eJournals Kodikas/Code 36/3-4

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
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2013
363-4

Wahrnehmung und Zeichen

2013
Achim Eschbach
* Für zahlreiche wertvolle Hinweise und anregende Kritik möchte ich meinen Freunden und Kollegen des Essener Arbeitskreises Semiotik und Ästhetik und der Arbeitsgruppe Semiotik Aachen herzlich danken. Wahrnehmung und Zeichen Die sematologischen Grundlagen der Wahrnehmungstheorie Karl Bühlers * Achim Eschbach I Gerold Ungeheuer (1967: 2078) diskutiert in seinem Aufsatz „Die kybernetische Grundlage der Sprachtheorie von Karl Bühler“ die Frage, „wie Bühler die sprachliche Semantizität aus den in kybernetischer Funktion eingesetzten kommunikativen Kontakten bei Gemeinschaftshandlungen in gemeinsamer Wahrnehmungssituation herleitet“. Ungeheuer zitiert in diesem Zusammenhang eine Passage aus Bühlers (1978: 39) Krise der Psychologie, die besagt: „Sehen wir nicht die Handlungen von Menschen und Tieren in ungezählten Modifikationen wortlos und gestenlos sinnvoll ineinander greifen? Gewiß, nämlich in gemeinsamen Wahrnehmungssituationen. Und das ist der Grundfall, von dem wir ausgehen müssen.“ Dieses Zitat kommentiert Ungeheuer (1967: 2078) in folgender Weise: K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 36 (2013) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Karl Bühler ( 1879-19 63 ) Achim Eschbach 326 1 Bühler spricht nicht durchgängig von ‚Sematologie‘ als der allgemeinen Zeichenlehre, sondern benutzt ebenfalls Ausdrücke wie: Semiotik, Symbolik, Semeologie und eine Vielzahl weiterer (cf. Kamp 1977: 98f. & spez. Anm. 47-50). Kamp weist besonders darauf hin, daß es Anton Martys Konzeption einer ‚allgemeinen deskriptiven Semasiologie‘ war, die Bühler zu zeichentheoretischen Studien anregte. Auf S. 34 seiner Axiomatik der Sprachwissenschaften (Bühler 1976) geht Bühler in einer längeren terminologischen Bemerkung auf den Terminus ‚Sematologie‘ ein. Was ihn allerdings dazu bewegte, anstelle seines früheren Wortgebrauchs Sematologie zu bevorzugen, läßt Bühler unbeantwortet. Offen bleibt auch, ob ihm die Verwendung dieses Terminus in Richard Gätschenbergers (1977): Zeichen, die Fundamente des Wissens und in Benjamin H. Smarts (1978): Grundlagen der Zeichentheorie: Grammatik, Logik, Rhetorik bekannt war. 2 So schreibt beispielsweise Friedrich Kainz in dem Geleitwort zur 2. Auflage der Sprachtheorie Karl Bühlers: „Er (Bühler) sieht das Entscheidende an der Sprache darin, daß sie ein System darstellender Zeichen ist. Das ist und bleibt richtig, nur sehen wir heute die Darstellung nicht als eine Funktion und Leistung der Sprache neben den anderen der Kundgabe (des Ausdrucks) und der Auslösung (des Appells) an, sondern als das Essentielle an der Sprache, als ihr zentrales Wesensmoment, das hinter sämtlichen ihrer Leistungen steht und diese allererst ermöglicht.“ (Kainz, in: Bühler 1978 b: XIV) Ich nehme kaum an, daß Bühler diese ‚Korrektur‘ an seinem Organonmodell gelten lassen würde, wie es Wunderlich (1969: 5ff.) vermutet, sondern ganz im Gegenteil auf der sematologischen Basis der von ihm isolierten Elementarfunktionen insistierte; dieser Einwand gilt im übrigen in gleicher Weise für Roman Jakobsons ‚Erweiterung‘ des Organonmodells (Jakobson 1960: 353), denn Jakobsons Integrationsversuch des Organonmodells in eine Kommunikationskette kann nicht als Präzisierung der Bühlerschen Überlegungen begriffen werden, sondern nur als eine Beschneidung, die die erkenntniskritische Basis der Bühlerschen Sematologie verläßt. Kooperative Handlungen dieses Typus findet man im tierischen Bereich ebenso wie im menschlichen. Die in ihr ausgebildete Form der Kommunikation ist elementar insofern, als sie konstituiert ist durch ein Minimum an semantischen Einrichtungen. Da es hier nicht auf eine Definition der Semantizität ankommt, kann unter Annahme bestimmter Voraussetzungen auch gesagt werden, daß dieser Grundfall sozialen Verhaltens ohne zeichenhafte oder signalartige Kontaktmittel funktioniert. Nun fährt Bühler (1978: 39) allerdings an der bei Ungeheuer zitierten Stelle fort: „Eine Steuerung liegt auch hier vor mit allem, was dazugehört, nämlich mit einer Einstellung der Individuen aufeinander, das ist der Kontakt, von dem wir sprechen, und mit einem gegenseitigen Verstehen der Tätigkeiten des anderen.“ Bei Ungeheuers Zitierweise handelt es sich meines Erachtens nicht um eine schlichte Nachlässigkeit, sondern um ein signifikantes Beispiel desjenigen, was ich die linguistischsprachpsychologisch-sprachphilosophische Verkürzung der Bühlerschen Sematologie 1 nennen möchte. Ich will mich bei der Untersuchung des Verhältnisses von Wahrnehmung und Zeichen um den Nachweis bemühen, daß Ungeheuer und andere 2 nicht etwa nur die sematologische Pointe des Bühlerschen Ansatzes verpassen, sondern daß aus der behaupteten Dominanz der Darstellungsfunktion der Sprache unversehens ein statischer Zeichenschematismus resultiert, der sich - gestützt auf ein mechanisches Repräsentationsmodell - eines Verständnisses des Zeichenverkehrs der Menschen und Tiere begibt. Mit der Behauptung, erst eine konsequente sematologische Interpretation der Bühlerschen Arbeit könne den eigentlichen Absichten des Autors gerecht werden, ist nicht eine alternative Lesart angesprochen, sondern gesagt, daß nur die sematologische Interpretation den axiomatischen, d.h. erkenntniskritischen Absichten gerecht zu werden vermag, die Bühler in sämtlichen seiner Arbeiten verfolgt. Diese Absicht äußert Bühler (1978 b: 28) bei der Benennung der beiden Aufgaben der Sprachtheorie: Wahrnehmung und Zeichen 327 3 In der Krise der Psychologie fragt Bühler: „Wie ist Psychologie möglich? So würde Kant in unserer Lage fragen. Es obliegt in der Tat den Philosophen, bald über die Möglichkeit, bald über die Notwendigkeit des Gegebenen nachzudenken. Und wir bedürfen der philosophischen Besinnung auf unsere Axiomatik, ihren Charakter und ihre Tragfähigkeit. Es ist eine Art transzendentaler Deduktion im Sinne Kants, die notwendig ist und hier erstrebt wird. Ich stelle die These auf, daß jeder der drei Aspekte (sc. Erlebnis, Benehmen, Leistung) möglich und keiner von ihnen entbehrlich ist in der einen Wissenschaft der Psychologie. Denn jeder von ihnen fordert die beiden anderen zu seiner Ergänzung, damit ein geschlossenes System wissenschaftlicher Erkenntnisse zustande kommt.