eJournals Kodikas/Code 37/3-4

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2014
373-4

"Alla prima", "d'un seul coup", "immédiatement"

2014
Bettina Lindorfer
1 “Je puis donc dire indifféremment: littérature, écriture ou texte” (III 1977: 804). Die Barthes-Zitate werden nach der dreibändigen Werkausgabe von Éric Marty zitiert, die Jahreszahl gibt den Erstdruck des zitierten Textes an. Darüber hinaus werden Siglen der Buchtitel verwendet, wie Barthes sie selbst in Roland Barthes par Roland Barthes auflistet (cf. III 1975: 243). 2 Abgedruckt in La règle du jeu (Barthes 1991: 53; 2002 als Einzelausgabe erschienen). “Alla prima”, “d’un seul coup”, “immédiatement” Zur Kontingenzerfahrung in der écriture bei Roland Barthes Bettina Lindorfer (Berlin) The following contribution focuses on the moment of chance in the figuration of Barthes’ concept of écriture. The central thesis is that Barthes’ écriture is not only varying between the extremes of semantic emptiness and a plurality of sense, but is also in an essential way marked by chance. This is evident in Barthes’ celebration of an écriture alla prima, a script accessible without detours and in absolute simultaneity: It seems to be situated outside any semiotic process - and does not only seem to accept the moment of chance, but moreover to attract and tempt it. 1 Écriture généralisée als ‘Haltung’ Als Schrift bezeichnet der späte Barthes nicht nur Texte, sondern auch den angemessenen Umgang mit ihnen, genauer gesagt eine Haltung des Produzierens und Rezipierens von Zeichen. So charakterisiert er ‘seine’ Semiologie - also die Disziplin, die seit Ende der 1960er Jahre im Namen von écriture operiert und zum Beispiel in seiner Antrittsvorlesung am Collège de France mit ihr gleichgesetzt wird 1 - nicht etwa als wissenschaftliche Methode, sondern als eine auf ‘die Nuancen’ abzielende Rezeptionshaltung: “l’attitude d’écoute, ou de vision, des nuances”, wie er in seiner einführenden Vorlesung zum désir de neutre 1978 erklärt. 2 Diese écriture kann streng genommen auf alles ausgedehnt werden: Sie ist eine Haltung zur Welt, zum Leben, ja die Welt selbst, sofern diese auf eine ‘richtige’ Weise arrangiert ist. Vor dem Grundaxiom der Barthes’schen Semiologie, dass nicht nur jedes Wort und jedes Komma, sondern auch jeder Schritt eines Boxers, jede Farbschattierung einer Autotür mit Bedeutung geladen und somit ‘lesbar’ ist, wird écriture zu einer Art Qualitätsmarker, der auf Bewegungen, alltägliche Vollzüge (Adressen erklären, Geschenke verpacken etc.) oder Artefakte (Straßenzüge, Gerichte, Theaterpuppen) angewendet wird, wie L’empire des signes eindrucksvoll vorführt. Damit folgt der Begriff dem Diktum Freuds in der Traumdeutung, wonach “das Wort” ein “Knotenpunkt mehrfacher Vorstellungen” und damit “sozusagen eine prädestinierte Vieldeutigkeit” ist (Freud [1900] 1978: 346). Bei K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 37 (2014) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Bettina Lindorfer 226 3 Das gilt zuallererst für Degré zéro de l’écriture, wo der Begriff in Wendungen wie “choix général d’un ton, d’un éthos”, “rapport entre la création et la société”, “un acte de solidarité historique” oder als “la morale de la forme” umrissen wird (I 1953: 147f.). 4 Einschlägig für die Debatte um diese Frage ist die Auseinandersetzung zwischen Derrida und Searle in der Zeitschrift Glyph von 1977 (n° 1 und 2); cf. Culler 1982: 121-130. 5 Cf. FDA III 1977: 665; III 1979: 1014; PlT II 1973: 1496. Barthes weist dieser “nœud de signification” - um Lacans Ausdruck aufzugreifen (Lacan 1966: 166) - in mindestens drei unterschiedliche Richtungen: 1. Da ist die frühe écriture-Bedeutung als moralische Dimension der Form, 3 deren Metaphorizität Barthes zwanzig Jahre später in Wendungen wie ‘Idiolekt eines Kollektivs’ (II 1971: 1320) oder “variété du style littéraire, sa version en quelque sorte collective” (Barthes [1973] 2006: 6) hervorhebt. 2. Ende der 1960er Jahre kommt eine ‘grammatologische’ Richtung hinzu, die Schrift als konstitutiven Faktor jeder Äußerung versteht und damit deren unendliche Deutbarkeit meint; sie ist in der poststrukturalen Theorie verankert, derzufolge keine Äußerung einen eingrenzbaren Kontext hat: Vielmehr gilt der Kontext jeder Äußerung prinzipiell als unendlich erweiterbar, wodurch die Äußerungen selbst ebenfalls unendlich viele Bedeutungen annehmen können. 4 3. Und schließlich, Anfang der 1970er Jahre, gibt es jene am buchstäblichen Sinn von Schrift orientierte Bedeutung, in der Barthes einen “sens manuel du mot” beschwört, der mit Schreibung, Handschrift, Kritzeln (scription) paraphrasiert werden kann (cf. Barthes 2006: 6; II 1973: 1710f.). 