eJournals Kodikas/Code 37/1-2

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
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2014
371-2

Erscheinungen zwischen Imagination und Wirklichkeit

2014
Dina Aboul Fotouh Salama
* Für Kritik und Vorschläge bin ich Prof. Dr. Jan-Dirk Müller und den Leitern und Teilnehmern der Sektion: Imagination, Funktionen des virtuellen Erlebens (des 13. Internationalen Semiotik-Kongresses 2011 in Potsdam), insbesondere Prof. Dr. Daniel Jacob und Prof. Dr. Thomas Klinkert, zu tiefstem Dank verpflichtet. Ebenso ergeht mein Dank an Prof. Dr. Gabriele Ziethen für historische Hinweise, an Prof. Dr. Manfred Kern und Dr. Corinna Virchow für die äußerst freundliche Zusendung ihrer Studien und an meine Kollegin Ass. Prof. Dr. Hala Farrag. 1 Alanus ab Insulis (1125-1203): Jedes Geschöpf der Welt/ wie ein Buch oder ein Bild / kann uns als ein Spiegel dienen./ Unsres Lebens, unsres Todes, / Unsres Zustands, unsres Schicksals/ Verlässliches Zeichen (Patrologia Latina 210: 579). Erscheinungen zwischen Imagination und Wirklichkeit Konrads von Würzburg Der Welt Lohn und Engelhard * Dina Aboul Fotouh Salama (Cairo University) The allegorical personification of the world as a woman, called Frau Welt (Mrs. World), in Der Welt Lohn (The World’s Reward) (before 1260) and the angel, seen in a dream, in Engelhard (between 1273/ 1274) are two important visual apparitions in two epic works of the German medieval poet Konrad von Würzburg (ca.1230-ca.1287), which take part in the construction of a fictive reality. It is the aim of this study to determine the function of these fictive images by exploring textual strategies. Therefore, the emergence and presentation of both apparitions as objects of an internal perception - represented by and in words - will be examined, in order to identify the narrative tools that transform these inner imaginations into externally perceptible images, capable of constructing their own reality. To this end, the study will take into consideration both medieval and modern aesthetic and cultural categories within a semiotic frame. “Omnis mundi creatura / quasi liber et pictura / nobis est et speculum. Nostrae vitae, nostrae mortis, / Nostri status, nostrae sortis / Fidele signaculum” 1 (Alanus ab Insulis). Das obige Zitat des Alanus exemplifiziert den scholastischen Grundsatz mittelalterlicher Semiotik, aliquid stat pro aliquo - ‘etwas steht für etwas anderes’, insofern, als es auf die ontische Differenz in der Grundstruktur von Zeichen verweist. Alans Metapher von der Welt als Buch, Gemälde oder Spiegel bestimmt das Verhältnis zwischen den Erscheinungen der Welt und deren medialen Repräsentationen im Auge des Betrachters. Dieser individuellpsychische Prozess des Betrachtens bzw. des Erlebens dieser Bilder hebt das dichotom K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 37 (2014) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Dina Aboul Fotouh Salama 100 2 Ich zitiere aus dem Abstract zur Sektion Imagination, Funktionen des virtuellen Erlebens, des 13. Internationalen Semiotik-Kongresses 2011: Repräsentation-Virtualität-Praxis in Potsdam, hier der Link mit dem Abstract der Sektion: http: / / www.semiose.de/ index.php? id=599,80 [22.3.2014]. 3 Siehe Fußnote 2. 4 Siehe Fußnote 2. 5 Den Hinweis auf Mark Turner und Gilles Fauconnier verdanke ich Prof. Daniel Jacob. geglaubte Verhältnis zur Wirklichkeit, als “deren extern-‘objektivem’ Substrat oder Analogon (im Sinne Sartres)” auf, da die Wirklichkeit, um es mit den Worten der Herausgeber dieses Bandes zu sagen, das “Resultat einer kommunikativen - also kollektiven, medial vermittelten und diskursiv konstituierten - Konstruktion ist”. 2 Auf die Tatsache, dass die gesellschaftliche Wirklichkeit erst durch die subjektive Wahrnehmung von Individuen konstruiert wird, und nicht objektiv (unabhängig) von der Subjektivität existieren kann, haben bereits Peter L. Berger und Thomas Luckmann in ihrem bahnbrechenden Werk Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit hingewiesen: Der Mensch ist biologisch bestimmt, eine Welt zu konstruieren und mit anderen zu bewohnen. Diese Welt wird ihm zur dominierenden und definitiven Wirklichkeit. Ihre Grenzen sind von der Natur gesetzt. Hat er sie jedoch erst einmal konstruiert, so wirkt sie zurück auf die Natur. In der Dialektik zwischen Natur und gesellschaftlich konstruierter Welt wird noch der menschliche Organismus umgemodelt. In dieser Dialektik produziert der Mensch Wirklichkeit - und sich selbst. (Berger/ Luckmann 2010 [1966]: 195) Demzufolge stellt, wiederum mit den Worten der Potsdamer Kongressankündigung, die “individuelle Imagination mit ihrer Möglichkeit interner Konstruktion und empathischer Projektion (Spiegelung) des Konstruierten auf die Psyche der anderen Individuen die grundlegende Voraussetzung für die kollektiv-externe Konstruktion der sozialen Wirklichkeit” 3 dar. Kognitiven Modellierungen und neurowissenschaftlichen Erkenntnissen zufolge bestehen starke Überschneidungen zwischen sinnlicher Wahrnehmung, sprachlichem Geschehen und rein internen mentalen Prozessen, die in einem Akt der ‘Überblendung’ eine komplexe, “diskursive”, “medial vermittelte Wirklichkeit” 4 inszenieren. Demzufolge beschreibt jeder “räumlich und zeitlich situierte Wahrnehmungsvollzug” einen “selektiven Vorgang” und stellt “einen die Einzelsinne übersteigenden multimodalen Prozess” dar (Lechtermann/ Wagner/ Wenzel 2007: 7; Hervorh. im Original). Eine Ausdrucksform subjektiver Wahrnehmung der in ihnen lebenden Individuen bilden literarisch evozierte Wirklichkeitsmodelle, in denen Objekte, Bilder und Handlungen sprachlich realisiert werden. Sie stellen mentale Bilder, geistige Wahrnehmungen und Imaginationen dar, die sich an unsere Einbildungskraft und unsere Phantasie, eventuell auch an unsere Affekte wenden (Schmid 2004: 229). Jan-Dirk Müller weist darauf hin, dass “individuelle Imaginationen” an das “instituierte Imaginäre” anknüpfen und “das Imaginäre […] ein Aspekt der gesellschaftlichen Realität selbst [ist], nämlich Inbegriff der Prinzipien und Strukturmuster, die nicht aus ihren materiellen Bedingungen ableitbar sind, diese aber in historischer spezifischer Weise formen, die als ganze betrachtet, ein ‘Magma’ scheinen, jedes für sich aber durchaus gestalthaft sind. “ (Müller 2007: 14f.) Im Rahmen der “blending theory”, die Gilles Fauconnier (1997) und Mark Turner (1996) zur Erklärung der dynamischen Bedeutungsentwicklung beim Lesen literarischer Texte entwickelten, wird die mehrdimensionale Integration von Konzepten verschiedener Herkunft, z.B. seelische Vorgänge wie sinnliche Wahrnehmung, sprachliche Akte usw. als gedankliche Karte (“cognitive map”) dargestellt. 5 Ebenso verfährt der literarische Text, der nach Wolfgang Erscheinungen zwischen Imagination und Wirklichkeit 101 6 Siehe dazu auch Pross (2000: 154). 7 Zur Datierung und Gattungsbezeichnung siehe Brunner (1985). 8 Als “Grundgegebenheit[en] der Religionsgeschichte” gelten Träume, Visionen und Erscheinungen, deren Grenzen oft ineinander verfließen. Mehr dazu bei: Mette (2003: Sp. 11) und Wittmer-Butsch (1990: 243). Näheres außerdem bei Dinzelbacher (1981: 31f.). 9 Siehe dazu Dinzelbachers Ausführungen zur Erscheinung (1981: 31), wonach die Umwelt der sehenden Person unverändert bestehen bleibt und die auftretende Erscheinung häufig visionsähnlich eine Offenbarung vermittelt, die vom Sehenden als real wahrgenommen wird (Dinzelbacher 2002: 14). Iser das Ergebnis von Akten des Fingierens ist: auf der einen Seite Akte der ‘Selektion’, welche das lebensweltliche Zeichenmaterial aus seinen pragmatischen Geltungszusammenhängen lösen und in seiner regulären Bedeutung virtualisieren, auf der anderen Seite Akte der ‘Kombination’, die das seines geregelten Bezeichnungsauftrags enthobene Zeichenmaterial zu neuen Bezüglichkeiten und Verweisungen zusammenfügen (Iser 1993: 18-51). 6 Die Erscheinung der allegorischen Frau Welt in Der Welt Lohn (WL) Konrads von Würzburg (ca.1230-ca.1287), ebenso wie der im Traum erscheinende Engel im Engelhard (E), 7 sind Teil der Konstruktion einer literarischen Wirklichkeit. Das Ziel dieser Studie besteht darin, das Auftauchen und die sprachliche Figuration dieser Erscheinungen im literarischen Konstrukt als Objekte der Wahrnehmung auf der Textstrecke zu verfolgen, um darauf basierend die Modi zu untersuchen, die die Wahrnehmung dieser Erscheinungsbilder konstruieren. Es ist häufig zu beobachten, dass weder im allgemeinen noch im wissenschaftlichen Sprachgebrauch angemessen zwischen Vision (lat. visio “Erscheinung, Anblick”) und Erscheinung (lat. apparitio “Auftreten”) differenziert wird. 8 Da man allerdings unter dem Begriff Erscheinung im Allgemeinen verschiedene Arten eines Auftauchens und Auftretens sowohl von sinnlich Wahrnehmbarem als auch von nicht Wahrnehmbarem versteht und es keines bedingt körperlichen Ekstasezustands des Erlebenden bedarf, um subjektiv erfahren zu werden, 9 sehe ich es für angebracht, den offeneren Begriff Erscheinung sowohl auf die in WL erscheinende Frau Welt als auch auf den im E im Traum erscheinenden Engel zu applizieren. Zudem ermöglicht der Begriff Erscheinung einen neutraleren Zugriff auf beide Werke, da er im weiten Sinne auch sprachliche Text-Erscheinungen bezeichnen kann. Es geht in dieser Studie schließlich darum, mittels eines semiotisch ausgerichteten Verfahrens aufzuzeigen, auf welche Art und Weise die szenische Ausgestaltung dieser Erscheinungen in beiden Texten erfolgt und mit welchen narrativen Mitteln diese inneren mentalen Prozesse zu wahrnehmbaren Objekten ihrer Wirklichkeitswelt transformiert werden, sodass ihre Imagination durch den Rezipienten ermöglicht wird. Eine solche Auseinandersetzung liegt meines Wissens nach der Sichtung der mir zugänglichen Forschungsliteratur nicht vor. Im Zusammenhang mit der Untersuchung von Wahrnehmung und Erkenntnis als Kategorie einer kultur- und literaturwissenschaftlichen Untersuchung hat Ingrid Kasten (2004) das Szenographie-Modell Gerhard Neumanns auch für die Analyse mittelalterlicher Texte vorgeschlagen. Von Roland Barthes übernimmt Neumann den Begriff der Szenographie, der semantisch im Schnittpunkt von Theatralität und Schrift steht: Als Graphie ist es mit dem Wortfeld der Schrift verknüpft und enthält mit der Szenerie zugleich den Gestus des In-Szene- Setzens. Die Leistung dieses Terminus liegt nach Neumann darin, dass der inszenatorische Akt nicht mehr nur an den Körper des Schauspielers, sondern auch an die Schrift gebunden werde. Dina Aboul Fotouh Salama 102 10 Des Weiteren fasst Gerhard Neumann Theatralität “als ein dynamisches Muster von anthropologischer Qualität, als ein[en] performative[n] Gestus” auf, “welcher als impliziter Habitus des Denkens, Sprechens, Schreibens und Phantasierens seine Wirkung entfaltet” (Neumann 2000: 12). Demzufolge werde Theatralität “als eine Praxis der Bedeutungsproduktion zu verstehen sein, die als ein dynamisches Muster der Sprache selbst innewohnt” (Neumann 2000: 12). 