“ (Bühler 1978 a: 29) Er ist sich jedoch deutlich bewußt, daß Kant mit dieser Axiomatik nicht zufrieden gewesen wäre. Gegen den möglichen Kantischen Einwand allerdings gibt Bühler zu bedenken: „Männer wie Russell und Hilbert stellen sich die Prinzipienforschung im Bereich der empirischen Wissenschaften so vor, daß man vorhandene Ergebnisse, Theorien, aufgreift und einem Verfahren der logischen Reduktion unterwirft; das ist der erste Schritt des ‚axiomatischen Denkens‘“ (Bühler 1978 b: 22). Die erste ist: den vollen Gehalt und Charakter der spezifisch linguistischen Beobachtungen zu bestimmen, und die zweite: die höchsten regulativen Forschungsideen, welche die eigenartigen sprachwissenschaftlichen Induktionen leiten und beseelen, systematisch aufzuzeigen. Zur näheren Erklärung der zweiten Aufgabe, die sein Hauptanliegen darstellt, schreibt Bühler (ibid.: 20) wenige Seiten später: Wir proponieren eine Art der Beschäftigung mit den Axiomen, die man meinethalben als rein phänomenologische Explikation oder als eine erkenntnistheoretisch (und ontologisch) neutrale Fixierung von Grundsätzen bezeichnen kann. Es sind Grundsätze, die aus dem Bestande der erfolgreichen Sprachforschung selbst durch Reduktion zu gewinnen sind. 3 Auch wenn Bühler immer wieder in seinen Arbeiten zu ausführlichen Diskussionen sprachpsychologischer, entwicklungspsychologischer oder im engeren Sinne linguistischer Probleme ansetzt, so geschieht das doch nicht vorrangig in einzelwissenschaftlichem Interesse, sondern im Interesse der Einordnung einer theoretisch noch nicht überschaubaren Mannigfaltigkeit von Daten in ein übergreifendes Erklärungsmodell, denn in diesem Verfahren gilt die Aufmerksamkeit nicht dem singulären Datum, sondern dieses Datum bildet nur den „Ausgangsgegenstand“ der Untersuchung, die aber letztlich auf die „Zeichenfunktion“ dieses Datums gerichtet ist. Wenn sich also beispielsweise der Linguist mit der Bestimmung des Lautsystems einer gegebenen Sprache, ihrem Wortschatz und ihrem Sprachbau befaßt, so ist in diesem Fall die Rede von den Sprachgebilden (cf. Bühler 1931: 96), oder einem Aspekt der Sematologie. „Ihre eigentliche Substanz, ihr Kerngebiet aber sind Fragen und Antworten, Untersuchungen und Erkenntnisse, die man zweckmäßig keiner der […] Einzelwissenschaften, sondern […] viel treffender der Logik oder der Gegenstandstheorie ein- oder unterordnet“ (Bühler 1931: 99), oder wie Kamp (1977: 125) feststellt: „Die ‚axiomatische‘ Sprachtheorie erörtert - wenn man so will - die ‚metaphysischen Anfangsgründe der Sprachwissenschaft‘.“ II Stellt sich Bühler bei seiner axiomatischen Vorgehensweise ausdrücklich in die Kantische Tradition, insofern er beispielsweise seine Axiomatik der Sprachwissenschaft mit der Bemerkung eröffnet: „Daß alle unsere Erkenntnisse mit der Erfahrung anfangen, daran ist gar kein Zweifel“ (cf. Bühler 1978 a: 26, 57, 77, 161; Bühler 1978 b: 153, 288, 373), so wäre nun im Einzelnen zu untersuchen, wie er den Weg der Erkenntnis beschreibt, wie sich in diesem Achim Eschbach 328 Erkenntnisprozeß das Verhältnis von Wahrnehmung und Zeichen darstellt, und welche Auswirkungen schließlich diese Bestimmungen auf sein sematologisches Modell ausüben. In der Krise der Psychologie formuliert Bühler im Zusammenhang der Diskussion der Zweiheitslehre E. Sprangers folgende These über den Sinn der Wahrnehmungen von Menschen und Tieren, die seiner Auffassung nach parallel zu dem Aufbau seiner Sprachtheorie verläuft und dazu geeignet ist, den Benehmens- und den Erlebnisaspekt auf dem Gebiete der Wahrnehmungen in höherer Einheit zu verbinden. Ich behaupte, daß mit den genannten drei Sinnfunktionen, Signale, Anzeichen und Symbole, das Gesamtgebiet der Wahrnehmungen theoretisch zu bewältigen ist. Die erste Formel, die wir gewählt haben, mit ihren zwei Ausdrücken (Auslösung und Steuerung) ist ohne weiteres vom Benehmensaspekt auf den Erlebnisaspekt zu übertragen. Sie beschreibt das Geschehen, angefangen von den niedersten Tieren, wo überhaupt von so etwas wie Wahrnehmungen gesprochen werden kann, bis hinauf zu den verwickelsten Symbolwahrnehmungen. […] Was aber das Geschehen angeht, so kann man sagen, daß die Sinneseindrücke auslösend und steuernd eingreifen (Bühler 1978 a: 75). Bühler versichert uns also, daß der Gesamtbereich der Wahrnehmungen durch eine Zeichenanalyse vollständig erfasst werden kann. An anderer Stelle intensiviert er jedoch diese Behauptung dahingehend, daß „die Wahrnehmungslehre der Psychologie ohne das Eingehen auf die darin enthaltenen Zeichenfunktionen der Sinnesdaten nicht auf einen grünen Zweig gebracht werden (kann)“ (Bühler 1976: 40). Zu einem besseren Verständnis dieser Meinung ist demzufolge danach zu fragen, welche inhaltliche Prägung Bühler seinem Begriff