1.1 Plurales, Unabschließbarkeit der Deutung Die Vieldeutigkeit von écriture ist also gewollt. Denn semantische Pluralität garantiert die Befreiung vom Diktat eines letzten Sinns: Der Ausdruck écriture steht bei Barthes wie ‘Text’ und ‘Literatur’ für das - lustversprechende - Widerspiel zwischen dem instrumentellen Sprachgebrauch des bloßen Informationsaustauschs auf der einen und dem Gewebe bewusst oder unbewusst mitschwingender Bedeutungen auf der anderen Seite. Dieses Widerspiel setzt die Gleichzeitigkeit von Gegensätzlichem in Szene, die den Blick auf das ‘Gespaltene’ und ‘Ungezügelte’ des Subjekts freigibt (cf. PlT II 1973: 1510). Damit ist nicht nur alles deutbar, sondern auch unendlich oft: Das Schreckgespenst der unendlichen Semiose, gegen das Umberto Eco zu dieser Zeit längst zu Felde zieht (cf. Eco 1994: 164f.), wird bei Barthes als der Inbegriff der ‘Lust am Text’ inszeniert. 1.2 Zwei Arten des ‘Leeren’ Genau gegen diese Mehrdeutigkeit und unendliche Semiose scheint sich mir jedoch auch in den Texten Barthes’ seit etwa 1970 eine Stimme zu erheben, die die Strukturen unendlicher Verweisungen und immer neuer Bedeutungen polemisch als ‘Dröhnen’, als ‘Hämorrhagie’ bzw. als narzisstisches Geplapper 5 deklassiert und ganz im Gegenteil solche Ausdrücke aufwertet, die ein Leeres verkünden: le vide, le neutre, le degré zéro. So kommt es, dass der scheinbare “excès de subjectivité” in japanischen ‘Suffixwucherungen’ als “une manière de dilution, d’hémorragie du sujet dans un langage parcelé” gefeiert (und nicht etwa betrauert) “Alla prima”, “d’un seul coup”, “immédiatement” 227 6 “[L]e vide est idéalement l’espace antérieur de toute sémiphanie” (SFL II 1972: 1076). wird (EpS II 1970: 750). Hinzu kommt, dass Bedeutungsleere nicht als Hohlheit oder Idiotie beklagt, sondern als ideale Seinsweise dargestellt und sogar die Schrift, dieses vormals plurale Sinnschichten verkörpernde Gebilde, auf die Seite der ent-leerenden Instanzen gestellt wird: “l’écriture est bien cette activité étrange […] qui arrête miraculeusement l’hémorragie de l’Imaginaire” (III 1979: 1014). Diese Idealisierung des vide de sens erweist sich als ein zweiter Gravitationspunkt des Barthes’schen Werkes, der in diametralem Gegensatz zur eingangs dargestellten Vielstimmigkeit steht. Er durchbricht, wie Philipp Roger feststellt, die Leidenschaft für das Vielstimmige, um die Vertikalität des Ereignisses zu betonen: La quête littéraire de Barthes s’organise autour d’une passion du sens traversée de la douloureuse, inextinguible soif de l’exemption du sens qui ferait revenir, virginale et innocentée, la ‘verticalité du Mot’. D’un côté: la sémiologie, le structuralisme, l’amour de l’idée, l’engouement pour le mathésis romanesque, l’art de l’effet, le cerne de la phrase, le Style, la connotation. De l’autre, en constant filigrane et par furtives émergences: l’incident, le satori, le trait, le projet rigoureusement vertical de la parole poétique, la profération amoureuse, le ‘C’est ça! ’, le photogramme d’Eisenstein, le coq-à-l’âne du maître zen, le haïku, la dénotation arrachée aux structures dont elle serait l’‘excipient’ et revenue comme notation. (Roger [1986] 1990: 415) Bereits 1963 spricht Barthes in der Zeitschrift Tel Quel über diese beiden Haltungen in Bezug auf die zeitgenössische Zeichenkritik, die er in zwei Lager teilt, nämlich “donne[r] une très grande plénitude” auf der einen und “‘néantiser’ le sens” auf der anderen Seite (EC I 1964: 1369f.). Man könnte nun einwenden, dass die Rede vom degré zéro, von der Vertikalität der Poesie und der reinen Denotation doch von Anfang an in Barthes’ Texten präsent ist und dort gar nicht wirklich im Gegensatz zur Vielstimmigkeit steht: Angefangen beim frühen Degré zéro de l’écriture (1953), wo das Leere schon im Titel prangt, über den Essay zum Eiffelturm von 1964, wo dieser als “signe pur” und “vide” apostrophiert wird (I 1964: 986), bis hin zur ‘Mantik’ des Ignatius von Loyola (1972) werden Nullpunkte und (sprachliche) Leerräume beschworen, die doch letztlich nichts anderes sind als Einladungen zu neuen, unendlich erweiterbaren Bedeutungen. So heißt es von dem als ‘reines’ und ‘leeres’ Zeichen eingeführten Eiffelturm im gleichen Atemzug, dass er ‘ alles bedeuten kann’, dass er ‘eine Form’ ist, “à laquelle les hommes ne cessent de mettre du sens” (ebd.). Ähnlich argumentiert Barthes mit Blick auf den Gründer des Jesuitenordens, Ignatius von Loyola: Die sprachliche Leere, die dessen Geistliche Übungen zu erreichen suchten, sei nur dazu da, ‘einer neuen Sprache’ den Weg zu bereiten; das Leere sei nämlich die Voraussetzung für die Instituierung des jesuitischen Zeichenuniversums, 6 aus dem kein Weg herausführe. Noch das Schweigen Gottes - also das Fehlen eines Zeichens - werde hier als ‘Zeichen’, oder zumindest als “retard du signe”, interpretiert: […] retournant la carence du signe en signe, [la mantique] est parvenue à inclure dans son système cette place vide et cependant signifiante que l’on appelle le degré zéro du signe: rendu à la signification, le vide divin ne peut plus menacer, altérer ou décentrer la plénitude attachée à toute langue fermée. (II 1972: 1093) In seinen Thematisierungen der Sprache des Jesuitengründers wird Barthes’ “ambivalente Beziehung zur Sprache” (Roger 1993: 39), seine Zerrissenheit “entre ‘mysticisme’ du Mot et culture rhétorique” (Roger [1986] 1990: 420, Anm. 44) am sichtbarsten. So wie die Bettina Lindorfer 228 7 Siehe zu diesem Punkt auch: “Le satori (l’événement Zen) est un séisme plus ou moins fort […] qui fait vaciller la connaissance, le sujet: il opère un vide de parole” (II 1970: 748). Geschlossenheit des jesuitischen Zeichenuniversums verhindert, dass ein ‘Nullpunkt des Zeichens’ als Nullpunkt wahrgenommen werden kann, so scheint doch auch Barthes, wie man einwenden könnte, Nullpunkte sofort als Deutungsaufforderungen zu verstehen. Der Einwand ist zweifellos berechtigt, denn viele Passagen funktionieren in der Tat genau so. Dieses in das jeweilige Deutungssystem integrierbare Leere, das nur als Projektionsfläche neuer Bedeutungen dient, meine ich hier jedoch gerade nicht, sondern vielmehr ein Leeres, das leer oder fast leer bleibt. Barthes vergleicht es mit der Erleuchtung (des satori) im Zen- Buddhismus: “et peut-être ce qu’on appelle, dans le Zen, satori, […] n’est-il qu’une suspension panique du langage, le blanc qui efface en nous le règne des Codes, la cassure de cette récitation intérieure qui constitue notre personne” (EpS II 1970: 798). 7 Im Folgenden möchte ich zeigen, dass dieses radikalisierte Leere bildhaft und kontingenzorientiert zu denken ist. Ich gehe dazu in drei Schritten vor: Zunächst (Abschnitt 2) möchte ich zeigen, inwiefern es als ein Unmittelbares charakterisiert wird, mit dem bei Barthes eine Polemik gegen Sprachlichkeit und semiotische Prozesse einhergeht; anschließend (Abschnitt 3) werde ich das Unmittelbare als Bildhaftes identifizieren, das sich als eine plötzlich einsetzende und ‘mit einem Mal’ (d’un coup) zu lesende Größe erweist, um schließlich im letzten Abschnitt (Abschnitt 4) das scheinbare Paradoxon einer ‘unmittelbaren Schrift’ (écriture immediate) zu ergründen, das Barthes gegen Bedeutungswucherungen der abendländischen Tradition mobilisiert und mit dem er den Begriff der Kontingenz radikalisiert. 2 Radikalisiertes Leeres: Polemik gegen eine “machine à langage” “Industrieuse, infatigable, la machine à langage qui bruit en moi” (FDA III 1977: 665). Das radikalisierte Leere steht nicht nur auf irritierende Weise für Unmittelbarkeit, wie in den nächsten Abschnitten gezeigt werden soll, sondern es motiviert auch Barthes’ heftiges Polemisieren gegen ‘abendländisches’ Deuten, also gegen semiotische Prozesse im Allgemeinen und gegen die Sprache im Besonderen. Das Unabschließbare dieses Deutens erscheint nun als Bedrohung. ‘Sprachmaschinen’, d.h. sich gegenseitig unterjochende Deutungen, deren Treiben als strukturell unabschließbar gekennzeichnet wird, drängen sich in den Vordergrund, sobald ‘Sinn’ und ‘Sprache’ thematisch werden. Ihr Prinzip ist das Rechthaben-Wollen, ihr Modell ist die Szene: “Le langage est le champ de la Machè: pugna verborum. […] Le modèle - ou l’assomption - en est la ‘scène’” (III 1978: 870). In diesem Feld geht es darum, die Oberhand zu gewinnen, indem die eigene Deutung gegenüber anderen Sichtweisen auftrumpft, wie es in S/ Z heißt: “La nature du sens, c’est une force, qui tente de subjuguer d’autres forces, d’autres sens, d’autres langages” (II 1970: 659). Dieser Prozess des Sich-gegenseitig-Übertrumpfens wird in Roland Barthes par Roland Barthes als im Prinzip unabschließbar charakterisiert: “[La scène] montre à nu le cancer du langage […]: les répliques s’engendrent, sans conclusion possible, sinon celle du meurtre” (III 1975: 216). Das Entscheidende für meine Argumentation ist nun, dass Barthes dieses agonale Prinzip mit der Struktur der Sprache verknüpft: “Alla prima”, “d’un seul coup”, “immédiatement” 229 8 My I 1957: 707f. und 718, Anm. 1 sowie im Interview Digressions (II 1971: 1285). 9 Larvatus prodeo: Das Motto der Flaubert’schen Schreibweise ist in diesem Sinne auch das Motto der Barthes’schen “philosophie de l’anti-Nature” (RB III 1975: 195); als weitere Beispiele werden Brechts episches Theater oder das japanische bunraku genannt. In allen wird betont, dass es darum gehe, Künstlichkeit nicht zu negieren, sondern sie im Gegenteil zur Schau zu stellen. Denn nur kulturell gesetzte Gesten seien als veränderbare erkennbar (cf. Oster 2012). La scène est comme la Phrase: structuralement, rien n’oblige à l’arrêter. La scène est […] interminable, comme le langage: elle est le langage lui-même, saisi dans son infini, cette ‘adoration perpétuelle’ qui fait que, depuis que l’homme existe, ça ne cesse de parler. (FDA III 1977: 651) Fassen wir vorläufig zusammen: Dass sprachliche Ausdrücke immer ‘Sekundär’-Bedeutungen mit sich tragen, ist auf der einen Seite die Voraussetzung für ihre Mehrstimmigkeit und die ‘Lust am Text’. Auf der anderen Seite drohen genau diese ‘Sekundär’-Bedeutungen das jeweils Gesagte sozusagen aus dem Untergrund zu überstimmen. Sie werden dann nicht als Bereicherung und lustvolle Pluralität wahrgenommen, sondern als ‘Wucherungen’, die sich gewaltsam aufdrängen und damit das hier und jetzt Gesagte ersticken (- besser gesagt ‘verdampfen