eJournals Kodikas/Code 37/1-2

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
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2014
371-2

Bildlichkeit und Wissen

2014
Markus Firchow
1 Die gesamte Passage lautet: “Du siehst, lieber Reinhold, daß ich noch immer derselbe bin, durchaus ein Heide mit dem Verstande, mit dem ganzen Gemüthe ein Christ, schwimme ich zwischen zwei Wassern, die sich mir nicht vereinigen wollen so, daß sie gemeinschaftlich mich trügen; sondern wie das eine mich unaufhörlich hebt, so versenkt zugleich auch unaufhörlich mich das andere” (Jacobi 1817: 393). Schleiermacher greift die Metaphern der zwei Wasser und des Versenktwerdens auf (s. Fn. 3). 2 Tillich versteht die Grenze allerdings dialektischer, als es die Metapher selbst anmuten lässt: “Das ist das Dialektische der Existenz, daß jede ihrer Möglichkeiten durch sich selbst zu ihrer Grenze und über die Grenze hinaus zu ihrem Begrenzenden treibt” (Tillich 1962: 57). Bildlichkeit und Wissen Zur Funktion der Oszillation in Schleiermachers Dialektik Markus Firchow (Hamburg) Friedrich Schleiermacher (1768-1834) points to the concept of oscillation as a basic principle for the generation of knowledge, which is constituted by an interrelation of sensation and reason, as well as the individual image in perception and the general term in thinking. Within the knowledge process, the sensory image represents an individual factor, which is not resolvable in the field of general validity. The oscillation between image and concept generates a contingency within the notion of knowledge stemming from the individual and sensory subject and its particular place in the world. Considered in this way, the image - a metaphor for instance - represents a peculiar point of inconsistency in conceptual discourses. Die “Oszillation ist ja die allgemeine Form alles endlichen Daseins” (Schleiermacher 1818: 209), schreibt Friedrich Schleiermacher in einem Brief an Friedrich Heinrich Jacobi hinsichtlich des Verhältnisses von Glauben und Wissen, dem er in seiner Doppelrolle als Theologe und Philosoph gleichermaßen gerecht zu werden versuchte. Konnte etwa Jacobi sich nur dann ungestört dem Philosophieren hingeben, wenn er “ein Heide mit dem Verstande” und “mit dem ganzen Gemüthe ein Christ” 1 (Jacobi 1817: 393) sei, so versucht Schleiermacher eine wechselseitige produktive Bestimmung beider Welten, die sich zwar unterscheiden, aber eben auch durchdringen. Wird in ähnlicher Weise Paul Tillich die eigene Existenz ‘auf der Grenze’ beschreiben (cf. Tillich 1962), so wählt Schleiermacher mit der Oszillation eine Metapher, die das Wechselverhältnis zweier aufeinander bezogener Pole zum Ausdruck bringt. Während die Grenze eine statische Differenz zweier Gebiete markiert - sodass der Grenzgänger zwar jederzeit das Terrain wechseln, sich aber eben auch nur jeweils auf einer Seite aufhalten kann -, 2 ermöglicht die Bewegungsmetaphorik eine eigentümliche Dynamik beider Seiten, die jedoch für das Subjekt Standschwierigkeiten mit sich bringt - wie es in der weiteren Bestimmung der genannten Oszillation bei Schleiermacher zum Ausdruck kommt: K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 37 (2014) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Markus Firchow 22 3 Die Rede von den zwei Wassern gewinnt erst durch das Gegenlesen der entsprechenden Passage des Briefes von Jacobi an Reinhold, der Schleiermacher in Kopie vorlag, ihren Sinn (s. Fn. 1). 4 “Der metaphorische Gebrauch von polarer Oszillation durchzieht fast das Ganze von Schleiermachers Schriften” (Clayton 1985: 905). 5 Es sei hier darauf verwiesen, dass in der Jacobi-Ausgabe von Rudolf Zoeppritz an entsprechender Stelle nicht vom Schwanken und Schweben, sondern zweimal vom Schweben die Rede ist (cf. Zoeppritz 1869: 142). Ob es sich um einen Druckfehler dieser Ausgabe oder um eine andere Brieffassung handelt, ist im Rahmen der Edition nicht nachvollziehbar. Erstaunlicherweise bezeugt der Quellenband Religionsphilosophie und spekulative Theologie an dieser Stelle eine weitere Variante: zweimal Schwanken (cf. Jaeschke 1994: 396). Martin Cordes, aus dessen Brief-Abdruck ich zitiere, verweist in seinem entsprechenden Aufsatz auf eine komplizierte Veröffentlichungsgeschichte dieses Briefes (cf. Cordes 1971). Eine textkritische Bearbeitung der o.g. Stelle ist im Rahmen dieser kurzen Abhandlung nicht möglich. Dies ist meine Art von Gleichgewicht in den beiden Wassern; sie ist freilich auch nichts anderes als ein Wechselweise von dem einen gehoben und von dem anderen versenkt werden […] und es giebt doch ein unmittelbares Bewußtsein, daß es nur die beiden Brennpunkte meiner eigenen Ellipse sind, aus denen dieses Schwanken hervorgeht, und ich habe in diesem Schweben die ganze Fülle meines irdischen Lebens (Schleiermacher 1818: 209). 3 Was Schleiermacher hier als Selbstbeschreibung anführt, ist zugleich Ausdruck der Grundstruktur seines Denkens, das von relativen Gegensätzen und ihrer wechselseitigen Verschränkung geprägt ist. 4 In seiner Dialektik wendet er die Figur der Oszillation auf das Verhältnis von Sinnlichkeit und Verstand bzw. Organisation und Intellekt sowie Bild und Begriff an, um die Genese von Denken und Wissen aufzuzeigen. Von Interesse ist dabei die Rolle der Bildlichkeit. Es wird sich zeigen, dass das Bild eine genuine Widerständigkeit im Wissen repräsentiert, die dessen Unvollkommenheit gleichsam selbst präsent hält. Damit ist vor dem Hintergrund der Imagination jenes Verhältnis von individuell-sinnlicher Wahrnehmung und allgemein-sprachlicher Diskursivität im Blick, das die Fragestellung des vorliegenden Bandes leitet. 1 Oszillation und Wirklichkeit 1.1 Oszillation als kultursemiotische Kategorie Oszillationen sind Formen in Bewegung. Sie markieren eine Stabilität in der Flüchtigkeit von Ereignissen. Sie konstituieren bestimmte Unbestimmtheiten, die sich in mehrfacher Hinsicht verketten und dadurch rekursiv Halt gewinnen (Rustemeyer 2006: 11). Die Leistungsfähigkeit der physikalischen Metapher der Oszillation für epistemische Sachverhalte ist in ihrer Funktionalität begründet. Sie generiert eine gleichsam kontingente wie stabile Relation, deren je für sich unbestimmte Relate erst in der Wechselbeziehung zueinander Bestimmtheit erlangen. In seiner umfangreichen Studie Oszillationen diskutiert Dirk Rustemeyer diese Metapher unter ‘kultursemiotischen Perspektiven’. Zwar diskutiert er andernorts Schleiermachers Denkansatz vor dem Hintergrund von dessen Hermeneutik und Dialektik (cf. Rustemeyer 2001: 24f.), rekurriert im Blick auf die Metapher der Oszillation jedoch nicht auf diesen. Insofern dienen Rustemeyers Beobachtungen an dieser Stelle als Rekurs auf die Metapher selbst - die bei Schleiermacher selbst fehlt. Die Paradoxie der von Rustemeyer genannten ‘bestimmten Unbestimmtheit’ findet sich bei Schleiermacher etwa im Gebrauch der Metaphern des Schwankens und Schwebens. 