von Wahrnehmung geben will. In dem weiter oben angeführten Zitat hatte Bühler die Auslösungs- und Steuerungsfunktion von Sinneseindrücken betont, die eine Zwecktätigkeit bewirken. Mit dieser Feststellung ist jedoch nur eine Seite des Prozesses erfasst, die um die zweite, „komplementäre und unentbehrliche Betrachtung“ ergänzt werden muß, nämlich „die Blickrichtung auf das intentionale Moment, welche uns lehrt, daß die Sinnesdaten noch eine andere semantische Funktion erfüllen. Sie sind Zeichen, stehen für etwas anderes als was sie selbst sind, und vertreten das Bezeichnete“ (Bühler 1978 a: 78). Zur weiteren Aufklärung dieses zweiten, von Bühler als wesentlich bezeichneten Aspektes ist die spezifische Zeichenfunktion der Sinnesdaten in der Wahrnehmung gesondert ins Auge zu fassen. Diese spezifische Zeichenfunktion der Sinnesdaten bestimmt Bühler als Anzeichenfunktion, „weil der Gehalt des Wahrnehmungsurteils, weil der Sachverhalt, den wir in der Wahrnehmung zu erfassen vermeinen, den Bereich der Empfindungsdaten stets überschreitet“ (Bühler 1978 a: 78). Mit der letztgenannten Kennzeichnung des Wahrnehmungsprozesses als Bildung eines Wahrnehmungsurteils, das - gestützt auf besondere Zeichenarten - den Bereich der Empfindungsdaten überschreitet, sind zwar die zentralen Merkmale der Bühlerschen Wahrnehmungstheorie bereits benannt, verlangen jedoch in zumindest drei Hinsichten weiterführende Erläuterungen: - Welche kennzeichnenden Merkmale weisen Anzeichen im Unterschied zu anderen Zeichenarten auf? - Wie ist die Bildung von Wahrnehmungsurteilen zu beschreiben? - Inwiefern überschreitet das Wahrnehmungsurteil den Bereich der Empfindungsdaten? Zur Beantwortung der ersten Frage sind einige vorbereitende Überlegungen erforderlich, weshalb diese Frage erst später wieder aufgegriffen wird. Die zweite Frage, die Frage nach Wahrnehmung und Zeichen 329 der Bildung von Wahrnehmungsurteilen, weist auf einen Zusammenhang, den Bühler unter Hinweis auf die seitjeher bekannte Lehre von der Apperzeption anhand der Frage-Antwort- Relation erläutert um hervorzuheben, daß jeder Wahrnehmungsprozess zwei Momente umschließt. Den Ausgangspunkt bildet demnach eine Frage an die Dinge, die nicht explizit formuliert sein muß, was für den Fall der forschenden Grundhaltung des Wissenschaftlers zuträfe, sondern ebenso können die Eindrücke ungesucht und überraschend auf uns einströmen, wie es in der alltäglichen Situation die Regel ist. Nun kann auf dieser Stufe der Frage von Wahrnehmung noch nicht die Rede sein, sondern erst dann, wenn diese Eindrücke zu Antworten, zu Beobachtungen, d.h. Wahrnehmungsurteilen geordnet werden, oder mit anderen Worten, wenn die Eindrücke in einem „so ist es, einem Urteil, das sich auf die Sinnesdaten stützt und miterstreckt, ihren Abschluß finden“ (Bühler 1978 a: 77). Da Bühler jedoch nicht dazu bereit ist, diesen Prozeß der Bildung von Wahrnehmungsurteilen im Sinne Herbarts der Leistung des Gedächtnisses zu überantworten, das die neuen Sinnesdaten in den Verband der alten, schon gefestigten und geordneten Erkenntnisse aufnimmt, und ebenfalls nicht mit Kant und Schopenhauer sagen will, daß der Verstand es ist, der das Chaos der Sinnesdaten allererst ordnet (cf. Bühler 1978 a: 77), müssen wir die Dynamik dieses Prozesses anderweitig zu klären versuchen. Ein klärender Hinweis findet sich in der Axiomatik der Sprachwissenschaften, wo Bühler (1976: 45) schreibt: Die Daten der ‚reinen Erfahrung‘ hat keines Menschen Auge je geliefert, auch kein Ohr. Was man da und dort das unmittelbar Gegebene, d.h. das, was als Tatsache unmittelbar einleuchtet […] und vom empirischen Forscher eben hingenommen wird, genannt hat, schließt Relationen nicht aus, sondern ein. Dies muß allen Elementenjägern und Pointilisten unter den Wahrnehmungsanalytikern gesagt werden. Es wäre nach Bühler demnach eine falsch gestellte Frage, nach der letzten erkenntnistheoretischen Würdigung des ‚unmittelbar Gegebenen‘ zu streben oder aufzurechnen, wieviel im Prozeß der Wahrnehmung den Sinnen und wieviel dem Verstand zuzuweisen wäre; wesentlich ist vielmehr, daß die Data bereits in einem Relationsverband erfaßt und gedeutet sind (cf. Bühler 1976: 45). Diese wichtige Überlegung soll anhand eines Beispiels erläutert werden, das Bühler in seinem Aufsatz „Phonetik und Phonologie“ anführt und ihn zur Formulierung des Prinzips der abstraktiven Relevanz oder, wie wir sagen, der diakritischen Zeichenbestimmung veranlaßt. In dem besagten Aufsatz bemüht sich Bühler im Anschluß an Nikolaus Trubetzkoy um die wissenschaftliche Etablierung der Phonologie in Abhebung von der Phonetik. Den Ausgangspunkt dieses Unternehmens bildet die Klärung der möglichen Grundeigenschaften allen phonetischen Materials; als unentbehrliche Bestimmungsmomente jedes konkreten Vokalklanges führt Bühler an: Helligkeit, Sättigung, Dauer, Intensität und Melodieverlauf und kommentiert: Jeder konkrete Vokallaut hat alle fünf Grundeigenschaften, die wir aufgezählt haben; es ist gar nicht denkbar, daß ihm eine von ihnen schlechthin abginge. […] Jedoch es gilt der Satz (und er enthält die Wendung von der Phonetik zur Phonologie), daß nicht alle diese Eigenschaften in allen Sprachen gleich relevant sind (Bühler, 1932: 26). Stellt die Untersuchung der genannten fünf Eigenschaften den genuinen Forschungsbereich der Phonetik dar und ist gleichzeitig zu vermerken, daß jeder Vokallaut notwendig sämtliche dieser Eigenschaften aufweisen muß, in einigen Sprachen jedoch Abweichungen von dieser Regel zu konstatieren sind, dann ist auch klar, daß das Relevanzprinzip „einer