante Referenz auftauchte. Auch ist bemerkenswert, dass Selz das Werk Über den Willensakt und das Temperament (Ach 1910) des Hauptvertreters der Würzburger Schule, Narziß Ach, geradezu vernichtend rezensierte. So kritisierte Selz, dass Ach in seinem Buch den Wert von Selbstbeobachtungen im Experiment unterschätzen und widerlegbare Unmöglichkeitsbehauptungen aufstellen würde (cf. Herrmann 1996: 5). Demnach habe er in seinen Experimenten den angeblich untersuchten Willensakt gar nicht erzeugt und sei mit seiner Abteilung von Temperamenten aus seiner Willenslehre einseitig, da er den Willensakt mit bloßer Aufmerksamkeitskonzentration verwechsle (cf. Selz 1910 b). 20 Henrik Dindas (Essen) 5.3 Selzens Verbindung zur Würzburger Schule Verbindungen zu den Würzburger Wissenschaftlern lassen sich jedoch nicht abstreiten, da Versuchspersonen in der Habilitationsschrift von Selz unter anderem Oswald Külpe und Karl Bühler waren. Zur Beschreibung seiner Methodik berief Selz sich auf Untersuchungen von Watt und Messer. Den Hauptunterschied zwischen seinem eigenen Vorgehen und dem der Würzburger Wissenschaftler sah Selz dennoch darin, dass die Instruktion bei seinen Versuchen für die VPs jeweils neu gegeben wurde und damit die Art der jeweiligen Versuche von Aufgabe zu Aufgabe variierten (cf. Vollmers 1992: 81). Noch in seinen Vorträgen im Amsterdamer Ghetto grenzte Selz seine eigene “ Theorie der spezifischen Reaktionen ” bzw. der “ geistigen Verhaltensweisen ” von den Würzburger Konzeptionen ab (cf. Herrmann 1996: 10). Zwar hatten die Würzburger den Assoziationismus mit ihren Untersuchungsmethoden widerlegt, sie konnten aber in den Augen vieler Wissenschaftler keine hinreichende Theorie aufstellen. Selz setzte genau an diesem Punkt seine Forschungen fort und erarbeitete eine nicht-assoziationistische Denktheorie, die Schemata des Problemlösens und des Denkens in den Mittelpunkt stellten. Ganz in der Nachfolge von Karl Bühlers Untersuchungen, die bereits auf den Würzburger Erkenntnissen basierten, erschuf Otto Selz neue Ansätze, die wichtige Vorentscheidungen zur heutigen Kognitionswissenschaft darstellten. Die Frage, ob Otto Selz nun zu den Würzburger Wissenschaftlern gehörte ist daher nicht von großer Bedeutung, wenn es darum geht, die Genialität seines Ansatzes darzustellen und entsprechend zu würdigen. Selz wurde ganz klar von den Ansätzen der Würzburger Schule beeinflusst und pflegte ein freundschaftliches Verhältnis zu Karl Bühler, dem er ebenfalls nach Bonn folgte. Selz gehörte im lokalen Sinne des Wortes nicht zu den Würzburgern, doch als Bonner Habilitand von Külpe beschäftigte er sich während seines gesamten wissenschaftlichen Lebens nach seinem Jurastudium mit den zentralen Fragen der Denkpsychologie und publizierte als erster “ Über die Gesetze (Hervorhebung durch Steffi Hammer) des geordneten Denkverlaufs ” (Selz 1913) (cf. Hammer 1994: 67). 6 Schlussbetrachtung Als ein möglicher Grund für die geringe Betrachtung der Ausführungen der Würzburger Schule in der Wissenschaft, ist mit Sicherheit das Eintreten des Ersten Weltkrieges zu nennen. Nach dessen Ende wurde die Methodik der experimentellen Selbstbeobachtung und die damit verbundene qualitative Beschreibung der Bewusstseinsvorgänge in dieser Form nicht mehr angewendet. Gerhard Kleining, Begründer der qualitativ-heuristischen Sozialforschung, erwägt auch die Nazi-Herrschaft als einen Faktor, der die Entwicklung der entdeckenden Methoden jäh unterbrach. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges konnte in dem dann vorherrschenden behavioristischen und positivistischen Wissenschaftsklima die Methoden des qualitativen Experimentierens nicht mehr aufgenommen werden (cf. Kleining). So wurde auch dem Wirken von Karl Bühler in der klassischen Wiener Entwicklungspsychologie ein frühes Ende gesetzt, da mit der Inhaftierung, Verfolgung oder Flucht der meisten seiner Mitglieder vor den Nazis eine Wiederaufnahme der dortigen Arbeiten verwehrt wurde. Auf den Spuren der Würzburger Schule der Denkpsychologie 21 Auch muss das Erscheinen des programmatischen Artikels von James B. Watson zum Behaviorismus, “ Psychologie, wie sie der Behaviorist sieht ” (Watson 1913), als ein Teilelement genannt werden, das zur Ablöse der Würzburger Methodik führte. Ein wesentlicher Kritikpunkt an der Methode der Selbstbeobachtung war unter anderem die Tatsache, dass die Aussagen der VPs nicht mehrdeutig waren und es wurde in Frage gestellt, ob die sprachlichen Ausdrücke der VPs die tatsächlichen Bewusstseinsprozesse korrekt wiedergäben. So ist es ebenfalls fraglich, ob der VL die Aussagen der VPs in deren Sinne richtig auffassen kann. Bei der Vorgehensweise der Würzburger Methode würde nicht ein aktueller Bewusstseinsprozess beschrieben, sondern nur ein Bericht erschaffen, der das Vergangene ausdrückt. Zum Zeitpunkt der Berichterstattung soll der betreffende Bewusstseinsprozess bereits abgeschlossen sein und Gedächtniseffekte führen nur zu Lücken und Fehlern in der Darstellung der Erlebnisse (cf. Vollmers 1992: 82). Verfechter des Behaviorismus waren davon überzeugt, dass die Psychologie nur mit einer methodologischen Orientierung an der Physik Ergebnisse auffinden würde, die unmittelbar gesellschaftlich verwertbar waren: “ Die Berechnung der Natur hat es dem Menschen ermöglicht, sie zu beherrschen und sich damit - so weit es geht - von ihren Wechselfällen zu emanzipieren ” (ibid.: 83). So wurde die Wissenschaft für den Menschen ein nützliches Instrument zur Naturbeherrschung, da er Naturvorgänge berechnen konnte, und folglich wendete man sich von der Methode der experimentellen Selbstbeobachtung ab. Die von den Behavioristen verfochtene experimentelle Methodik sollte einzig und allein dem Zwecke dienen, menschliches Verhalten berechenbar zu machen und dadurch zu kontrollieren (cf. ibid.). Ähnlich wie Ralph W. Erickson vertrete ich die Meinung, die Hinwendung zum Behaviorismus und den damit verbundenen Wegfall der Würzburger Erkenntnisse sollte mit Vorsicht behandelt werden: “ The attempt of the Behaviorists to reduce the mental to physiology or physics and chemistry has left out practically everything of value to man - art, literature, religion, philosophy ” (Erickson 1967: 5). Die reine Betrachtung der Denkvorgänge auf der Basis der Naturwissenschaften berücksichtigt nicht die Besonderheiten des menschlichen Verstandes und das, was ihn so einzigartig macht und demnach von den Tieren unterscheidet. Ein weiterer Grund für die geringe Rezeption der Würzburger Methodik war das Scheitern von Edward B. Titcheners Forschungsmethode, die sich zum Ziel gesetzt hatte, die Elemente des Bewusstseins aufzufinden, analog den Atomen in der Physik. Da Titchener die Methode der Selbstbeobachtung anwendete, wurde sein Versagen eben auf die Methode zurückgeführt und folglich wurde diese Methodik generell verneint (cf. Vollmers 1992: 82). Somit sind es viele außerwissenschaftliche Entwicklungen, die das Ende der Selbstbeobachtung als experimentelle Forschungsmethode zur Folge hatten. So sind es weniger methodologische Probleme, wie z. B. Wundt sie bei Bühler bemängelte, die letztendlich zu einer Ablöse der Methodik der Würzburger Schule führte. Die Würzburger Wissenschaftler haben damals schon wichtige Erkenntnisse gewonnen, die unsere heutige Psychologie stark beeinflussen. Vor allem Karl Bühler sowie der Nachfolger der Würzburger Schule, Otto Selz, erarbeiteten Methodiken, von denen einige Theorien, die heute als unabdingbar gelten, abgeleitet werden können. Die Methode des qualitativen Experimentierens der Würzburger Schule kam sehr vielen verschiedenen Gebieten der angewandten Psychologie zugute. Besonders die psychologischen Richtungen der Denk-, Wahrnehmungs- und Tierpsychologie und bestimmte theoretische Richtungen 22 Henrik Dindas (Essen) wie die Gestalt- oder