11 Siehe dazu: Eming/ Kasten/ Koch/ Sieber (2001). Neumann geht in seiner Argumentation “von der immanenten und ursprünglichen Theatralität” aus, “welche das Erkenntnisgeschehen im Sprechakt und in der Sprachproduktion bestimmt.” Neumann zufolge rekurriere “jene Metaphorizität in der Begriffsverwendung, welche Theater als Modell und Bild faßt, um sprachliche und symbolische Prozesse zu beschreiben […] ja bereits auf die genuine Rhetorizität, auf die symbolische Strukturiertheit von Erkennen und Wissen” (Neumann 2000: 18). Die “Öffnung eines Schauraums” (Kasten 2004: 24f.), oder “imaginärer Räume” (Lasch 2007: 13) ermöglicht mittels “(auch unbewusster) Rezeptionsstrategien” die Fähigkeit, aktiv Sinn zu konstituieren und Welten zu imaginieren (vgl. Lasch 2007: 14). Somit wird nach Neumann durch die Kategorie der Szenographie der Blick auf die Theatralität 10 von Texten gelenkt, die als Inszenierungen begriffen werden, als Akte einer performativen Produktion von Bedeutung, an denen Autor und Leser (oder Hörer) gemeinsam mitwirken. Die Texte erscheinen in dieser Perspektive nicht als ‘Repräsentationen’, sondern als sprachliche Medien, die an die Imaginationskraft der Rezipienten appellieren und sie dazu auffordern, Texte im Akt des (Vor-) Lesens zu ‘performieren’, sie gleichsam ‘aufzuführen’ (‘Inszenierung’ als Anregung zur ‘Reinszenierung’). (Kasten 2004: 25) Hierzu müssen nach Neumann “Bühnen der Wahrnehmung” errichtet und epistemologische Parameter des Inszenatorischen entwickelt werden; Neumann nennt unter anderem Rahmung, Perspektive, Polyfokalität (Neumann 2000: 22), diese erweitert Ingrid Kasten folgendermaßen: Neben den von Neumann genannten Kategorien Rahmung, Perspektive, Polyfokalität, welche die Wahrnehmung der Rezipienten steuern, wäre an die Inszenierung von Räumen, an Arrangements von Materialien und Körpern, an Strategien der Visualisierung, an Klang- und Lichteffekte, an die Bewegungen der Figuren im Raum, an ihre Emotionen und an die Modi ihrer (gegenseitigen) Wahrnehmung in öffentlichen und nichtöffentlichen Räumen sowie an geschlechtsspezifische Inszenierungen zu denken und zu fragen, welche Rolle sie bei der Bedeutungsproduktion von kultureller Ordnung und sozialem Sinn spielen. Auch die Kategorie des Performativen kann sich als produktiv erweisen, da mit ihrer Hilfe nicht nur Sprechakte, sondern auch bestimmte Charakteristika von Handlungen erfaßt werden können (vollziehen, vergegenwärtigen, erzeugen). (Kasten 2004: 27f.) 11 Eine Anwendung des Szenographie-Modells, das den Fokus auf textuelle Inszenierungen legt, kann nach Kasten einen neuen Zugriff besonders auf mittelalterliche Texte und ihre ästhetischen Strategien eröffnen, da diese gerade aufgrund ihrer mündlichen Vortragssituation zahlreiche performative Elemente enthalten, die durch eine szenographische Analyse sichtbar gemacht werden können. Zugleich werden kulturanthropologische Strategien der Visualisierung von Wahrnehmung, Erkenntnis und Wirklichkeit an die Oberfläche gebracht (Kasten 2002: 98; Kasten 2004: 27). Erscheinungen zwischen Imagination und Wirklichkeit 103 12 Zitiert wird nach folgender Ausgabe: Konrad von Würzburg (1968): Heinrich von Kempten. Der Welt Lohn. Das Herzmaere. Mittelhochdeutscher Text nach der Ausgabe von Edward Schröder. Übersetzt, mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Heinz Rölleke, Stuttgart: Reclam: 50-65. 13 Der Wigalois wurde ca. zwischen 1210-1220 von Wirnt von Grafenberg verfasst. 14 “Das Nennen des eigenen Namens als Dialogpartner könnte auf literarische Dialogtraditionen zurückgehen, in denen eine Figur mit dem Namen des Autors im Gespräch mit einer allegorischen Figur auftritt” (Schumacher 2000: 187). Der ‘Boethius’ in der Consolatio Philosophiae gilt dementsprechend als klassischer Fall. Da Konrad sich nicht selbst, sondern seinen Kollegen Wirnt von Grafenberg im Gespräch mit Frau Welt darstellt, fiktionalisiert diese Tradition “in gewissem Maße den Autorennamen, indem sie ihn einer literarischen Figur beilegt, die sich zudem im Dialog mit einer ‘nichtrealen’ Gestalt befindet; es entsteht dadurch ein kompliziertes Spannungsverhältnis von Autor und Rolle/ Figur” (Schumacher 2000: 187). Jan-Dirk Müller bemerkt dagegen: “Hier geht es gerade nicht um Fiktionalität, sondern um Authentizität der conversio, für die der Name einsteht” (1994: 18). Die Frage, mit welchen ästhetischen Mitteln die Erscheinungen in beiden Werken als literarisches Konstrukt in Szene gesetzt und dadurch konstruiert werden, damit sie imaginativ wahrgenommen werden, soll nun mit Hilfe einer szenographischen Analyse beantwortet werden, bei der die von Neumann eingeführten epistemologischen Parameter des Inszenatorischen mit Ingrid Kastens Erweiterungen kombiniert werden (textuelle Arrangements von Körper und Materialien in Relation zu Raum, Zeit, Polyfokalität, Wahrnehmungsemotion). Nach einer kurzen inhaltlichen Zusammenfassung der zwei Werke werden jeweils die Schlüsselszenen der Erscheinungen mit Hilfe der szenographischen Kategorien analysiert, um aufzuzeigen, wie die narrative Inszenierung der Erscheinungen in beiden Texten erfolgt. Der Welt Lohn, 12 wahrscheinlich vor 1260 in 274 Versen verfasst, handelt von der Begegnung des Dichters Wirnt von Grafenberg mit der von vorne wunderschön anzusehenden Frau Welt, deren von Ungeziefer zerfressener Rücken den Ritter zu Weltabkehr und Kreuzfahrt bewegt. Wirnt von Grafenberg, dessen Name mit der realen Dichterpersönlichkeit des Wigalois 13 übereinstimmt, wird als vorbildlicher Minneritter und Minnedichter vorgestellt, für den die minne, also der höfische Liebesdienst, das höchste erstrebenswerte Ideal darstellt. Zurückgezogen in der kemenate (ursprgl. beheizter Wohnraum, üblicherweise Aufenthaltsraum der Frauen) verbringt Wirnt den ganzen Tag, bis zur Vesperzeit ein Buch lesend, das “von der minne geschriben” (V. 57). Während er noch ganz von dieser Lektüre erfüllt ist, erscheint ihm plötzlich eine wunderschöne Dame, die ihm im Laufe eines Dialogs schließlich ihren Namen nennt “diu werlt bin geheizen ich” (V.212). Sie sei erschienen, um dem Dichter den Lohn für seinen lebenslangen Dienst an ihr zu zeigen. Mit diesen Worten wendet sie ihm ihren von Verwesung gezeichneten Rücken zu. Daraufhin verlässt der Ritter Frau und Kind, zieht als miles Christi in das Heilige Land, um als Kreuzritter sein ewiges Seelenheil zu sichern. Aus der Sicht eines allwissenden Erzählers wird das Bild eines Minneritters konzipiert, der “nâch der werlte lône ranc” (V. 4) und stets danach strebt, “daz er den lôn enphienge / werltlicher êren” (V. 8-9). Als Musterritter (“er was hübisch unde fruot,/ schœne und aller tugende vol”, V. 18f.) widmet er sich “mit werken und mit worten” der “minne” (V. 12). Mit der descriptio eines “poetischen curriculum vitae” (Kern 2009: 45) werden beim Rezipienten ‘eingescannte’ Gedächtnisbilder von bekannten literarischen höfischen Minnerittern evoziert. Diese Bewusstseinsbilder werden als Teil der eigenen Wirklichkeit durch die Nennung der höfischen Tugenden und einer realen mittelalterlichen Dichterpersönlichkeit 14 imaginiert, der es gelingt, sich einen ehrenhaften Ruf “in allen tiutschen landen” (V. 15) zu erwerben. Nach dieser räumlichen und zeitlichen allgemeinen Vorstellung erfolgt eine konkretere Profilierung und Situierung des Protagonisten in einer Szene des Hier und Jetzt. Im Privatraum der Dina Aboul Fotouh Salama 104 15 Dem Verständnis der römisch-katholischen Kirche nach sollte der fromme Christ damaliger Zeit sich zur Vesperzeit am frühen Abend auf die Gebete der Andacht und auf die Anrufung der Heiligen Jungfrau Maria vorbereiten. Kemenate, “mit fröuden wol berâten” (V. 54) und gut mit Unterhaltung ausgestattet, hält der Ritter ein Buch in der Hand, das als “âventiure … von der minne geschriben” (V. 56f.) näher definiert wird. Mit der Lektüre dieses Buches verbringt der Dichter “den tag unz ûf die vesperzît” (V. 59). Mit der “vesperzît” wird ein besonderes Stundengebet angegeben, das in der kirchlichen Tageseinteilung die vorletzte Kanonstunde (vier oder sechs Uhr nachmittags) bezeichnet. Bei dem kundigen Rezipienten, dem dieser spezielle Zeitraum vertraut ist, erweckt der Hinweis auf die vesper das Bewusstsein für religiöse kirchliche Rituale, 15 die in deutlichem Gegensatz zu der - wohlgemerkt einsamen - Lektüre weltlicher Liebesgeschichten steht und die Dichotomie zwischen höfischer und klerikaler Lebenswelt apostrophiert. In eschatalogischer Ausrichtung mag sie auch die vorletzte Stunde vor dem ‘Lebens-Abend’ symbolisieren. Aus inszenatorischer Perspektive lässt die vesperzît als temporale Angabe auf eine dämmerige Raumbeleuchtung schließen. Manfred Kern hebt “das Bild des still vor sich hin lesenden Dichters” hervor, da erst die Lektüre “mediengeschichtlich […] jenen Schwellenakt bezeichnet, der den Übertritt in die andere, ‘höhere’ Wirklichkeit der Allegorie erst ermöglicht” und weist darauf hin, dass “traditionellerweise” “zwei Topoi”, der Spaziergang und der Traum, als solche “liminale Akte” fungieren (Kern 2009: 47). Die dramaturgische Schlüssigkeit des Übergangs hängt hier, da es keinen Ortswechsel gibt […], einzig am Motiv der Einsamkeit und an der Erfahrung, dass der stille Lesende im Akt der Lektüre gleichsam in eine andere mentale ‘Wirklichkeit’ eintritt […]. Die Analogie zum Traummotiv ergibt sich schon aus der trivialen Erfahrung, dass der müde werdende Leser sehr leicht in einen schlafähnlichen Zustand verfällt. (Kern 2009: 48) In dieser ‘höfischen’ Isolation, da er berauscht ist von “süezer rede, die er las” (V. 61), erscheint dem Dichter Wirnt plötzlich eine Dame: “dô quam gegangen dort her, / ein wîp nâch sînes herzen ger” (V. 63f.). Die Wahrnehmungsweise einer “süezen rede, die