5 Bildlichkeit und Wissen 23 6 So auch Rustemeyer im Blick auf Schleiermacher: “Hermeneutik etabliert sich als Methode für die unendliche Aufgabe, die Differenz des Sinns zur Identität zu bringen. Darin trifft sie sich mit der Dialektik, die das zerfallene Denken zur Einheit des Wissens befördert. Beide verlassen sich auf eine Gemeinsamkeit des Sinns, die durch die Komplementarität von Begriffen und Vorstellungen sowie durch die Struktur des Denkens als eines Prozessierens von Gegensätzen begründet ist. Die Einheit des Sinns basiert auf der Identität von Denken und Sein” (Rustemeyer 2001: 25). Während das Schwanken die Instabilität eines ‘Wanderns zwischen den Welten’ intendiert, verweist das Schweben hingegen auf eine Stabilität, die gerade ohne Bodenhaftung Ruhe und Bewegung in gleicher Weise zum Ausdruck bringt. Rustemeyers Rede von der Stabilität in der Flüchtigkeit und dem Halt in der Rekursivität bestimmt die Oszillation als eine Bewegung, die erst im Vollzug einer wechselseitigen Bezogenheit ihrer Pole Stabilität generiert. Es werden demnach nicht Entitäten vorausgesetzt, die dann sekundär in Beziehung gesetzt würden, sondern umgekehrt: Die Relation gibt Aufschluss über die Relate. Dieser Ansatz unterscheidet sich vom klassischen identitätslogischen Repräsentationsmodell, in dem Denken und Sein unter ontologischen Prämissen miteinander ins Verhältnis gesetzt werden. Eine “semiotische Reformulierung des Modells der Repräsentation” bedeutet in dieser Hinsicht: “[D]ie Figur der Identität wird durch diejenige der Oszillation abgelöst” (Rustemeyer 2006: 15; 12) - während hingegen bei Schleiermacher die Identität zumindest als transzendentale Voraussetzung bestehen bleibt; als ideeller Grund dafür, dass zwei Relate sich überhaupt aufeinander beziehen können. 6 Dieser Ansatz hat Folgen für den Begriff des Wissens, das nicht eindimensional über ein Entsprechungsverhältnis konstituiert wird, sondern im Kontext semiotischer Formbildungen eine ‘kontingente Eigenstruktur’ aufweist: Kontingenzen, die im klassischen Repräsentationsmodell stillgestellt werden müssen, erhalten nun eine produktive Funktion […]. Wissen beschreibt keine exklusive Repräsentation, sondern eine eingespielte, aber kontingente und stets dynamische Ordnung der Transformation zwischen Dingen, Perzeptionen, Gewohnheiten, Symbolisierungen und Operationen (Rustemeyer 2006: 42). Wissen ist in diesem Sinne keine Bestimmung ontologischer Ähnlichkeitsverhältnisse, sondern eine Dynamik von Zeichenordnungen, die “sich keiner adäquaten Entsprechung von Wissen und Sein […] verdanken” (Rustemeyer 2006: 45). Ersteres würde der gegebenen Wirklichkeit eine “zeitlose Ordnung der Homologie von Denken, Begriffen und Sein nach dem Modell der Repräsentation” (Rustemeyer 2006: 47) zugrunde legen, die Oszillation als Paradigma hingegen eine “symbolische Ordnung des Ein- und Ausschlusses sinnhafter Bestimmungen […]. Wissen, so verstanden, liefert weniger ein System der Repräsentation von Bestimmungselementen als eine operative Matrix sinnhafter Anschlußbildung durch die Präfiguration von Erwartungen” (Rustemeyer 2006: 51). Die Metapher der Oszillation bringt den kontingenten und prozessualen Charakter der Genese von Wissen zum Ausdruck - eine Konsequenz, die auch Schleiermacher in seiner Dialektik zum Programm erhebt. 1.2 Oszillation als Strukturprinzip in Schleiermachers Denken Im eingangs zitierten Brief an Jacobi verwendet Schleiermacher neben der Oszillation auch die Ellipse zur Beschreibung seines Lebens- und Wirklichkeitsverständnisses - ebenso wie Markus Firchow 24 7 Nicht nur Tillich greift zur Darstellung seines ‘theologischen Zirkels’ auf die Metapher der Ellipse mit ihren beiden Brennpunkten zurück (cf. Tillich 1958: 21), auch der Bibliotheksraum des Hamburger Warburg-Hauses ist aus gutem Grund in Form einer Ellipse gestaltet: Im Gespräch mit Ernst Cassirer erläutert Aby Warburg die zwei Pole der Ellipse als “Symbol des Menschen mit seiner polaren Struktur von Geist und Leben. Überall, wo Leben sei, zeige sich die Zweiheit der Pole” (zit. nach Michels 2007: 92); vgl. dazu auch: Kany (2011: 113). 8 Cf. Cassirer (1910). 9 Andreas Arndt verweist auf eine problematische Textwiedergabe der hier zitierten Kritischen Gesamtausgabe, da “die dort vorgenommene Konjektur - ‘Aneignen’ statt ‘Anneigen’ - […] den wissenschaftshistorischen Hintergrund der Schleiermacherschen Konstruktion, die im Gefolge der Newtonschen Gravitationstheorie auf das Zusammenspiel von Attraktivkraft - ‘Anneigen’ - und Repulsivkraft - ‘Abstoßen’ - abhebt [verwischt]” (Arndt 1996: 1146). später Paul Tillich und Aby Warburg. 7 Obwohl beide Metaphern es mit polaren Wechselverhältnissen zu tun haben, sind sie nicht äquivalent zu gebrauchen. Eine Ellipse bringt mit ihren beiden Brennpunkten zwar ebenso eine wechselseitige Bezogenheit zum Ausdruck, ist jedoch statischer gefasst. Die eigentümliche Dynamik der Oszillation - vor allem, was den (idealen) Durchgangspunkt zwischen den beiden Polen betrifft - scheint als Metapher für den hier verhandelten Sachverhalt leistungsstärker zu sein, zumal Schleiermacher selbst bevorzugt auf die Oszillation als grundlegendes Strukturprinzip zurückgreift. Die Voraussetzung eines oszillierenden Wirklichkeitsverständnisses ist die Annahme zweier wechselseitig aufeinander einwirkender Kräfte, die als je isolierte Größen gar nicht in Betracht kommen können, sondern erst in ihrer Bestimmung durch die je andere beschreibbar sind. Darin ist bereits intendiert, was sich philosophiegeschichtlich später als Übergang vom Substanzzum Funktionsbegriff beschreiben lässt. 8 Bereits in Schleiermachers Frühschrift Über die Religion findet sich dieses Prinzip: Die ganze körperliche Welt […] erscheint […] als ein ewig fortgesetztes Spiel entgegengesetzter Kräfte. Jedes Leben ist nur das Resultat eines beständiges Aneignens 9 und Abstoßens, jedes Ding hat nur dadurch sein bestimmtes Dasein, daß es die beiden Urkräfte der Natur, das durstige an sich ziehen und das rege und lebendige Selbst verbreiten, auf eine eigenthümliche Art vereinigt und festhält (Schleiermacher 1799: 191). Was hier als Lebensprinzip beschrieben wird, ist auch im Denken gesetzt, nämlich als ein je “zyklische[s] Insichzurücklaufen der Denkbewegung” (cf. Reble 1907: 266f.). Das auf Dauer gestellte Wechselverhältnis bringt zum Ausdruck, dass wir es mit einer im Endlichen unabschließbaren Approximation zu tun haben, der die Idee einer Einheitsfigur im Unendlichen zugrunde liegt. Dieser transzendente Einheitsgrund, der im Gefühl bzw. im unmittelbaren Selbstbewusstsein seinen entsprechenden anthropologischen Ankerpunkt hat, ist für Schleiermachers Denken eine strukturelle und formale Grundprämisse. Dass diese Einheitsfigur keine Verwirklichung in der Zeit finden kann, hat unmittelbare Auswirkungen auf die Bestimmtheit der relativen Gegensätze, die im Endlichen gerade keine Synthese bilden können, sondern diese als Grund und Grenze der Möglichkeit von Denken und Wissen voraussetzen. Im Vergleich zu Hegel ist Schleiermachers Dialektik somit weitaus harmonistischer gehalten: Die beiden Größen “bilden gleichsam mehr sich gegenüberstehende Potenzen als wirkliche und echte Polaritäten” (Reble 1907: 264). Die Dynamik des Lebendigen ist eine permanente Spannung zweier Kräfte, die sich ebenso anziehen wie abstoßen. In diesem Sinne handelt es sich auch niemals um ein mechanisches Gleichgewicht von Kräften, sondern um ein Übergewicht mal der einen und mal der anderen Seite. Ein Nullpunkt dieser Kräfte ist ein real ebenso unerreichbarer Moment, wie der absolute Nullpunkt für die Thermodynamik Bildlichkeit und Wissen 25 10 Der Nullpunkt ist der Tiefstwert der Kelvin-Skala (-273,15 ° Celsius). Die Thermodynamik entspricht der Teilchenbewegung, so dass sich im absoluten Nullpunkt gar nichts mehr bewegte. Dieser kann real jedoch nie erreicht werden, sondern es kann sich ihm nur beliebig angenähert werden (3. Hauptsatz der Thermodynamik). In ähnlicher Weise versteht Schleiermacher die Oszillation als eine Bewegung, die einen idealen Identitätspunkt voraussetzt, zu dem man sich nur approximativ bzw. in unendlicher Annäherung verhalten kann. Sowohl für das Wissen und die Anschauung als “vollkommenste mittlere Form” zwischen Wahrnehmung und Denken als auch für die “Vollendung der Erlösung” (Schleiermacher 1821/ 22: 66) auf religiöser Seite gilt, dass “das absolute Gleichgewicht nirgends gegeben ist” (Schleiermacher 1818/ 19: 153). 