reinen Materialbetrachtung des Lautbestandes der menschlichen Sprache prinzipiell ent- Achim Eschbach 330 zogen und unzugänglich ist“ (Bühler, 1932: 27). Bühler (ibid.: 27) gibt hierzu folgende Erklärung: Wer zum ersten Mal von der Vokalarmut des Adyghischen berichten hört, der könnte sich die Dinge zunächst einmal so vorstellen, als kämen dort tatsächlich nichts anderes als immer nur drei Vokalklänge vor. Dem ist keineswegs so; denn wir finden bei Trubetzkoy die Notiz: ‚Das adyghische Phonem, das N. Jakovlev durch „a“ bezeichnet, hat nach Palatalen den objektiv phonetischen Lautwert eines i, nach oder vor gerundeten Velaren den eines u, zwischen zwei Labialen den eines ü, nach Dentalen den eines y, usw. Das Phonem „e“ lautet objektiv nach gerundeten Velaren als o, zwischen zwei Labialen als ö, usw. Die Artikulationsstellung bzw. Eigentonhöhe der adyghischen Vokale ist durch die phonetische Umgebung bestimmt und bedingt; unabhängig von dieser Umgebung - und also phonologisch gültig ist nur ihr ‚Öffnungsgrad‘. Es ergibt sich also auf dem Hintergrund dieses Beispiels, daß sich phonetisch gesehen Gleiches in phonologischer Sicht als unterschiedlich herausstellen kann. Dieser scheinbare Widerspruch löst sich dann auf, wenn der gesamte Problembereich nicht, wie traditionell praktiziert, ausschließlich im Hinblick auf die jeweiligen Materialeigenschaften betrachtet wird, sondern man in einer zweiten, komplementären und notwendigen Hinsicht nach der Zeichenfunktion der Laute fragt. Verzichtete die traditionelle Phonetik nach eigenem Dafürhalten auf den gesamten Bereich der ‚Bedeutungen‘, so wäre abgehoben davon der Gegenstand der Phonologie als die Frage nach der sinnvollen Zeichenfunktion im kommunikativen Kontext als die Frage nach dem funktionell Relevanten zu bestimmen. Hierzu sagt Bühler (ibid.: 38): Mit den Zeichen, die eine Bedeutung tragen, ist es also so bestellt, daß das Sinnending, dies wahrnehmbare Etwas hic et nunc nicht mit der ganzen Fülle seiner konkreten Eigenschaften in die semantische Funktion eingehen muß. Vielmehr kann es sein, daß nur dies oder jenes abstrakte Moment für seinen Beruf, als Zeichen zu fungieren, relevant wird. Das ist in einfache Worte gefasst das Prinzip der abstraktiven Relevanz. Kehrt man aufgrund dieser Einsicht die Ausgangsfrage um und fragt danach, wie denn die Phonetik überhaupt zu einer Abgrenzung ihres Untersuchungsgebietes gelangen kann, so stellt sich die postulierte Bedeutungsabstinenz als Selbsttäuschung heraus, denn die Phonetik muß ebenfalls im Hinblick auf etwas, auf Wörter und Sätze nämlich, ihre Aussagen treffen, d.h. die Unterscheidungsgrundlage oder Diakrise zweier sprachlicher Zeichen ist in aller Regel die ganze Lautgestalt der Wörter: Die Funktion aller Einzellaute, die in dem Worte vorkommen, erschöpft sich darin, daß jeder von ihnen zum Gesamtgepräge des Lautzeichens das Seine beiträgt; für sich betrachtet ist keiner von ihnen etwas anderes als ein bedeutungsfreier Materialbestandteil des Lautganzen (ibid.: 42). Ist also gefordert, klassifizierend und typisierend das lautliche Material einer Sprache zu ordnen, so sind die dazu erforderlichen Gliederungsgesichtspunkte die diakritischen Zeichen der Sprache, die Phoneme, die sich ihrerseits auf der Basis der materialen Zeichenträger als die sprachlichen Zeichen par excellence erweisen (cf. Bühler 1932: 40). Nun steht im vorliegenden Diskussionszusammenhang nicht die sprachliche Diakrise im Zentrum des Interesses, sondern gefragt ist allgemeiner nach den Abstraktions- und Spezifikationsleistungen im Wahrnehmungsprozeß allgemein. In der Sprachtheorie stellt Bühler lapidar fest: „Das Phänomen der Abstraktion bedeutet eine Schlüsselposition in der Sematologie“ (Bühler 1978 b: 45), und die im Laufe seiner Werke zur Erläuterung dieser These Wahrnehmung und Zeichen 331 4 Den hier angesprochenen Sachverhalt des kontinuierlichen semiotischen Prozesses diskutiert Bühler vor allem i II. Kapitel seiner Sprachtheorie unter dem Stichwort der Deixis (cf. Bühler 1978 b: 79-149). herangezogenen Beispiele betreffen oftmals, wenn nicht sogar in überwiegendem Maße, nichtsprachliche Sachverhalte, oder um es deutlicher zu formulieren: Bühler ist der festen Überzeugung, daß sich in der gleichen Weise, wie er es anhand sprachlichen Materials demonstrierte, jedweder Zeichenprozeß darstellt. Um dieser Behauptung auf den Grund zu gehen, ist es erforderlich, an die Ausgangspunkte der Überlegungen zurückzukehren. Den biologischen Ursprung der Zeichenproduktion nimmt Bühler dort und nur dort im höheren Gemeinschaftsleben von Lebewesen an (cf. Bühler 1978 a: 211), wo eine situationsgerechte Kooperation von Individuen die Erweiterung des Horizonts der gemeinsamen Wahrnehmungen verlangt. Was eines der an der Kooperation beteiligten Individuen mehr hat an situationsgewichtigen Wahrnehmungs- oder Erinnerungsdaten, aus diesem Fonds wird die Mitteilung bestritten (Bühler 1976: 26). Nun ist es einleuchtend, daß nicht Wahrnehmungsdaten es sind, die mitgeteilt werden, sondern Zeichen als mediale Glieder an die Stelle dieser Data treten müssen. In der gemeinsamen Wahrnehmungssituation reicht „das Vor- und Aufzeigen der Dinge oder Hinweisen auf die Dinge“ (Bühler 1976: 25), um die Aufmerksamkeit anderer zu erregen; schwieriger gestaltet sich der Sachverhalt erst dann, wenn der Hinweis auf etwas Zukünftiges, nicht mehr anschaulich Vorhandenes erfolgen soll. Nun ist es gerade Bühlers großes Verdienst, den lückenlosen Nachweis geführt zu haben, daß kein qualitativer Sprung zwischen der gemeinsamen Wahrnehmungssituation