Entwicklungspsychologie übernahmen viele Grundideen der Würzburger Untersuchungen. Die bis dato nicht verwendete Kombination von Introspektion, Befragung und experimenteller Anordnung sind nur einige der Besonderheiten, die die Würzburger Wissenschaftler bei ihren Untersuchungen in den Vordergrund stellten. Besonders die Aufwertung der Versuchsteilnehmer als Informanten über eigene Erlebnisse und die Überführung eines bloß apparativen Versuchs in einem mehr den Alltagsverfahren verwandten Gebrauch verschiedener Erkenntnismöglichkeiten - dem Erleben und dem Verbalisieren - verdeutlichen die Kongenialität der Ansätze der Würzburger Schule. Abschließend ist mit großem Nachdruck zu bemerken, dass sich die Psychologie wieder mehr mit den Erkenntnissen der Würzburger Schule befassen sollte, um so bedeutende Methodiken, die heute bei der Erforschung des Geistes angewendet werden, zu überdenken. Die Erkenntnisse der Würzburger Schule sollten gegebenenfalls modifiziert werden, indem sie mit einer zeitgemäßen Methodologie versehen würden. Dem qualitativen Experimentieren sollte wieder eine verstärkte Aufmerksamkeit zugewendet werden und wie es bereits Gerhard Kleining kritisierte, sollte neben der qualitativen Beobachtung das Experimentieren als eines der Basisverfahren der qualitativen, entdeckenden Psychologie und Sozialwissenschaften angesehen werden (cf. Kleining). Bibliographie Ach, Narziß 1905: Über die Willenstätigkeit und das Denken. Eine experimentelle Untersuchung mit einem Anhange: Über das Hippische Chronoskop, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Ach, Narziß 1910: Über den Willensakt und das Temperament. Eine experimentelle Untersuchung, Leipzig: Quelle & Meyer Bühler, Karl 1907: “ Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge. I. Über Gedanken ” , in: Archiv für die gesamte Psychologie 9 (1907): 297 - 365 Bühler, Karl 1908 a: “ Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge. II. Über Gedankenzusammenhänge ” , in: Archiv für die gesamte Psychologie 12 (1908): 1 - 23 Bühler, Karl 1908 b: “ Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge. III. Über Gedankenerinnerungen ” , in: Archiv für die gesamte Psychologie 12 (1908): 24 - 92 Bühler, Karl 1909: “ Zur Kritik der Denkexperimente ” , in: Zeitschrift für Psychologie 51 (1909): 108 - 118 Erickson, Ralph W. 1967: “ Some historical connections between Existentialism, Daseinsanalysis, Phenomenology, and The Würzburg School ” , in: The Journal of General Psychology 76 (1967): 3 - 24 Funke, Joachim 2003: Problemlösendes Denken, Stuttgart: Kohlhammer Funke, Joachim et al. (eds.) 2006: Handbuch der Allgemeinen Psychologie - Kognition (= Handbuch der Psychologie 5), Göttingen: Hogrefe Hammer, Steffi 1994: Denkpsychologie - Kritischer Realismus. Eine wissenschaftstheoretische Studie zum Werk Oswald Külpes, Frankfurt am Main: Peter Lang Herrmann, Theo 1996: “ Otto Selz und die Würzburger Schule ” , in: Forschungsberichte aus dem Otto-Selz-Institut für Psychologie und Erziehungswissenschaft der Universität Mannheim 46 (1996) Hussy, Walter 1984: Denkpsychologie: Ein Lehrbuch, Stuttgart: Kohlhammer Janke, Wilhelm & Wolfgang Schneider (ed.) 1999: Hundert Jahre Institut für Psychologie und Würzburger Schule der Denkpsychologie, Göttingen: Hogrefe Kleining, Gerhard (o. J.): Die Entstehung der Methode des qualitativen Experiments und ihre Anwendung in der frühen Entwicklungspsychologie, im Internet unter http: / / www.heureka-hamburg.de/ html/ entstehungexperiment.HTM. [09. 07. 2011] Auf den Spuren der Würzburger Schule der Denkpsychologie 23 Külpe, Oswald 1912: “ Über die moderne Psychologie des Denkens ” , Kongreßvortrag auf dem V. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Experimentelle Psychologie in Berlin, in: Karl Bühler (ed.) 1922: Vorlesungen über Psychologie, Leipzig: Hirzel Marbe, Karl 1901: Experimentell-psychologische Untersuchungen über das Urteil, Leipzig: Engelmann Messer, August 1906: “ Experimentell-psychologische Untersuchungen über das Denken ” , in: Archiv für die gesamte Psychologie 8 (1906): 1 - 224 Müsseler, Jochen (ed.) 2008: Allgemeine Psychologie, Heidelberg: Springer Selz, Otto 1910 a: “ Die psychologische Erkenntnistheorie und das Transzendenzproblem ” , in: Archiv für die gesamte Psychologie 16 (1910): 1 - 110 Selz, Otto 1910 b: “ Die experimentelle Untersuchung des Willensaktes ” , in: Zeitschrift für Psychologie 57 (1910): 241 - 270 Selz, Otto 1913: Über die Gesetze des geordneten Denkverlaufs. 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Erstdruck als: “ Psychology as the Behaviorist views it ” , in: Psychological Review 20 (1913): 158 - 177 Wundt, Wilhelm 1907: “ Über Ausfrageexperimente und über die Methoden zur Psychologie des Denkens ” , in: Psychologische Studien 3 (1907): 301 - 360 Wundt, Wilhelm 1908: “ Kritische Nachlese zur Ausfragemethode ” , in: Archiv für die gesamte Psychologie 11 (1908): 445 - 459 24 Henrik Dindas (Essen) K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 38 (2015) · No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Was unterscheidet Mensch und Tier? Eine Analyse verschiedener Sprachursprungstheorien Sarah K. Baumann The following article focuses on the origin of the human language, contrasting philosophical and scientific-orientated views. It illuminates modern language theories and puts an emphasis on main differences of the very own forms of interaction among humans and animals. Since language is closely linked to the cognitive abilities of the human species, the article depicts three theories and ideas of renowned-scientists Michael Tomasello, Robin Dunbar and Karl Bühler. The article shows that the many different theories and contributions to the field of the origin of language differ in various contents and interpretations, hence shows that it is inevitably important to differentiate and clarify innovative ideas and views. It explores ideas of the three concepts, concentrating on the ideas that Karl Bühler elaborates in his “ Sprachtheorie ” , concluding that even though Bühlers ideas are historically prior to the two others, it still persists as a reasonable deliberations up to this very recent day. 1 Einführung Die Frage nach dem Ursprung der Sprache wird seit vielen Jahrhunderten in verschiedenen Wissenschaften diskutiert. Vor allem im Zeitalter der Aufklärung stand der naturwissenschaftlichen Position eine philosophische gegenüber. Eine der philosophischen Sichtweisen vertrat unter anderem Johann Gottfried Herder, welcher sich in seiner Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772) dazu äußerte. Im Jahr 1851 war es Jacob Grimm, der in einem Vortrag seiner Meinung Ausdruck verlieh, dass es die Aufgabe der Sprachwissenschaften sei, den Ursprung der Sprache zu klären (cf. Jäger 2009). Die Evolutionsbiologie geht von einer stufenweisen Entwicklung des frühen Menschen aus, zu welcher sich zeitgleich auch die Sprache entwickelte. Der Anthropologe Andre Leroi- Gourhan formulierte es als “ eine Kette der Befreiungen ” (cf. Leroi-Gourhan 2009), welche mit der Aufrichtung des Ganges begann. Da die Hände nun nicht mehr zur Fortbewegung nötig waren, eröffnete sich die Möglichkeit der handgestützten Kommunikation sowie die Entwicklung des technischen Handelns. Das Gesicht wurde von der Aufgabe des Ergreifens der Nahrung entlastet. Durch den aufrechten Gang veränderte sich außerdem die Aufhängung des Schädels, aus dem sich eine gravierende Zunahme des Gehirns ergab. Das neu entstandene Gebiet - der Kortikalfächer - beherbergt heute die Bereiche, die für die Steuerung von Hand und Gesicht als auch für die Sprachareale verantwortlich sind. Aufgrund der verschiedenen Ausgangspositionen der einzelnen Wissenschaften bleibt nicht aus, dass es verschiedene Theorien zum Ursprung der Sprache gibt. Wie es tatsächlich