lassen’: Barthes spricht wiederholt von “évaporation” 8 ). Der radikalisierte Nullpunkt, das ist meine These, richtet sich gegen diese Sinn- und Sprachwucherungen mit dem Ziel, das hier und jetzt Gesagte umso hörbarer werden zu lassen. Auf dem Weg zu diesem Ziel rücken nicht etwa sinnlose Zeichen ins Zentrum, sondern sprachliche Formen, die auf Anhieb ins Auge springen und die auf den ersten Blick inhaltlich erfassbar (‘zu lesen’) sind, die mit anderen Worten so aussehen, als würden sie (unschuldig) etwas ganz Einfaches sagen, so wie man ‘einfach mit dem Finger’ auf etwas zeigt. Es ist ein fast naiv zu nennender Zeichengebrauch, der Barthes vorzuschweben scheint. Modelle findet er in der kindlichen Zeigegeste, in der Sprache des japanischen Haiku oder in der modernen Malerei: [Le] haïku (le trait) reproduit le geste désignateur du petit enfant qui montre du doigt quoi que ce soit (le haïku ne fait pas acception du sujet), en disant seulement: ça! d’un mouvement si immédiat (si privé de toute médiation: celle du savoir, du nom ou même de la possession) que ce qui est désigné est l’inanité même de toute classification de l’objet […] le sillage du signe qui semble avoir été tracé, s’efface […]. (EpS II 1970: 804) Le signe - du moins le signe qu’il [le sémiologue-artiste] voit - est toujours immédiat, réglé par une sorte d’évidence qui lui saute au visage, comme un déclic de l’Imaginaire. (L III 1977: 812) Der Nullpunkt, von dem hier die Rede ist, verheißt also sowohl ein unmittelbares Sehen - und kein akribisches Deuten - auf der Seite des Rezipienten als auch einen unmittelbaren Akt auf der Seite der Produktion - kein Feilen am Text, kein Radieren, kein endloses Reformulieren. Die Ausdrücke “en une fois”, “dans la première vue”, “immédiat” und das zeigende “ça! ” müssen Barthes-LeserInnen aber aufhorchen lassen: Wird hier nicht einer naiven Spontaneität gehuldigt, vor der Barthes stets als einem Deckmantel des Stereotypen warnt? Immer wieder polemisiert Barthes gegen Unmittelbarkeit, Spontaneität oder Natürlichkeit, die er als ‘Mythen’ bzw. als bloß Stereotypen erzeugende Automatismen entlarvt, um im Gegenteil den Prozess des Produzierens, das Künstliche und immer kulturell Geprägte menschlichen Handelns in den Vordergrund zu stellen. 9 Ist also das en une fois nur auf den ersten Blick ein müheloses Schreiben oder Malen, hinter dem eigentlich sehr viel Übung steckt - vergleichbar vielleicht mit jener Lässigkeit und Coolness im Habitus frühneuzeitlicher Hofleute, die Bettina Lindorfer 230 10 Die sprezzatura von Castigliones Corteggiano ist dafür das klassischste Beispiel. Weiteres Anschauungsmaterial liefert der “gestuaire de désinvolture” des Film noir, den Barthes im Mythologies-Essay “Puissance et désinvolture” als “univers de la litote” feiert (My I 1957: 605ff.): Es verhält sich dabei ähnlich wie beim ‘westlichen’ (versteckten) Kochen im Gegensatz zur öffentlich ausgestellten Sushi-Zubereitung im ‘Reich der Zeichen’, wo etwa einem Aal sein Status als ‘Nahrungsmittel’ vor aller Augen eingeschrieben wird (cf. EpS II 1970: 763ff.). das mühevolle Einstudieren eines scheinbar spontan dahingeworfenen Blickes oder einer ‘fallengelassenen’ Bemerkung gerade nicht zu erkennen geben sollen? 10 Im Folgenden werde ich zu zeigen versuchen, dass die unmittelbare Schrift weder zu Spontaneität noch zu Deutungsverweigerung aufruft und auch nicht als désinvolture zu interpretieren ist, sondern dass sie vielmehr die Körperlichkeit und Zeitlichkeit der écriture und damit ihre Ereignishaftigkeit in den Vordergrund rückt. In diesen Themen - E REIGNIS , K ÖRPER und T OD - ist ein radikalisierter Kontingenzbegriff am Werk, in dem, um es mit Wellbery zu formulieren, ein nicht theoretisierbarer, weil nicht funktionaler Einbruch von Exteriorität angezeigt wird (cf. Wellbery 1992 a: 161ff.; 1992 b). Der emphatische Kontingenzbegriff - ein essentielles Kennzeichen des Poststrukturalismus - führt einerseits dazu, dass der nicht theoretisch einholbare Zufall zu den Konstitutionsbedingungen der Texte gehört sowie dass Zufall und Tod andererseits eine unverfügbare Exteriorität thematisieren. 3 Unmittelbarkeit im Bild Der Gegensatz zwischen Pluralem und Leerem, zwischen langem Feilen an seinen Formulierungen und dem unmittelbaren Finden des ‘richtigen’ Ausdrucks besteht wie gesagt vom “anti-langage” der Mythologies bis zum letzten Buch La chambre claire, wo er sich in der Opposition zwischen punctum und studium manifestiert. Zunächst artikuliert er sich als Gegenüberstellung von Text und Bild. Das Bild - meist ist das fotografische: das ‘Licht-Bild’ gemeint - wird in den frühen Texten als Inbegriff des Unmittelbaren, des Unanalytischen und des Gewaltsamen gekennzeichnet. So wird es in den Mythologies als das beschrieben, was sich dem Betrachter ‘aufdrängt’, indem es seinen Inhalt ‘auf einmal’ präsentiert, ohne ihn zu analysieren: Sans doute, dans l’ordre de la perception, l’image et l’écriture, par exemple, ne sollicitent pas le même type de