und dem unanschaulichen Zeigen auftritt, sondern vielmehr eine einheitliche sematologische Begründung für jedweden Zeichenprozeß anzuführen ist. 4 Betrachten wir also die Situation, in der jemand einem anderen etwas über einen Wahrnehmungstatbestand mitteilen will. Diese Mitteilung läßt sich nun in zweierlei Hinsicht betrachten: auf der einen Seite als physikalisches Phänomen, sagen wir als Farben einer bestimmten Qualität, und auf der anderen Seite unter der Perspektive der von diesen Farben ausgeübten medialen Funktionen zwischen den Partnern der betrachteten sozialen Situation. Hätte sich Bühler bei seiner sematologischen Analyse mit dieser Feststellung begnügt, dann wäre er in derselben Sackgasse steckengeblieben wie das gesamte strukturalistisch-semiologische Programm, das die Analyse mit der Konstatierung der unvermittelten und unter diesem Vorzeichen unvermittelbaren Dichotomie von signifiant und signifié meinte stornieren zu dürfen. Bühler stellt jedoch an dieser entscheidenden Stelle des Verfahrens die Fragen, „ob Relationsbestimmungen überhaupt zu den Wahrnehmungsdaten gehören, und wenn ja, ob zweitens die Ordnung, worin das stare pro stattfindet, zu denen gehört, deren Relationen wahrnehmungsmäßig bestimmt werden können“ (Bühler 1976: 43f.). Daß es überhaupt zu der ersten Frage kommen konnte, führt Bühler sehr zutreffend darauf zurück, daß im Anschluß an die Tradition des atomistischen Zeichenbegriffs, die sich von John Locke über David Hume bis ins 19. Jahrhundert fortsetzte, das simultan oder sukzessiv Mannigfaltige ‚einer‘ Wahrnehmung oder Wahrnehmungsfolge als eine Komplexion oder Summation aus Einfachem begriffen wurde, wobei als Einfaches lediglich ‚Sinnesdaten‘ verstanden werden, die man sich isoliert, d.h. relationslos angebbar vorstellte. Daß aber gerade diese entscheidende Annahme auf tönernen Füßen steht, d.h. daß die besagten Data keineswegs relationslos angebbar sind, sondern bereits in sich Relationsmomente enthalten, ist in die neuere semiotische Diskussion (cf. Smart 1978; cf. Land 1974) unter den Stichworten des Zeichensystems und des Kontextprinzips eingegangen, auf das auch Bühler (1976: m Achim Eschbach 332 5 Gerade im Zusammenhang der Diskussion der scholastischen Formel ‚aliquid stat pro aliquo‘ zeigt sich, daß der Bühlersche Ansatz zwei Positionen zusammenzubinden versucht, die sich bei genauerer Prüfung als miteinander unvereinbar erweisen: Erkenntnistheoretisch wendet sich Bühler gegen den Wahrnehmungsatomismus, wie er bis ins 19. Jahrhundert und auch noch von W. Wundt usw. vertreten worden ist, und sagt dann unter dem Einfluß der Gestaltpsychologie, daß bereits die Wahrnehmung rational sei. Das entspricht grosso modo der zeitgenössischen Entwicklung in der Linguistik, nämlich dem Übergang von den Junggrammatikern zu etwa Bally, Sechehaye und anderen, d.h. zu den Strukturalisten. So findet sich beispielsweise bei Trubetzkoy in dessen Aufsatz über neuere Tendenzen in der Sprachwissenschaft eine ganz parallele Formulierung, in der er sich gegen den Wahrnehmungsatomismus ausspricht. Andererseits ist bei Bühler eine differentielle Umdeutung des scholastischen ‚aliquid stat pro aliquo‘ zu beobachten, insofern das ‚stare pro‘ reduziert wird auf den Status eines 44) - im Anklang an seine Würzburger theoretischen Studien - rekurriert, wenn er dieses Prinzip erläuternd schreibt: Summarisch gilt, daß alle Farbdaten, die der (darstellende) Maler auf der Palette technisch vorbereitet und dann in die Malfläche setzt, einen ‚Bildwert‘ für den Betrachter erhalten, der (nicht etwa nach den einfacheren Regeln der Nachbarschaftsbeziehungen wie Kontrast usw., sondern) vom Bildkontext als solchem bestimmt wird. Es ist also gar keine Ausnahme, sondern die Regel, daß die Wahrnehmungsdaten von dem wofür stehend sie hingenommen werden, mitbestimmt sind. Sie enthalten normalerweise Relationen der Art, auf die es uns ankommt. Wäre es nun so, daß die ‚Farbdaten‘, von denen Bühler spricht, ihren ‚Bildwert‘ lediglich aufgrund der Tatsache einer Kontiguitätsbeziehung erhielten, so handelte es sich bei diesem Kontextprinzip um nichts weiter als die Übernahme des strukturalistischen Wertprinzips. Bühler hebt jedoch besonders hervor, daß er sein Kontextprinzip gerade nicht an den einfacheren Regeln der Nachbarschaftsbeziehungen orientiert, sondern für die Bestimmung des ‚Bildwertes‘ von qualitativ andersartigen Relationsgefügen ausgeht: Über der Ebene einfacherer Kontiguitätsbeziehungen muß eine höhere Ordnung von Relationsgefügen angenommen werden, die letzten Endes Relevanz für die Wertbestimmung erhalten. Hierbei handelt es sich nun allerdings um etwas anderes als das starr strukturalistische Zuordnungsprinzip, weil unter dieser Voraussetzung die Zuordnung nicht mehr nach vorgängig festgelegten Regeln ablaufen kann, sondern sich als je kontextspezifische herausstellt. Im wissenschaftshistorischen Prozeß wäre im Anschluß an diese Bühlersche Sichtweise ein relativ naiver Angang, der sozusagen jedes Zeichen für sich interpretiert, ohne überhaupt auf Relationen zu achten, von dem strukturalistischen Ansatz zu unterscheiden, der unter dieser Perspektive durch die Annahme stabiler Nachbarstrukturen bzw. Umgebungsbeziehungen charakterisiert wäre, die allerdings auf einfache Kontexte beschränkt blieben, und schließlich von der Bühlerschen Position, die besagt, daß der Wahrnehmungsprozeß in dieser Weise zumindest nicht voll bestimmt sei, sondern notwendig eine Bestimmung durch den je übergreifenden Kontext, die nächst weitere Dimension zu erfolgen habe. Ist unter dieser Voraussetzung