11 Schleiermacher gebraucht ‘transzendent’ und ‘transzendental’ synonym, was mit der genuinen Doppelstruktur des unmittelbaren Selbstbewusstseins zusammenhängt; vgl. dazu Schmidt (2005: 146f.). unerreichbar ist. 10 Das unmittelbare Selbstbewusstsein ist dementsprechend ‘Null’, weil es als solches nicht zeitlich ist, sondern ist als sinnliches Bewusstsein immer schon jenseits des Nullpunktes; “könnte es wieder Null werden, so verschwände uns alle Zeit, denn sie ist der allgemeine Träger aller Functionen” (Schleiermacher 1822 b: 568). Nicht nur an diesem Beispiel zeigt sich, wie stark Schleiermachers Denken an mathematischen und physikalischen Figuren orientiert ist (cf. Dittmer 2001: 180ff.). Für unsere Frage nach der Funktion des Bildes in der Wahrnehmung und im Prozess des Wissens folgt daraus zunächst eine methodische Anwendung der Oszillation auf das Verhältnis von Denken und Sein, das Schleiermacher wie Fichte als Verhältnis von Denken und Wollen im Anschluss an die Kantische Unterscheidung von theoretischer und praktischer Vernunft weiterbildet - jedoch mit unterschiedlicher Stoßrichtung. Schleiermacher fokussiert Denken und Wollen im Horizont ihrer Darstellungsweisen: So wie das Reden die Entäußerung des Denkens ist, so ist es das Tun für das Wollen. Der Übergangspunkt dieser beiden Funktionen ist das Gefühl, dem in Schleiermachers Konzeption eine Schlüsselfunktion zukommt. 1.2.1 Das Gefühl und der transzendente Grund Für Schleiermacher ist eine Oszillation von Denken und Wollen überhaupt nur deshalb möglich, weil beide einen transzendentalen Grund 11 voraussetzen; eine ideale Indifferenz, die beide Relate miteinander ins Spiel setzt und im Spiel hält: “Dem gemäß nun haben wir auch den transcendentalen Grund nur in der relativen Identität des Denkens und Wollens nemlich im Gefühl” (Schleiermacher 1814/ 15: 142). Dieses Gefühl verweist auf das Personenzentrum, in dem Denken und Sein immer schon zur Einheit gebracht sind: “Die Identität des Seins und Denkens tragen wir aber in uns selbst, wir selbst sind Sein und Denken, das denkende Sein und das seiende Denken” (Schleiermacher 1822 b: 553). Weil der Mensch immer schon beides ist, kann er sich auch zu dem verhalten, was er nicht ist - im Verhältnis von Denken und Wollen: Im Denken ist das Sein der Dinge in uns gesezt auf unsere Weise, im Wollen ist unser Sein in die Dinge gesezt auf unsere Weise. Also: Sofern nicht mehr das Sein der Dinge in uns gesezt wird wird unser Sein in die Dinge gesezt. Aber unser Sein ist das sezende und dieses bleibt im Nullpunkt übrig; also unser Sein als sezend in der Indifferenz beider Formen (Schleiermacher 1822 a: 266). Markus Firchow 26 Der doppelte Verweis ‘auf unsere Weise’ unterstreicht den Anschluss an das kantische Paradigma, die Dinge nur in der Weise zur Sprache zu bringen, wie sie uns affizieren und wie wir sie demnach in der Vernunft ‘haben’. Das, was im Denken und Sein gleichsam als besagter Nullpunkt alle Prozesse begleitet, ist das reine Selbst. Dieses Selbst ist zwar keine gegenständliche Entität, als regulatives Prinzip für das Bewusstsein jedoch unhintergehbar, weil es dessen Identität konstituiert. Als Movens für das nach Indifferenz in der Differenz strebende Denken ist der Einheitsgrund sowohl transzendental als auch transzendent verfasst, indem es den Einheitsgrund der eigenen Bewusstseinstätigkeit auch als Seinsgrund voraussetzt, der als transzendenter Grund freilich unbestimmt sein muss. Er kann weder von der Seite des Denkens noch des Wollens erreicht werden, sondern nur “durch die Identität des Denkens und Wollens erkannt werden” (Schleiermacher 1822 b: 563). Diese Identität selbst ist als Übergangspunkt nur im und als Gefühl präsent: Der Übergang beider Funktionen in einander muß ein solches Mitgesetztsein eines anderen ausschließen, als das reine, unmittelbare Selbstbewußtsein gesetzt sein. Dies wollen wir als eine wirklich erfüllte Zeit durch den Ausdruck Gefühl bezeichnen (Schleiermacher 1822 b: 566). Das unmittelbare Selbstbewusstsein ist zu unterscheiden vom mittelbaren bzw. “reflectirten Selbstbewußtsein = Ich” (Schleiermacher 1822 a: 266). Der Gefühlsbegriff ist in Bezug auf ersteres vom affektiven Charakter des letzteren zu unterscheiden. Es handelt sich bei ihm um ein reines Selbstgefühl, das keinen Gegenstand hat - auch nicht das empirische Ich - und somit jedem begrifflich reflektierten Selbstverhältnis vorausgeht. Die Verwiesenheit des Gefühls auf den transzendenten Grund ist für den Übergang zu Schleiermachers Religionsverständnis wesentlich, weil sich dieser unbestimmte Grund als schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl im Bewusstsein auf seine Alterität hin transzendiert, von der sich dieses als gesetzt erfährt. Dieses Gefühl mit dem “Ausdrukk Gott” zu unterlegen ist als religiöser Akt gleichsam ein “Aussprechen des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls” (Schleiermacher 1830/ 31: 39). “Diese transcendente Bestimmtheit des Selbstbewußtseins nun ist die religiöse Seite desselben oder das religiöse Gefühl, und in diesem also ist der transcendente Grund oder das höchste Wesen selbst repräsentirt” (Schleiermacher 1822 a: 267). Das Gefühl ist somit der Umschlags- und Kulminationspunkt zwischen Philosophie und Religion - werkgeschichtlich betrachtet: zwischen Dialektik und Glaubenslehre (cf. Schleiermacher 1822 b: 573ff.). Für unser Unternehmen reicht dieser kurze Hinweis, um die Relevanz des Gefühlsbegriffs für das Denken Schleiermachers deutlich zu machen. Als Übergang von Sinnlichkeit und Verstand ist er für das Verständnis dessen, was mit der Metapher der Oszillation zum Ausdruck kommen soll, ebenso wesentlich. 