vil harte wîte fröude” erwecken kann, kombiniert mehrere Modalitäten: die “rede” der Dichtung, die eigentlich optisch und kognitiv durch den Akt des Lesens mentalisiert wird, schmeckt süß und bereitet große Freude. Der süße Geschmack auf der Zunge vermag wohl für einen Dichter, der mit “werken und mit worten” (V. 12) und “stille und offenbâr” (V. 50) umzugehen weiß, die dichterische Sprache sinnlich als so real zu imaginieren, dass er sie als süß empfindet. Es liegt eine synästhetische Wahrnehmungsmodalität vor, da die mentale geistige Lektüre als süß schmeckend und als erfreuend empfunden wird. Die Voranstellung von “ein wîp” direkt zu Beginn des Verses rückt die Frau in den Vordergrund, während die Bezugnahme “nâch sînes herzen ger” (V. 64) auf die zu Beginn des Werkes vorgestellten Herzenswünsche des Minnedichters und auf seine Vorstellungen von der idealen Schönheit der Minnedame referiert. Auch im weiteren Handlungsverlauf wird sichtbar, dass die descriptio der Frau stets mit Wirnts imaginierten Vorstellungen von der idealen Minnedame korreliert, die auf dessen eigene Erfahrungen, quasi erinnerte Gedächtnisbilder, zurückgreifen. Die nun folgende descriptio der Vorderseite der erschienenen Frau erlaubt keine konkrete Perspektiven-Zuordnung, da sie sowohl aus der Sicht Wirnts als auch aus der eines extradiegetischen Erzählers erfolgt. Insofern liegt eine narrative und figurative Fokalität der Erzählung vor. Außerdem ist der Rezipient aufgefordert, sich seiner Einbildungskraft zu Erscheinungen zwischen Imagination und Wirklichkeit 105 16 Auch der Spiegel kann als Zeichen der vanitas mundi, d.i. der Eitelkeit und der Wertlosigkeit der Welt verstanden werden. 17 Das Strahlen, wie es auch von Frau Welt ausgeht und ihre Umgebung erleuchtet, findet sich nach Timothy R. Jackson als häufiges Beschreibungsmittel bei Konrad, der seinem Publikum physische Gegenstände in “plastischer Genauigkeit” sichtbar machen will (Jackson 2003: 201f.). Dies sei auch im Zusammenhang mit den verschiedenen philosophischen Einstellungen des 13. Jahrhunderts zu Lichtphänomenen zu betrachten (vgl. Jackson 2003: 203f.). Auch bei Hildegard von Bingen, und schon in der Antike, etwa in Scipios Traum aus Ciceros De re publica, finden sich auffällige Lichtphänomene. bedienen, da das äußere Erscheinungsbild dieser Frau nicht en détail beschrieben, sondern nur über hyperbolische verallgemeinernde Abstrakta angedeutet wird. Diese Strategie der Aposiopese, der “angedeuteten aber nicht ausgeführten oder abgebrochenen descriptio” (Lasch 2007: 22; Hervorh. im Original), regt die produktiv-aktive Einbildungskraft (phantasia) an und bildet somit einen Schnittpunkt, an dem ein imaginärer Raum beim Rezipienten geöffnet wird. Ihre äußere Erscheinung entspräche dem “wunsche” (V. 65), sie sei “wol geprüevet gar”, und besitze eine Vollkommenheit, da er “nie schœner wîp gesach” (V. 67). Mit dem Überbietungsmodus “für alle frouwen die nu sint” (V. 69) wird die Wahrnehmung der äußeren Schönheit erneut mit Erinnerungsbildern der memoria abgeglichen und in einen zeitlichen Rahmen und Raum des Hier und Jetzt eingebunden. Schritt für Schritt entwirft der Erzähler dann die Handlung durch seinen beschreibenden Blick, der sich mit dem des Dichters Wirnt zu decken scheint. So heißt es, ihre Schönheit übertreffe die Schönheit zweier literarischer antiker Frauenfiguren: “Vênus” und “Pallas” (V. 72-76). Mit dieser Beschreibung wird zwischen dem Erzähler und dem Rezipienten ein Konnotationsrahmen gespannt, der die Kenntnis dieser literarischen Tradition voraussetzt. Als weiteres Schönheitsattribut dieser Frau wird ihr Strahlen, ihr Leuchten (V.75-84) hervorgehoben: “durliuhtec als ein spiegellîn. / ir schœne gap sô liehten schîn” (V. 78f.). Der Vergleich des Leuchtens und Strahlens mit dem Glanz eines Spiegels 16 kann m.E. auch programmatisch gelesen werden: In der leuchtenden Erscheinung, deren Körper hell und glänzend ist, wird der Herzenswunsch des Dichters nach außen projiziert. Dieses glänzende und spiegelnde Erscheinungsbild stellt als Personifikation Wirnts bisherige Wunschvorstellungen (V. 84) dar und vermag durch seine spiegelnden Eigenschaften im Verlauf des Dialogs Wirnt selbst zu reflektieren. Das Strahlen, das von der Frau ausgeht, erhellt den ganzen Saal und stellt eine Veränderung der bisherigen Lichtverhältnisse dar - das dämmrige Dunkel der “vesperzît” wird von Helligkeit abgelöst. Dieses Licht 17 steht im Zusammenhang mit der mittelalterlichen Lichtmystik und -philosophie symbolisch für das göttliche Licht und ist somit eng mit Erkenntnis und Wahrheit verbunden. Diese Assoziation dürfte auch dem mittelalterlichen Rezipienten geläufig sein. In Verbindung mit der Erkenntnis steht auch das Sehen und das Schauen, wobei - nach der Lehre des Augustinus - zwischen dem äußeren Auge und der inneren Herzensschau unterschieden wird. Aber so weit ist Wirnt noch nicht, da er sich noch auf der Ebene des äußeren Schauens befindet. Interessanterweise kommt erst jetzt Bewegung in die Kemenate. Der bis dahin statisch porträtierte lesende Ritter, der einsam in seiner Kemenate sitzt und ein weltliches Buch zur kirchlichen Vesperzeit in der Hand hält, sieht die Erscheinung, erschrickt und weist unwillkürlich auftretende Veränderungen an seiner Hautfarbe auf, die als “missevar” (V. 109) in starkem Kontrast zur leuchtenden Erscheinung steht. Das Schauen und die bewundernden Blicke werden dabei von einer starken emotionalen Komponente, dem Erschrecken (V. 102), überlagert, das auch äußerlich an dem Erbleichen des Dichters - “sîn varwe was erblichen” Dina Aboul Fotouh Salama 106 18 Der französische Soziologe Pierre Bourdieu definiert “Habitus” im Anschluss an die generative Grammatik “als ein System verinnerlichter Muster, die es erlauben, alle typischen Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen einer Kultur zu erzeugen - und nur diese.” (Bourdieu 1974: 143, zit. nach Assmann 2008: 114) 19 Wirnt beteuert der Dame gegenüber, dass ihre Schönheit die aller Frauen, die er in seinem Leben kennengelernt habe, übertreffe. Der hyperbolische Ausdruck betont das Ausmaß der Schönheit dieser Dame und appelliert zugleich an die Kenntnisse eines Rezipienten, der mit den höfischen Minneaventiuren der Minnetradition vertraut ist. 20 In Verbindung mit der kausalen Metonymie wird die Synästhesie remotiviert. (V. 104) - sichtbar gemacht wird. Damit wird eine “transmodale Wahrnehmung” inszeniert. Die bis zu diesem Augenblick über der Lektüre verspürte innere Regung der Freude und des sinnlichen Genusses wird erst durch das Erscheinen dieser “frouwe” in einen Bewegungsakt transformiert. Erschrocken springt der Dichter auf, um die wie aus dem Nichts erschienene Dame nach höfischem Ritus zu begrüßen (V. 108-115). Mit dem Aufspringen des Minnedichters und seiner Begrüßung wird die Handlung in Form einer verbalen Interaktion mit der Dame dynamisiert. Es findet ein fast 100 Verse langer Dialog zwischen Wirnt und der Dame in direkter Rede statt, der als performativer Sprechakt fast die Hälfte des insgesamt 274 Verse umfassenden Textes (V. 101-194) einnimmt und der als imaginierte Unmittelbarkeit eine Verdichtung dieser Illusion darstellt und dabei das narrative Moment auf der Textebene bis auf die Gesprächseinleitung in den Hintergrund drängt. Darüber hinaus macht der Dialog den Widerspruch zwischen den internen Regungen Wirnts und seinem externen, ‘habitualisierten’ 18 höfischen Verhalten sichtbar. In diesem Moment verschmilzt das narrativ konstruierte Bild der Dichterpersönlichkeit mit dem eines aktuell agierenden höfischen Minneritters, dessen Rede “schône” und “ûz süezem munde” (V. 112) erfolgt. Wiederum liegt hier eine Überlagerung von ästhetischen und sinnlichen Eigenschaften vor: die schöne höfische Art und Weise und der süße Mund, der süße Worte zur Begrüßung der Frau spricht. 19 Des Weiteren korrespondiert der vom Erzähler als süß beschriebene Mund mittels einer metonymischen Konstruktion mit den süßen Minnereden, für die der Dichter, wie zu Beginn des Werkes bereits in der descriptio vorgestellt, berühmt war. Hier wird die kausale Metonymie mit einer verblassten Synästhesie kombiniert, da die akustisch wahrnehmbaren Worte durch eine mit dem Geschmackssinn wahrnehmbare Eigenschaft als “süß” beschrieben werden. 20 Mit “zühten” (V. 116) gewährt die Frau ihm dafür der Minnetradition gemäß den Lohn Gottes (V.117) und lenkt dabei geschickt das Gespräch auf Wirnt und seine Reaktion auf ihr Erscheinen. Indem sie sein Erschrecken und seine Furcht anspricht - “erschric sô sêre niht von mir” (V. 118) -, reflektiert sie seinen eigenen internen Zustand bzw. seine Erregung. Wie mit einem Spiegel hält sie dem Dichter - und mit ihm dem Rezipienten - sein Lebenswerk, das hauptsächlich aus dem Minnedienst besteht, vor, indem sie es aus der Retrospektive zusammenfasst und Revue passieren lässt (V. 130-144). In ihren lobenden Worten bestätigt sich die einleitende descriptio, die der Erzähler an den Beginn des Werkes über Wirnt gestellt hat. Der blühende Maienzweig (V.138), mit dem sie ihn vergleicht, der Ehrenkranz (V. 141), den er seit seiner Jugend trage, stellen, um einige Beispiele zu nennen, eine stilistische Übernahme aus dem literarischen Repertoire höfischer Dichtung dar und bilden einen Kontrast zu dem jetzigen Zustand des vor Schreck bleich gewordenen, nun schweigenden Ritters. Ihre Sprache zeichnet sich aus durch eine Fülle von stilisierten höfischen Wendungen mittelalterlicher Dichtung, ist geschmückt mit metaphorischen und metonymischen Bildern und reich an Vergleichen, rhetorischen Stilmitteln und Symbolen. Zudem stellt die 19-malige Erscheinungen zwischen Imagination und Wirklichkeit 107 21 Die Anrede mit Du war unüblich. Bisher wird die höher stehende Dame in der höfischen Dichtung mit “ir” angesprochen. Beispielsweise Walther von der Vogelweide in seinem Lied Frô Werlt (L. 100,24) und Hugo von Montfort in fro welt, ir sint gar húpsch und schon. 22 Die Verwendung der vergangenheitsbezogenen Ausdrücke “aldâher” (V. 122; 129), “ie” (V. 141) und “alliu dîniu jâr” (V. 129) weckt Erinnerungen an die berühmte Alterselegie wo sint geswunden alliu min jar [L 124,1] Walthers von der Vogelweide und die contemptus mundi-Thematik. 