dann bei Bühler die Rede von der Bestimmung des Bildwertes durch den jeweiligen Bildkontext, so wird damit verdeutlicht, daß es sich bei dieser Sichtweise keineswegs um eine rein objektivistische Hypostasierung einer Relation von Daten handelt, die ohne Subjektleistung zustande kommt, sondern Bühler weist gesondert darauf hin, daß wir es sind, die die Daten in den Kontext eintragen, daß der Bildwert von Gnaden des Betrachters zustande kommt. Die Beantwortung der zweiten Frage, der Frage nämlich nach der Ordnung, in der das stare pro stattfindet, veranlaßt Bühler zu einer kritischen Überprüfung und Neubestimmung des aliquid stat pro aliquo 5 , der berühmten Formel der Scholastiker, die von der Sprache her Wahrnehmung und Zeichen 333 Index, während in der scholastischen Bedeutungstheorie das ‚aliquid stat pro aliquo‘ selbst auf zwei verschiedenen Ebenen entwickelt wird, nämlich auf der Ebene extensionaler und der Ebene intensionaler Bedeutung. Die prädikative Funktion des ‚stare pro‘ wird in Bühlers Ansatz jedoch völlig eliminiert. Es ist also festzustellen, daß Bühler zwar auf erkenntnistheoretischer Ebene realisiert, daß wir keine isolierten Monaden wahrnehmen, so wie sie sind, daß er aber diese Einsicht nicht auf den Zeichenbegriff übertragen kann. philosophierten. In relationstheoretischer Betrachtungsweise wären hier, wie im Falle jeder anderen Stellvertretung, zwei Fundamente zu unterscheiden, die säuberlich in der Untersuchung getrennt werden müssen, da es sich um nicht-reflexive Relationen handelt. Ist nun zu konstatieren, daß ein Konkretum eine Stellvertreterfunktion ausübt, dann erhebt sich die Frage, „kraft welcher Eigenschaften es die Vertretung erhielt und in die Vertretung eingeht, sie erfüllt“ (Bühler 1978 b: 40). An dem Konkretum müssen dieser Feststellung zufolge grundsätzlich zwei Aspekte unterscheidbar sein: Ein erster, der von der Funktion des Konkretums als Stellvertreter absieht und es in seiner sich uns zeigenden Materialität betrachtet, und ein zweiter, der diejenigen Eigenschaften thematisiert, an die die Vertretung gebunden ist (cf. Bühler 1978 b: 40). Konkretisieren wir die allgemein relationstheoretische Betrachtung für den Fall von Zeichenrelationen, so stellen wir fest, daß es „im Falle des Zeichenseins […] immer nur abstrakte Momente [sind], kraft derer und mit denen das Konkretum als Zeichen fungiert.“ (Bühler 1978 b: 40) Dieser sematologisch grundlegende Tatbestand ist weiter oben als das Prinzip der abstraktiven Relevanz bezeichnet worden. Zu einem endgültig befriedigenden Verständnis der scholastischen Formel aliquid stat pro aliquo hat uns der Hinweis auf das Prinzip der abstraktiven Relevanz noch nicht geführt; allerdings deutet der Hinweis auf dieses Prinzip in die Richtung, in der Bühler das letzte und entscheidende Bestimmungsstück seines Verständnisses der Zeichenrelation zu beziehen hofft. In seiner Ausdruckstheorie schreibt Bühler (1968: 194): Wir haben in den letzten zwei Jahrzehnten einzusehen gelernt, daß und wie eine ‚Mitberücksichtigung‘ oft der merkwürdigsten und heterogensten Nebenumstände selbst die scheinbar schlichtesten und angeblich ‚unmittelbaren‘ Wahrnehmungsdaten mitbestimmt. Wenn schon die scheinbare Größe der Sehdinge und ihre scheinbare Entfernung von uns, wenn Farben und Formen normalerweise gesehen werden unter Mitverwertung von Indizien, so soll man sich nicht verwundern darüber, daß dieselben Wahrnehmungsdaten und systemhöhere Gestaltmomente als Ausdruckszeichen erst recht in Relation zu oft verwickelten Situationsumständen gesehen und gedeutet werden. In demselben Zusammenhang spricht Bühler davon, daß das Deutungsverfahren der Hermeneutik dem Verfahren nach in gleicher Weise in der Ausdrucksdeutung praktiziert würde. Diesen eminent wichtigen Gedanken diskutiert Bühler wiederholt in seinem wohl bedeutendsten Werk, der Krise der Psychologie. Dort schreibt er: Ein wenig Abstraktion nur, und wir sind zu der Erkenntnis gelangt, daß Farben, wo immer sie uns begegnen, auch in der Wahrnehmung des täglichen Lebens, ähnlich einen ‚Sinn‘ haben wie ein Gemälde, d.h. als Zeichen stehen und die Dinge der Welt mit ihren Eigenschaften konstituieren helfen für unser Bewusstsein. Wir brauchen uns nicht erst, wie Spranger es für nötig hält, an künstliche Zeichen, z.B. den Buchstaben H zu wenden, um in der Wahrnehmung das Bedeutungsmoment […] zu entdecken (Bühler 1978 a: 72). Um diesen Gedanken in seiner Vollständigkeit verstehen zu können, müssen wir uns zumindest kurz der weiter oben zurückgestellten Frage nach den distinktiven Merkmalen von Anzeichen zuwenden. In seinem Organonmodell unterscheidet Bühler drei Momente, die ein Achim Eschbach 334 6 Betonte man mit Bühler, daß Zeichen Gebilde zweckgerichteten menschlichen Tuns sind, so wäre damit eine Brücke zwischen den drei Aspekten des Sinnbegriffs, die weiter unten angesprochen werden, und dem Bühlerschen Organon-Modell hergestellt. Bühler scheint mit der Betonung des Gebildeaspektes ausdrücken zu wollen, daß das Zeichen keine präexistente Größe darstellt, sondern in der Situation gemäß der jeweiligen Bedürfnislage hergestellt wird. Soll dieser Gebildeaspekt jedoch in letzter Instanz dem Zweckbegriff unterstellt sein, so müßte man gerade das schon haben, was in der Konstitutionsleistung erst erbracht werden soll. Natürlich ließe sich der Gebilde-Begriff in der Weise interpretieren, daß er auf eine konstitutive Leistung abzielt; diese Bewegung fände allerdings auf der Ebene einer allgemeinen Zeichentheorie statt, so daß in diesem Stadium der Diskussion gerade noch keine