1.2.2 Oszillation und Dialektik Unser Verhältnis zur Welt wird bei Schleiermacher als Wechselspiel von organischer und intellektueller Tätigkeit verstanden. Wahrnehmung und Wissen sind nur Teilgebiete, die von dieser Grundrelation beherrscht werden. Was bereits als Denken und Wollen und als Ein- und Ausatmen in Schleiermachers Reden zur Sprache gekommen ist, findet sich in der Ethik als symbolisierendes und organisierendes Handeln. Die Wirklichkeit ist bei Schleiermacher grundlegend polar konstituiert; die Begriffe und die Ebenen wechseln, das Prinzip bleibt stets dasselbe: Die Relate sind nur in der Relation und stehen in einem asymmetrischen Wechselverhältnis, bei dem stets eines der beiden ein Übergewicht hat. Dieses stets einander Bildlichkeit und Wissen 27 12 Was ebenso für die Dualität von Idealität und Realität gilt: “Der ursprüngliche Gegensaz kann keine gänzliche Trennung des idealen und realen sein, sondern nur eine relative” (Schleiermacher 1811: 22). ablösende Übergewicht ist Voraussetzung von Bewegung, dessen Nullpunkt zugleich Erstarrung wäre - womit Zeit und Leben aufhörten. In der Wahrnehmung haben wir es mit Alteritäten zu tun, zu denen wir uns in doppelter Weise verhalten: rezeptiv, als Einwirkung dieses Gegebenen auf uns, und spontan, als unsere Einwirkung auf das Gegebene. Die organisierende Tätigkeit ist die sinnlich-konkrete Seite und die intellektuelle Tätigkeit die abstrakt-allgemeine Seite des menschlichen Vermögens: “Was durch die Organisation entsteht, ist der Stoff zum Denken; was die Vernunft hinzuthut, ist die Form des Denkens” (Schleiermacher 1822 b: 458). Die Unterscheidung von Form und Inhalt ist hier genauso wenig ein absoluter Gegensatz wie die sie generierenden Tätigkeiten: “Den Gegensatz zwischen Receptivität und Spontaneität können wir nur als einen relativen, nicht als einen absoluten denken” (Schleiermacher 1822 b: 542) 12 . Form und Inhalt unterscheiden sich lediglich hinsichtlich ihres Übergewichtes in einer der beiden Tätigkeiten. Dies ist für die Bestimmung des Bildes und der sich daran anschließenden Frage nach dem Wissen von entscheidender Bedeutung. Die sinnliche Konkretion ist immer eine besondere, während die intellektuelle Abstraktion eine allgemeine ist. Für die Gesamtkonstitution des Denkens und des Wissens ist es wichtig, dieses Gefälle bzw. diese Grundzuordnung im Blick zu behalten. 2 Das einzelne und das allgemeine Bild: Schematismus und Einbildung Schleiermacher unterscheidet den Polaritäten entsprechend zwei Formen: Bild und Begriff. Das Bild ist grundlegend sinnlich bestimmt und gehört dem Bereich der organischen Tätigkeit an, während der Begriff grundlegend allgemein bestimmt ist und somit dem Bereich der intellektuellen Funktion zugeordnet ist: Dementsprechend versteht Schleiermacher das Bild vorwiegend als Medium der Innerlichkeit, während die Sprache das Medium der Entäußerung ist: Zwischen dem allgemeinen Schema des Begriffs und dem Worte, welche beide Zeichen sind, ist nun also die Differenz, daß das Schema überwiegend passiv, das Wort überwiegend activ ist […]. Eine andere Differenz ist diese, […] daß nämlich das innere Bild für sich immer ein Innerliches bleibt, und das Wort durchaus immer ein Äußerliches ist […]. Es liegt also im Wesen des Wortes, daß es heraus will, und das thut es um gehört zu werden (Schleiermacher 1818/ 19: 304). Dies wiederum hängt mit Schleiermachers Verständnis von Geselligkeit zusammen, die grundlegend sprachlich konstituiert ist, denn “erst die Sprache gibt die Gemeinschaftlichkeit” (Schleiermacher 1818/ 19: 305). Nun wäre es jedoch ein Missverständnis, wollte man die Genese des Begriffes als Entäußerung von Innerlichkeit als einlinigen Abstraktionsprozess verstehen, der die sinnlichen Elemente zunehmend abstreifte, wie es etwa Hegel vorschwebt: Das reproduzierende Gedächtnis hat es für ihn “nicht mehr mit dem Bilde zu tun […], sondern mit einem Dasein, welches das Produkt der Intelligenz selbst ist” (Hegel 1830: 278f.). Für Schleiermacher ist der Begriff dagegen Repräsentant einer auf Dauer gestellten Relation von Sinnlichkeit und Verstand bzw. eine “schwebende Identität des Allgemeinen und Besonderen” (Schleiermacher 1814/ 15: 168). Mit der erneuten Verwendung der Metapher Markus Firchow 28 13 Sarah Schmidt hat bereits auf die Bedeutung des Schematismus in Schleiermachers Dialektik hingewiesen, vor allem im Blick auf seine “Aufwertung des bildlichen Denkens” (Schmidt 2006: 90) im Verhältnis zu Kant. Zudem arbeitet sie heraus, dass bei aller Konzentration auf das Bild eine Auseinandersetzung des Bildes als Darstellungsform bei Schleiermacher fehlt bzw. nur zurückhaltend angedeutet wird (cf. Schmidt 2006: 89). Meine These ist, dass Schleiermacher methodisch konsequent die Disziplinen in ihren Darstellungsweisen unterscheidet. So wie die Theologie es mit der “zerlegende[n] Betrachtung der ursprünglichen frommen Gemüthszustände” (Schleiermacher 1821/ 22: 16) zu tun hat (im Bewusstsein der Inadäquatheit dieses Unternehmens), so hat es die Ästhetik mit der besonnenen Entladung der Urbildlichkeit zu tun, die als solche nur in der sinnlichen Darstellung ist (cf. Schleiermacher 1819: 11; 14; 20; 28). des Schwebens wird darauf verwiesen, dass alle fixierten Zeichen eine Vermittlungsfunktion von Sinnlichkeit und Verstand haben, die sich weder auf der Seite der Sinnlichkeit noch des Verstandes verorten lassen. Durch den Schematismus behält der Begriff seine sinnliche Seite - nämlich den Charakter des Besonderen, also des Sinnlich-Bildlichen. Seine grundlegende Funktion besteht jedoch darin, dieses Besondere als Allgemeines, als ein fixiertes Zeichen zur Darstellung zu bringen und damit eine relative Selbstständigkeit in Kommunikationsprozessen zu ermöglichen. Ohne Allgemeines blieben die Bilder immer an ihren konkreten Ort in der Welt gebunden und ohne das Besondere hätten die Begriffe ihren Ort in der Welt verloren. Dieser vermittelnde Übergang zwischen Sinnlichkeit und Verstand wird - wie es der Terminus bereits nahelegt - in Anlehnung an Kant durch das Schema geleistet. Indem Schleiermacher äquivalent vom allgemeinen Bild sprechen kann, kommt auch hier zum Vorschein, was den Begriff auszeichnet; nämlich ein ‘individuelles Allgemeines’ (cf. Frank 1985: 196) zu sein. Das allgemeine Bild ist kein sinnliches Bild mehr in dem Sinne, dass es ein bestimmtes Objekt in der Welt repräsentiert bzw. Abbild eines konkreten Gegenstandes ist, sondern sich bereits im Wechselspiel von Organisation und Vernunft von diesem Ort losgelöst hat und auf dem Wege ist ein Begriff zu werden: Das Bild wird “in die Sprache übertragen, das Wort zu einem Zeichen dafür fixirt” (Schleiermacher 1831: 732). Dennoch - und das unterstreicht den genannten Unterschied zu Hegel - verfügen wir über keinen Begriff, “dem nicht ein sinnliches Bild, ein Schema entspräche” (Schleiermacher 1818/ 19: 287). Hier zeigt sich bei Schleiermacher eine gewisse terminologische Unschärfe, indem er sinnliches Bild und Schema äquivalent gebraucht. Es wäre jedoch ein Missverständnis, wollte man meinen, sinnliches und einzelnes Bild wären identisch oder nur graduell unterschieden 13 , denn der wesentliche Unterschied liegt in der Funktion und in der Frage der Darstellbarkeit (vergleichbar mit dem Urbild in Schleiermachers Kunsttheorie). Dies soll im Folgenden deutlich werden. Das Zusammenspiel von organischer und intellektueller Tätigkeit ist an die Vermittlungsleistung des Schemas gekoppelt. Die reine unvermischte Sinnlichkeit hätte es nur mit einer chaotischen Mannigfaltigkeit von Sinneseindrücken zu tun - was freilich