23 Zu “vür, vüre” vgl. Lexer (1986: 302): “präp. mit acc. vor, für: räuml. vor etwas hin (bei vbb. der bewegung), entgegentretend”; “räumlich vorwärts, über etw. hinaus; zeitl. fernherhin von -an, seit (vür daz, von da an dass, seitdem, sobald); adv. vor, nach vorne hin, hervor”; Zu “wider” vgl. Lexer (1986: 317): “präp. mit datod. acc. wider, gegen (räuml. und zeitl., eig. und bildl., freundl. und feindl.); gegenüber mit acc., gegenüber, trotz mit dativ; in vergleichung mit, im gegensatz zu mit dat.; tausch, abwechslung, verhältnis zwischen zweien, gegenseitigkeit ausdrückend”; Als “adv. wider, widere: gegen, entgegen”; “wider unde vort/ vür”: “rückwärts und vorwärts, hin und her”. appellative Anrede mit dem vertraulichen Du 21 eine kommunikative Verbindung zum Rezipienten her und begünstigt somit eine imaginierte Identifikation. Erwähnenswert ist, dass die Dame hier den Ritter auf unübliche Weise duzt und somit eine Vertrautheit ausdrückt, während der Ritter sie wie jede andere Minnedame normal ihrzt. Geschickt lenkt die erschienene Dame das Gespräch in eine von ihr gewünschte Richtung, indem sie sein Erschrecken darauf reduziert, dass er sie möglicherweise für eine Fremde halte und nicht wiedererkenne, und den Dichter, in der Hoffnung, seine Furcht zu mildern, auf ihre Bekanntschaft aufmerksam macht. In den Worten der Dame verschmelzen Vergangenheit und Gegenwart miteinander, die temporalen Angaben (“noch”, “aldâher”, “alliu diu jâr”, …) umschreiben den grenzenlosen Zeitraum seines Minnedienstes, der in die Vergangenheit gesetzt wird und tageszeitliche Strukturierung findet: “alliu dîniu jâr” 22 (V. 129); “den âbent und den morgen” (V. 135). Bemerkenswerterweise liegt die Betonung auf der Voranstellung des Abends vor dem Morgen, was der natürlichen Zeitenfolge zuwiderläuft und die Assoziation mit dem Lebensabend erweckt. Dominierend setzt die Dame die Gesprächsführung fort, indem sie mit “dar umbe bin ich komen her” (V.145ff.) eine weitere Sequenz einleitet und mit “her” auf den zwischen beiden bestehenden ocularistischen deiktischen Raum verweist. Da Wirnt alle Voraussetzungen eines ehrenvollen Ritters besitze, habe sie ihn auserlesen, damit er nach Herzenslust ihren “lîp” (V. 147), also ihre Gestalt, von allen Seiten betrachten und bewundern könne (“beschouwest wider unde für”, V. 148). Bedeutsam erscheint die Umkehrung der logischen Reihenfolge des Schauens. Dabei wird wörtlich gesehen die Rückseite der Vorderseite vorangestellt. Die räumliche Präposition vür steht dafür, dass etwas im Raum vor einem liegt bzw. entgegentritt, oder vor Augen gestellt wird. Dagegen drückt wider den Prozess des Vergleichens, das Verhältnis zwischen zweien und die Kehrseitigkeit und Gegensätzlichkeit derselben aus. 23 Obwohl Wirnt - und mit ihm der Erzähler und der Rezipient - sie bereits von der Vorderseite betrachtet und der Erzähler dies auch alles in voller Ausführlichkeit beschrieben hat, stellt sie in ihren Worten das wider vor das für, somit die Gegenbzw. Rückseite vor die vordere und verkehrt somit ihr tatsächliches Erscheinen. Mit dieser Umkehrung fungiert selbst ihre Rede spiegelverkehrt. Die Vorwegnahme “wie schœne ich sî, wie vollekomen” (V. 149) stellt wiederum einen Kontrast zu ihrer Enthüllung dar und beinhaltet nur eine Teilansicht, nämlich die der Vorderseite. Sie sei gekommen, damit er nun erfahre, “waz lônes dir geziehen sol / du hâst gedienet mir sô wol” (V. 155f.). Er bekomme den Lohn zu sehen, der ihm allein dank seiner speziellen Dina Aboul Fotouh Salama 108 24 Dieses Schauen steht als Epistemik der Sinne in enger Verbindung mit der Herzerkenntnis, einer Erkenntnis über die Wahrnehmung des äußeren Auges, die eine innere Erleuchtung und Erkenntnis über das innere Auge ermöglicht. In der christlichen Tradition hatte man empfohlen, die Augen eher zu verschließen als offen zu halten. Augustin hatte die Augen als Einfallstor der Sünde verdammt und sprach von “Augenlust” (concupiscentia oculorum). Die Augen wurden als gefährlichste Schwachstelle des Menschen eingestuft, da durch sie der trügerische Schein der Sinnenwelt Einlass in das Herz des Menschen erhalte (vgl. Augustinus 1988: Buch X, 35/ 54, 573, zit. nach Assmann 2008: 96). 25 Das memento-mori-Motiv breitet sich seit Notker und Heinrich von Melk auch in der bürgerlichen Literatur des Mittelalters aus. “Der Text Konrads, dem sich viele andere an die Seite stellen ließen, bezeugt die Faszination, die von der Zersetzung des Körpers ausging. Auch die bildende Kunst hat sich, zunehmend im 14. Jahrhundert, dieses Motivs angenommen. Das Gemetzel der Schlacht und verstümmelte Körper, die von Aussatz oder Würmern und Kröten bedeckte und die verwesende Leiche, Figurationen des Todes als augenloses Gerippe oder apokalyptische Reiter, todkranke Menschen, die unter den Messern der Chirurgen liegen, in der Hölle brennende und mit Dämonen ringende Leiber bedecken unzählige Buchseiten und Bilder oder werden als Plastiken ausgestellt” (Nusser 1992: 53f.). Die Darstellungen entspringen der körperfeindlichen Einstellung der römischkatholischen Kirche, vielfach werden bei genauerem Betrachten der Bilder nicht nur die Folgen von Kampf- und Kriegsverletzungen dargestellt, sondern auch die von Folterungen. Verdienste zusteht. Die variierende Wiederholung des semantischen Wortfeldes sehen in Formen wie “beschouwest”, “schouwen unde spehen” sowie “sehen” als Lohn für den Dienst des Dichters, der als Grund ihres Erscheinens genannt wird, hebt die Besonderheit des Sehens 24 und Schauens als Wahrnehmungsmodalität hervor. Ihre Behauptung, er habe ihr gedient, obwohl er sie mit seinen “ougen nie gesach” (V. 162), führt dazu, dass seine Erschrockenheit einer nachdenklichen Haltung weicht. Diese wird vom Erzähler über den geänderten Erzählmodus, der mit dem verbum credendi eingeleitet wird, angezeigt: “Den edeln herren tugentrîch / dûhte harte wunderlîch / dirre frouwen tegedinc” (V. 157-159). Die enge Verknüpfung von “dienest” und “schouwen” bzw. “sehen” bringt ihre gegenseitige Bedingtheit und Wechselbeziehung zum Vorschein. Aus dieser Verbindung erscheint es Wirnt unmöglich, dieser Frau, die er in diesem Moment zum ersten Mal zu erblicken glaubt, je gedient zu haben. Aus diesem Grund versichert er ihr, sie bisher nie mit seinen Augen gesehen zu haben. Sein Versuch, dieses konkrete Frauenbild aus den Erinnerungsräumen seiner Lebensjahre aufzurufen, scheitert zunächst, als er dies anhand der optischen Erscheinung versucht. Es stellt sich erst nach der Enthüllungsszene heraus, dass die Dame als Frau Welt die weltliche Ausrichtung und den Frauendienst als allgemeine Idee anspricht. Während sie sich auf das Allgemeine bezieht, meint er dagegen das Konkrete und sucht in seinem Gedächtnis nach dem speziellen Fall, nämlich nach der persönlichen Bekanntschaft mit ihr. Doch anstelle eines Konflikts, der durch ein dramatisches Aneinandervorbeireden entstehen könnte, deutet Wirnt ihre Worte als Aufforderung, ihr zu dienen und bietet ihr mit der stilisierten höfischen Floskel “frouwe mîn” an, ihr mit “herze” und mit “lîp” bis zu seinem Tode (V. 164ff.) zu dienen, da sie “sô hôher sælden vil” (V. 176) verschenke. Dabei hebt die Erwähnung des Todes “unz ûf mînes tôdes zil” (V. 175) den Kontrast zur freudebringenden Jugend der schönen Frau hervor, markiert die Grenze und Begrenztheit irdischen Daseins und lässt dabei leitmotivisch zusammen mit der Assoziationskette “vesperzît”, “den âbent und den morgen”, “allîu dîniu jâr” den Gedanken von memento mori 25 anklingen. Damit die Unwissenheit durch das wizzen ersetzt werde und Wirnt mit ganzer Gewissheit, also “sunder wân” (V. 192), erkennen könne, ob er jemals “in allen mînen tagen” (V. 193) von ihr “gehôrte sagen” (V. 194) habe, stellt er die Frage nach ihrer Herkunft und nach ihrem Namen: “von wannen […] / oder wie ir sît genant, / iuwer name und iuwer lant / werde mir Erscheinungen zwischen Imagination und Wirklichkeit 109 26 Zwar gilt Walther von der Vogelweide als erster Dichter, der die Frau Welt erwähnt, dennoch ist es Konrads Verdienst, diese mit den grauenvollen und ekelerregenden Einzelbeschreibungen dichterisch auszustatten. Zur Tradition der Frau Welt aus der Ikonographie und Literatur siehe Stammler (1959) und Kern (2009). 27 In bildlicher Darstellung erscheint Frau Welt erstmals im Dom zu Worms als Skulptur, in ikonographischer Fortsetzung zur Darstellung des Fürsten der Welt, wie er in den Münstern von Straßburg, Freiburg und Basel als Allegorie der Versuchung dargestellt wird. Diesem Wandel in der Darstellung dürfte das Vordringen der deutschen Sprache in der Morallehre zugrunde liegen, in der die Welt weiblichen Geschlechts ist, während der ältere Fürst der Welt sein Geschlecht vom grammatischen Genus des Wortes mundus bezieht. hie kunt getân” (V. 188ff.). Da, wo es ihm nicht gelingt, sie allein über die Optik als konkrete Person aus der memoria aufzurufen und zu spezifizieren, wechselt Wirnt nun mit seiner gestellten Frage von der visuellen zu der akustischen Wissensübermittlung, um zur Erkenntnis zu gelangen. In einer zweiten längeren Rede beantwortet die Dame Wirnts Frage “gezogenlîche” (V. 196). Doch ihre Antwort erfolgt nicht auf einmal, sondern sukzessive und bewirkt dabei eine Spannungssteigerung. Diese Strategie der Inversion, durch die der Erzähler die explizite Namensnennung zunächst zurückhält, eröffnet einen imaginären Raum, “von dem aus die Imagination qua rezeptiv-passiver Einbildungskraft (memoria) auf Seiten des Rezipienten weiterläuft, bis sie in der Narration vom Erzähler zu einem Bild gebracht wird” (Lasch 2007: 22). Mit der Einwilligung, ihm ihren “hôchgelobten namen” (V. 199) zu “verjehen” (V. 198), erfolgt nun ihre Selbstpräsentation. Er solle sich nie schämen, ihr gedient zu haben, da er nicht der einzige ist, denn alles, was auf der Erde ist an Schätzen und Gütern, Kaisern und Königen, diene ihr. Der Hinweis auf Gott - “ich fürhte niemen âne got, / der ist gewaltic über mich” (V. 210f.) - findet dabei eine besondere klangliche Akzentuierung, da er in Relation mit dem sich darauf reimenden entscheidenden Vers der Enthüllung “diu Werlt bin geheizen ich” (V. 212) zu lesen ist und zugleich die kausale Zugehörigkeit der Welt zu ihrem göttlichen Schöpfer betont. Die autoritäre Dominanz dieser Dame setzt sich mit dem Zeigemodus fort, mit dem das Schauen als Lohn wieder in den Vordergrund gestellt wird: “von mir als ich dir zeige nû./ hie kum ich dir, daz schouwe dû” (V. 213-216). Auf diesen deiktischen Verweis, der im Imperativ erfolgt, folgt nun eine rasche Bewegung der Dame: “Sus kêrtes im den rucke dar” (V. 217). War der Ritter durch ihr Erscheinen erschrocken aufgesprungen, so setzt sich die Dame selbst mit der Namensnennung in Bewegung, indem sie ihm den Rücken zukehrt und sich damit - auch symbolisch - von ihm abwendet. Auf diese Bewegung folgt eine descriptio des Rückens durch einen auf Details achtenden Erzähler. 