eJournals Kodikas/Code 37/1-2

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
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2014
371-2

Schwirrende Fragen/Antworten

2014
Sven Schmalfuß
1 Im Folgenden werde ich nur die weibliche Form Spielerin verwenden, um eine leichtere Lesbarkeit zu garantieren. Dies schließt aber natürlich männliche Spieler genauso mit ein. 2 Ich verwende die Bezeichnung Digitalspiel für alle Computer- und Videospiele, da sich im wissenschaftlichen Diskurs hierfür noch keine eindeutige Bezeichnung entwickelt hat, und die Klassifikationen Computerspiel bzw. Videospiel im allgemeineren Diskurs eine bestimmte Hardwareplattformbindung implizieren. Ich bin mir der Ambiguität des Begriffes digital in diesem Zusammenhang - da es sich sowohl um eine Bestimmung der Medienart als auch um eine Zustandsbeschreibung handeln kann - bewusst. Gerade aber der Aspekt der zwei Zustände - an und aus - des Digitalen scheint mir in der Beschreibung der narrativen Struktur der teilweise als Spiel-Filme zu betrachtenden Spiele Heavy Rain und Fahrenheit sehr passend. Schwirrende Fragen/ Antworten Subjekt-Wahrnehmung und Imagination in/ an den digitalen Spielen des Studios Quantic Dream Sven Schmalfuß (Regensburg) The following essay argues for the emergence of an intensification of the imaginary bond between a player and her/ his avatar in three games by the Parisian developer Quantic Dream (The Nomad Soul (1999), Fahrenheit (2005) and Heavy Rain (2010)). This heightened involvement can be acknowledged by means of a broadened definition of immersion, which not only encompasses a simple projection of the player on the avatar, but a complex system of imaginary relations. Examples for these relations can be found in the player’s interaction with the narrative in the respective game, in the ways in which the avatar is controlled, and in the interrelation between these two types of immersion. 1 Wessen Traum ist es? Now Kitty, let’s consider who it was that dreamed it all. This is a serious question, my dear, and you should not go on licking your paw like that - as if Dinah hadn’t washed you this morning! You see, Kitty, it must have been either me or the Red King. He was part of my dream, of course - but then I was part of his dream, too (Carroll 1998: 239f.)! Wie Alice nach ihrer Partie Traum-Schach stehen wir als Spielerin 1 eines digitalen Spiels 2 vor der Frage, wie groß unser Einfluss auf das Erlebte ist. Ist es unsere Geschichte, die wir uns selbst erspielt haben, oder doch nur einer der vielen Pfade durch das Spiel, den uns die Entwickler eröffnet haben? Kann man Handeln in einem Spiel nach diesen beiden Kategorien trennen? Sind wir hier wirklich mit einem Unterschied zwischen Freiheit, als Ausdruck von Selbst-Verwirklichung, und Restriktion, als Beschränkung derselben, konfrontiert? Und daraus abgeleitet, kann ich mich als Subjekt im Spiel imaginieren, und wenn ja, in welcher Form? K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 37 (2014) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Sven Schmalfuß 84 3 Wie viele andere Begriffe in der noch jungen Disziplin der Digitalspielstudien ist auch der Begriff der Immersion zwar ein häufig verwendeter, der aber trotzdem - oder gerade deshalb - noch stark umstritten ist. Siehe für einen kurzen, aber umfassenden Überblick hierzu Beil (2010: 53f.) und die entsprechenden Endnoten. Dasselbe gilt für ähnlich gelagerte Begriffe wie der von Huizinga (2004: 17; 18; 20; etc.) übernommene Zauberkreis oder magic circle oder das Konzept des Flow. 4 Der Totalitätsanspruch der Immersion, der von Murray und vielen anderen für ein “perfektes” virtuelles “Vergnügen” beansprucht wird, erscheint mir äußerst utopisch, aber vor allem auch ideologisch sehr unvorsichtig. Ich will im Folgenden anhand dreier digitaler Spiele (The Nomad Soul (1999), Fahrenheit (2005), Heavy Rain (2010)) des französischen Entwicklerstudios Quantic Dream zeigen, dass, obwohl die Spiele oberflächlich die Freiheit der Spielerin immer mehr einschränken, man doch von einer immer umfänglicheren imaginären Bindung zwischen der Spielerin und ihrem Avatar ausgehen kann. 2 Imagination und Mimikry Angelehnt an Mainuschs Definition des Begriffes Imagination (Mainusch 1976: 218) gehe ich von drei miteinander verschränkten Ebenen der Bedeutung aus. (1) Imagination als Einbildung, als das virtuelle Erleben einer ‘nicht realen’ Situation. (2) Imagination als Vorstellung und Vorstellungskraft, das heißt die Fähigkeit sich jemanden, etwas oder eine Situation geistig vergegenwärtigen zu können. Dies schließt auch ein Sich-in-Etwas-Hineindenken mit ein. (3) Imagination als Dichtungsvermögen, sprich als kreativer Akt bzw. Prozess. Diese drei Kategorien lassen sich auf die jeweilige Bedeutung der drei englischen Adjektive (1) imaginary, (2) imaginable und (3) imaginative herunterbrechen. Wie Stephan Humer darlegt, spielt die Imagination gerade im Kontakt mit digitalen Medien eine wichtige Rolle. Sie stellt “den ‘Missing Link’ zwischen der Digitalisierung (durch den Computer) und Analogisierung (in der Wahrnehmung des Menschen)” (Humer 2008: 65) dar. Alle drei Bedeutungsebenen der Imagination werden von der Benutzerin eines digitalen Spiels in variierender Häufigkeit - abhängig vom jeweiligen Spiel - verlangt. Sie kann ein Spiel nicht nur passiv konsumieren, sondern muss sich damit kreativ auseinandersetzen (3), muss sich Dinge, z.B. die Auswirkungen abstrakter Regeln, vorstellen können (2) und sich natürlich auf eine imaginäre Welt (1) einlassen. Nur so entsteht ein vorübergehender Zustand der Immersion. 3 Der Begriff der Immersion wurde von Janet Murray im Zusammenhang mit digitalen Spielen 1997 in ihrem Werk Hamlet on the Holodeck geprägt, dessen Titel auch ihre Vorstellung der Immersion recht treffend widerspiegelt. Immersion is a metaphorical term derived from the physical experience of being submerged in water. We seek the same feeling from a psychologically immersive experience that we do from a plunge in the ocean or swimming pool: the sensation of being surrounded by a completely other reality, as different as water from air, that takes over all of our attention, our whole perceptual apparatus. We enjoy the movement out of our familiar world, the feeling of alertness that comes from being in this new place, and the delight that comes from learning to move within it (Murray 1997: 98f.; Hervorh. im Original). Immersion beschreibt somit eine umfängliche Akzeptanz für ein Aufgehen in einer imaginären Situation. 