nicht möglich ist, da jeder Akt einer ersten Formgebung, und sei sie noch so primitiv, bereits ein Handeln der Vernunft in der Organisation, Bilder als innere Bilder zu generieren, ist. Es gibt keine rein passive Einbildung, sondern lediglich ein Maximum der organischen Tätigkeit: Eine sinnliche Unmittelbarkeit ist ausgeschlossen, da bereits der erste sinnliche Eindruck schematisiert ist: “Eine einzelne Gestalt als gegebene Erscheinung kommt nicht in den Sinn ohne ihre allgemeinen Schemata, und das Schema nicht ohne einzelne Gestaltung; beides wird gleichzeitig im oscillirenden Verfahren” (Schleiermacher 1814/ 15: 171). Der Verweis auf die Oszillation schließt aus, das allgemeine Bild gegenüber dem einzelnen als etwas Sekundäres zu ver- Bildlichkeit und Wissen 29 14 “Der gesammte Proceß der Hineinbildung der allgemeinen Bilder in den Sinn und der Beziehung der einzelnen Bilder darauf ist das Gebiet der gemeinen Erkenntnis d.h. der Erfahrung” (Schleiermacher 1822 b: 620). stehen. Vielmehr wird zum Ausdruck gebracht, dass im Wahrnehmungsprozess sich beide Grundtätigkeiten immer schon wechselseitig voraussetzen, weshalb “jenes Bild […] mit dem Begriff selbst zugleich und in Einem Moment da” (Schleiermacher 1814/ 15: 172) ist. Die vermittelnde Funktion des Schemas zeigt sich auch darin, dass Schleiermacher es nicht nur als allgemeines Bild, sondern auch als sinnliche Seite des Begriffs bezeichnet. Das Schema ist Vermittlungs- und Übergangspunkt der Allgemeinheit des Bildes und der Sinnlichkeit des Begriffs. Die als Oszillation vorgestellte Simultaneität von Bild und Begriff im Schema ist strukturell auch im Verhältnis von sinnlichem und allgemeinem Bild vorausgesetzt. Die rezeptive Einbildungskraft ist keine sekundäre Kombination sinnlicher Einzelbilder: Viele haben gemeint: das allgemeine Bild entstehe erst, nachdem man eine Menge einzelner Bilder der Art gehabt habe, es sei also bloß das Zusammenfassen der einzelnen Bilder, das Residuum aus der öftern Wiederholung der einzelnen Bilder. Das ist ganz falsch, weil das einzelne Bild sich nicht im Gedächtniß fixirt ohne daß es Bewußtsein geworden ist, und Bewußtsein wird es nicht ohne jenes allgemeine Bild […]. Das Bild also, das Schema des Begriffs ist, ist nicht Wiederholung des einzelnen Bildes, sondern es entsteht nur auf Veranlassung des einzelnen Bildes (Schleiermacher 1818/ 19: 288). Das intellektuelle Vermögen besteht somit gerade nicht darin, nach einer bestimmten Anzahl bildhafter Sinneseindrücke Gemeinsamkeiten festzustellen, aus denen sich ein Schema und hernach ein Begriff basteln ließe. Die Fähigkeit des Intellekts zeigt sich vielmehr darin, bereits in einem allerersten Bild eine allgemeine Form zu erkennen, die er auf Folgeeindrücke anwenden kann. In jedem sinnlichen Einzelbild - bei Schleiermacher im Beispiel eines Turmes veranschaulicht - ist “doch gleich ein Bild der Art” mitgesetzt (Schleiermacher 1818/ 19: 289; cf. 1814/ 15: 172f.). Dieses Mitgesetztsein des Schemas im Bild ist weder Identität noch sekundäres Element, sondern - und hier greift Schleiermacher wiederum auf die Figur der Oszillation zurück - eine wechselseitige Bedingtheit: [I]n dem gesetzten Fall [sc. des Turmes] ist das einzelne Bild allerdings das früher Vorhandene, und das allgemeine Bild, das Schema wird erst gesetzt, indem die intellectuelle Function das einzene Bild ergreift, allein genauer betrachtet müssen wir wieder sagen: das einzelne Bild ist nicht vorher in seiner ganzen Bestimmtheit aufgenommen, und dann erst erzeugt sich das allgemeine Bild, sondern im Bewußtsein entsteht beides zugleich, d.h. in einer Oscillation, in der beständigen Richtung auf das Einzelne und das Allgemeine zusammen, so daß momentan bald das eine bald das andere früher erscheint. So scheint es also als zufällig, daß wir das einzelne Bild im Werden als vorangehend setzen (Schleiermacher 1818/ 19: 289). Wollte man für diesen Vorgang den klassischen Begriff der Einbildungskraft verwenden - was Schleiermacher selbst nur zurückhaltend tut -, müsste man von einer doppelten Einbildung sprechen bzw. von einer Verschränkung von rezeptiver und produktiver Einbildungskraft im Schema. Es ist nicht allein die organische Tätigkeit, die der Vernunft gewissermaßen äußere Eindrücke einbildet, sondern ebenso die Vernunft, die dem Sinn “die allgemeinen Begriffe für jede Form einbilden will, und jedes einzelne Bild ist ein Theil der Operation, daß die Vernunft die allgemeinen Begriffe einbildet” (Schleiermacher 1818/ 19: 288). 14 Der wesentliche Unterschied zwischen einzelnem und allgemeinem Bild ist einzig in ihrer Funktion im Wahrnehmungsprozess und der Wissensbildung begründet: “Das allgemeine Bild Markus Firchow 30 ist das einzelne Bild selbst, aber in der Verschiebbarkeit gedacht” (Schleiermacher 1818/ 19: 289). Im Schema wird das Bild von seinem konkreten Ort in der Welt losgelöst und erlangt dadurch repräsentativen Charakter: Es kann als Allgemeines auch für etwas anderes stehen. Gänzlich ausgebildet ist dies jedoch erst dann, wenn das Bild im Begriff zu einem Zeichen fixiert wird. Das Verschiebbare im Bild ist das “sich immer GleichBleibende”, nämlich “das Allgemeine im Bilde” (Schleiermacher 1822 b: 617). Der Unterschied macht sich zudem darin bemerkbar, dass der Status der Allgemeinheit einen Verlust an Bestimmtheit mit sich führt, was im Folgenden die Rolle des Bildes in der Konstitution von Wissen verdeutlichen soll. 3 Zwischen Bestimmtheit und Unbestimmtheit: Zur Funktion des Bildes in der Konstitution von Wissen Das bislang Dargestellte ist in der Konzeption der Dialektik nur ein methodischer Zwischenschritt - geht es Schleiermacher hier doch vornehmlich um “den innern Zusammenhang alles Wissens” (Schleiermacher 1814/ 15: 75). Denken und Wissen unterscheiden sich folgendermaßen: “Jedes Wissen ist ein Denken, aber nicht jedes Denken ist ein Wissen” (Schleiermacher 1814/ 15: 90). Die Dialektik ist in diesem Sinne das Unternehmen einer Rekonstruktion des Denkens auf dem Wege, ein Wissen zu werden, bzw. ist selbst “Ausdruck des inneren Werdeganges des reinen Denkens” (Pohl 1954/ 55: 303). Das Grundmovens des Denkens ist das Wissenwollen, das “allem Denken vorhergeht” (Schleiermacher 1831, 731). Es gibt nun zwei Voraussetzungen, die ein Wissen überhaupt erst zum Wissen machen: ein allgemeiner gleichförmiger Prozess der Generierung von Wissen in allen denkenden Subjekten und die klassische Übereinstimmung von Denken und Gedachtem: “Dasjenige Denken ist ein Wissen, welches a. […] von allen Denkensfähigen auf dieselbe Weise producirt werde; und welches b. vorgestellt wird als einem Sein, dem darin gedachten, entsprechend” (Schleiermacher 1814/ 15: 90). 