26 Mit der Kehrtwendung der Dame, der Frau Welt, rückt der Erzähler wieder in den Vordergrund, indem er das Schauen und Geschaute in Szene setzt. Entgegen der hyperbolischen Beschreibung der Vorderseite erscheint die descriptio der Rückseite sehr plastisch. 27 Die Anordnung der Würmer, Schlangen, Kröten, Blattern, Fliegen, Ameisen und Maden auf ihrem Rücken wird so detailliert beschrieben, dass man sich dies bildhaft vorstellen kann (V. 218-227). Die Rückseite des Körpers, dessen Vorderseite zuvor als Raum von “êre” und als Quelle der Freude gegolten hat, erscheint nun als Raum für parasitäre Verwesung und Vergänglichkeit. Diese optische Wahrnehmung wird von einer weiteren überlagert: nämlich dem Geruchssinn. Aus dem unreinen “blœden” (V. 229) Körper steigt “ein alsô egeslicher smac” (V.230), ein ekelerregender Gestank auf, “den niemen kunde erlîden” (V. 231). Mit der Verallgemeinerung “niemen” werden imaginative Assoziationen beim Rezipienten erweckt, die zum einen den Überbietungsmodus weiter fortsetzen und zum anderen eine kollektive Erzählfokalität implizieren. Das kostbare Seidenkleid (V. 232) hat sich in einen Tuchfetzen Dina Aboul Fotouh Salama 110 28 Der Text redet dem zölibatär lebenden Kreuzritter das Wort. Damals lösten tatsächlich manche Ritter ihre Ehen auf, die adligen Frauen gingen ins Kloster. Hintergrund dieser weltablehnenden Sichtweise ist die Lehre des Apostels Paulus, der die katholische Kirche im Wesentlichen mit ihrer Sittenlehre folgt. 29 Im Text kommt die beginnende Frauenfeindlichkeit sehr gut zum Ausdruck; wenige Jahrzehnte später wurden die ersten Frauen in Europa als Hexen verbannt. Barbara Becker-Cantarino erkennt in der Frau Welt-Allegorie eine Warnung des Dichters “vor der betrügerischen ‘Frau Welt’: als ein den Mann bedrohendes weiblich konnotiertes Sexualwesen, das ihn um sein Seelenheil bringen wird und das vergänglich ist wie die irdische Welt” (1999: 130). Siehe dazu auch Becker-Cantarino (1983). (V. 235) verwandelt (V. 233f.) und die einst strahlende “wünnecliche” Erscheinung erhält nun eine jämmerliche Farbe und ist bleich wie Asche (V. 236-238). Auch hier liegen transmodale Wahrnehmungsmodalitäten vor: Farben werden mit Emotionen verknüpft. Es entstehen Farben des Jammers, der Trauer. Der Vergleich der bleichen Farbe mit Asche steht in indexikalischer, kausaler Verbindung zur Verwesung. Eingetaucht wird die Erscheinung der Rückseite in Dunkelheit, da sich ihr heller Schein in einen aschfarbenen Ton verfärbt, “bleich alsam ein asche gar” (V. 238), was folglich auch auf eine verdunkelte, nun stinkende Kemenate schließen lässt. Die ehemals leuchtende, strahlende Erscheinung wird in das komplette Gegenteil verkehrt. Kaum wendet die Erscheinung der Frau Welt dem erschrockenen Dichter ihren Rücken zu, verschwindet sie auch: “Hie mit schiet si von dannen” (V. 239). Mit dieser Bewegung findet eine symbolische Umkehrung aller Schönheitsattribute in ihr Gegenteil statt, die ebenfalls eine Abkehr im Sinne von Abwendung und Ablehnung impliziert. Aus dieser Herzerkenntnis heraus erwächst Wirnts conversio, die in mehreren Sequenzen vollzogen wird (V. 242-258). Der Abschied von Frau 28 und Kindern, der Ausbruch aus bisherigen weltlichen, familiären Räumen, gefolgt von der Kreuznahme spiegelt die innere Verwandlung wider, die er durchlebt. Die Sprengung der bisherigen Raumgrenzen erfolgt mit einer Fahrt über “daz wilde mer” (V. 251), die nach Claudia Brinker von der Heyde als Grenzüberschreitung auf einen Neubeginn und eine Wende verweist (2005: 210). Schließlich verfluchen beide Dichter, Konrad von Würzburg als Erzähler und Wirnt von Grafenberg als Dichter-Protagonist, jeden, der sich nach dieser Erkenntnis dem Weltdienst widmen sollte. Die Worte “daz si von mir verbannen / und aller cristenheite sî! ” (V. 240-241) können somit als gemeinsame Erkenntnis beider Dichterfiguren, Wirnt und Konrad, angesehen werden, da nicht nur Wirnt eine conversio durchläuft, sondern auch Konrad mit der Verfassung dieses Werkes das wahre Wesen der Welt als vergänglich bloßlegt, anstatt von den Freuden der Minne zu dichten. Betrachtet man die Erscheinung der Frau Welt als Ganzes, ist folgendes vorläufiges Fazit zu ziehen: Zunächst fungiert die Frau Welt als Spiegel, der dem Dichter die eigenen Taten retrospektiv vorführt. Anschließend führt sie ihm den Lohn für seinen resümierten Lebensdienst vor. Sie offenbart ihm ihren Namen und ihr wahres Wesen. Dies kann als Bruch bzw. als Auflösung der imaginierten Konstruktion gelesen werden, da sich Frau Welt durch die eigene Demaskierung verrät. Es erscheint meines Erachtens fragwürdig, ob die nach mittelalterlichen theologischen Vorstellungen konzipierte verführerische Frau Welt, 29 die ihre Liebhaber mit ihrem Glanz blendet und täuscht, ihrem lebenslangen Diener, dem Minnedichter Wirnt von Grafenberg - und durch Konrads appellatives Bibelzitat (1 Joh 2, 15), “ir werlte minnære” (V. 1ff.), alle Liebhaber der Welt ermahnend miteinbeziehend - ihr wahres Wesen offenbaren und ihre abschreckende Vergänglichkeit enthüllen will. Einerseits wird mit diesem Texteingang, der Erscheinungen zwischen Imagination und Wirklichkeit 111 30 Zitiert wird nach folgender Ausgabe: Konrad von Würzburg (1982): Engelhard. Herausgegeben von Ingo Reiffenstein. 3., neubearbeitete Auflage der Ausgabe von Paul Gereke. Tübingen: Max Niemeyer Verlag. 31 Vermutlich ist Engelhard nach einem lateinischen Exempel des Typus Amicus und Amelius verfasst. Weil der Quellenbezug in dem hier verfolgten Zusammenhang keine unmittelbare Relevanz hat, können die Vorlagen außer Betracht bleiben. 32 Die Gleichheit wird im Text durch Metaphern wie die des Wachsabdrucks oder durch spiegelbildliche “Zwillingsformeln” unterstrichen, vgl. Oettli (1986: 73); zu der Ähnlichkeitsstruktur im Engelhard siehe auch Witthöft (2005: 393), von Bloh (2005, 2007) und Müller (2007). 33 Siehe dazu Klinger/ Winst (2003). 34 Corinna Virchow behandelt in ihrer Studie zum einen die Frage nach der Treue und Freundschaft als Identifikationsmittel und Erfassen von ‘Identität’ und zum anderen die Art und Weise, wie diese dem Publikum verständlich und nachvollziehbar gemacht wird (2007: 287). Herbert Herzmann zufolge werde im E “eine neue Art von Gesellschaft konstituiert, eine Gesellschaft, die auf persönlichen, privaten triuwe-Beziehungen aufgebaut ist. Konrad unternahm es im ‘Engelhard’, den Gesellschaftsbegriff zu entmythifizieren und zu säkularisieren und ihn auf eine Grundlage zu stellen” (1980: 406). Siehe auch Kesting (1970) und Karner (2010): “Um tatsächlich die triuwe als zentrale Tugend ins Zentrum rücken zu können, dürfte es der Autor sogar als notwendig empfunden haben, die rechtlichen und theologischen Aspekte zurückzudrängen, damit gerade nicht - wie bei einem Ordal üblich - die Suche nach Wahrheit im alleinigen Interesse steht. “ (Karner 2010: 146) 35 Dieses Erzählgeschehen erinnert an das Opfer Abrahams, könnte aber auch alt-germanischen Ursprungs sein, worauf die Erwähnung der Seidenschnur bei der Beschreibung der Narbe am Hals der Kinder deuten könnte (V. 6386-87). “eine[.] emphatisch abmahnende[.] Apostrophe an alle Weltverliebten” (Kern 2009: 45) darstellt, der Gestus des Textes bereits angedeutet. Andererseits könnte die bildhafte Darstellung des wahren Lohnes der Welt als “künstlerische Darstellungsform irdischer Eitelkeit” (Kern 2009: 51), die die revocatio und conversio ihres Betrachters auslöst, für ein religiöses Publikum als göttliche Fügung gedeutet oder aber als eine vom Dichter intendierte Imagination eines “phantasmagorischen Auftritt[s] der figura vanitatis” (Kern 2009: 51; Hervorh. im Original) betrachtet werden, die - aus dem Medium Buch entsprungen - beide Dichter mitsamt ihren ‘einsichtigen’ Rezipienten in eschatalogischer Ausrichtung vor dem Verderben rettet und damit als allegorische Gestalt das Kunstkonzept weltlich-höfischer Minnedichtung poetologisch in Frage stellt und relativiert. Wenden wir nun den Blick Konrads Engelhard 30 zu, der um 1273/ 74 verfasst worden ist, aus 6504 Versen besteht und die Motive der Brautgewinnung mit Hilfe des Freundes und der Aussatzheilung durch das Blut von Kindern unter der Thematik der Treue vereint. 31 Der Inhalt des E soll hier kurz vorgestellt werden: Es geht um die Geschichte und Freundschaft zweier von Gott zusammengeführter zwillingsgleicher Männer, die sich nicht nur äußerlich, sondern auch in ihrem höfischen Wesen völlig ähneln, Engelhard und Dietrich. 32 Ihr gemeinsamer Weg in die Selbstständigkeit, 33 der auch nach Dietmar Peschel (2001) und Elisabeth Schmid (2001) einen Weg von der Pubertät in die Adoleszenz darstellt, führt durch einige Prüfungen und Abenteuer, in denen sich ihre gegenseitige Treue 34 stets bewährt. Als Engelhard nach der Hochzeit mit Engeltrud zum König von Dänemark avanciert und Dietrich als alleiniger Erbe die Königsherrschaft in Brabant antritt, scheint die Geschichte, die aus zahlreichen spiegelartig und parallel strukturierten Episoden besteht, ein glückliches, harmonisches Ende gefunden zu haben. Doch dies ist nicht der Fall, da Dietrich vom Aussatz befallen wird und sich durch die Krankheit, die sein Äußeres bis zur Unkenntlichkeit verändert, der familiären Ehe- und Hofgemeinschaft und den Angelegenheiten des Königreichs entzieht und sich auf eine Insel in der Nähe seiner Burg zurückzieht. In seiner Isolation erscheint ihm ein Engel im Traum. Dieser verkündet ihm Gottes Gebot: Nur das Bad im Blut der Kinder 35 Engelhards könne ihn von seiner Krankheit Dina Aboul Fotouh Salama 112 36 Günther Rohr zeigt auf, dass Konrad im E einem Gesamtkonzept folgt, “in das sich alle Teile nahtlos einfügen” (1999: 310). heilen. Dietrich deutet diese Botschaft als Versuchung, lehnt die Tötung unschuldiger Kinder als sündhaft ab und behält den Traum als Geheimnis für sich. Nachdem sich alle aus seinem Umkreis in Folge seiner Krankheit aus Ekel von ihm abwenden, sieht der pflegebedürftige Dietrich keinen anderen Ausweg, als sich zu seinem treuen Freund Engelhard nach Dänemark zu begeben, um die in seiner Heimat fehlende Fürsorge zu erlangen. In einem Gespräch zwischen beiden kommt es zufällig zur Lüftung des von Dietrich streng gehüteten Geheimnisses vom Traum-Engel und der von diesem verkündeten einzigen Heilmöglichkeit. Nach langen inneren Abwägungs- und Reflexionsprozessen - einer ratiocinatio - entschließt sich Engelhard dazu, seine Kinder für den Freund zu opfern. Damit will er zum einen Dietrich aus seiner Qual erlösen und zum anderen seinen Kindern durch die Erfüllung der göttlichen Botschaft das ewige Heil sichern. Während ihres Schlafs schlägt er ihnen mit seinem Schwert die Häupter ab. Dietrich badet im Blut der Kinder und wird geheilt. Engelhard findet zu seiner Überraschung seine beiden Kinder wieder lebend vor, spielend, mit einer Narbe rund um den Hals, als wäre ein roter Seidenfaden um ihre Hälse gebunden. Mit dem Freundesopfer, der Rehabilitation Dietrichs und der Wiedererweckung der Kinder aus dem Tode findet der Engelhard sein happy end. Den Engelhard kennzeichnet eine vielseitige Erzählweise und eine differenzierte Struktur. 