eJournals Kodikas/Code 36/1-2

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2013
361-2

Vorwort

2013
Christina Vogel
Peter Rusterholz
Vorwort Christina Vogel / Peter Rusterholz Revolte, Um-Kehrung, Aus-Bruch: die Avantgarden begehren gegen Traditionen und Institutionen auf, suchen sich von den Fesseln der Konventionen zu befreien. In Literatur und Kunst wenden sie sich gegen ästhetische Normen und überkommene Wertvorstellungen. Die künstlerischen Avantgarden wollen die Unterscheidung von Theorie und Praxis, von Kunst und Leben, Werk und Ereignis aufheben und fordern ein neues Selbstverständnis. Sie streben nach einem noch unbekannten Verhältnis zwischen Stoff und Form, Zeichen und Bedeutung, Präsenz- und Sinneffekten. Vor allem der Dadaismus hat die Materialität der Dinge und Medien wieder entschieden in den Mittelpunkt gerückt: Kurt Schwitters, indem er aus Fundstücken und Abfall seine Merzbilder komponierte, Marcel Duchamp, indem er durch Dekontextuierung und Verfremdung die Alltagsgegenstände selbst in den Rang von Kunst erhob, Tristan Tzara, indem er willkürlich zerschnittene Zeitungsschnipsel zu Gedichten mit eigener poetischer Kraft verwebte, Hugo Ball, indem er die Lautlichkeit der Stimme zu komplexen Sinfonien des Konkreten verdichtete. Daraus ist eine Vielzahl von weiteren Projekten entstanden wie das Objet trouvé, die konkrete Poesie, Simultangedichte oder auch das körperbetonte Aktionstheater. Die Beiträge des vorliegenden Bandes gehen auf den 13. Internationalen Kongress der Deutschen Gesellschaft für Semiotik zurück, der vom 12. bis 16. Oktober 2011 in Potsdam stattfand, und wurden dort in der Sektion 10 "Avantgarden und ihre [R-]Evolution der Zeichen - Wendezeiten der Literatur und Kunst" präsentiert. Dieser Kontext erklärt, weshalb besonders der Frage nachgegangen wird, ob die Semiotik als Theorierahmen und Analyseperspektive fähig ist, avantgardistische Erzeugnisse und Kunstpraktiken zu beschreiben und interpretieren. Da die Avantgarden mit der Produktion spezifischer Präsenz- und Realitätseffekte die vorherrschende Sinnkultur radikal ablehnen, den tradierten Zeichenbegriff verändern und das Verständnis von künstlerischer Rezeption revolutionieren, steht im Folgenden auch zur kritischen Diskussion, ob und welche Semiotik das eigentümlich Materiale, Prozesshafte und Überraschende der avantgardistischen Ästhetik zu fassen vermag. Historische Avantgardebewegungen können als Selbstkritik der Kunst, als Kritik oder als Negation der Kunst verstanden werden, als Metareflexion ästhetischer Praxis und als Nachweis der Wahrheit, respektive Unwahrheit ihres Bezugs zum Leben. Ihre Manifeste zeigen oft ein paradoxes Verhältnis zwischen ihrer Theorie einer radikalen Ablehnung der Kunst und den experimentellen Versuchen, eine neue Kunst zu begründen. Auch allgemein anerkannte Vertreter dieser Strömungen wie Kurt Schwitters wirken nicht nur durch das Moment der Negation der Tradition, sondern durch Innovation, durch Konzentration auf die Materialität der künstlerischen Mittel, mit der sie neue Formen von Kunst schaffen. Im Sinne einer Differenzierung schien es uns deshalb geboten, nicht nur traditionelle historische Avantgarden K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 36 (2013) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Christina Vogel / Peter Rusterholz 4 zu berücksichtigen, sondern auch Beispiele avantgardistischer Innovation in einem erweiterten Verständnis des Begriffs einzubeziehen. Obschon die Avantgarden der klassischen Moderne - insbesondere der Futurismus, Dadaismus und Surrealismus - mit allem Überlieferten brechen und sich aggressiv gegen die Vorstellung von Vorbildern oder Vorläufern wenden, zeigen die hier versammelten Aufsätze, dass es von Interesse ist, sowohl in historischer als auch in systematischer Perspektive die Strategien der Künste zu beleuchten, denen es um eine Einbeziehung des konkreten Materials, um unmittelbare Performation und um ein erneuertes Verhältnis zu sprachlichen, visuellen und gestischen Zeichenprozessen und Zeichenfunktionen ging und geht. Die Negation unmittelbar vorangehender Tradition ist gewöhnlich mit der Rezeption und Variation früherer Traditionen verbunden. Die semiotische Analyse und der Bezug zu negierten und zu inspirierenden Überlieferungen soll eine nuancenreiche Darstellung der avantgardistischen Bewegungen