3.1 Vom individuellen Denken zum allgemeinen Wissen Zunächst eine terminologische Bemerkung im Verhältnis zu Kant: Was in dessen Erkenntnistheorie die Anschauung leistet, ist bei Schleiermacher mit dem Begriff der Wahrnehmung belegt. Sie zeichnet sich durch ein Übergewicht der organischen Funktion aus, während das Übergewicht der intellektuellen Funktion ein Denken im engeren Sinne ist. (Denken im weitesten Sinn bezeichnet den Gesamtvorgang des Denkens.) Den Begriff der Anschauung verwendet Schleiermacher dagegen zur Bestimmung des relativen Gleichgewichtes beider Seiten, ein Gleichgewicht, zu dem sich das Denken nur approximativ verhalten kann bzw. das ein (idealer) Mittelpunkt des Zusammenspiels von Wahrnehmung und Denken ist: “Diese mittlere Form ist nur als werdend in der Oscillation der beiden ersten” (Schleiermacher 1814/ 15: 96). Ein vollkommenes Gleichgewicht bestünde in der Einheit von Sinnlichkeit und Vernunft bzw. von Besonderem und Allgemeinem, was gleichsam ein absolutes, vollkommenes Wissen wäre. Ein solches ist in den innerzeitlichen Bezügen jedoch unmöglich. Dennoch fungiert es im Sinne eines Postulates als Annahme einer Idealität des absoluten Wissens, das jedem Denken und Wissen intentional im Wissenwollen zugrunde- und vorausliegt. Das Wissen ist somit eine unendliche Aufgabe unter endlichen Bedingungen bzw. ein “Verfahren Bildlichkeit und Wissen 31 15 Darauf hat Michael Moxter bereits mehrfach hingewiesen (2011 a: 81ff.). der Approximation” (Schleiermacher 1814/ 15: 165). Die Annäherung ist nicht als linearer Prozess zu denken, sondern als Oszillation um ein ideales Zentrum, das gleichsam ein real unerreichbares Gleichgewicht aller Dualitäten ist: Wissen strebt nicht nach Kumulation, sondern nach dem Ausgleich eines relativen Gegensatzes im Denken. Dieser Prozess ist wesentlich an die Sprache “als allgemeines Bezeichnungssystem” (Schleiermacher 1822 b: 628) geknüpft, da es ein Denken ohne Sprechen nicht geben kann. Dieses Paradigma teilt Schleiermacher mit seinem bildungspolitischen Partner im Zuge der Gründung der Berliner Universität, Wilhelm von Humboldt 15 : “Die Sprache ist das bildende Organ des Gedanken” (von Humboldt 1830-35: 191). Dies bedeutet gerade nicht, dass sie ein Instrument zur Darstellung reiner Innerlichkeit ist, sondern “dass die Sprachen nicht eigentlich Mittel sind, die schon erkannte Wahrheit darzustellen, sondern weit mehr, die vorher unerkannte zu entdecken” (von Humboldt 1820: 19f.). Schleiermacher unterscheidet demgemäß: “Denken und Sprechen ist so Eins, daß man es nur als Inneres und Aeußeres unterscheiden kann, ja auch innerlich ist jeder Gedanke schon Wort” (Schleiermacher 1828: 284). Ein vorsprachliches Denken ist unter dieser Prämisse nicht möglich - was jedoch nicht bedeutet, dass im Denken nicht auch etwas präsent ist, das sich nicht unter die Kategorie der Sprache subsumieren ließe: “Ehe sich der Mensch die Sprache aneignet, hat er auch noch kein Denken. In dem Denken aber, welches sich auf einen Empfindungszustand bezieht, unterscheiden wir etwas, was kein sprechendes Denken aber mit in dem Denken enthalten ist, nämlich das Bild” (Schleiermacher 1831: 731f.). Bereits hier begegnet ein erster Hinweis darauf, dass das Bild der Sprache gegenüber eine Widerständigkeit entfaltet, auf die am Ende noch zurückzukommen ist. Die Sprachbildung vollzieht sich in “Fixirungen der allgemeinen Bilder. […] Ihr Entstehen hängt an diesem Schematisirungsprocesse, und ist durch ihn bestimmt” (Schleiermacher 1822 b: 628). Die Sprache ermöglicht eine Repräsentation der Schemata in der Kommunikation: “Jeder sucht das allgemeine Bild für sich und andre zu fixiren […]. Das Heraustreten der allgemeinen Bilder in der Sprache für alle ist das 1ste Mittel, streitige Vorstellungen abzuwenden” (Schleiermacher 1822 b: 628). Die Besonderheit der Sprache ist nicht die Entsinnlichung des Wahrnehmungsmaterials, sondern die Fähigkeit der Überführung sinnlicher Besonderheiten in den Status allgemeiner Zeichen: “Die Action, verschiedene Momente zusammenstellen zu können, bringt schon ein Bezeichnungssystem hervor, sei das Zeichen ein Wort oder wieder ein Bild” (Schleiermacher 1822 b: 628). Der Übergang vom individuellen Denken zum allgemeinen Wissen vollzieht sich über die Sprachbildung. 3.2 Die Unbestimmtheit des Bildes und die Bewährung des Wissens Für den weiteren und abschließenden Gedankengang ist die folgende Prämisse entscheidend: Das allgemeine Bild, das wir uns entwerfen, ist in seiner Allgemeinheit wesentlich ein unbestimmtes; es ist aber nicht außerhalb des Einzelnen gesetzt, und die ganze Vorstellung ist eine Oscillation zwischen der Bestimmtheit des Einzelnen und der Unbestimmtheit des allgemeinen Bildes (Schleiermacher 1822 b: 628). Die Verallgemeinerung des Bildes im Schema vollzieht sich um den Preis der Bestimmtheit, die ein einzelnes Bild an seinem sinnlich-konkreten Ort in der Welt aufweist. Indem Schleier- Markus Firchow 32 macher dieses Verhältnis wiederum als Oszillation bestimmt, bleibt jeder Begriff auf seinen ursprünglich bildlichen Charakter verwiesen, anstatt einen fortlaufenden Abstraktions- und Verallgemeinerungsprozess zu durchlaufen: “So wenig wir einen Begriff hervorrufen können ohne das Wort […], so wenig geht es ohne Hervorrufung des Bildes. Ist das Bild dunkel, so ist auch der Begriff dunkel, und wird der Begriff als reines Bewußtsein recht hell, so muß auch das Bild hell werden” (Schleiermacher 1818/ 19: 287f.). Von hier aus wird nun deutlich, weshalb Schleiermacher Wissen approximativ denken muss. Denn die unhintergehbare Verflechtung von Verstand und Sinnlichkeit im Schema verunmöglicht die Generierung von objektiver Wahrheit im Sinne der Mathematik, die sich ganz ohne Rückbezug auf sinnliche Gegebenheiten rein aus den eigenen logischen Bezügen fortbestimmen kann. Was die Wahrheitsfähigkeit der Lebenswelt betrifft - um einen modernen Begriff einzuspielen - so sieht es gänzlich anders aus. Hier muss sich im Zusammenspiel von Sinnlichkeit und Verstand in der Urteilsbildung sowie der Intersubjektivität ‘beständig bewähren’, was in der Sprache zur Darstellung kommt. Insofern sind Wissen und Wahrheit nicht nur unabschließbar, sondern in der Mitteilung auch stets nur “ein provisorisches Wissen”: Jeder weiß nur vermittelst des Processes des Denkens und in demselben, und also bringt er den andern nur zu einer Vorstellung seines Wissens, indem er ihn nöthigt, seinen Proceß zu machen. Wenn das Wissen sich so bewährt, müssen wir dasjenige Denken für ein Wissen halten, in welchem die Identität des Processes aller enthalten ist, die das denken (Schleiermacher 1822 b: 450). In diesem Sinne spielt bei Schleiermacher das Überzeugungsgefühl eine konstitutive Rolle im Werden des Wissens. Bereits das Wissenwollen ist eine für die Vollzüge des Wissens grundlegende Affektion, das Überzeugungsgefühl ermöglicht gewissermaßen affektive Raststätten auf dem langen Weg des Wissens. Gerade die Einsicht in die Unerreichbarkeit des absoluten Wissens verlangt im einzelnen nach Wissen strebenden Denken eine punktuelle Befriedigung, denn das “Ausbleiben dieses Gefühls ist verbunden mit der Fortsetzung der innern Bewegung. Haben wir jenes Gefühl, so fangen wir einen neuen Act an” (Schleiermacher 1822 b: 592). Auch hier zeigt sich, dass das denkende Subjekt als solches in einer Theorie des Wissens berücksichtigt werden muss, wenn man das Wissen nicht als abstrakten Selbstzweck bereits von vornherein verfehlen will. Dies im Blick zu haben, ist ein besonderer Charakter von Schleiermachers Ansatz. Das gilt auch für den Aspekt der individuellen Bestimmtheit der Wahrnehmung: Der Rückgang