festen Deutungen unterstellt werden dürfen. Daraus folgt, daß nicht generell von Konstitution die Rede sein kann, während auf der anderen Seite eine Reihe von Zwecken unterstellt wird, auf die gleichzeitig Bezug genommen wird, da zur Sinnkonstitution weitaus mehr gehört als die Etablierung einer Zweckrelation, nämlich z.B. die Fähigkeit, etwas unterscheiden oder etwas identifizieren zu können, d.h. dasjenige, was die Ethnomethodologen ‚Basisakte‘ nennen. Das gleiche gilt im übrigen auch dafür, etwas Einheitliches festhalten zu können, die Erlernung von Objektkonstanz, Prozeßhaftigkeit, Beharrung usw. Konkretum dreimal verschieden zum Rang eines Zeichens erheben können. Diese Zeichenfunktionen kennzeichnet er folgendermaßen: Es (das komplexe Sprachzeichen) ist Symbol kraft seiner Zuordnung zu Gegenständen und Sachverhalten, Symptom (Anzeichen, Indicium) kraft seiner Abhängigkeit vom Sender, dessen Innerlichkeit es ausdrückt, und Signal kraft seines Appells an den Hörer, dessen äußeres oder inneres Verhalten es steuert wie andere Verkehrszeichen (Bühler 1978 b: 28). Es hieße Bühler nun allerdings gründlich mißzuverstehen, wollte man diese Differenzierung dazu heranziehen, über die verschiedenen Zeichenarten unüberbrückbare Unterschiede zwischen den Anwendungsbereichen dieser Zeichen herbeizureden, wie es kommunikationstheoretische Unsitte ist, denn Bühler hat sich immer wieder gerade um den Nachweis bemüht, daß in genetischer wie systematischer Hinsicht diese drei Aspekte des Zeichens engstens miteinander verknüpft sind (cf. Bühler 1931: 105f.), so daß am ehesten noch von einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis die Rede sein kann, wie es im übrigen auch Charles S. Peirce in seiner Zeichentypologie entworfen hat. Unter dieser Voraussetzung ist Bühlers Bemerkung verständlich, „daß die Sprachzeichen nicht nur als Ordnungszeichen, sondern auch als Anzeichen einen ‚Sinn‘ haben“ (Bühler 1978 a: 127). Betrachtet man das bereits entwickelte und geordnete Wahrnehmungssystem des erwachsenen Menschen, so können wir sagen, daß sich in dieses System von Bestimmtheiten die neuen Meldungen der Sinne eintragen, respektive von uns eingetragen werden. Neben dieser grundlegenden intentionalen Beziehung, die dazu führt, daß wir das „warm“ als eine Eigenschaft des berührten Ofens spüren, fungieren dieselben Sinnesdaten als Anzeichen für Verschiedenes, was über die betreffenden Dinge zu sagen wäre. Das ist die Zeichenfunktion der Sinnesdaten in unseren Beobachtungen (cf. Bühler 1978 a: 78f.), die „ihren Halt und ihre Deutung erfahren als Eigenschaften von Wahrnehmungsdingen, die in einer konstanten Ordnung stehen“ (Bühler 1978 a: 81). Die ‚konstante Ordnung‘, der Zeichensystem-Aspekt, ist wie jedes andere Werkzeug ein Gebilde menschlichen zweckgerichteten Tuns. 6 Der Zeichenbenutzer hic et nunc ist zwar nicht in jeder Hinsicht und in vollem Ausmaß der Sinnverleiher des gerade von ihm produzierten Zeichens - die soziale Situation als Konstituens jedweden Zeichenverkehrs wurde bereits wiederholt benannt - aber das eine, daß es bis jetzt zur Aktualisierung gelangte und damit in höherem oder geringerem Grade eine individuelle Sinnuance erhielt, dafür ist der Wille oder der Organismus des Sprechers das Zwecksubjekt. Wahrnehmung und Zeichen 335 7 Gegen die hier von Bühler vorgeschlagene Identifizierung von Zeichen und Wert hat sich beispielsweise F. de Saussure ausdrücklich gewehrt, da seiner Auffassung nach Zweckbeziehungen immer erst auf der Grundlage eines interpretierten Wertsystems benannt werden können, weil uns nämlich ein solches Wertsystem überhaupt erst die begrifflichen Unterscheidungen liefert, aufgrund derer Zweckrelationen benennbar werden. Wenn Bühler daher in seiner Argumentation von Zeigesituationen ausgeht, so sollten einen diese Beispiele von vornherein mißtrauisch stimmen, da hierbei immer stillschweigend ein Verständigtsein über den Sinn einer solchen Veranstaltung ‚etwas zeigen‘ unterstellt wird. Daß aber ‚etwas Zeigen‘ selbst eine Tätigkeit ist, die man lernen muß, findet in diesem Erklärungsschema keine Berücksichtigung. Bühler spricht an der zitierten Stelle allerdings nicht nur von dem Verhältnis von Sinn und Wert, sondern er deutet auch die Absicht an, den Wertbegriff im Hinblick auf ein Telos zu konstituieren, so daß die Differenzierung dreier Aspekte des Sinnbegriffs - Sinn als Bedeutung, Wert und Zweck - letzten Endes auf eine finalistische Position hinausläuft. Die Rede über Zeichenfunktionen, die unter der Perspektive eines Telos ausdifferenziert werden, ist jedoch nur dann sinnvoll, wenn eine bereits existente Bedeutungsdimension angenommen wird. 8 Die sinnlichen Daten haben nach Bühler die Funktion und den Rang von Anzeichen; auf das Beispiel bezogen heißt das: Wir sehen, daß das Barometer rapide fällt. Dieser Prozeß läßt sich allerdings nicht auf die sinnliche Wahrnehmung beschränken, da wir diese Wahrnehmung in bestimmter Weise interpretieren, indem wir sie in den Zusammenhang unserer Erfahrungen stellen und auf der Basis dieses Vergleichs gewisse Vermutungen formulieren, die den Charakter von Hypothesen besitzen. Die Formulierung eines Wahrnehmungsurteils bildet die Prämisse für den Wahrscheinlichkeitsschluß: ‚Morgen wird es regnen‘. Die Konfrontation mit den Daten liegt dennoch lediglich analytisch und nicht empirisch trennbar vor dem Wahrnehmungsurteil, da die Daten schon aufgrund vorhandener Erfahrungen konstituiert werden. Sind jedoch nie zuvor Erfahrungen mit einem Barometer gemacht worden, so daß dessen Funktionsweise unbekannt ist, so bliebe die