conscience. […] l’image est, certes, plus impérative que l’écriture, elle impose la signification d’un coup, sans l’analyser, sans la disperser. (My I 1957: 684; Hervorh. v. mir, B.L.) Dass das Bild seine Botschaft gebieterisch aufdrängt - als gäbe es in ihm nichts zu ‘deuteln’ -, ist auch die Botschaft vieler Passagen von La chambre claire: Si la Photographie ne peut être approfondie, c’est à cause de sa force d’évidence. Dans l’image, l’objet se livre en bloc et la vue en est certaine - au contraire du texte […]. C’est précisément dans cet arrêt de l’interprétation qu’est la certitude de la Photo. (CC III 1980: 1183) Das Bild ist deshalb aber nicht eindeutiger. Zumindest in La chambre claire weist der Ausdruck d’un coup auf das dem Subjekt nicht Gefügige: das Kontingente, das ihm zustößt und das nicht beherrschbar ist. Während das Unanalysierbare und Gewaltsame des Bildhaften in den Mythologies auf die Seite des Nichtintellektuellen und Pseudo-Klaren geschlagen wird, rückt es im späteren Werk auf die Seite der Kontingenz: “Telle photo, tout d’un coup, m’arrive” (CC III 1980: 1121). “Alla prima”, “d’un seul coup”, “immédiatement” 231 11 Genannt wird hier das Piktogramm und das Quipu der Inka (I 1957: 684). Cf. dazu Variations sur l’écriture, wo die nostalgische Hinwendung zur Handschrift in eine Geschichte der Schrift eingebettet wird (Barthes 2006: 104). 3.1 “D’un coup” und “en bloc”: Das Bild als das Andere des Textes Verweilen wir einen Augenblick bei Ausdrücken wie d’un coup, en bloc oder en une fois. Dieses zentrale Charakteristikum des Bildes von den Mythologies bis La chambre claire ist nämlich alles andere als eindeutig. Es komprimiert mindestens vier verschiedene Bedeutungsaspekte: 1. Da ist zunächst das d’un coup, das dem Bild qua Medium zuzukommen scheint: Bilder zeigen ihren Inhalt simultan - im Unterschied zur gesprochenen, linear voranschreitenden Sprache. 2. Die Simultanität der Präsentation suggeriert des Weiteren, dass das im Bild Präsentierte auf einmal, d.h. schneller erfasst wird. 3. Ein weiteres damit zusammenhängendes Charakteristikum des Bildes verstärkt den Eindruck des Unmittelbaren: Es ist das im engeren Sinne Bildhafte des Bildes, das suggeriert, dass man es nicht dechiffrieren müsse, dass es seinen Inhalt direkt zeigt, ohne dass ein Code anzuwenden oder eine Sprache gelernt werden müsse. 4. Schließlich ist das Bild flächig und damit deutlicher körperlich als die ‘dahingehauchte’, scheinbar durchsichtige Rede. Die Materialität des Bildes, das seinen Inhalt in seiner Körperlichkeit präsentiert, ist anders als diejenige der immer im Verdacht des Metaphysischen stehenden Rede nicht negierbar. In einer Passage zu Loyola kommen diese vier Aspekte geballt zur Sprache: L’image est en effet, par nature, déictique, elle désigne, ne définit pas; il y a toujours en elle un résidu de contingence, qui ne peut être que pointé du doigt. Sémiologiquement, l’image entraîne toujours plus loin que le signifié, vers la pure matérialité du referent. (SFL II 1972: 1084f.) Der Gegensatz zwischen Bild und Text ist für Barthes jedoch alles andere als unüberbrückbar. Schon der Essay Le mythe aujourd’hui (1957) zeigt zwar, wie bereits zitiert, einen prinzipiellen Unterschied zwischen Bild und Schrift auf, verneint aber mit Verweis auf die Geschichte der Schrift, 11 dass dieser Unterschied kategorisch sei: “l’image est, certes, plus impérative que l’écriture, elle impose la signification d’un coup, sans l’analyser, sans la disperser. Mais ceci n’est plus une différence constitutive. L’image devient une écriture, dès l’instant qu’elle est significative […]” (I 1957: 684; Hervorh. von mir, B.L.). 4 Unmittelbare Schrift: “écriture alla prima” “Je cherche une écriture qui ne paralyse pas l’autre. Et en même temps qui ne soit pas familière.” (III 1977: 759) Und umgekehrt gilt: Die Schrift wird da zum Bild, wo sie unmittelbares Schreiben sein will. Etwa zehn Jahre nach den Mythologies wird es Barthes genau darum gehen, wenn er danach fragt, wie die Unmittelbarkeit des Bildes durch Sprache erreicht werden kann. Barthes Bettina Lindorfer 232 Abb. 1: “ MU , le vide”. Entnommen aus: EpS II 1970: 749 Abb. 2: “Où commence l’écriture”. Entnommen aus: EpS II 1970: 759 versucht die Differenz zwischen Schrift und Bild zu überwinden, indem er die Schriftähnlichkeit des Bildes und die Bildhaftigkeit der écriture herausarbeitet. Doch wie werden Texte ‘bildergleich’, wie können sie unmittelbar berühren oder Wirkliches unmittelbar evozieren? Anders gefragt: Welches sind die Kennzeichen eines Sprechens, das ‘augenblicklich evident’ ist? Barthes stellt sich diese Fragen nicht erst 1980 in La chambre claire, sondern schon 1970 in L’empire des signes: Warum wirkt ‘die Schrift Japans’ - d.h. die Zeichen der japanischen Kultur - auf den Besucher nicht nur ‘weder exzentrisch noch gewöhnlich’ (II 1970: 802), sondern auch so unmittelbar? Eine Antwort ist: weil in L’empire des signes diese Schrift direkt vor den Augen des Lesers geschrieben wird. Dazu gehört zum