4 Diese Situation ist aber nicht allein dem Simulationscharakter digitaler Spiele geschuldet. Schwirrende Fragen/ Antworten 85 5 Man denke hierbei z.B. an eine beliebige Sportart, deren imaginäre Welt nur darin besteht, dass man eine bestimmte räumliche Fläche nicht verlassen darf und bestimmte Dinge tun muss, um Punkte zu erzielen. Immersion als einheitliche, übergreifende Bezeichnung für narrative, spielerische und simulative Attraktionsmomente des Computerspiels soll somit gerade wegen der Überschneidungen, die dieser Begriff impliziert, beibehalten werden, da er die immanente Spannung der Hybridstruktur des Computerspiels veranschaulicht (Beil 2010: 53). Zwar sind die drei von Beil für das digitale Spiel als grundlegend herausgearbeiteten Ebenen des Narrativen, des Ludischen und der Simulation nicht deckungsgleich mit den drei Bedeutungssphären der Imagination, doch zeigen sich Parallelen. Die Narration kann ohne Einfallsreichtum und Vorstellungskraft nicht entstehen, ebenso meist nicht die spielerische Ebene. Erst das Vorgestellte macht die Simulation erfahrbar. Die Immersion als imaginäre Erfahrung dieser “Hybridstruktur” stellt einen der größten Reize digitaler Spiele dar. Das imaginäre Element ist somit eine der treibenden Kräfte des (digitalen) Spielens. Schon Roger Caillois legte, in seiner für die Spielwissenschaften grundlegenden Studie Les jeux et les hommes von 1958 (vgl. Caillois 2001), mit seiner Kategorie des Mimikry eine imaginäre Grundkomponente des Spielens an. All play presupposes the temporary acceptance, if not of an illusion (indeed this last word means nothing less than beginning a game: in-lusio), then at least of a closed, conventional, and, in certain respects, imaginary universe. Play can consist not only of deploying actions or submitting to one’s fate in an imaginary milieu, but of becoming an illusory character oneself, and of so behaving. One is thus confronted with a diverse series of manifestations, the common element of which is that the subject makes believe or makes others believe that he is someone other than himself. He forgets, disguises, or temporarily sheds his personality in order to feign another. I [sc. Caillois] prefer to designate these phenomena by the term mimicry, the English word for mimetism, notably of insects, so that the fundamental, elementary, and quasi-organic nature of the impulse that stimulates it can be stressed (Caillois 2001: 19f.; Hervorh. im Original). Spielerinnen nehmen also in einer bestimmten Spielsituation eine spezifische Rolle ein und verkörpern diese, von Spiel zu Spiel mehr oder weniger imaginär. Dabei muss die gespielte Rolle in die Rollenvorgaben des Spiels passen, um der Spielerin zu erlauben, am Spiel teilzunehmen. Sie muss sich auf die imaginäre Welt des Spiels einlassen, wie abstrakt diese auch sein mag. 5 So kann beim Fangen zwar eine Spielerin beschließen, dass sie nun “die Unsichtbare” ist und sich nicht verstecken muss. Wenn die anderen Mitspielerinnen dieser neuen Regel aber nicht zustimmen, ist sie aus dem Spiel ausgeschlossen (vgl. zur Spielverderberin: Huizinga 2004: 20). Mark Butler betont hierbei aber auch, dass zum “spielerischen Erleben der Mimicry [sic]” eine “gewisse Rollendistanz” (Butler 2007: 136) gehört. Wobei diese Distanz sich bereits im Mimikry in der Tierwelt und der Formulierung bei Caillois des Fingierens oder Vortäuschens (“to feign” in der obenstehenden englischen Übersetzung) einer anderen Persönlichkeit widerspiegelt. Würde das Mimikry zur völligen Annahme einer Rolle führen, würde die Spielerin sich selbst zum Doppelgänger des eigenen Spiel-Avatars machen. Sie würde zur realweltlichen Repräsentation einer fiktiven Figur werden. Sven Schmalfuß 86 6 Für eine allgemeine Definition des Avatars in Spielen siehe Klevjer (2006: 87). Ich teile im Übrigen nicht Klevjers (2006: 144-146) durch Beil (2010: 65) teilweise verteidigte Ansicht, dass graphisch zweidimensional dargestellte Spiele weniger immersiv wären, da angeblich eine geringere Bindung zwischen dem Avatar und der Spielerin bestehen würde. Dies scheint mir diese Bindung viel zu sehr an optisch-perspektivischen Elementen festzumachen. 7 Natürlich gibt es auch (digitale) Spiele, in denen Spielfiguren nicht unbedingt Avatare sind, in denen somit keine wirkliche Bindung zwischen der Spielerin und der Figur eintritt. Spielfiguren werden hierbei zu reinen Werkzeugen. Einige Strategiespiele mit ihren Massen von gleichförmigen Einheiten kommen hier etwa in den Sinn. 8 Benjamin Beil (2010: 37-42) weist hierbei auf einige durchaus begründete Kritikpunkte an der Genette’schen Terminologie hin. Wobei der Zustand der Fokalisation, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, im digitalen Spiel wohl treffender ist als im Film. Auch das zur Bezeichnung virtueller Vertreter übliche Wort Avatar 6 impliziert eine ungleiche Machtverteilung. Avatar leitet sich vom Sanskrit-Wort avatâra ab (vgl. Parrinder 1970: 19). “An avatâra is a descent, a ‘down-coming’ (from a verb trî, to cross over, attain, save, with the prefix ava, down; and so ava-trî, descend into, appear, become incarnate)” (ibid.; Hervorh. im Original; leichte typographische Vereinfachungen der latinisierten Sanskrit-Wörter v. mir, SvSc). Avatar beschreibt somit einen Container einer Gottheit, so z.B. Krishna als Vishnus Avatar (vgl. Parrinder 1970: 21). Ein höheres, mächtigeres Wesen setzt einen Teil seiner selbst in ein eingeschränkteres Wesen (vgl. Parrinder 1970: 127). Auch die Spielerin setzt sich teilweise als ihr Avatar, eine Spielfigur 7 in einer durch Spielregeln definierten Welt. Zwar mag mein Avatar Freiheiten besitzen, die in der ‘realen’ Welt unmöglich (z.B. fliegen zu können) oder jedenfalls stärker reglementiert und sanktioniert sind (z.B. Menschen zu töten), doch ist der Avatar viel rigideren Regeln unterworfen. Wenn ein Fenster in einer virtuellen Welt nicht als einschlagbar vorgesehen ist, hilft dem Avatar auch kein mächtiges Hilfsmittel. Der Avatar kann sich nicht aus diesem Regelsystem des Spiels befreien. The Nomad Soul geht von dieser Mechanik der partiellen Setzung der Spielerin in einem Avatar als dem zentralen Punkt seines Plots aus. Das Spiel stellt diesem Plot zufolge einen Dimensionsriss dar, der es den in Omikron hausenden Dämonen erlaubt, Seelen von Spielerinnen zu fangen. Bereits zu Beginn spricht Kay’l die Spielerin direkt mit der Bitte an, ihm nach Omikron zu folgen, um den dortigen Menschen zu helfen. Dazu solle die direkt angesprochene Spielerin ihre Seele in seinen Körper überführen. Im weiteren Verlauf der Handlung ist die Spielerin mehrmals gezwungen, den Körper eines anderen Bewohners Omikrons zu übernehmen. Erst nachdem sie in der Haut des legendären Kämpfers Kushulai’n den Anführer der Dämonen, Astroth, besiegt hat, kann sie wieder in ihre ‘wirkliche’ Dimension zurückkehren. Dies geschieht natürlich nur auf einer imaginären Ebene. Sollte einer der Avatare sterben, ohne dass man in einen neuen wechseln kann, wird man per Texttafel darüber informiert, dass die Seele der Spielerin nun auf ewig in der Hölle gefangen