ermöglichen, auch jener, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entscheidende Impulse von früheren Strömungen erhielten. Der erweiterte Gebrauch des Avantgardebegriffs ist sicher nicht unproblematisch, aber er eröffnet gleichwohl die Möglichkeit, jenseits der Proklamation von Zäsuren und Differenzen Kontinuitäten und Identitäten zu entdecken, welche die Relation von semiotischen Modellen, künstlerischen Avantgarden und ästhetischen Erfahrungen in ungeahnter Weise erhellen. So unterschiedlich die Werke und Aktionen, die Programme und Manifeste sind, denen die einzelnen Beiträge gewidmet sind, sie zeigen, was avantgardistische Kunstpraxis und Ästhetik hauptsächlich auszeichnet: ob in Literatur oder Kunst, die Avantgarden verstehen sich in erster Linie als Neuerer. Sie erneuern die bekannte, rational scheinende Ordnung der Dinge und Menschen, die hierarchischen Systeme der Werte und Vorstellungen, die ästhetischen und politischen Diskurse, indem sie die Zeichen- und Sinnstrukturen, die Kunst- und Schreibpraxis sowie die Deutung der Welt um- und verkehren, tiefgreifend verändern, ja ausser Kraft setzen. Die totale Negation der Tradition, die bewusste Zerstörung der Sinn- und Bedeutungseinheiten, die Verweigerung, Kunst in den Dienst von Kommunikation und Repräsentation zu stellen, ist zweifelsohne das Merkmal von Tommaso Marinettis futuristischem Manifest (1909) oder von Tristan Tzaras Proklamationen im 1916 eröffneten Cabaret Voltaire in Zürich, doch sie stellen nicht die einzige avantgardistische Haltung dar. Die fortschrittlichen Strömungen in Rumänien - dem Heimatland Tristan Tzaras und Marcel Jancos - streben schon zu Beginn der 20iger Jahre nach der Integration von destruktiven und konstruktiven Aktionen. Die erste und einzige Nummer der Zeitschrift 75 HP von Ilarie Voronca und Victor Brauner zeugt von dem Willen, die semiotischen Strukturen und Praktiken zu erneuern durch die Überschreitung festgelegter Grenzen sowie die Eroberung noch unbekannter Freiräume von ästhetischer Wahrnehmung und Erfahrung. Auch Kurt Schwitters Merz-Kunst verbindet mit Hilfe verschiedener Strategien wie Verfremdung und Polyperspektivismus gegenläufige Prozesse von Dekomposition und Rekomposition und führt dadurch die tradierten Zeichen-, Wert- und Gesellschaftsordnungen in neue Ordnungen über, ohne eine radikale Unterbrechung auszurufen. Welt wird hier programmatisch verwandelt und vereint dabei dekonstruktive und konstruktive Prinzipien. Die stete Suche nach neuen Gestaltungsweisen in Text und Bild findet sich auch in späteren avantgardistischen Bewegungen, wie zum Beispiel der Konkreten und Visuellen Poesie nach 1950. Franz Mon, Timm Ulrichs und andere Dichter lehnen nicht einfach herkömmliche Bedeutungsmuster oder die Verweisfunktion von Sprache ab, sie erneuern vielmehr die lyrische Erfahrung dank der Bildung und dem Zusammenspiel von visuellen, graphischen Zeichen mit phonetischen, akustischen Elementen. Es ist nicht Un-Sinn, Wider-Sinn - wie bei einigen Dada-Vorläufern - es ist ein Vorwort 5 anderer Sinn, ein neuer Anfang, der gewagt werden soll. Neue Sinn-Klang-Verbindungen, neue Schreibstrategien finden sich jedoch schon im beginnenden 19. Jahrhundert. Clemens Brentanos musikalische Poetik nimmt formale Züge vorweg, die die "klassische" Avantgarde charakterisieren. Die Lautlyrik des „ Weberlieds “ blockiert deutlich konventionelle Rezeptionsweisen und aktualisiert ein ästhetisches Erlebnis, das die sprachlichen Zeichen aus der Referenzlogik befreit. Auch wenn Motivation und Intention nicht zu vergleichen sind mit jenen, die die avantgardistischen Bewegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts dominieren, so ist die Neuheit dieser Sprachmusik doch das Zeichen einer Krise, die späteren Brüchen vorausgeht. Auch Brentanos Schwester, Bettine von Arnim, vollzieht in ihren Briefbüchern eine Abwendung von der klassischen Tradition und inauguriert einen Schreibstil, der ihrer Zeit vorauseilt. In zweiter Linie streben alle avantgardistischen Strömungen nach einer engen Verbindung von Kunst- und Lebenspraxis. Die Überwindung der Trennung von Kunst und Leben manifestiert sich einerseits in den Attacken gegen die Institution Kunst und gegen die Tendenz der Abkoppelung der Künste, andererseits in den provokativen Happenings und ephemeren Performance-Darbietungen der Dadaisten, Surrealisten