einen, dass Bilder - gerade auch Bilder von Schriftzügen - gezeigt, d.h. abgebildet, werden (Abb. 1, 2); zum “Alla prima”, “d’un seul coup”, “immédiatement” 233 12 Diese Technik des spontanen Pinselstrichs wird schon im Barock praktiziert (cf. Hofstätter 1975: 253). Abb. 3: Entnommen aus: EpS II 1970: 787 anderen beschreibt Barthes die Unmittelbarkeit der japanischen Schrift bzw. dieses ‘Japan’ genannten Ortes als eine “écriture alla prima” (EpS II 1970: 802). Dieser Begriff aus der modernen Malerei, wo alla prima eine Malweise mit einmaligem Auftragen der Farbe, ohne Unter- oder Übermalung, bezeichnet, 12 bringt auf den Punkt, wie sich die Zeichen hier zeigen: Ob in der Kalligraphie (Abb. 3), beim Spielen am Automaten oder beim Verfassen von Haikus, immer wird das ‘Land der Schrift’ als ein Ort beschrieben, in dem das Geschriebene zu keinem Zeitpunkt etwas Vorläufiges hat: Kein bloßes Skizzieren, kein Ausradieren und keine Korrektur des einmal Geschriebenen sei hier möglich, weil ‘Schrift’ als ein “accident contrôlé” zelebriert werde: “cette écriture […] où l’esquisse et le regret, la manœuvre et la correction sont également impossibles” (EpS II 1970: 802). Alla prima ist das, was auf der Straße passiert (cf. ebd.), die Einrichtung eines Zimmers (“comme si la chambre était écrite d’un seul coup de pinceau” [II 1970: 778]), eine Art zu schreiben (“une écriture irréversible et fragile” [II 1970: 806]) oder zu dichten (das Haiku als “un événement bref qui trouve d’un coup sa forme juste” [II 1970: 798]). Um das alla prima fernöstlicher Zeichenproduktion zu verstehen, ist es hilfreich, es seinem abendländischen Pendant in der modernen Malerei gegenüberzustellen: TW [gemeint ist Cy Twombly; B.L.] semble procéder à la façon de certains peintres chinois, qui doivent réussir le trait, la forme, la figure, du premier coup, sans pouvoir se reprendre, en raison de la fragilité du papier, de la soie: c’est peindre alla prima. (III 1979: 1046) Doch es gibt eine entscheidende Differenz zwischen Twombly und der fernöstlichen, in diesem Fall chinesischen, Kalligraphie: Twomblys Striche flottieren im zeichenleeren Raum. Sie sind ohne jedes Risiko des Verfehlens: “[L]e tracé de TW n’en comporte aucun: il est sans but, sans modèle, sans instance; il est sans telos, et par conséquent sans risque: pourquoi ‘se rependre’, puisqu’il n’y a pas de maître? ” (ebd.). Dagegen operiert der fernöstliche Maler auf dem Boden des Zeichens, das es darzustellen und eben nicht zu verfehlen gilt: “Tandis que le jet chinois comporte un grand danger, celui de ‘rater’ la figure (en manquant l’analogie)” (ebd.). Meine These ist nun, dass in L’empire des signes genau das interessiert: Das eigentlich Erhabene der alla prima-Technik ist für den Erzähler, dass sie das Wagnis auf sich nimmt, in Bettina Lindorfer 234 einer einzigen Bewegung Zeichen auszuführen, wofür man auch mehrere Anläufe und Korrekturgänge in Anspruch nehmen könnte. Bei diesen Zeichen handelt es sich nicht um die ins Freie lancierten Striche eines Cy Twombly, sondern um das Hervorbringen von sprachlichen Formen, die erstens auf Anhieb verständlich, d.h. lesbar sind und denen dabei zweitens ein Moment der Fragilität eingeschrieben ist. Diese Charakteristika werden für Barthes’ Ethik des Schreibens leitend: “Je désire la forme acceptable (lisible) comme une manière de déjouer la double violence: celle du sens plein, imposé, et celle du non-sens héroïque” (RB III 1975: 185). Formen, die misslingen können - nämlich dann, wenn sie nicht lesbar sind als das, was sie zu lesen geben sollen, wenn sie zu heftig aufgetragen werden und deshalb das Papier zerstören oder wenn sie so fremd sind, dass sie dem Adressaten Angst machen -, sind es, die Barthes anziehen. Sie werden als in einer einzigen Bewegung realisiert dargestellt. Entscheidend für das Prinzip der einzigen Bewegung ist das Moment des Risikos. Barthes führt dieses Prinzip am japanischen Automatenspiel pachinko vor, bei dem der Spielzug in einer einzigen Fingerbewegung bestehe. Damit wird das japanische Spiel in einen diametralen Gegensatz zum westlichen Gerüttel beim Flippern gestellt: Pour le joueur japonais, […] le doigté est immédiat, définitif, en lui seul réside le talent du joueur, qui ne peut corriger le hasard qu’à l’avance et d’un seul coup; […] cette main [du joueur] est donc celle d’un artiste (à la manière japonaise), pour lequel le trait (graphique) est un ‘accident contrôlé’. (EpS II 1970: 765) Automatenspieler werden zu ‘Künstlern’, sobald sie nicht nur auf eine einzige Bewegung der eigenen Hand absolut vertrauen, sondern dabei auch das Moment des Zufalls akzeptieren. Deshalb geht die Zelebration des alla prima einher mit einer Ästhetik des gewagten Wurfs, mit der auf Deleuzes Nietzsche-Interpretation angespielt wird. Die meist implizite Anspielung findet sich etwa bei - der euphorischen Charakterisierung des Buchstabens Z: “graphiquement, jeté par la main, en écharpe, à travers de la blancheur égale de la page, parmi les rondeurs de