ist. Man lässt sich also bewusst auf ein Meta-Spiel ein. Der Avatar in so gut wie allen digitalen Spielen ist aber auch mehr als nur ein imaginäres Werkzeug der Spielerin im virtuellen Raum des Spiels. Er ist ihre Verlängerung in das Spiel. Er ist “gleichzeitig eine Prothese des Spielers und eine diegetische Figur” (Beil 2010: 52; Hervorh. im Original). Der Avatar - der, wenn kreatürlich, alle vorstellbaren Geschlechter haben/ annehmen kann, oder auch die Möglichkeit besitzt, ein Ding (etwa ein Raumschiff) zu sein - ist Fokalfigur 8 des Spielgeschehens: durch ihn / mit ihm erleben wir die Ereignisse des Spiels. Schwirrende Fragen/ Antworten 87 9 Daher auch die englische Genre-Bezeichnung First Person Shooter. Der deutsche Begriff mutet hier schon fast psychoanalytisch an. 10 Die Verwendung des Begriffes Kamera in digitalen Spielen ist metaphorisch zu verstehen, da keine wirkliche Kamera involviert ist. Auch ist der Begriff in den Digitalspielstudien nicht unumstritten. Da es sich bei dieser Diskussion aber um eine Visualisierungsdebatte handelt, soll auch diese außen vor bleiben. Er ist meist aber auch, durch den Status als Werkzeug bedingt, die zentrale Figur, teilweise auch hier wieder die Fokalfigur, der Narration. Oft ist der Wissensvorsprung der Spielerin gegenüber dem Avatar höchstens minimal. Fahrenheit versucht diesen Wissensvorsprung für eine interessante Situation auszunutzen. Die Spielerin muss am Anfang mit ansehen, wie ihr Avatar Lucas Kane in Trance einen Mord begeht, und im Folgenden versuchen, diesen zu vertuschen. Ab der nächsten Szene spielt man aber auch die ermittelnden Kommissare Carla Valenti und Tyler Miles, so dass sich über das erste Drittel des Spiels ein interessantes Katz-und-Maus-Spiel der Spielerin mit sich selbst ergibt. Man kann selbst entscheiden, wie leicht oder schwer man sich die Ermittlungen machen will. Leider findet das Spiel für diese Situation keine ansprechende Lösung, sondern führt die Erzählstränge durch die äußerst unmotivierte Liebesbeziehung zwischen Lucas und Carla zusammen. Heavy Rain wiederum konstruiert diesen Wissensvorsprung in mehreren Szenen sogar anders herum. Wenn Madison Paige im Kapitel “Ann Sheppard” die Identität des Killers erfährt, flüstert Ann ihr diese Information, für die Spielerin unverständlich, ins Ohr. Die Spielerin kann nur an Madisons erschrockenem Gesicht ablesen, dass der Killer eine der Personen sein muss, von denen man es nicht erwartet hätte. Die Identität wird der Spielerin erst einige (die Anzahl ist abhängig vom eingeschlagenen Plotverlauf) Szenen später im Kapitel “Origami Killer” preisgegeben. Hier erfährt man nun auch, dass man eben diesen Killer durch das ganze Spiel selbst gespielt hat. Somit wird die Figur nicht zum unzuverlässigen Avatar, aber zum quasi-unzuverlässigen Erzähler der Geschichte. Auch die Spielmechanik und die Anordnung der Kapitel unterstützen diese unzuverlässige Erzählperspektive, da der spielbare Avatar in diesen Mordszenen (z.B. im Kapitel “Manfred”) in wichtigen Momenten wechselt und so der Killer, nun durch das Programm gesteuert, seinem mörderischen Handwerk nachgehen kann, ohne dass es die Spielerin bemerkt. Verbunden mit dieser Fokussierung des Plots ist meist auch eine visuelle Zentrierung auf/ durch den Avatar. Am offensichtlichsten ist dies bei Spielen aus der Ich-Perspektive wie etwa Ego-Shootern. 9 Da diese Perspektive aber nur in bestimmten Sequenzen in The Nomad Soul, dem Quantic Dream-Spiel mit der durch die Avatar-Sprung-Dynamik hervorgerufenen geringsten Bindung an einen virtuellen Stellvertreter, zu finden ist, soll hier nicht weiter darauf eingegangen werden. In den restlichen Sequenzen setzt das Spiel den jeweils aktiven Avatar durch eine Mischung aus festen Kamerawinkeln (vor allem in engen Räumlichkeiten) und eine Verfolgungskamera in Szene. 10 Fahrenheit und Heavy Rain setzen hierbei nun vollständig auf feste Kamerawinkel und -fahrten, um das Spielgeschehen darzustellen. Überhöht wird dies noch durch filmsprachliche Elemente wie etwa Splitscreens. Trotz allem bleibt der jeweils gespielte Avatar im Mittelpunkt, häufig unterstützt durch direkte Point-of- View-Einstellungen. In Heavy Rain wird eine Kamerafahrt durch das Polizeirevier im Kapitel “Welcome Norman” für einen relativ eleganten Übergang zwischen zwei Avataren genutzt. Die Perspektive wechselt in eine Überkopfansicht, und die virtuelle Kamera fährt langsam von Norman Jayden zu Ethan Mars. So überbrückt das Spiel einen Wechsel der Interaktion durch eine nicht-interaktive filmische Konvention, mit der die Spielerin höchstwahrscheinlich Sven Schmalfuß 88 11 Dies zeigt sich z.B. in der Trophy “Interactive Drama”, die man für das erste Starten von Heavy Rain erhält. Trophies sind - für Sony-Konsolen vergleichbar mit Achievements auf der Xbox 360, dem PC oder iOS-Geräten - Meta-Belohnungen, die Spielerinnen für das Erreichen bestimmter Spielziele verliehen bekommen und die aus allen Spielen zusammengeführt werden. 12 Während der durch die allgemeine Verbreitung von CD-ROMs als Trägermedien geprägten Multimedia- Hochzeit für digitale Spiele zur Mitte der 1990er Jahre wurden viele Spiele durch Filmsequenzen mit echten Schauspieler/ innen angereichert. Diese Spiele konnten zwar aus den unterschiedlichsten Genres stammen, wurden aber oft unter dem Begriff interaktiver Film zusammengefasst. Lessard sieht alle diese Spiele als interactive movies an (2009: 196). Ich möchte hier das Genre wesentlich enger definieren, auch wenn ich sogenannte On-Rails-Shooter ebenfalls diesem Genre zurechnen würde, obwohl dies, gerade aufgrund ihrer Verwandtschaft zu den Shoot’em Ups, diskutabel ist. vertraut ist. In sehr vielen speziellen Szenen erhöhen sowohl Fahrenheit als auch Heavy Rain diese Nähe zum Film noch so weit, dass sie zu interaktiven Filmen werden. 3 Interaktives Drama Interactive Drama ist der Begriff, den die Verantwortlichen von Quantic Dream selbst benutzen, um ihre Spiele, genauer gesagt ihr zuletzt erschienenes Spiel Heavy Rain, zu charakterisieren. 11 Man versucht sich hierbei wohl vom Genre des interaktiven Films abzusetzen, dem beide Spiele aber zu weiten Teilen angehören. Seit dem ersten bedeutenden Werk, dem LaserDisk-Automaten Dragon’s Lair (1983), scheint sich am grundlegenden Prinzip des interaktiven Films wenig geändert zu haben. 