36 Die Wahrnehmung des Rezipienten wird durch die Beschreibung des Erzählers und durch dessen Randbemerkungen gesteuert. Neben der Instanz des auktorialen Erzählers, der die Zukunft kennt und auf sie verweist, wird das Eintauchen in die Innenwelt der Figuren des E oft durch die Gedankenrede ermöglicht, die sich als ratiocinatio über mehrere Passagen erstreckt. In der Anwendung des Szenographie-Modells auf die Wahrnehmung des Traum-Engels wird ersichtlich, dass die Inszenierung der Engelserscheinung im E eine Art ‘Doppelung’ der Wahrnehmung erzeugt. Stellt der vom Erzähler vermittelte Traum eine erste interne Wahrnehmung des Engels für Dietrich und den externen Rezipienten dar, so bildet Dietrichs Traum-Erzählung auf der Textebene zwar eine Wiederholung, bedeutet aber für Engelhard die erste Wahrnehmung des Traum-Engels über die gehörte Erzählung. Der Schauplatz der Traum-Engel-Erscheinung ist umrahmt und gekennzeichnet von paradiesischen Naturelementen, die optische und akustische Sinnesreize darstellen. Dietrich geht bedächtig durch das Gras bis zum kalten Brunnen, über dem sich ein Wald befindet. In dem grünen Laub seiner Bäume sind schneeweiße Blüten zu sehen, die den Brunnen wie ein Dach beschatten. Zugleich befinden sich viele Waldvögel in diesem Laub- und Blütendach, deren Gesang von oben herabklingt. Es treffen hier sensuelle, optische und akustische Wahrnehmungselemente aufeinander, die die Kulisse für eine wunderbare Erscheinung konstituieren: das kalte klare rauschende Brunnenwasser, grünes Laub, weiße Blüten und duftende rote Rosen begleitet vom Klang zahlreicher Vögel (V. 5311-5350). Der krasse Gegensatz zwischen der idyllischen Landschaft und dem von Krankheit gezeichnetem Äußeren des aussätzigen Dietrich verdoppelt sich durch die Akzentuierung des Kontrastes zwischen Dietrichs früherem makellosen, schönen Körper und seinem jetzigen siechen Leib einerseits und der inneren leidvollen Befindlichkeit andererseits, die auf die freudebringende höfische Wirkung eines locus amoenus nicht reagiert. Die descriptio des Erzählers erfolgt durch eine Kontrastierung der Vergangenheit mit der Gegenwart und steht in indexikalischer Relation zu den metaphorischen Bezeichnungen Dietrichs als Spiegel, Blume und Edelstein, mit denen sein strahlendes Aussehen vor dem Erscheinungen zwischen Imagination und Wirklichkeit 113 37 Jackson (2003: 201) sieht darin eine “Verschwommenheit”, da die Schönheit behauptet wird, ohne näher bestimmt zu werden. 38 Jackson (2003: 202) stellt 26 Belege fest, die im E “die strahlende Wirkung des Lichts bezeichnen”. 39 Grundlegend zur Literatur des contemptus mundi: Gnädinger (2002: 152f.), Schulze (2002: 155f.), Kiening (1994), Stammler (1959); siehe dazu aus interkultureller Perspektive meinen Beitrag mit weiteren Verweisen: Dina Salama (2010). 40 Viele der Ereignisse, die als “wunder” bezeichnet werden, suggeriert der Text als im Zeichen von Gottes Fügung stehend. Dem mittelalterlichen Verständnis entsprechend wird im Text vorausgesetzt, dass Gott die Macht hat, alle nur erdenklichen “wunder” zu bewirken, und “deshalb tut er sie auch” (vgl. Schreiner 1966: 141). Theologische Polemiken gegen diese Auffassung gibt es seit dem 12. Jahrhundert. Ute von Bloh erkennt in der Funktion von Wundern, die sich “der göttlichen Providenz verdanken wie das unkalkulierbare Geschehen insgesamt”, die Garantie für “den Erhalt der Ordnung, indem sie Überschreitungen […] oder ein Defizit wie das verstümmelte Äußere eines Adligen ausgleichen” (1997: 236). 41 In dieser Haltung auf der Seite liegend werden auch Heilige im Mittelalter dargestellt. Ausbruch der Krankheit bildlich verglichen worden war. Mit den Worten “was sîn lop durchliuhtic ê, / daz nû engap niht schînes mê, / wand ez als ein trüebez glas / verdorben und verblichen was” (5305-08) erfolgt nach der Rückblende eine Umkehrung der anfänglichen Schönheitsbeschreibung Dietrichs. Bilder aus der memoria werden zugunsten von Empathie als repetitio herangezogen, um durch ihre Verkehrung eine Beschreibung des gegenwärtigen Zustands zu erreichen. Die heiße Mittagssonne, vor deren Strahlen (“blice”) sich Dietrich unter einem Pfauenhut schützt, wird von Dietrichs seidener Bekleidung reflektiert, sodass nun das seidene Gewand 37 wie ein leuchtender Spiegel glänzt und erstrahlt: “und ein gewant von sîden guot / daz als ein liehter spiegel was” (V. 5320-5321). Die Übertragung des Strahlens 38 und der Metapher des Spiegels von Dietrich auf dessen Kleidung stellt eine Auflösung bzw. Verschiebung der konstruierten metaphorischen descriptio vom Ganzen auf einen Teil dar. Abgestützt auf einem Ellenbogen und sich an einen schattigen Brunnen lehnend, um sich vor der Sonne zu schützen, betrachtet Dietrich die Blumen und beginnt über den Mai nachzusinnen, der ihm keine Freude mehr bringt. Auf seine Klagerede zu Gott, in der er zu ihm betend nach den Gründen für seine “râche” (V. 5375) und seinen “zorn” (V. 5381) fragt, folgt - nach Ausbleiben einer Antwort - der Todeswunsch und zuletzt die Klage über die Vergänglichkeit der Welt und ihre Schlechtigkeit: “ach brœdiu werlt, sich wie dû bist / aller missewende vol! ” (V. 5390-5391). Mit dem Vergänglicheitstopos klingt die contemptus mundi- Thematik 39 an. Die Erscheinung des Engels beginnt mit der Vorausdeutung des Erzählers, dass Gott ihn auserwählt habe, um an ihm ein “wunder” 40 zu vollbringen: Gott habe Dietrich einen Engel vom Himmel hinab auf die Erde - nach mittelalterlicher Vorstellung ‘zu Gottes Füßen’ 41 - unter das Blätterdach geschickt, in dessen Schatten Dietrich liegt. Des Weiteren, so führt der Erzähler aus, sehe Gott, wie Dietrich schuldlos diese Not ertrage; darum werde er einen Lohn für seine Treue erhalten. Das Wahrheitspostulat seiner Aussagen und die Wahrhaftigkeit seiner Worte sieht der Erzähler darin bestätigt, dass der höchste Gott Dietrich diese Worte über einen Engel überbringen und offenbaren werde. Nach und nach weiht der Erzähler den Rezipienten in die Traumwelt Dietrichs ein, dem durch den Engel “süeze tröume / in dem slâfe werden kunt” (V. 5440f.). Interessanterweise stellen diese Verse, die die Engelserscheinung im Traum einleiten, eine synästhetische Wahrnehmungsweise dar. Träume, die dem Träumenden innere mentale Bilder vorführen, werden von einer extern erfahrbaren Sinneswahrnehmung, dem süßen Duft, überlagert. Diese außergewöhnliche Wahrnehmungsform Dina Aboul Fotouh Salama 114 wird zusätzlich durch die Akustik, durch das Hören, erweitert. Vorausdeutend konstatiert der auktoriale Erzähler, dass der Engel Dietrich schöne Träume sehen lässt. Diese Träume werden dem Leser/ Hörer nicht mitgeteilt, stattdessen wird die Botschaft, die der Engel überbringt, in direkter wörtlicher Rede (5435-5440) wiedergegeben. Infolgedessen wird Dietrich in die Regionen intensiver Imagination und gesteigerter Wahrnehmung hineingezogen, wo die Traumregie allein von der Engelsbotschaft übernommen wird. Noch im Traum beherrscht den Träumer der Zustand einer bewussten Wahrnehmung der Worte des Engels. Dies bewirkt eine Akzentuierung des Wahrheitspostulats und der Tatsächlichkeit der Engelserscheinung: Die eingesetzte inquit-Formel: “er sprach dô wider in zestunt” (V. 5442) markiert meiner Meinung nach deutlich die vorangehenden süßen Träume (V. 5440) und die darauffolgende Rede des Engels als zwei aufeinanderfolgende Sequenzen. Der Engel spricht Dietrich direkt mit seinem Namen an und prophezeit ihm die Genesung: “Dieterich, dû solt genesen” (V. 5443). Diese ist jedoch an eine schreckliche Bedingung gebunden, deren genaue Anweisung den Inhalt der Engelsrede (V. 5443-5480) folgendermaßen strukturiert: Zu Beginn führt der Engel die besonderen Eigenschaften Dietrichs auf, die sich mit der Erzählerdescriptio decken. In ähnlicher Weise hatte Frau Welt dem Dichter Wirnt seine Lebenswerke vorgelegt. Darauf folgt die Verheißung des göttlichen Lohns. Der heilige Gott im Himmelsreich habe sich seiner erbarmt und wolle ihn belohnen, weil er der Treue gedenke, die Wahrheit liebe und weil sein Leben und sein Besitz in Not geraten seien. Gott wolle Dietrich Gesundheit und Ansehen vollständig wiedergeben. Dietrich solle nach Dänemark zu Engelhard reisen. Da Engelhard Dietrich gegenüber stets zu Freundesdiensten bereit war, wolle Gott, dass er um seinetwillen das Blut seiner Kinder vergieße. Dies würde Engelhard sehr gerne tun, verkündet und versichert der Engel. Die Hauptbedingung für die Wirksamkeit dieser “arzenîe” (V. 5552) sei, dass Dietrich selber den Willen zur Genesung aufbringe, die nur durch die Aufopferung der Kinder Engelhards möglich sei. Erst wenn er in ihrem Blut bade und sich damit einreibe, könne er vom Aussatz geheilt werden. Wiederholt fordert der Engel Dietrich dazu auf, sich an seinen Freund zu wenden. Mit dieser Wiederholung der ersten Aufforderung, die als Gebot Gottes zu verstehen und auszuführen ist, endet die Rede des Engels. Dietrich erwacht (V. 5481ff.) mit der bereits im Schlaf bewusst erlangten Erkenntnis des Engelstraumes und seiner göttlichen Botschaft. Er trifft den Entschluss, den Traum als nichtig zu leugnen (V. 5490-5547): “und hæte gar den troum für niht / der ime was getroumet dort” (V. 5554f.). Der deiktische Verweis dort hebt die Anbindung des Traumes an seine Lokalität hervor und stellt auf der Ebene der Rezeption einen gemeinsamen imaginierten Erzählraum zwischen dem Erzählten und dem Rezipienten her. Die Wirkung des Traumes auf Dietrich, der nach der Engelsbotschaft erwacht, beschreibt der Erzähler in einer poetischen metaphorischen Sprache: “dâ von sîn riuwic herze wunt / wart betrüebet deste mê,/ wan im tet inneclichen wê / daz ime was getroumet sô” (V. 5486-89). Das Herz als Organ der Wahrnehmung, als Sitz der Erkenntnis, steht für Dietrichs innere Gemütslage, die durch die Engelsbotschaft von Trauer, Schmerz und Fragen durchzogen ist. Die Verwendung der Passivkonstruktion akzentuiert Dietrichs Empfängersituation und sein Ausgeliefertsein. Die auktoriale Instanz gewährt dem Rezipienten einen Einblick in Dietrichs interne ‘Herzensräume’ und in seine Gedankenwelt. In seinem Zweifel klagt er Gott an, der sich nicht um ihn kümmere und ihm diese “üppeclichen tröumen” (V. 5501), diese sinnlosen Träume, beschere. Hier unterscheidet sich die Sichtweise der Figur Dietrichs von der Ansicht des Erzählers, der Dietrichs Träume als “süß” bezeichnet hatte. Erscheinungen zwischen Imagination und Wirklichkeit 115 42 Die Kenntnis des Namens einer Person oder Sache verleiht Macht über sie. Die Nennung des Namens ist wesentlich in der schwarzen und weißen Magie, welche durch die Nennung des Namens im christlichen Kontext wirkungslos gemacht werden sollen. 