l’alphabet, comme un tranchant oblique et illégal, il coupe, il barre, il zèbre” (S/ Z II 1970: 626); - der heilsamen Wirkung der Haiku-Sprache: “[dans le haiku] rien n’a été acquis, la pierre du mot a été jetée pour rien: ni vagues ni coulée du sens” (EpS II 1970: 804); - der eigentlichen Leistung der japanischen Kalligraphie: “un art graphique véritable: [ne] plus travail esthétique de la lettre solitaire, mais abolition du signe, jeté en écharpe, à toute volée, dans toutes les directions de la page” (EpS II 1970: 806); - und schließlich findet sie sich eben auch in Barthes’ Zielsetzungen für sein eigenes Schreiben: “[l’écriture c’est] une énonciation […] à travers laquelle le sujet joue sa division se dispersant, en se jetant en écharpe sur la scène de la page blanche” (Réponses II 1971: 1320); “[“écrire”, c’est] retirer le moi de sa coque imaginaire […] en un mot jeter le sujet à travers le blanc de la page […] pour le disperser” (Jeunes chercheurs II 1972: 1419); “Je jouis continûment, sans fin, sans termes, de l’écriture comme d’une production perpétuelle, d’une dispersion inconditionelle, d’une énergie de séduction qu’aucune défense légale du sujet que je jette sur la page ne peut plus arrêter” (RB III 1975: 199). Die Kennzeichnung der angestrebten Sprache als lesbar und doch nicht allzu vertraut (“ni excentrique ni familier” [EpS II 1970: 802] bzw. als “accident contrôlé” [ebd.: 765]) mag einleuchten: Sie soll weder furchteinflößend anders noch restlos verwertbar sein. Doch warum soll dies alla prima geschehen? Warum sollen Zeichen und Wörter mit einem Mal geworfen und nicht umsichtig geschrieben werden? “Alla prima”, “d’un seul coup”, “immédiatement” 235 Die Antwort auf diese Frage liegt in der Verbindung des alla prima mit Zeitlichkeit: Das korrigierende, ausradierende und immer wieder neu ansetzende Schreiben am Schreibtisch erhält durch die Philosophie des spontanen Pinselstrichs in gewisser Weise ‘reale’ Bedingungen: Das Schreiben alla prima soll momenthaft, aber nicht vergänglich sein. Es soll etwas momenthaft Hergestelltes dauerhaft machen und damit den Moment dauerhaft festhalten - zur Existenz bringen, wie Barthes mit Lacan (1975: 108) (wie auch mit Heidegger) schreibt: Le trait, libéré de l’image avantageuse que le scripteur voudrait donner de lui-même, n’exprime pas, mais fait exister. (EpS II 1970: 802) La baguette […] a une fonction déictique: elle montre la nourriture, désigne le fragment, fait exister par le geste même du choix, qui est l’index. (EpS II 1970: 757) [L]’événement graphique, est ce qui permet à la feuille d’exister, de signifier, de jouir. (III 1979: 1046) Le principe d’aventure me permet de faire exister la Photographie. (CC III 1980: 1121) Dem Skizzenhaften und Vorläufigen, das immer neuen Umarbeitungen offensteht, ist nach dieser Logik also mit seiner eigenen Abwertung als ‘bloße Skizze’ auch die Abwertung des Moments seiner Produktion eingeschrieben. Dem setzt Barthes die im Moment verankerte und dennoch gültige Skizze - écriture immédiate bzw. alla prima - entgegen. Sie trägt eben nicht frühere Momente des Feilens und Radierens mit sich, sie ruft keine schon einmal verwendeten Textbausteine wieder auf und verarbeitet sie neu, sondern ist ganz im Hier-und- Jetzt verankert. Sie wagt jetzt diesen Strich, von dem klar ist, dass er nicht umgearbeitet werden kann und genauso stehen bleiben (ex-istieren, sagt Barthes mit Lacan) wird. Bei dieser écriture alla prima ist aber auch klar, dass sie nicht ins Letzte planbar ist. Denn sie ist nicht Teil jener ‘gemäßigten Kontingenz’, die Äußerungen nach dem strukturalistischen Verständnis charakterisiert, wonach jedes Element einer Äußerung austauschbar ist, indem ein anderes aus dem gleichen Paradigma ausgewählt und an seiner Stelle im Syntagma eingesetzt wird. Die radikalisierte Kontingenz der écriture alla prima besteht vielmehr darin, dass sie das Kontingente dieser Auswahl nicht schamhaft verschweigt, sondern Kontingenz bewusst auf sich nimmt, ja ostentativ (larvatus prodeo) inszeniert: Die alla prima-Schrift weiß um ihre Kontingenz - sie tut nicht so (wie ein abendländischer Textarbeiter), als ob genau dieses Zeichen an genau dieser Stelle stehen muss; sie zeigt auf ihre Kontingenz, z.B. indem sie die Zerbrechlichkeit des Papiers als Grund für das Unwiderrufliche eines Pinselstrichs anführt, indem sie die Ästhetik des Wurfs thematisiert oder von aventure, von Dingen die ‘zustoßen’, spricht. Auch den Umgang mit dem Text denkt Barthes in diesen Termini des Unmittelbaren. Oft wird dabei, wie in Le plaisir du texte, der Lacan’sche Begriff der jouissance bemüht, der Merkmale des Bildhaften bündelt: La jouissance du texte n’est pas précaire, elle est pire: précoce; elle ne vient pas en son temps, elle ne dépend d’aucun mûrissement. Tout s’emporte en une fois. Cet emportement est évident dans la peinture, celle qui se fait aujourd’hui: dès qu’il est compris, le principe de la perte devient inefficace, il faut passer à autre chose. Tout se joue, tout