12 Ein selbstlaufendes Video wird an bestimmten Stellen durch Aufforderungen zur Befehlseingabe an die Spielerin unterbrochen, denen sie in einem kurzen Zeitfenster nachzukommen hat, was den weiteren Verlauf des Films beeinflusst. Als Beispiele wären hierbei etwa Richtungseingaben wie in Dragon’s Lair, um Fallen aus dem Weg zu gehen, oder das Abschießen von Feinden in Light-Gun-Shootern wie etwa The House of the Dead 2 (1998) zu nennen. Die meisten Spiele setzen diese Befehlseingabemomente mit einer Gabelung im Filmablauf gleich. Wenn nun die Spielerin eine Eingabe nicht rechtzeitig und korrekt vollziehen kann, läuft der Film anders (meist als Sackgasse, sprich zum Tod der Spielfigur führend) ab, als wenn sie diese Aufgabe meistert. Zwar bezeichnen sich gegenwärtig eher wenige Spiele als interaktive Filme, doch hat dieses Konzept in Form interaktiver Cutscenes - seit Shenmue (1999) Quicktime Events (QTEs) genannt - bis heute in vielen Spielen, unabhängig vom Genre, überlebt. Fahrenheit und Heavy Rain sind hierbei zu weiten Teilen keine Ausnahme. Beide Spiele entziehen der Spielerin zu gewissen Zeitpunkten die direkte Steuerung über die Spielfigur und ein vordefinierter Film in Spielgrafik beginnt, auf dessen Verlauf die Spielerin durch Reaktionstests Einfluss nimmt. Hierbei lässt sich aber durchaus eine Entwicklung zwischen den beiden Spielen feststellen, die den Umfang der Immersion erhöht. In Fahrenheit fällt die Trennung zwischen den Sequenzen, in denen die Spielerin den Avatar direkt steuert, und den interaktiven Filmsequenzen sehr deutlich aus. Den Beginn markiert eine Einengung des Bildbereiches durch schwarze Streifen oben und unten (letterboxing), die die nachfolgenden Szenen in einen quasi-cineastischen Kontext setzen sollen. Des Weiteren erscheinen dauerhaft zwei spieltechnisch relevante Anzeigen im oberen schwarzen Balken - die Lebensanzeige - und halbtransparent in der Mitte des Bildschirms vor der eigentlichen Filmszene - die Richtungsanzeiger, die aus zwei Kreisen bestehen, die jeweils in vier verschiedenfarbige Segmente unterteilt sind. Nach der Einblendung eines Schwirrende Fragen/ Antworten 89 13 Siehe hierzu auch die Ausführungen weiter unten zur Simulation bestimmter körperlicher Aktivitäten in Fahrenheit und Heavy Rain. 14 Dass sowohl die Farben und die Form der Richtungsmarker als auch das Spielprinzip des Nachdrückens an Ralph Baers elektrisches Spielzeug Simon erinnern, scheint mir weniger zufällig als eine Verneigung vor dem Wegbereiter der Bildschirmspiele zu sein. 15 Diese Komplexitätserhöhung mit zunehmendem Spielverlauf entspricht einer fast allgegenwärtigen Regel digitaler Spiele. imperativen Startbefehls - “Get ready! ” - wird die interaktive Filmszene spielbar. Hierbei muss die Spielerin sich verschieden lange Ketten von Richtungsbefehlen merken, dargestellt durch das Aufleuchten der entsprechenden farbigen Segmente der Richtungsanzeiger. Die Richtungsanzeiger entsprechen, in der Konsolenfassung des Spiels, jeweils dem linken oder dem rechten Analogstick auf dem Controller. Die Spielerin muss nun die memorierte Kette in derselben Reihenfolge mit den Sticks nachvollziehen. Eine interaktive Filmszene besteht meist aus mehreren dieser Eingabeketten. Dabei ist die Verbindung zwischen den Richtungseingaben und der im Hintergrund ablaufenden Szene meist nur sehr arbiträr, wenn überhaupt vorhanden. 13 Wird eine bestimmte Anzahl von falschen oder zu späten Eingaben in einer Kette überschritten, entzieht das Programm der Spielerin die Eingabemöglichkeit, zeigt die negativen Auswirkungen der nicht bestandenen Situation - was bei der Häufigkeit der Verwendung dieser Interaktionsform alles sein kann, von einem verpatzen Gitarrensolo bis zu einem Sturz in den Tod -, zieht ein Leben ab, und die Kette oder die Sequenz startet von vorne. Bei einer erfolgreichen Wiedergabe der Kette geht das Spiel zur nächsten über. Dies geschieht so lange, bis die Szene beendet ist. Der Vorteil dieser sehr minimalistischen Spielsituation 14 besteht darin, dass durch einfachste Bewegungen der beiden Daumen äußerst komplexe und verschiedenartige Handlungen nachgestellt werden können. Die Immersionsbrechung in diesen Szenen besteht weniger in der äußerst abstrakten Mittelbarkeit der Reaktionen auf Spielsituationen, als darin, dass diese zu weiten Teilen für die Spielende völlig aus dem narrativen Rahmen der Filmsequenz im Hintergrund losgelöst sind. Denn da diese Eingabemuster in ihrer Komplexität immer weiter zunehmen, 15 muss die Spielerin sich immer mehr auf die Richtungsanzeiger konzentrieren und nimmt somit den Handlungsverlauf in den entsprechenden Szenen immer weniger wahr. Heavy Rain führt die spielerische Ebene der Tastenkommandos und die Handlungsebene der interaktiven Filmsequenzen viel enger und erzielt somit eine viel größere Immersion. Dies ist nicht zuletzt der höheren Auflösung moderner Fernseher geschuldet, die ein Erkennen direkt in der Spielwelt platzierter Eingabebefehle meist ermöglicht. Die Unterscheidung zwischen Szenen, in denen die Spielerin den Avatar direkt steuern kann - nennen wir sie Adventure-Parts -, und Szenen, in denen sie nur partiell auf das Geschehen Einfluss nehmen kann, also interaktiven Filmszenen, ist in Heavy Rain wesentlich fließender als in Fahrenheit. Adventure-Parts können häufiger von kurzen oder längeren Quicktime-Event-Szenen unterbrochen werden. Da das Spiel sehr oft der Spielerin die Kontrolle über den jeweiligen Avatar entzieht - z.B. in den Expositionen der jeweiligen Kapitel, in denen die Figuren sich meist selbständig bewegen, oder wenn die Spielerin ein bestimmtes, vordefiniertes Ereignis, eine sogenannte Skriptsequenz, auslöst -, sind auch die Übergänge zwischen diesen beiden Kontrollsituationen des Avatars weniger klar durch visuelle Signale markiert. Meist zeigt eine kurze, nicht interaktive Filmsequenz, wie der Avatar selbständig handelt. Danach machen kontextualisierte Einblendungen deutlich, welches Controller-Kommando welche Reaktion in der Spielwelt auslöst. So erscheinen z.B. neben verschiedenen Feinden bei Shelbys Sven Schmalfuß 90 16 Auf den metaphorischen Einsatz bestimmter Eingabeaufforderungen wird noch zurückzukommen sein. Erstürmung des Kramer’schen Anwesens (vgl. Kapitel “Face to Face”) verschiedene Tastensymbole. Drückt die Spielerin die entsprechenden Tasten rechtzeitig, erschießt Shelby den entsprechenden Gegner. Das Spiel nutzt hierbei nicht nur die Richtungseingaben per Analogsticks wie in Fahrenheit, sondern alle Aktionstasten des Controllers mit Ausnahme des digitalen Steuerkreuzes. Somit gilt es zwar mehr Eingabeoptionen zu beherrschen, deren Bindung an die intradiegetische Welt erscheint aber viel nachvollziehbarer. 