auf die Subjektivität, auf den einzelnen sinnlichen Akt der Wahrnehmung - die sich nicht in Allgemeinheit auflösen lässt - sondern konkret und ortsgebunden ist, hat eine entscheidende Folge für das Verständnis von Wissen schlechthin: [S]o hat doch jeder Mensch einen Ort in der Totalität des Seins, und jeder repräsentirt das Sein, nicht getrennt von seinem Ort. […] Die Identität drückt die Zusammenstimmung des Menschen mit dem Sein in dem Orte aus, wo er sich befindet, die Differenz die Verschiedenheit des Denkens vom Sein in dem Orte (Schleiermacher 1822 b: 632). Schleiermachers Ansatz verweigert sich einer Theorie des Wissens, die sich dieses individuellen Faktors zu entledigen sucht, oder ihn gar nicht erst in den Blick nimmt. Er unternimmt es, das Besondere des individuellen Zugriffs auf die Wirklichkeit in eine Theorie des Wissens konstitutiv einzubeziehen und den Anspruch einer ‘Allgemeingültigkeit in der Wissenschaft’ von hier aus zu kritisieren: Bildlichkeit und Wissen 33 Ist der Kanon richtig, daß nur so viel Annäherung an Wissen ist, als das individuelle Denken aufgesucht wird, so sehen wir, wie es mit der Forderung der Allgemeingültigkeit in der Wissenschaft steht. Sie kann nur entstehen, wenn der individuelle Factor ganz vernichtet wird. Absolute Identität des Wissens ist nur unter der Voraussetzung einer allgemeinen Sprache möglich. Nun aber giebt es kein Mittel, eine solche Sprache zu Stande zu bringen (Schleiermacher 1822 b: 633). Weil Sprache immer nur in der konkreten und geschichtlich gewachsenen Sprache allgemein ist, muss eine Erkenntnistheorie diesen unhintergehbaren Faktor des Individuellen berücksichtigen. Dieses Zusammenspiel von Individualität des sinnlichen Ortes und der Allgemeinheit eines Zeichensystems ist jene oszillierende Dynamik, die Rustemeyer im Blick hat. Denn für das Wissen bedeutet diese Struktur eine immanente Kontingenz, die im Werden des Wissens nicht jenseits von diesem zurückbleibt, sondern in ihm selbst präsent ist. Der letzte Grund dafür ist das Bild. 4 Die Widerständigkeit des Bildes und die Kontingenz im Wissen Von Kontingenz im Wissen zu reden bedeutet, Wissen nicht als Arbeit an der Kontingenz so zu verstehen, dass ein Mehr an Wissen eine imaginäre Masse von Nicht-Wissen und Unbestimmtheit prozessual zurückdrängte, um gleichsam ein sicheres Wissen zu generieren, sondern seine eigenen kontingenten Grundlagen durchsichtig zu machen. Dies im Sinne eines radikalen Relativismus oder Konstruktivismus zu verstehen, wäre ein grobes Missverständnis. Gewissheit bedeutet nicht sicheres Wissen, sondern ein Höchstmaß an Ausgeglichenheit im Blick auf die beiden von Schleiermacher genannten Bedingungen von Wissen (s.u.). Zunächst gilt es, die These zu begründen, dass Wissen es nur dann mit Bestimmtheit zu tun hat, wenn es gleichzeitig auch die eigene Unbestimmtheit im Blick hat. Diese beiden Faktoren begründen sich in der Konstitution von Bildlichkeit und Sprachlichkeit, wie sie hier dargestellt worden sind. Zwar verweist Schleiermacher auch auf die unhintergehbare Positivität der verschiedenen Sprachgemeinschaften, die einen Widerhaken im Prozess des Wissens markieren und die den Traum einer Universalsprache als utopischen Widerspruch entlarven: Alle Bestrebungen, zu einer allgemeinen Sprache zu gelangen, sind mißlungen, denn die Verständigung über die allgemeine Sprache selbst ist den einzelnen Sprachen unterworfen, und das Innere ist da doch in allen Menschen nicht dasselbe. Diese Begrenzung durch die Sprache bildet die Relativität des Wissens (Schleiermacher 1822 b: 630). Das Faktum der verschiedenen Sprachen ist jedoch nur der äußere Grund der Relativität des Wissens, denn das nicht verallgemeinerbare Innere, von dem Schleiermacher spricht, ist im Medium des Bildes gegeben. Im Übergang vom Bild zum Begriff bleibt ein unauflösbarer Rest: [D]as Dominirende bleibt aber doch das Bild, und dies kann nicht vollkommen in der Sprache wiedergegeben werden. Überhaupt können wir jedes Individuelle nie rein in der Sprache ausdrücken, allenfalls durch eine Reihe Bilder (Schleiermacher 1822 b: 634). Die Unvollkommenheit des Wissens ist im Übergang vom Individuell-Bildlichen zum Allgemein-Sprachlichen bzw. in ihrer bleibenden Verwiesenheit aufeinander begründet. Es ist die Widerständigkeit des Bildlichen selbst, sich nicht vollständig in Sprache überführen zu lassen, die ein unhintergehbares Grundmoment von Vorbehalt in der Konstitution von Wissen etabliert: “Die letzte Ergänzung der Unvollkommenheit des Wissens liegt also hier auf der Markus Firchow 34 Seite des Bildes, und der gesamte Cyclus von individuellen Bildern soll die Unvollkommenheit des allgemeinen Wissens ergänzen” (Schleiermacher 1822 b: 634). Das Sinnlich-Bildliche repräsentiert also ein im Wissen mitgesetztes und unauflöslich Kontingentes, das ein statisches Konzept von Wissen und Nicht-Wissen aufbricht. Vielmehr verweist es auf das sprachlich Unverrechenbare des individuellen Ortes des wissenden Subjekts, das sich zur Welt einzig von seinem Ort in der Welt aus verhalten kann. Was Welt ist und was wir von ihr zu wissen glauben, muss sich in der Oszillation von individueller Ein- und allgemeiner Sprachbildung bewähren und immerfort neu justieren, “weil ja das Allgemeine in der Totalität alles Einzelnen gegeben ist” (1818/ 19: 215). Als allgemeine Welt ist sie immer nur so bestimmt, wie sie gleichsam am Ort des Individuums zur Geltung kommt - weil Bestimmtheit stets an Besonderheit gekoppelt ist. Die bestimmte Unbestimmtheit, die in der Oszillation zum Ausdruck kommt, eignet sich zur Beschreibung des Menschen als individuelles Wesen, das stets auf ein Allgemeines bezogen ist, um sich als Individuelles zu setzen. Weil diese beiden Merkmale oszillierend verbunden sind, ist er als lebendiges Wesen beides zugleich: bestimmt und unbestimmt. Die Herausforderung besteht darin, beides stets aufs Neue im Denken zusammenzuhalten und produktiv aufeinander zu beziehen. Der Mensch kann dies überhaupt nur deshalb, weil er als er selbst Subjektivität und Objektivität, Ideales und Reales, Vernunft und Sinnlichkeit in seinem Selbst- und Weltverhältnis immer schon voraussetzt. Stabilität und Identität gewinnt der Mensch weder aus sich selbst noch aus einer vorgängigen Wirklichkeit. Was das Sein an sich ist, ist ebenso wenig Gegenstand des Wissens wie die Frage, was das Denken an sich ist. Inhalt und Form sind keine Entitäten, sondern zwei Pole einer als Oszillation verstandenen Wirklichkeitsstruktur. Die von Schleiermacher beschriebene Notwendigkeit, Zeichen zu produzieren, um den Überschritt vom individuellen sinnlichen Ort zu einer allgemeinen Verständigung zu ermöglichen, ist nur unter der Voraussetzung zu verstehen, dass jedes allgemeine Zeichen immer seinen sinnlich-bildlichen Charakter unverlierbar in sich trägt: Ein Zeichen, das diesen Charakter nicht mehr kenntlich macht, verliert seine lebensweltliche Relevanz. Ein Wissen, das sich seiner eigenen Absolutheit enthalten muss und sich als endliches Wissen in der Zeit versteht, ist nicht das Gegenteil von Nicht-Wissen und dementsprechend nicht defizitär. Es gibt lediglich unterschiedliche Gradualitäten