se jouit dans la première vue. (PlT II 1973: 1521) Mit Roland Barthes par Roland Barthes ist zu ergänzen, dass diese Lust kurze Formen bevorzugt - das Haiku oder das Fragment -, weil nur sie unmittelbaren Genuss (“une jouissance immédiate”; [III 1975: 166]) versprechen und ‘auf den ersten Blick’ funktionieren. Bettina Lindorfer 236 13 Zur Affinität mit Nietzsches Sprachtheorie cf. Lindorfer 1998: 214-237 sowie Lindorfer 2012. Abwarten ist bei dieser Lust nicht gefragt, kein Aufschub, keine Differenz kommt ihr dazwischen, auch darin betont Barthes die Parallele zur modernen Malerei. In seinem blitzartigen In-Erscheinung-Treten erinnern diese Lustmomente des jouissance- Textes an Benjamins Konzeption des “Mimetischen”, dieser “magische[n] Seite” der Sprache (Benjamin [1933] 1980: 208), die “in jedem Fall an ein Aufblitzen gebunden [ist]” (ebd.: 206) 13 . In dieser Hinsicht erinnert Barthes’ später Zeichenbegriff, dem er in der eingangs zitierten Antrittsvorlesung am Collège de France positive und gleichbleibende Eigenschaften abspricht (cf. L III 1977: 811), an Benjamins Notiz zur Wahrnehmung von Ähnlichkeit in diesem Essay: “Sie huscht vorbei, ist vielleicht wiederzugewinnen, aber kann nicht eigentlich wie andere Wahrnehmungen festgehalten werden. Sie bietet sich dem Auge ebenso flüchtig, vorübergehend wie eine Gestirnkonstellation” (Benjamin [1933] 1980: 206). Wo allerdings das Semiotische (“buchstäblicher Text, Sinnzusammenhang”) bei Benjamin noch als “Träger” dienen kann (ebd.: 213) bzw. als “Fundus, aus dem erst blitzartig Ähnliches mit einem Nu aus einem Klang zum Vorschein kommen kann” (ebd.: 209), versucht Barthes, wie deutlich geworden sein sollte, mit seiner écriture alla prima einen anderen Seinsmodus des Schreibens erkennbar werden zu lassen, der nicht nur momenthaft aufleuchtet, sondern immer (im) Moment ist. Bibliographie Barthes, Roland 1993-95: Œuvres complètes, édition présentée par Éric Marty, 3 Bde., Paris: Seuil Barthes, Roland [1978] 1991: “Le désir de neutre”, in: La règle du jeu 5 (1991): 36-60; wieder abgedruckt in Thomas Clerc (ed.) 2002: Le neutre. Notes de cours au Collège de France. 1977-1978, Paris: Seuil Barthes, Roland 2006: Variations sur l’écriture. Französisch-Deutsch, übers. von Hans-Horst Henschen, Mainz: DVB Benjamin, Walter [1933] 1980: “Lehre vom Ähnlichen”, in: Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser (eds.) 1980: Gesammelte Schriften, Bd. II.1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp: 204-210 Benjamin, Walter [1933] 1980: “Über das mimetische Vermögen”, in: Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser (eds.) 1980: Gesammelte Schriften, Bd. II.1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp: 210-213 Castiglione, Baldassar 1998: Il libro del cortegiano, hg. v. Walter Barberis, Turin: Einaudi Culler, Jonathan 1982: Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Eco, Umberto 8 1994: Einführung in die Semiotik, autorisierte dt. Ausg. von Jürgen Trabant, München: Fink Ette, Ottmar 1998: Roland Barthes. Eine intellektuelle Biographie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Freud, Sigmund [1900] 1978: “Traumdeutung”, in: Anna Freud u.a. (eds.) 7 1978: Gesammelte Werke, Bd. II/ III, Frankfurt a.M.: Fischer Hofstätter, Hans H. 1975: Kunstgeschichte. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Stuttgart: Parkland Lacan, Jacques 1966: Écrits, wieder abgedruckt 1987, Paris: Seuil Lacan, Jacques 1972-73: Le séminaire XX. Encore, hg. v. Jacques-Alain Miller 1975, Paris: Seuil Lindorfer, Bettina 1998: Roland Barthes. Zeichen und Psychoanalyse, München: Fink Lindorfer, Bettina 2012: “Un troisième tour d’écrou. Die Leitfunktion des Realen für die écriture des späten Barthes”, in: Angela Oster und Karin Peters (eds.): Jenseits der Zeichen. Roland Barthes und die Widerspenstigkeit des Realen, München: Fink: 185-200 Mounin, Georges 1970: Introduction à la sémiologie, Paris: Éd. de Minuit Oster, Angela 2012: “Larvatus prodeo. Realitäten des Wintergartenfotos in Roland Barthes’ La chambre claire”, in: Dies. und Karin Peters (eds.): Jenseits der Zeichen. Roland Barthes und die Widerspenstigkeit des Realen, München: Fink: 215-230 “Alla prima”, “d’un seul coup”, “immédiatement” 237 Roger, Philippe [1986] 1990: Roland Barthes, roman, Paris: Grasset Roger, Philippe 1993: “‘Une fidélité particulière à l'infini’ (de Barthes et des mystiques)”, in: Cathérine Coquio und Régis Salado (eds.): Barthes après Barthes. Une actualité en questions, Actes du colloque international de Pau 22-24 nov. 1990, Pau: Publ. de l’Univ. de Pau: 37-41 Wellbery, David 1992 a: “Zur literaturwissenschaftlichen Relevanz des Kontingenzbegriffs. Eine Glosse zur Diskussion um den Poststrukturalismus”, in: Klaus W. Hempfer (ed.): Poststrukturalismus - Dekonstruktion - Postmoderne, Stuttgart: Steiner: 161-169 Wellbery David 1992 b: “Contingency”, in: Anne Fehn u.a. (eds.): Neverending stories. Toward a critical narratology, Princeton/ NJ: Princeton University Press: 237-257