16 Auch lenken die Eingabeaufforderungen durch ihre Platzierung in der Spielwelt bereits die Wahrnehmung der Spielerin auf ihre metaphorische Bedeutung in der räumlichen Logik des Spieles. Der im Vergleich zu Fahrenheit noch einmal gesteigerte Anteil solcher Quicktime Events am Spiel lässt dieses aber noch stärker zu einem interaktiven Film werden. Daher rührt wohl auch die durch das Marketing des Spiels geprägte Bezeichnung als Interactive Drama. Wie sehr dieser Gameplay-Ansatz die Spielerschaft spaltet, lässt sich sehr gut an zwei Besprechungen des Spiels in der deutschen Fachpresse, der GamePro (Plass-Fleßenkämper 2010) und der GEE (Klatt 2010) nachverfolgen. Während Oliver Klatt sich vom Spiel zu einer Rezension im Stile klassischer Choose-Your-Own-Adventure-Bücher (vgl. Katz) mit ihren vielen, interaktiven Verzweigungen inspirieren ließ, und so die Leserin sich ihren eigenen Weg durch die Rezension erarbeiten muss, beschloss die GamePro, Heavy Rain nicht wie andere Spiele zu besprechen und mit einer, wie es in der deutschen Digitalspiele-Fachpresse zumeist üblich ist, prozentualen Spielspaßwertung zu versehen - ein Umstand, der in diesem Magazin bisher einmalig blieb. Begründet wird dies in einem Infokasten mit der Überschrift “Wenn Heavy Rain ein Spiel wäre”: Wir haben bei unserem Test von Heavy Rain absichtlich auf eine Wertung verzichtet. Warum? Weil wir entweder Heavy Rain selbst oder andere Referenztitel unfair behandelt hätten, denn nach spielerischen Kriterien zieht das Spiel von Quantic Dream gegenüber den aktuellen Mitstreitern eindeutig den Kürzeren. Und auch die Spiellänge spricht nicht für den virtuellen Krimi. Andererseits überzeugt er uns mit einer hervorragenden Geschichte und seinem innovativen Erzählstil, womit das Spiel stellenweise sogar Top-Titel wie Mass Effect 2 oder Dragon Age: Origins übertrifft. Heavy Rain entzieht sich also den normalen Kategorien unseres Wertungssystems (Plass-Fleßenkämper 2010: 43; Spieletitel wie im Original). Dass dies aber mehr über das enge Korsett des Wertungssystems der Zeitschrift als über den Spielcharakter von Heavy Rain aussagt, ist offensichtlich. Denn auch wenn Heavy Rain mehr interaktiver Film als z.B. Fahrenheit ist (und selbst diese Aussage erscheint mir diskussionswürdig), ist es doch immer noch ein Spiel. Eines, das wesentlich immersiver ausfällt als sein Vorgänger im Geiste. Hierzu trägt auch bei, dass Spielerentscheidungen eine wesentlich größere Auswirkung auf den Plot des Spiels haben und so, wie in den im GEE-Review nachgebildeten Gamebooks, zu einem Labyrinth an Möglichkeiten anwachsen. 4 Der Garten der Pfade, die sich verzweigen Im Unterschied zu Newton und Schopenhauer hat Ihr Ahne nicht an eine gleichförmige, absolute Zeit geglaubt. Er glaubte an unendliche Zeitreihen, an ein wachsendes, schwindelerregendes Netz auseinander- und zueinanderstrebender und paralleler Zeiten. Dieses Webmuster aus Zeiten, die sich einander nähern, sich verzweigen, sich scheiden oder einander jahrhundertelang ignorieren, umfaßt alle Möglichkeiten. In der Mehrzahl dieser Zeiten existie- Schwirrende Fragen/ Antworten 91 17 Hier sei mir eine kurze persönliche Anekdote erlaubt. Mein erster Durchgang führte dazu, dass alle Hauptcharaktere außer dem Killer starben, und der Killer ungestraft entkommen konnte. Dies war auch damit verbunden, dass ich Heavy Rain ähnlich spielte wie meine Charaktere in Pen&Paper-Rollenspielen. Immer war ich auf eine argumentative Lösung einer brenzligen Situation bedacht, aber bei den unvermeidlichen Kämpfen verließ mich meine Hand-Augen-Koordination, sodass sowohl Madison Paige als auch Norman Jayden unrühmlich aufgrund eines einzelnen falschen Knopfdrucks starben. Dies führte zu einer sehr persönlichen, um nicht zu sagen immersiven, Wahrnehmung des Spiels und seiner Geschichte. Da sich die einzelnen Handlungsverläufe einer Spielerin recht gut aus der jeweiligen Trophyliste (siehe Fußnote 11) ablesen lassen, war zu erkennen, wo meine Bekannten völlig andere und wo sie ähnliche Erfahrungen gemacht hatten. 18 Vgl. außerdem zu Nonlinearität, Multilinearität und Interaktivität Aarseth (1997: 41-51). Aarseths Punkte sind erhellend zur Struktur des Spiel-Labyrinths, diese Definitionsfragen beeinflussen aber die Immersion wenig. ren wir nicht; in einigen existieren Sie, nicht jedoch ich; in anderen ich, aber nicht Sie; in wieder anderen wir beide (Borges 2004: 88). Wenn auch weniger komplex und ambitioniert als Ts’ui Pêns Roman aus Jorge Luis Borges’ Fiktion “Der Garten der Pfade, die sich verzweigen”, teilt Heavy Rain doch dessen grobes Organisationsprinzip. Im Spiel findet sich für jeden möglichen Ausgang einer Szene ein Anschluss, so dass es nicht zu den oben für The Nomad Soul und Fahrenheit beschriebenen Sackgassen durch Arrest oder Tod des Avatars kommen kann. Wird ein Charakter durch eben jene Ereignisse vom weiteren Handlungsverlauf ausgeschlossen, blendet das Spiel dessen weitere Szenen aus. So kann das Spiel sowohl beendet werden, wenn fast alle Charaktere im Vorhinein gestorben sind, als auch dann, wenn alle Hauptfiguren überleben. Dies führt zu einem deutlich anderen Spielverlauf je nachdem, wer spielt. Jede Spielerin erlebt ihren ‘eigenen’ Handlungsbogen. 17 Hieraus resultiert ein deutlich individuelleres Spielerlebnis als bei anderen Spielen, was wiederum den immersiven Effekt erhöht: Ich erlebe meine eigene Geschichte. Somit spiegelt sich in dieser labyrinthischen Konstruktion des Spiels auch eines der Hauptmotive seiner Handlung wider: die Suche. Ethan Mars sucht Vergebung für seine Schuld am Tod Jasons, aber er sucht auch nach seinem anderen Sohn Shaun. Madison Paige und Norman Jayden sind auf der Jagd nach dem Killer. Der Killer wiederum versucht einen Vater zu finden, der sich für seinen Sohn aufopfert. Die Spielerin ist auf der Suche nach ihrer eigenen Geschichte. Dabei gerät die Auflösung gegenüber dem Weg ins Hintertreffen der Aufmerksamkeit. In einem Labyrinth besteht die Freude und Spannung eher in der Frage: “Wie erreiche ich den Ausgang? ” als in der Frage: “Was verbirgt sich am Ausgang? ”. Dies wäre ein Argument, um Heavy Rain als einen Irrgarten im Sinne Umberto Ecos zu beschreiben (vgl. Eco 1985: 125f.). “Ein Irrgarten benötigt keinen Minotaurus: er ist sein eigener Minotaurus; mit anderen Worten: der Versuch des Besuchers, den Weg zu finden, ist der Minotaurus” (ibid.; Hervorh. im Original). Andererseits spricht Eco dem Irrgarten aber auch nur genau einen Ausweg zu (Eco 1985: 125), wohingegen das Spiel durchaus eine größere Anzahl von möglichen Enden besitzt. Fahrenheit wäre somit ein besseres Beispiel für den Irrgarten. Heavy Rain besitzt durch die gewissermaßen modulare Struktur seiner Erzählstränge, die sich an bestimmten Punkten kreuzen, die aber auch umgeleitet oder beendet werden können, durchaus auch Elemente dessen, was Eco, mit Bezug auf Deleuze und Guattari, als rhizomatisches Labyrinth beschreibt (vgl. Eco 1985: 126f.), “[…] auch wenn [sc. digitale Spiele] die für ein Rhizom zu fordernde Offenheit des konnektiven Potentials kaum je erreichen” (Degler 2004: 67). 18 Sven Schmalfuß 92 19 Diese Aussage ist aber aus der heutigen Perspektive getroffen, da die offene, freibegehbare, dreidimensional dargestellte Welt 1999 durchaus etwas Neues war. Immerhin erschien das Spiel zwei Jahre vor Grand Theft Auto 3 (2001). 