Wahrnehmung u.U. auf etwas Gläsernes mit einem metallischen Inhalt beschränkt; aber auch in diesem Fall handelte es sich um keine Daten an sich, sondern um eine Interpretation der Daten auf der Basis allerdings unzureichender Erfahrungen. Wir schreiten über diese Subjektivität in der engsten Bedeutung des Wortes hinaus, wo und wie immer wir das usuelle Moment des Sprachsinnes betrachten und bestimmen. Nie aber wird, soweit das auch gehen mag, das ‚Telos‘ und die Subjektbezogenheit aus dem Begriff ‚Sprachsinn‘ schlechthin herausfallen dürfen. Der ‚Sinn an sich‘, abgesehen von einer Sprachgemeinschaft, für die er gültig ist, das wäre ein nicht minder unvollziehbarer Begriff wie etwa das ‚Geld an sich‘, abgesehen von einem Wirtschaftsbereich, in der es Kurs hat (Bühler 1978 a: 126). Um zu einer weiterführenden Klärung des Sinnbegriffs zu gelangen, schlägt Bühler (ibid.: 123) also folgende Differenzierung vor: Im Sinnbegriff schneiden sich zwei oder drei Gegenstandsgebiete. Es sind nur zwei, wenn der dritte Sprachgebrauch von Sinn = Wert oder Wertbezogenheit irgendwie auf den ersten von Sinn = Zweck oder Zweckbezogenheit reduzierbar ist. Ich nehme es als bewiesen oder beweisbar an, daß der Wertbegriff nicht anders als im Hinblick auf ein Telos konstituiert werden kann. Wenn sich auch der zweite Sprachgebrauch von Sinn = Bedeutung eine ähnliche Zurückführung gefallen läßt, stehen einer einheitlichen und exakten Definition des schwer faßbaren Begriffes keine prinzipiellen Schwierigkeiten mehr im Wege. 7 Mit diesen Überlegungen wird es nun möglich sein, den Wahrnehmungsprozeß auf der Basis der Bühlerschen Sematologie als einen Prozeß der Zeicheninterpretation zu bestimmen: Stellen wir uns vor, wir nähmen wahr, daß eine Barometersäule rapide fällt; aus diesem Tatbestand schließen wir auf ein drohendes Unwetter, d.h. wir deuten den ersten sinnlich wahrnehmbaren Tatbestand als ein Anzeichen für den zweiten. An diesem simplen Sachverhalt können wir zweierlei unterscheiden: „Etwas zum Range eines Anzeichens zu erheben, ist Sache unseres zweckgeregelten Denkens. Die Beobachtung am Barometer ist, logisch betrachtet, eine Prämisse des Wahrscheinlichkeitschlusses“ (Bühler 1978 a: 128; cf. Bühler 1931: 103). 8 Achim Eschbach 336 Wahrnehmen wäre demnach immer zu beschreiben als die Bildung eines Wahrnehmungsurteils. Aufgrund dieser Tatsache impliziert Bühlers Bezeichnung des Barometers als Anzeichen einen systematischen Fehler: Das, was wahrgenommen wird, ist der Sachverhalt, daß das Barometer fällt. Der Anzeichencharakter reduziert sich auf das pure Phänomen, daß ich, ohne überhaupt zu wissen, was das ganze bedeutet, imstande bin, das Fallen des Barometers in einem bestimmten Kontext wahrzunehmen. Bühler spricht jedoch auf einen Wahrnehmungsprozeß an, in dem dieser Vorgang nun tatsächlich gedeutet wird; der schon gedeutete Sachverhalt, um den es hier geht, lautet: ‚Das Barometer fällt‘; das aber unterscheidet sich erheblich von meiner Wahrnehmung einer Veränderung an einem Objekt. Wird ein Wahrnehmungsurteil gebildet, so geschieht das nicht in der Weise, daß eine Wahrnehmung gewissermaßen additiv mit einer anderen verbunden wird, sondern es handelt sich bei dem Wahrnehmungsurteil um eine sprachliche Kategorie, und nur aus dieser ist mit Hilfe der Formulierung eines Obersatzes die Vermutung zu bilden: ‚Morgen wird es regnen.‘ Deshalb müßte hier von Symbol die Rede sein und nicht von Anzeichen. Die Beobachtung am Barometer hat uns also zwei Phänomene A und B in einen Zusammenhang gebracht, von dem aus die Interpretation ihren Ausgang nehmen kann, denn bereits in diesem Zusammenhang ist „ein erster Sinngehalt der Wahrnehmung gegeben“ (Bühler 1978 a: 103), oder wie weiter oben gesagt wurde: Wahrnehmungen frei von jeder Zeichenfunktion der Sinnesdaten kann es insofern nicht geben, als in den Data bereits relationale Momente enthalten sind. Überschreiten wir diese Ebene des sinnlichen Kontaktes, d.h. betrachten wir das sinnlich Wahrgenommene als ein Anzeichen, so geschieht das in Form eines Wahrnehmungsurteils, dem allerdings eine gewisse Unsicherheit anhaftet, denn die uns vorliegenden Data erlauben lediglich einen Wahrscheinlichkeitsschluß, eine Hypothese. Die erfahrungsbedingte und -geleitete Ausgestaltung dieser Hypothese genügt jedoch dafür, einen logisch orientierten Denkprozeß einzuleiten. Damit erst ist in die sinntragenden Gebilde ein Sinn eingebracht, der nicht mehr als Seinseigenschaft dieser Gebilde erklärbar ist, sondern der ein Leistungs- oder Gestaltungsmoment ähnlich dem Wert des Papiergeldes (cf. Bühler 1978 a: 131) darstellt. Zusammenfassend läßt sich also sagen, daß der Sinn eines Zeichens nur auf dem Wege eines Deutungs- und Interpretationsverfahrens definierbar wird, wobei dieser Prozeß, der auch als ein Prozeß der Bewußtwerdung der in der sinnlichen Wahrnehmung - existentiell gesprochen - immer schon enthaltenen Zeichenrelation beschreibbar ist, mehrere Stadien oder Zuordnungsschritte zu absolvieren hat, die von den Data über die noch unsicheren Wahrnehmungsurteile zu dem erfahrungssicheren Verständnis des Zeichensinnes führt. Bibliographie Bühler, Karl 1931: „Phonetik und Phonologie“, in: Travaux du Cercle Linguistique de Prague 4 (1931): 22-53 Bühler, Karl 1932: „Das Ganze der Sprachtheorie, ihr Aufbau und ihre Teile“, in: Gustav Kafka (ed.) 1932: Bericht über den XII. Kongreß der deutschen Gesellschaft für Psychologie in Hamburg vom 12.-16. April 1931, Jena: Gustav Fischer, 97-122 Bühler, Karl 2 1968: Ausdruckstheorie. 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