der relativen Identität in der Konstruktion von Wissen, das deshalb kontingent ist, weil der individuelle Ort als Ort der Generierung sinnlicher Bilder sich nicht als allgemeiner darstellen lässt. Dabei handelt es sich um eine produktive Kontingenz, die wissenstheoretische Dogmatismen zu verhindern in der Lage ist, indem es die Komponente des Unverrechenbaren menschlicher Individualität präsent hält. Neben der Bestimmtheit des sinnlichen Individuums ist es die Qualität des Bildlichen selbst, das eine andere Form des Wissens repräsentiert bzw. das Potential von Nichtwissen und ungenauem Denken in unseren Diskursen am Leben erhält. Dies lässt sich etwa an der Funktion der Metapher aufweisen, die als “Störung” im begrifflichen Denken “den Reichtum ihrer Herkunft [konserviert], den die Abstraktion verleugnen muß” (Blumenberg 1983: 88; 90). Sie durchbricht die begriffliche Struktur und verweist auf ein Unbestimmtes inmitten der Bestimmtheit begrifflicher Kommunikation und schafft Raum für das, was diesseits wissenschaftlicher Präzision nicht zu haben ist: “Der Bereich des Kreativen oder des Innovativen beginnt erst dort, wo Verstöße gegen das Logische, wo also Fehler vorliegen” (Zimmerli 2003: 262). Das Bildliche ist nicht nur als das Andere der sprachlichen Wirklichkeitserschließung negativ bestimmt, sondern ist ein Generator kreativen Potentials, das als das Bildlichkeit und Wissen 35 Unerwartete und das Innovative in die sprachlichen Diskurse einbricht: “Kreativität ist die Kunst der Herstellung des Unerwarteten” (Zimmerli 2003: 264). Das Bildliche in der Sprache ist eine Erinnerung an die sinnliche Individualität und an die Grunderfahrung eines Mehr, das unverrechenbar ist und fortlaufend Überschüsse produziert, die wiederum ohne Imaginationen, ohne Bilder und Metaphern nicht darstellbar bzw. repräsentierbar wären. Das Bild ist das Außerordentliche der Sprache, indem es sich den Regeln ihrer Semantik verweigert und diese selbst in Form der Metapher transzendiert: “Metaphern sind geleitete Regelverstöße” (Zimmerli 2003: 266). Auch bildtheoretisch ist die Kategorie der Unbestimmtheit ein wesentlicher Moment in der Rezeption von Bildern gerade in der Differenz zur Bestimmtheit begrifflicher Diskurse. Das hat Gottfried Boehm in seinem Aufsatz Unbestimmtheit. Zur Logik des Bildes zu zeigen versucht. Der Reichtum an Unbestimmtheit in der Betrachtung von Bildern ist die ihnen eigene “Potentialität […], durch die der Mangel an Bestimmtheit in einen Überschuss an Sinn umschlägt” (Boehm 2006: 204). Sie setzt “den Akten der Vernunft Grenzen, indem sie als das vorsprachliche Potential erscheint, aus dem sich auch unsere Begriffe und unsere rationalen Konzepte mobilisieren” (Boehm 2006: 208). Das Bild wird auch hier als primäres Medium verstanden, dessen Unbestimmtheit der Sprache zugrundeliegt, indem es “jene Spielräume und Potentialitäten [schafft], die das Faktische in die Lage versetzen, sich zu zeigen und etwas zu zeigen” (Boehm 2006: 211). Unbestimmtheit - so die These - ist kein Mangel, sondern Voraussetzung für Bestimmtheit und Präsenz potentiellen Sinns. Das gilt gerade auch für die Imagination, “Wege der Erkenntnis zu eröffnen, wo keine Wege sind” (Boehm 2006: 208). Diese genuine Unbestimmtheit - so scheint mir - ist Grund für die deutliche Zurückhaltung Schleiermachers, das Bild als Medium der Entäußerung kommunikationstheoretisch neben die Sprache zu stellen. Auch wenn das Bild zum Medium werden kann, so nur im Horizont seines sprachlichen Charakters: “Das Bild können wir zwar auch außer uns hinstellen, aber dies bezieht sich doch immer auf die Sprache zurück, und setzt die Sprache immer voraus” (Schleiermacher 1818/ 19: 305). Welche Art von Bild Schleiermacher hier vor Augen hat, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Die Dimension der Kunst, die bei Schleiermacher als eigentümlicher Ausdruck von Welterfahrung eine vorzügliche Rolle spielt, konnte im Rahmen dieser Abhandlung ebenso wenig berücksichtigt werden wie die der Religion. Der entscheidende Hinweis scheint mir zu sein, dass Bild und Begriff je für sich eine unverzichtbare Funktion in der Konstitution von Wirklichkeit und Wissen innehaben. Sie sind als Formen zugleich Erinnerungen an etwas anderes, durch das sie sind, was sie sind. Der Begriff ist als solcher kein allgemeines Abstraktum und die Sprache kein Baukastensystem von Zeichen, mit denen ein intelligibles Wesen eine sinnliche Außenwelt benennt, sondern das Produkt von Bewusstseinsvorgängen, die als Oszillationen von Sinnlichkeit und Verstand zu verstehen sind. Das mentale Bild als solches ist nicht die innere Abbildung äußerer Bilder, also Kopien der Dinge im Bewusstsein, sondern es sind bereits durch den Zugriff der formgebenden Vernunft konstituierte Gestalten. Bilder, die nicht zumindest einen minimalen Grad an Allgemeinheit erlangen, sind ebenso wenig Bewusstseinsinhalt wie Begriffe, die nicht zumindest einen minimalen Grad an Besonderheit bewahren. Diejenigen Zeichen, die ein Höchstmaß an ‘Gleichgewicht’ erreichen können, sind demnach für die lebensweltlichen Kommunikationsprozesse am leistungsstärksten. Folgt man Schleiermacher, dann ist die Idee des absoluten Wissens die Idealität dieses Gleichgewichts, das beide Kriterien des Wissens in absoluter Identität vereinigt. Die genannte Übereinstimmung der Wissensproduktion unter den Individuen lässt sich einerseits durch ein Höchstmaß an Allgemeinheit in der Sprache erreichen, die genannte Übereinstimmung von Denken und Gedachtem ist andererseits durch Markus Firchow 36 ein Höchstmaß an Individualität des Bildes bestimmt. Insofern bestehen Wissensvollzüge in eben jenem von Schleiermacher eingangs erwähnten Schwanken zwischen zwei Übergewichten, die in ein relatives Gleichgewicht zu überführen die wesentliche Herausforderung ist, die einer Theorie und Praxis des Wissens inhärent ist. Das Wissen als absolutes Wissen ist demnach weder in einer Potenzierung von Allgemeinheit und Abstraktion noch in einer Potenzierung von Sinnlichkeit und Konkretion zu haben. Den Ausgleich beider Ansprüche des Wissens zu suchen, ist der Motor des Wissens selbst, der weder das individuelle Subjekt noch die allgemeine Welt außer Acht lässt. Die Stabilität dieses Grundverhältnisses lässt sich nur durchführen, wenn dieses Verhältnis bereits im Gange ist. Die Oszillation gewinnt diese Stabilität in der Bewegung und nicht durch die Pole, die in ihr als bestimmbare Größen überhaupt erst generiert werden. Eine Theorie des Wissens ist nach Schleiermacher immer schon Praxis, immer schon zwischen Bild und Begriff, zwischen Subjekt und Welt in Aktion. Die höchste Identität im Wissen zu finden, ohne sie jemals erreichen zu können, bedeutet, einen epistemischen Ort einzunehmen, der wiederum eine relative Einheit aus Identität und Differenz sowie aus Ruhe und Bewegung ist; denn - so lässt sich nicht nur im Blick auf die Funktion des Begriffes als ‘schwebende Einheit’, sondern auch im Blick auf den Anfang unserer Untersuchung sagen - “in diesem Schweben [ist] die ganze Fülle meines irdischen Lebens” (Schleiermacher 1818 a: 209). 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