20 Andere Spiele mit einem etwas freieren Ansatz des Avatarwechsels wären etwa Messiah (2000), Geist (2005) oder The 3 rd Birthday (2011). Quantic Dreams neuestes Spiel Beyond: Two Souls (2013) ermöglicht der Spielerin mit dem geisterhaften Wesen Aiden verschiedene Charaktere für eine bestimmte Zeit zu übernehmen. Die offene Spielwelt (im Spieler-Jargon Open-World- oder Sandbox-Game genannt) und der (mehr oder weniger) freie Wechsel der Avatare in The Nomad Soul scheint auf den ersten Blick noch rhizomartiger als das Netz aus verschiedenen Szenen in Heavy Rain. Man erkennt als Spielerin aber bald, dass trotz der Bewegungsfreiheit die Handlung des Spiels (und damit auch das Öffnen weiterer Areale) an bestimmte Punkte/ Orte/ Personen gebunden ist. Auch sind die spielerischen Freiheiten zwischen diesen Punkten, vom heutigen Standpunkt aus gesehen, doch recht eingeschränkt. Mehr als das Besuchen einiger Lokale und Läden ist nicht wirklich möglich, und Nebenaufgaben finden sich, abgesehen von den Untergrund-Kämpfen in Qalisar, wenige. 19 Somit ist das Spiel eigentlich viel linearer und gibt der Spielerin deutlich weniger Möglichkeiten, auf die Spielerfahrung Einfluss zu nehmen, als Heavy Rain. Einzig im Wechseln der Avatare findet sich eine durchaus interessante, labyrinthische Komponente. Da aber das Wechseln der Spielfigur nicht jederzeit und auch nicht mit jedem Charakter möglich ist, zeigt sich bald, dass auch hier die Wahlmöglichkeiten eher beschränkt sind. 20 Sowohl Heavy Rain als auch The Nomad Soul spiegeln die Suche aber nicht nur in ihrer grundlegenden Struktur wider, sondern auch ganz offen in der Verwendung labyrinthischer Orte. The Nomad Soul schaltet beim Betreten bestimmter Areale in einen Ego-Shooter-Modus um. Die Perspektive wechselt in die subjektive Sicht des Avatars, und die Spielerin muss ein sehr verwinkeltes Gebiet erforschen, Aufgaben lösen und Gegner erschießen. Meist ist der erfolgreiche Abschluss dieser Abschnitte nötig, um die Haupthandlung voranzutreiben. Dabei können die Gebiete eher recht geradlinige Labyrinthe sein (vgl. Eco 1985: 125), wie etwa die Waffenfabrik in Junpar, oder sehr verwinkelt, mit verschiedenen Wegen zu einem einzigen Ziel, wie die Sektion “Roof Tops” im selben Stadtbezirk. Trotzdem gibt es für alle diese Labyrinthe nur eine Lösung - oder aber die Nicht-Lösung, zu scheitern und neu laden zu müssen. Das Labyrinth in Heavy Rain, das diesem am nächsten kommt, ist der “Butterfly Trial”, die zweite Aufgabe, die der Killer Ethan stellt. Um einen weiteren Hinweis zu bekommen, an welchem Ort Shaun gefangen ist, muss Ethan in einem Umschaltwerk zwei Labyrinthe durchqueren. Das erste besteht aus einem engen Tunnel, dessen Boden mit Glasscherben übersät ist, durch den er kriechen muss. Danach folgt ein Labyrinth aus elektrischen Drähten. In beiden muss die Spielerin möglichst langsame und konzentrierte Eingaben tätigen, um eine Verletzung Ethans zu vermeiden. Wie weiter unten noch zu sehen sein wird, ist dies nicht der einzige Moment, in dem Heavy Rain bestimmte körperliche und geistige Anstrengungen des Avatars in Controller-Eingaben übersetzt. Steigen Ethans Schmerzen zu stark an, bricht er die Herausforderung ab und kann diesen Teil der Informationen über den Aufenthaltsort seines Sohnes nicht erhalten. Diese Szene stellt aber eine für digitale Spiele konventionelle Aufgabe dar. Selbst die Hilfsmittel, wie etwa das Streichholz zum Kenntlichmachen des Lufthauchs, folgen sehr deutlich einer typischen Digitalspiel-Systematik. Zwei eher untypische Labyrinthszenen, die auch einen viel stärkeren Einfluss auf die Bindung an den Avatar Ethan Mars bewirken, finden sich im Kapitel “The Mall” und der Wahn-Sequenz im Kapitel “Lexington Station”. “Lexington Station” ist dabei als eine Quasi- Schwirrende Fragen/ Antworten 93 Spiegelszene zu “The Mall” angelegt. In beiden Abschnitten versucht Ethan seinen Sohn Jason, der durch einen roten Luftballon gekennzeichnet ist, durch eine dichte Menschenmenge hindurch zu erreichen. In beiden Szenen ist dies unmöglich. “The Mall” erscheint dabei wie eine spieltechnische Umsetzung der Verlustängste, die sich dann einstellen, wenn man ein Kind in einer weitläufigen Umgebung aus den Augen verliert. Ethan muss sich durch eine absurd dichte Menge von Menschen, die stoisch nur einem Ziel zu folgen scheint, hindurch arbeiten. Die Menschen lassen sich dabei auch nicht von seinen Rufen nach seinem Sohn irritieren. Dabei erscheint der rote Luftballon immer gerade außerhalb des Bereichs des direkten Zugriffs, gleichgültig was die Spielerin tut. Auch gibt es für diese Szene nur ein Ende, nämlich Jasons Tod vor dem Auto, in das er läuft. Der emotionale Effekt dieser Sequenz wird noch dadurch erhöht, dass die Spielerin bereits im vorherigen “Prologue” eine Bindung zu Ethans Söhnen aufbauen konnte. Das Spiel versteckt eine Einführung in die Spielmechaniken äußerst geschickt in einer Szene, in der Ethan mit seinen beiden Söhnen im Garten herumtollt. Die Spielerin lebt sich quasi in die Vaterrolle ein, nur um im nächsten Kapitel bereits einen der Söhne entrissen zu bekommen. Nach diesen Ereignissen leidet Ethan Mars unter einer panischen Angst vor größeren Menschenmassen. Als der Killer ihn in der Lexington Station ein Paket aus einem Schließfach holen lässt, wird Ethan von einem besonders schweren Anfall übermannt. In einer Wahnvorstellung sieht er alle Menschen um sich herum mitten in der Bewegung angehalten. Wenn er eine der anderen Personen berührt, fällt diese, mit einem Geräusch wie dem von kollabierenden Sandsäcken, in sich zusammen und bleibt auf dem Boden liegen. Auf einmal taucht Jason mit seinem roten Ballon wieder auf und läuft zwischen den Menschenmassen umher. Die Spielerin kann nun versuchen, dem Kind zu folgen und es zu erreichen. Dies wird aber nicht gelingen, da Jason sich, wenn man ihm zu nahe kommt, einfach in Luft auflöst und ein paar Meter weiter wieder erscheint. Nach einer gewissen Zeit bricht Ethan zusammen und kommt vor den Schließfächern wieder zu vollem Bewusstsein. Ethans Selbstvorwürfe für den Tod Jasons und, zu diesem Zeitpunkt im Spiel, auch für Shauns Verschwinden, werden hierbei in eine für die Spielerin ludisch erlebbare Sequenz übersetzt. Die Wände des Labyrinths sind kein wirkliches Hindernis mehr, aber dennoch ist das Ziel nicht erreichbar. Ethan mag seine Selbstzweifel in Angst projiziert haben, doch das Problem liegt nicht in den Menschenmassen, sondern in Ethan selbst; er muss sich selbst überwinden. Überdeutlich wird dies an der Plastik, die die Eingangshalle der Lexington Station dominiert: einem Engel, der einen Menschen in den Armen trägt. Durch diese beiden Szenen wird das Labyrinth zu einer ludischen Möglichkeit, Erfahrungen wie Verlustangst, Schuldgefühle und die Suche nach sich selbst erlebbar zu machen. Dem Avatar Ethan Mars wird ein intuitiv erfassbares, emotionales ‘Leben’ eingehaucht. 