43 twalm: “betäubung, ohnmacht, schlaf, traum, vision; betäubender dunst, qualm; betäubender oder tötender saft” (Lexer 1986: 235). 44 galm: “schall, ton, lärm, geräusch” (Lexer 1986: 53). Aus Angst eine Sünde zu begehen, fasst Dietrich den Traum - entgegen seiner eigentlichen Bestimmung einer Erlösung - als Prüfung auf. Anstatt die Botschaft als göttlichen Hinweis zu verstehen, missdeutet er sie als Versuchung. Dietrich prüft den Trauminhalt mit dem Maßstab der christlichen Glaubenslehre und kommt zu der Erkenntnis, dass niemand dazu bereit wäre, seine Kinder für ihn zu töten, da dies gegen die Natur und gegen die Vernunft verstoße. Außerdem würde Dietrich nie die Sünde auf sich oder Engelhard laden wollen, unschuldige Kinder für sich sterben zu lassen. Aus diesem Reflexionsprozess heraus reift in Dietrich der Entschluss, die ihm im Traum offenbarte Arznei abzulehnen. Diesen Abschnitt könnte man als erste Darstellung der Engelserscheinung betrachten, die aus der Sicht des Erzählers geschildert worden ist. Als zweite Darstellung der Engelserscheinung stellt die Traumwiedergabe Dietrichs auf der rezeptiven Ebene eine Doppelung der Wahrnehmung dar. In diesem Moment ist der Traumengel ein Gedächtnisbild, das Dietrichs interne mentale Wahrnehmung widerspiegelt und zugleich Engelhards indirekt wahrgenommenes, also imaginiertes Traum-Bild konstituiert. Engelhards imaginierte Engelserscheinung wird also durch das “Träumen mit den Augen des Freundes” evoziert. Engelhards Frage nach dem Namen 42 der “sache” (V. 5932), die Dietrich retten könne, weist an sich eine Ähnlichkeit zu Wirnts Frage nach dem Namen der Frau in WL auf, hebt aber auch die besondere Bedeutung und Rolle von Namensnennung über die Akustik als Mittel zur Erkenntnis hervor. Unter Tränen und nach langem Zögern erzählt Dietrich Engelhard von dem Traum. Dies findet in einer räumlichen Fremde, in Dänemark, nicht am ursprünglichen Traum-Ort Brabant, statt. Mit den Worten “ez kam alsô, daz ich gelac” (V. 5978) leitet Dietrich die Traumwiedergabe ein und übernimmt in diesem Offenbarungsgespräch die Rolle des Erzählers. Die Einbettung dieser Traumwiedergabe in den Handlungsverlauf stellt eine Wiederholung des Traumes als Texterscheinung dar und dient als repetitio, die zum einen als perspektivische Rede aus der Sicht Dietrichs die Wahrhaftigkeit und Genauigkeit des Erzählers bestätigt und zum anderen durch die Ich-Haltung eine imaginationsfördernde Identifikation des Rezipienten intensiviert. Diese erfolgt sowohl auf der textinternen Handlungsebene, d.h. für Engelhard, als auch auf der textexternen Ebene für den Hörer bzw. Leser. In dem inszenierten Erzählraum, der zwischen Dietrich und Engelhard bzw. dem Rezipienten entsteht, erfolgt die Traumwiedergabe aus der Retrospektive. Dietrich beschreibt den “twalme” 43 (V. 6013) als deutlich und gewiss. Da, wo eine konkrete Beschreibung des Engels fehlt, weil dieser nicht die Botschaft verkörpert, sondern sie lediglich als Medium verkündet und nur übermittelt, wird gesagt, dass der Engel viel herrlicher sei, als es sich Gelehrte jemals vorstellen könnten. Durch die sehr allgemein gehaltene hyperbolische Andeutung der descriptio des Engels ohne deren detailliertere Ausführung wird dem Rezipienten ein produktiver Imaginationsraum eröffnet, in dem theologisches Wissen (memoria) mit der eigenen produktiven Vorstellungskraft (phantasia) zerfließt. Abschließend führt Dietrich noch einmal die eigene Wahrnehmungsweise der Botschaft des “stæten engel” (V. 6012f.) und die darauffolgende Reaktion vor: “von sîner stimme galme 44 / wart ich erwecket unde erschrac” (V. 6014f.). Der Klang seiner Stimme Dina Aboul Fotouh Salama 116 45 Es wäre interessant, einmal darüber nachzudenken, ob nicht etwa in der Reproduktionsmedizin/ Molekularbiologie unserer Zeit die Nutzung von Nabelschnurblut zur Stammzellengewinnung und auch die Experimente mit menschlichen Zellen dieser Vorstellung entspringen. habe Dietrich geweckt. Daraufhin sei er erschrocken aufgewacht. Die Bedeutung dieser Stelle liegt darin, dass sich hier mehrere Wahrnehmungsmodalitäten überkreuzen: Die mit den Ohren wahrgenommene Stimme des Engels und dessen Worte wecken den schlafenden Dietrich mit Erschrecken. Die Rede des Engels beschwere ihm das Herz (V. 6016). Dietrich führt die genaue Abfolge des Traumes aus; er beschreibt den Engel, der “nâch wîser liute kür / niht wünneclicher möhte sîn/ er tet mir kunt und machte schîn/ von gote disiu mære” (V. 5984-5987) und stellt das reine Kinderblut 45 in Kontrast zu seinem eigenen ‘verfaulten’ Fleisch (V. 6005). Dietrichs Schilderung der eigenen Reaktion auf den Traum erfolgt in Analogie zur Traumdarstellung des Erzählers und beschreibt die gedanklichen Reflexionen und das eigene Verhalten (V. 6012-6024; 6034-6037). Dietrichs Bericht ist durchdrungen von der Dankbarkeit, die er Engelhard gegenüber verspüre, der für seine Hilfe (Speise, Gewand usw.) “saelde” an ihm gewinne. Zuletzt vergleicht sich Dietrich mit Hiob (V. 6087) und verkündet, dass er diesem ähnlich sein Leid erdulden werde. Mit den Worten: “diz hôrte ich von dem stæten / engel in dem twalme. / von sîner stimme galme / wart ich erwecket unde erschrac. / diu rede mir ze herzen wac / und dûhte mich ein teil ze twerch” (V. 6012-17) endet die Wiedergabe des geheimgehaltenen Traumes. Korrespondierend mit der inquit-Formel, die die Traumwiedergabe umrahmt, beendet der Erzähler die Rede mit “Hie mite was der rede genuoc” (V. 6107), um sogleich Engelhards Reaktion auf den Traum seines Freundes - aus auktorialer Perspektive - zu schildern. Auch Engelhard verschließt den Traum in sich “vil nâhe sînem herzen” (V. 6111). Dennoch vermag der Erzähler einen Einblick in Engelhards Gedankenwelt und ratiocinatio zu gewähren. In einem Gespräch mit Gott gedenkt er der Tatsache, dass Dietrich einst sein Leben für ihn in Gefahr gebracht hatte und dass es deswegen treulos sei, ihn nun im Stich zu lassen. Engelhards Leid wird vom Erzähler mit poetischen Bildern beschrieben, die häufig das Herz involvieren. So schmerzt Dietrichs Herz, während Engelhards Herz mit Ketten gefesselt ist. Engelhards an Gott gerichtete Frage: “got herre vater, wie sol ich / gebâren und gewerben? ” (V. 6118f.) mündet in den Entschluss, dass er Dietrich dieses Opfer aus Freundestreue schuldig sei (V. 6173-6182). Er erkennt in der Gesandtschaft des “heilic engel” (V. 6176) ein von Gott gefügtes Wunder, das seinen Kindern den “liehten himelhort” (V. 6178) durch ihren Opfertod verheißt. Betrachtet man die Szenerie der Engelserscheinung und -rede in ihrer Gesamtheit, so kann man feststellen, dass diese in verschiedenen Räumen und Räumlichkeiten stattfindet. Diese möchte ich in äußere und innere Räume aufteilen: Zu den äußeren Räumlichkeiten zähle ich die paradiesische Insel in Brabant als Kulisse des erlebten Traumes. In gleicher Weise fungiert das abgeschiedene Haus in Dänemark, in dem die Enthüllung des Traumes durch Dietrich stattfindet. Als innere Räume möchte ich die mentale ‘Traumwelt’ Dietrichs und einen ‘Erzählraum’ erkennen, die in einem Spannungsverhältnis zu den äußeren Lokalitäten stehen. Die paradiesische Insel mit der reinigenden Quelle bildet den Raum, in dem der Engel vom Himmel herab kommt, um dem unter dem Baum liegenden schlafenden Dietrich süße Träume zu schicken und Gottes Botschaft zu überbringen. Der Traum bildet den mentalen Raum, in dem die ‘göttlich’ bzw. vom Dichter initiierte Vision Dietrich erscheint. Der locus amoenus, mit seinen verstreuten Naturelementen, die an biblischer Symbolik nicht sparen und die als freudebringendes Naturschauspiel zudem als Teil höfischer Umgebung anzusehen sind, steht in krassem Gegensatz zu der tatsächlichen tragischen Situation und der ambivalen- Erscheinungen zwischen Imagination und Wirklichkeit 117 46 Mit dem Rhizom, einem Wurzelgeflecht, ist nach Deleuze ein offenes und zugleich verflochtenes System zu verstehen, das weder in Dichotomien aufgeht noch hierarchisch strukturiert ist, sodass es dem Leser stets möglich wird, neue Verknüpfungen zu schaffen: “eine der wichtigsten Eigenschaften des Rhizoms” ist diejenige, “immer vielfältige Zugangsmöglichkeiten zu bieten” (Deleuze & Guattari 1992: 24). 47 Da der Text keine genauen Angaben zum Alter der Kinder macht, handelt es sich womöglich um Kleinkinder, die vielleicht dem alten römischen Recht zufolge bis zum 3. Lebensjahr noch als Sache definiert und auch noch nicht erbberechtigt waren. Möglicherweise sind es Kinder im Alter zwischen der Taufe und dem Alter der Rechtsfähigkeit. ten Traumbotschaft mit der schrecklichen Bedingung. Aufgelöst wird dieses Spannungsverhältnis durch den höfischen Freund mit Engel-Namen. Als weiteren Raum kann man den ‘Erzählraum’ innerhalb der Worte Dietrichs erkennen, da durch ihn die Engelserscheinung vermittelt, die Botschaft Gottes vor Engelhard enthüllt und infolgedessen seine Wahrnehmung des engelgeleiteten Traumes ermöglicht und bestimmt wird. In der Erscheinung des Engels findet eine Überblendung, eine Verschmelzung all dieser Räume statt, die die verschiedenen Transformationen des Engels fluktuierend begleitet. Unter dem Titel nomen est omen soll kurz auf weitere Engels-Erscheinungen im Text hingewiesen werden, die an verschiedenen Stellen immer wieder aufblitzen und fast als ‘rhizomatische’ 46 Verflechtung im Sinne von Deleuze und Guattari (1992: 24) in steter repetitio auf den Engel verweisen. 