und ihrer Nachfolger. Der Gestus des Vorauseilens, des sich immerzu neu Entwerfens, der spezifisch für die Avantgarden ist, verwirklicht sich im Anspruch, die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit zu sprengen. Noch vor oder unter dem Einfluss der historischen Avantgarde trachten Künstler danach, die Kunst ins Leben zu integrieren oder das Leben in Kunst zu verwandeln. Als soziales, politisches oder literarisches Engagement findet sich diese Haltung u.a. bei Bettine von Arnim, Kurt Schwitters, Robert Musil. Die Selbstreferentialität, ein Merkmal der Avantgarden, das sich aus dem utopischen Charakter des Postulats der Entgrenzung von Theorie und Praxis ergibt, steht keineswegs in Widerspruch zur Kritik an der Vorstellung der Autonomie von Kunst. Die Aufwertung der Unmittelbarkeit und Spontaneität des Kunst-Erlebnisses erklärt wiederum, weshalb alle avantgardistischen Strömungen im Zufall ein zentrales Prinzip entdecken. An die Stelle des Künstlers, der als kreatives Individuum und Genie entmystifiziert wird, tritt die kollektive Bewegung oder der künstlerische Prozess, der im Medium von Bild und Sprache, von Collage und Montage dem Zufälligen eine Fülle nicht vorhersagbarer Entfaltungsmöglichkeiten bietet. Gerade der Funktion des Zufalls, des Überraschenden, sowie dem Problem des Neuen schenkt der semiotische Pragmatismus von Charles Sanders Peirce eine besondere Aufmerksamkeit, indem er im Begriff der Semiosis die Genese von Zeichen und Sinn als unendlichen Prozess modelliert, welcher Kontingentes einschliesst. Auf dem Hintergrund von Kontinuität bezieht er zufallsbedingte Ereignisse mit ein. Der Zufall wiederum spielt eine ganz zentrale Rolle bei der Bestimmung des dritten Merkmals der Avantgarden. Neben der Performativität ist es die Materialität, die privilegiertes Kennzeichen der avantgardistischen Kunstpraxis ist. Bald ist es die Betonung der klanglichen Materialität der Sprache, bald die Verwendung von anscheinend wertlosem Material wie Schnipsel, Scherben und Schnüre in den Collagen, welche die codierten Bedeutungsstrukturen und verkrusteten Wertvorstellungen radikal in Frage stellen. Die verwendeten Materialien sind Fundstücke, die nicht absichtlich gesucht wurden, sondern die dem Künstler unverhofft zufallen und die er - so disparat sie scheinen mögen - zusammenführt in einem Vorgang, der - ganz besonders bei den Surrealisten - keiner bewussten Kontrolle unterliegt, vielmehr unbewussten Tendenzen und Trieben zum Ausdruck verhelfen soll. Die sinnlich zu erfahrende Materialität dieser neuen Lebens-Kunst, welche den Dingen eine ungeahnte ästhetische Qualität verleiht, erschöpft sich keineswegs in der Ver- und Aufwertung banalster Christina Vogel / Peter Rusterholz 6 Gegenstände, sie entwickelt sich auch fort und aktualisiert in der Bewegung der Neuen Sachlichkeit ein verändertes Verhältnis zu den materiellen Dingen. Eine neue Warenästhetik entdeckt die Wirkung des Materiellen. Im Film und in der Literatur der 20iger und 30iger Jahren, z.B. in Irmgard Keuns Roman Das kunstseidene Mädchen (1932), werden Waren und Marken zum Medium Faszination, ein Erlebnis, das nicht leicht in eine semiologisch eindeutige Kategorie zu überführen ist. Die Avantgarden, das zeigt der vorliegende Band, lassen sich nicht einfach und endgültig bestimmen und in die Geschichte von Kunst und Literatur einordnen. Doch gerade ihre zum Teil kompromisslosen Versuche, Zeichenfunktionen und Bedeutungsstrukturen zu verändern, machen deutlich, dass die Semiotik oder besser die verschiedenen semiotischen Theorien und Interpretationsmodelle die Herausforderung annehmen sollen, diese Bewegungen zu untersuchen. Die Semiotik als Methode braucht keineswegs zu kapitulieren, wenn es darum geht, das ästhetische, präsenzorientierte Erleben zu beschreiben und zu analysieren. Im Gegenteil: in der Auseinandersetzung mit den Avantgarden reflektiert die Semiotik sowohl die Gültigkeit wie auch die Grenzen ihrer Konzepte, Instrumente und Verfahren. Die Herausgeber dieser Nummer von Kodikas danken allen Kolleginnen und Kollegen, die am Potsdamer Kongress mitgewirkt und ihre Vorträge für die Publikation überarbeitet haben. Für die Möglichkeit, die Beiträge in einer speziellen Nummer der Zeitschrift Kodikas zu veröffentlichen, sind sie Prof. Dr. Dr. Ernest W.B. Hess-Lüttich zu einem besonderen Dank verpflichtet.