5 Kontrolle und das Uncanny Valley Wunderlich ist es doch, daß viele von uns über Olimpia ziemlich gleich urteilen. Sie ist uns - nimm es nicht übel, Bruder! - auf seltsame Weise starr und seelenlos erschienen. Ihr Wuchs ist regelmäßig, so wie ihr Gesicht, das ist wahr! - Sie könnte für schön gelten, wenn ihr Blick nicht so ganz ohne Lebensstrahl, ich möchte sagen, ohne Sehkraft wäre. Ihr Schritt ist sonderbar abgemessen, jede Bewegung scheint durch den Gang eines aufgezogenen Räderwerks bedingt. Ihr Spiel, ihr Singen hat den unangenehm richtigen geistlosen Takt der singenden Maschine und ebenso ist ihr Tanz. Uns ist diese Olimpia ganz unheimlich geworden, wir mochten nichts mit ihr zu schaffen haben, es war uns als tue sie nur so wie ein lebendiges Wesen und doch habe es mit ihr eine eigene Bewandtnis (Hoffmann 1991: 32f.). Sven Schmalfuß 94 21 Die dürftige deutsche Synchronisation verstärkt diese Entfremdung noch einmal mehr. 22 Dass der technische Fortschritt aber auch das Uncanny Valley schmälern kann, zeigt sich in Quantic Dreams Technologiedemo “Kara” (PlayStationTrailers 2012) und noch stärker in Beyond: Two Souls, obwohl, oder gerade da, die Hauptfigur Jodie Holmes eine ‘naturgetreue’ digitale Abbildung der Schauspielerin Ellen Page ist. Inwiefern hierbei ein gewisser Gewöhnungseffekt als Digitalspielerin mitschwingt, bleibt diskutabel. Das Unbehagen, das Siegmund gegenüber seinem Freund Nathanael über den Automaten Olimpia in E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann äußert, beschreibt auch heute noch sehr treffend ein störendes Gefühl des Unwohlseins, das wir häufig bei Kontakt mit täuschend realistischen künstlichen Körpern empfinden. Dieser Effekt wird mit dem durch den japanischen Robotik- Forscher Masahiro Mori geprägten Ausdruck des Uncanny Valley beschrieben (vgl. Brenton et al. 2005: 1). As a machine acquires greater similarity to a human, it becomes more emotionally appealing to the observer. However, when it becomes disconcertingly close to human there is a very strong drop in believability and comfort, before finally achieving full humanity and eliciting positive reactions once more; this is the Uncanny Valley (ibid). Je akkurater ein menschliches Wesen künstlich imitiert wird, umso eher achten wir auf bestimmte Aspekte, die eine wie auch immer geartete Natürlichkeit stören könnten (vgl. Brenton et al. 2005: 3). Bei äußerst abstrakten Formen nehmen wir dieses Unwohlsein nicht wahr. So erkennen wir in den wenigen vibrierenden Linien eines Vib Ribbon (1999) bereits sehr schnell einen Hasen oder Frosch, der einen Weg mit Fallen entlang läuft bzw. hüpft. Die Welt wirkt in sich stimmig und wird durch die Abstraktion in keiner Weise gebrochen. Bereits in The Nomad Soul aber, mit seiner, aus heutiger Sicht, rudimentären 3D-Grafik kann es beispielsweise irritierend wirken, wenn Charaktere ‘sprechen’, obwohl sich ihr Mund nicht (mehr) bewegt. Auch passt oft der Klang der Stimme nicht zu den Bewegungen. 21 Am deutlichsten wird das Uncanny Valley aber in Heavy Rain. Durch ihre sehr feinen Gesichtstexturen und -animationen kann die Spiel-Engine durchaus einige Gefühlsausdrücke darstellen. 22 Oft passen diese aber nicht zu dem, was der Charakter gerade sagt. Am deutlichsten werden diese Ungereimtheiten, wenn man eine Person interviewt. Das Spiel erlaubt es dem Avatar der Spielerin, während dieser Gespräche herumzugehen, sich zu setzen oder sich an Gegenstände zu lehnen. Dies erhöht einerseits die Glaubwürdigkeit einer Konversation. Leider reagiert das Modell des Avatars aber nicht auf Stimmungsschwankungen im gesprochenen Text der Charaktere. So kann es passieren, dass eine Figur von der Spielerin gelenkt stoisch durch ein Zimmer läuft, während man in der Tonspur hört, wie der entsprechende Charakter einen anderen anschreit. Diese Inkonsistenz löst eine Immersion, wenigstens zeitweise, auf und führt zu einem Erkennen des technischen Charakters des Spiels. Die emotionale Bindung ist teilweise gestört, da der Avatar in diesem Moment wie eine Gliederpuppe wirkt, deren Stimme vom Band läuft. Am deutlichsten wird das Uncanny Valley aber in den Momenten, in denen eigentlich die engste emotionale Bindung zwischen Spielerin und Avatar bestehen sollte, in den Szenen, in denen Intimität oder Sexualität zwischen zwei Charakteren dargestellt wird. Gerade bei Kussszenen entsteht in allen drei Spielen der Eindruck von Köpfen zweier Holzpuppen, die gegeneinander verdreht werden. Anscheinend ist hier einer realistischeren Darstellung, mit den verschiedensten Muskeln, die bei einem Kuss involviert sind, noch eine technische Grenze gesetzt. Leider wird dies aber meist noch durch stark übertrieben schmatzende Kussgeräusche zu überspielen versucht, was den irritierenden Charakter der Szenen noch Schwirrende Fragen/ Antworten 95 23 Das Entkleiden selbst haben andere Spiele wie Project Rub (2005), wenn auch wesentlich abstrakter, bereits überzeugender umgesetzt. Die Spiele, die Geschlechtsverkehr spielbar einbinden, verfallen bei diesem Vorhaben meist in ‘pubertär’-alberne ‘rein-raus’-Schemata (vgl. z.B. God of War (2005). verstärkt. Sexszenen wirken, auch aufgrund der weniger expliziten Darstellung, geringfügig weniger puppenhaft. Da Sex, bis auf das Entkleiden in Heavy Rain, nicht interaktiv ist, kann die Spielerin hierauf keinen Einfluss nehmen; sie wird vom Akteur zum Voyeur degradiert. 23 An anderer Stelle können diese Spiele aber durch das mittelbare Umsetzen bestimmter Anforderungen an den Avatar in Controller-Kommando-Anforderungen an die Spielerin durchaus eine überzeugende Bindung zwischen der virtuellen Figur und dem ‘realen’ Menschen schaffen. Um mit Heinrich von Kleist zu sprechen, geht es darum den “Weg der Seele des Tänzers” (Kleist 2001: 340) zu finden. Wie in einem Marionettentheater sind wir als Spielerinnen sowohl die Zuschauer als auch der Maschinist, der die Puppenmechanik bedient. Wir sind nicht der einzige Maschinist, da hierbei sowohl die Entwickler des Spiels als auch dessen Code darauf Einfluss nehmen, wie wir den Avatar bewegen. Trotz allem spielen wir hierbei vor allem ein virtuelles Stück für uns selbst. Das heißt, wir erwarten von einem bestimmten Kommando eine bestimmte Bewegung. Dabei muss die Übersetzung nicht eins zu eins, sondern kann durchaus metaphorisch sein. Die Spielerin hat schnell verstanden, dass z.B. der Druck einer bestimmten Taste einen Sprung des Avatars auslöst. Oder wie es Herr C. in “Über das Marionettentheater” formuliert: “Jede Bewegung, sagte er, hätte einen Schwerpunkt; es wäre genug diesen, in dem Inneren der Figur, zu regieren; die Glieder, welche nichts als Pendel wären, folgten, ohne irgend ein Zutun, auf eine mechanische Weise von selbst” (Kleist 2001: 339). Es gilt also die Essenz einer