1. Eine erste Bekanntschaft mit dem Engel stellt für den Rezipienten ebenso wie für Dietrich die Begegnung mit dem Engel im Namen Engel-hards dar. Der Engel ist dem Helden programmatisch wie prädestiniert in seinen Namen eingeschrieben, was somit optisch und akustisch durch die Lektüre ständig vergegenwärtigt wird. 2. Die Doppelung der Engels-Namen: Engel-hard und Engel-trud. Der Gleichklang des Namens in der akustischen Wahrnehmung wird von Engeltrud auf der inhaltlichen Ebene als Zeichen der Füreinanderbestimmung gedeutet - was auch für den Rezipienten nachvollziehbar ist. 3. Die namenlosen Kinder 47 Engelhards tragen durch die Possessivkonstruktion und die genetische Zugehörigkeit zu Engelhard ebenfalls den Engel in sich. Die durch den Schwertstreich verursachten Halsnarben der Kinder (V. 6386-87) dienen als lebendige Körperdenkmäler wie Reliquien der memoria. Der epochenspezifisch verstärkte somatische Ausdruck von Religiosität im Mittelalter ist auch im E sichtbar. Die seelische Begnadigung soll auch anhand von Stigmata am Körper sichtbar gemacht werden, sodass “der gequälte Körper […] für die, die ihn sehen oder von ihm hören, zum Zeichen, zum Zeichen des göttlichen Willens, des göttlichen Wohlgefallens” (Dinzelbacher 1993: 163) wird. “Der leidende Leib ist sozusagen das (von Gott) Beschriebene” (Dinzelbacher 1993: 163). Demzufolge fungieren im E die vernarbten, stigmatisierten Kinder fast als Gedächtniskörper, die in einer semioralen Literatur nicht ungewöhnlich sind. Dina Aboul Fotouh Salama 118 48 Inge Leipold (1976) beschreibt die Literatur des Mittelalters als “wesentlicher und konstitutiver Bestandteil der jeweiligen soziokulturellen Realität” (zit. nach Herzmann 1980: 406). 49 Die allegorische Figur emanzipiert sich von ihrer bloßen Zeichenhaftigkeit und agiert wie andere literarische Figuren. Interessanterweise gehört es zu den Kennzeichen einer Poetik allegorischen Dichtens, dass “Literalsinn und epische Funktion des Bildes im Widerstreit mit seiner allegorischen Bedeutung liegen” (Dorothea Klein 2006: 56). Nach der szenographischen Analyse der Erscheinungen beider Werke sind abschließend folgende Schlussüberlegungen anzustellen: • Den situativen Rahmen für das Auftreten der Erscheinungen im Text bildet ein Raum, in dem Vergangenes (theologisch-philosophische Erkenntnisse), Gegenwärtiges und Zukünftiges (Transzendenz) ineinander fließen. Aus diesem blending-Prozess heraus wird eine Imagination ‘neuer’ Bilder auch beim Rezipienten ermöglicht, der den Wahrnehmungsraum der im Text konstruierten Wirklichkeit durch die narrativ erfahrene Lektüre mit deren Akteuren teilt. Somit fungieren diese Erscheinungen zum einen als Brennpunkte zwischen den Figuren und ihren diegetischen Handlungen. Zum anderen kommt ihnen die Wirkung eines Zeichens zu, das auf eine den mittelalterlichen kulturanthropologischen Ansichten und Erkenntnissen gemäße gottzentrierte eschatalogische Wirklichkeitswelt verweist. Die Vorstellung von einem Leben nach dem Tod und von biblisch belegten himmlischen Engeln als Gesandten Gottes korrespondiert mit dem auf religiöser Basis fundierten, christlich geprägten Weltbild und steht in Einklang mit dem Erwartungshorizont eines am christlichen Glauben und an den Geboten der Kirche orientierten zeitgenössischen Publikums. Indem diese Bilder nicht durch den subjektiven Ich-Erzähler, sondern über den allwissenden Erzähler (in E durch Dietrichs indirekte Traum-Wiedergabe in doppelter Vermittlung) beschrieben und vermittelt werden, ist hier ein Autor tätig, der diese mentalen Bilder mittels Sprache und über einen Iser’schen Akt des Fingierens in den Köpfen der Textfiguren und außerhalb der Textebene in den Köpfen seiner Rezipienten evoziert und auf diese Weise fiktive Wirklichkeitsmodelle inszeniert. • Beide Werke, Der Welt Lohn und Engelhard, repräsentieren eine Inszenierungsweise besonderer Art, da in ihnen mentale Bilder als wahrgenommene Objekte der Wirklichkeit inszeniert sind, die im rezeptiven Akt als literarisch konstruierte Wirklichkeit imaginiert werden können. Letztendlich richten sich die moraldidaktischen Appelle an den Leser, den Konrad von Beginn an durch zahlreiche deiktische Verweise in das Geschehen einbindet. Erst der fiktive Text transformiert die Erscheinungsbilder zu intensiven Bildern interner Imagination, die nicht nur Raum und Zeit ihrer literarischen Welten überschreiten und beeinflussen, sondern auch - nach der geäußerten Dichterintention in beiden Werken - auf die externe real existierende Wirklichkeit einzuwirken hoffen. 48 • In WL wird die allegorische Erscheinung der Frau Welt imaginativ nach der Lektüre von Minneaventiuren und evtl. gerade durch diese evoziert. Die durch Worte zum Leben erweckte sprechende Allegorie 49 der Frau Welt erscheint ihm, dem Dichter Wirnt, als ‘Wirklichkeit’ so real, dass er auf diese Erscheinung mit einer Änderung seiner Lebenseinstellung und -führung, einer conversio reagiert. Die wiederholte Imagination über die Wahrnehmung des Dichters Konrad verstärkt die Wahrhaftigkeit dieser imaginierten Fiktion. Diese doppelte Wahrnehmung der Frau Welt, einmal über die Berufung auf das Buch Wirnts als angegebene Quelle und zum anderen durch die narrative Wiedergabe Erscheinungen zwischen Imagination und Wirklichkeit 119 Konrads, konstruiert eine imaginierte dichterische Figur sprachlicher bzw. allegorischer Natur. Innerhalb der dichterischen Wirklichkeit existiert sie als wahrgenommene Erscheinung, die die conversio Wirnts und die Konrads - durch das Verfassen eines didaktisch appellativen Werks mit contemptus mundi-Thematik - bewirkt. Auf der Textebene wird infolge der allegorischen Konstruktion der eingangs konstruierte Wirklichkeitsrahmen gesprengt und das gesamte Arrangement mitsamt seinen Räumen (den Herzensräumen, Lebensräumen, familiären Räumen, sogar mit den poetologischen Räumen beider Dichter) in die eschatalogische Transzendenz ausgeweitet. • Wird in WL die imaginierte Wirklichkeit durch die allegorische Konstruktion aufgelöst, so wird im E die Botschaft des Traumengels infolge der ersten Wahrnehmung als Versuchung geleugnet, um erst nach der Wahrnehmung und Umsetzung durch Engelhard wirklichkeitskonstruierend zu wirken. Engelhard übernimmt somit die Funktion des Korrektivs. Erst in dem Moment, in dem sich der Traum bewahrheitet und in die Wirklichkeitswelt übertragen wird, kann die Handlung fortgesetzt bzw. Dietrich geheilt und rehabilitiert werden. Engelhards selbstlose Freundestreue und sein unendliches Gottvertrauen werden symbolisch durch die hinterlassenen Spuren um den Hals der beiden Kinder verewigt. • Die in beiden Texten beschriebenen Erscheinungen stellen einen außergewöhnlichen Wahrnehmungsakt dar, in dem Zeichen, Imagination, Erinnerung, Empfindung und Erkenntnis miteinander verflochten sind. Von daher fungieren diese Erscheinungen als Zentren ihrer Textwelten, die diese auch verwandeln, indem sie auf die Figuren einwirken, gewisse Affekte auslösen und dadurch schließlich Wahrnehmungs- und Handlungsakte mobilisieren. • In WL erfolgt eine ausführliche Beschreibung der Frau Welt, da sie als Metapher für die Vergänglichkeit der Welt und des Lebensinhaltes des Ritters steht. Die von Walther von der Vogelweide und Konrad in die Literatur eingeführte Erscheinung der Frau Welt muss gezeigt werden, da das Zeigen bzw. das Wendebild ihr Signum ist: vorne schön, hinten hässlich. Wogegen die äußere Erscheinung des Engels in E kaum näher beschrieben wird, da er nicht die Botschaft ist, sondern lediglich als deren göttliches Medium fungiert. Anstelle einer descriptio des Engels wird die wahrnehmende Person, ebenso wie der locus amoenus, in dem der Traum erscheint, beschrieben. Als äußere und innere Räume der Perzeption werden beide Räume, die paradiesische Insel als Lokalität des Traumes und Dietrich als medialer Körperraum mentaler Wahrnehmung, in deutlichen Gegensatz zueinander gestellt, so dass das Spannungsverhältnis zwischen höfischer Umgebung und erschreckender Erkenntnis bzw. schrecklicher Heil-Bedingung sichtbar wird. • Steht in WL die Entblößung der Welt und ihre Verachtung im Sinne von contemptus mundi im Mittelpunkt, die mit Hilfe eines allegorischen Bildes vollzogen wird, so geht es im E weniger um das äußere Erscheinungsbild des Engels, als um dessen Rede. Der performative Sprechakt und die direkte Mitteilung der Botschaft bilden den Kern der Engelserscheinung, sowohl im Traum als auch in der Traum-Erzählung. Nicht der optische, sondern der akustische Sinnesreiz wird hier stimuliert. • Die in WL und im E literarisch imaginierten Bilder evozieren im Akt des Lesens Wirklichkeitsbilder. Diese Fähigkeit zur Erzeugung von Bildern erfolgt als Imagination durch Dina Aboul Fotouh Salama 120 50 Daniel Jacob (2011 mündliche Mitteilung). das Aufrufen von Gedächtnisbildern, der memoria. Erst die individuelle Verknüpfung, ein blending im Sinne Fauconniers (1997) und Turners (1996), ein semiotisches crossover 50 zwischen Erinnerungsbildern, religiösen Wahrheiten, Bibelwissen, Weltbildern und Wertvorstellungen, habitualisierten Verhaltensstrukturen, Erkenntnissen, individuellen Erfahrungen usw. mit neuen Wahrnehmungsbildern bringt neue Wirklichkeitsbilder hervor. • Die Erscheinungen fungieren nicht nur als Verknüpfungspunkte zwischen den wahrnehmenden Figuren und den einzelnen Textteilen, sondern stellen im Rezeptionsakt in ihrer semiotischen Eigenart als Zeichenträger (aliquid stat pro aliquo) eine Referenz auf die außerhalb des Textes liegenden Erkenntnisse her, indem sie auf das zeitgenössische gottzentrierte christliche Weltbild im Sinne von Alanus ab Insulis (omnis mundi creatura quasi liber et pictura nobis est et speculum) verweisen, ihren eschatologischen transzendenten Rahmen als dichterisch erfahrbar imaginieren und mittels narrativer sprachlicher Konstruktionen zwischen Imagination und Wirklichkeit oszillieren. 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