Bewegungsdarstellung zu finden, das imaginäre Idealbild dieser Bewegung. Die Linie, die der Schwerpunkt zu beschreiben hat, wäre zwar sehr einfach, und, wie er glaube, in den meisten Fällen, gerad. In Fällen, wo sie krumm sei, scheine das Gesetz ihrer Krümmung wenigstens von der ersten oder höchstens zweiten Ordnung; und auch in diesem letzten Fall nur elliptisch, welche Form der Bewegung den Spitzen des menschlichen Körpers (wegen der Gelenke) überhaupt die natürliche sei, und also dem Maschinisten keine große Kunst koste, zu verzeichnen. Dagegen wäre diese Linie wieder, von einer anderen Seite, etwas sehr Geheimnisvolles. Denn sie wäre nichts anders, als der Weg der Seele des Tänzers; und er zweifle, daß sie anders gefunden werden könne, als dadurch, daß sich der Maschinist in den Schwerpunkt der Marionette versetzt, d.h. mit anderen Worten, tanzt (Kleist 2001: 240; Hervorh. im Original). Ein Spiel sollte somit möglichst einfach, aber doch glaubwürdig eine Bewegung in von der Spielerin geforderte Controller-Eingaben umsetzen, um eine möglichst hohe Immersion zu erreichen. Das Programm muss es der Spielerin erlauben, selbst zur Tänzerin im eigenen virtuellen Stück zu werden. Dies geschieht über eine metaphorische Belegung der Tasten und Sticks eines Controllers. “The controller and its resistances are those of the game and its objects, compared with the screen image they are commonly a miniaturized and condensed instantiation of the game program” (Kirkpatrick 2009: 134). Diese Metaphorisierung kann entweder durch das Erlernen bestimmter Controller-Belegungen geschehen (in etwa wie bei einem Musikinstrument, das wir erlernen (vgl. Kirkpatrick 2009)) oder über eine möglichst nachvollziehbare Verknüpfung zwischen dem Spiel und der Bewegung der Spielerin. Letzteres findet sich sehr umfänglich in Fahrenheit und Heavy Rain. Sven Schmalfuß 96 24 Seit dem Update auf die Move Edition Ende 2010 kann man nun in Heavy Rain auch Sonys Bewegungssteuerungssystem Move verwenden. Leider verliert die Steuerung damit paradoxerweise sehr viel von ihrem intuitiven Potential. 25 Dazu muss der Analogstick in die Richtung, in die die entsprechende Tür geöffnet wird, gedrückt werden und dann mit einem anschließenden Viertelkreis nach unten (i.e. zur Spielerin hin) aufgeschwungen werden. 26 Vgl. für eine ähnliche Mechanik den “Hug-Button” in A Boy and His Blob (2009). In Fahrenheit ist dies noch sehr eindimensional. Für den Avatar schwerer auszuführende Bewegungen werden durch kompliziertere Befehlseingabe-Ketten simuliert. Dies zeigt sich vor allem in den Kämpfen zum Ende des Spiels. Handlungen, die Ausdauer benötigen würden, erfordern ein andauerndes rhythmisches Drücken der beiden Schultertasten L1 und R1. Am auffälligsten ist dies in der Archiv-Szene, als Carla Valenti mit ihrer Platzangst zu kämpfen hat und die Spielerin Carlas Atemfrequenz über dieses abwechselnde Betätigen von L1 und R1 steuert, während sie nebenbei noch andere Objekte manipulieren muss. Da Heavy Rain alle Tasten und die Bewegungserfassung des Controllers nutzt, kann es verschiedene Handlungen auch auf unterschiedlichste Arten simulieren. 24 Schranktüren lassen sich z.B. immer durch eine Bewegung mit dem rechten Analogstick öffnen, die das Öffnen einer Tür miniaturisiert nachbildet. 25 Aufgaben, die Konzentration benötigen, erfordern meist das gleichzeitige Gedrückthalten verschiedenster Tasten. Je schwerer die Aufgabe, umso komplizierter das Drücken der Knöpfe. Ab und an müssen die Finger einer Hand fast schon ‘verknotet’ werden. Die schwerste Aufgabe, das Spielen des Klaviers in Normans Vision der Bar (Kapitel “Jayden Blues”), wird so schnell, dass es unmöglich ist, den Eingabebefehlen zu folgen. Dies kann als eine Parabel auf Normans Angst, auch in seinen Ermittlungen zu versagen, gesehen werden. Die Einblendung der Eingabeaufforderungen mitten in die Spielwelt hinein nutzt das Spiel auch, um bestimmte spontane Handlungen der Spielerin auszulösen. So kommt es im Kapitel “Nathaniel” zu einer Situation, in der sich Norman und der Verdächtige Nathaniel beide mit gezogenen Waffen gegenüber stehen. Das Spiel lässt nun wieder einige Eingabeaufforderungen um Normans Kopf kreisen, denen teilweise verbale Antwortmöglichkeiten zugeordnet sind. Am größten erscheint aber das Logo für die Taste R2. Drückt man diese wie ein Abzug geformte Taste, erschießt Norman den Angreifer. Hier versucht das Spiel quasi eine spontane, übereilte Handlung zu simulieren, indem es einfach die Anreize zum Betätigen dieser Taste erhöht, auch wenn die Folgen negativ sind. Die Spielerin erlebt somit eine ähnliche Übersichtseinschränkung wie der Avatar. Heavy Rain erhöht die Immersion weiter, indem es uns häufiger Eingabemöglichkeiten zur Verfügung stellt, die in der jeweiligen Situation zwar passend wären, rein spielregel-technisch aber überflüssig sind. 26 In Heavy Rain zeigt sich dies z.B. in den bereits beschriebenen Szenen “The Mall” und “Lexington Station”. Während Ethan versucht, Jason zu finden, kann er ständig auf Knopfdruck dessen Namen rufen. Dies hat keine Auswirkungen auf die Menschenmassen, fördert aber das Gefühl, hier wirklich nach einem kleinen Jungen zu suchen. Die Spielerin kann sich selbst besser in den suchenden Vater hineinimaginieren. 6 Der Traum der Spielerin Um zu meinem eingangs erwähnten Beispiel von Alices Traum zurückzukehren: Es verschiebt sich die Machtposition der Träumenden, i.e. der spielbestimmenden Person, zwischen The Nomad Soul, Fahrenheit und Heavy Rain immer mehr vom Red King, also den Entwick- Schwirrende Fragen/ Antworten 97 lern und damit den Spielregeln, hin zu Alice, also der Spielerin, obwohl rein formal das Spielprinzip immer einengender erscheinen mag. Vor allem die verschiedenen Plotstränge, die verschiedenen Spielerinnen andere Erfahrungen bieten, führen zu diesem Gefühl einer erhöhten Immersion auf einem narrativ-spieltechnischen Level. Dies geht mit einer, aufgrund der komplexen Beziehung zwischen virtuellen Aktionen und ‘realen’ Eingaben viel stärkeren, vor allem emotional-imaginären Bindung an die Avatare einher. In einer breiteren Definition von Immersion, die nicht von einer Ineinssetzung des Avatars mit der Spielerin ausgeht, sondern von einem komplexen Netz imaginärer Bindungen, kann man durchaus von einer Zunahme der Immersion von Spiel zu Spiel sprechen. Ludographie Quantic Dream 2000 [1999]: The Nomad Soul, Eidos Interactive (Dreamcast Version) Quantic Dream 2005: Fahrenheit, Atari (PlayStation 2 Version) Quantic Dream 2010: Heavy Rain, Sony Computer Entertainment Europe (PlayStation 3) Quantic Dream 2010: Heavy Rain Chronicles. #1. The Taxidermist, Sony Computer Entertainment Europe (Play- Station 3, PlayStation Network) Quantic Dream 2013: Beyond: Two Souls. 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