eJournals Kodikas/Code 36/3-4

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
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2013
363-4

Ferdinand de Saussure

2013
Christian Stetter
Ferdinand de Saussure (1857-1913) Ferdinand de Saussure Christian Stetter Die wirkungsgeschichtliche Bedeutung Ferdinand de Saussures für die Entwicklung der Geistes- und Sozialwissenschaften des 20. Jahrhunderts dürfte spätestens mit dem Auftreten ‚poststrukturalistischer‘ Denkrichtungen den Rang des Definitiven erreicht haben. Ihr Erscheinen drückt einem Abschnitt moderner Wissenschaftsgeschichte den Stempel der Epoche auf, als deren Gründervater der Genfer Linguist seit Ende der 20er Jahre gilt: der des Strukturalismus. Auf seine im Cours de linguistique générale (CLG) tradierte Lehre berufen sich seit dem Prager Linguistenkongreß von 1929 die verschiedenen strukturalistischen Schulen; und es kann kein Zweifel über den erstaunlichen Fortschritt bestehen, den das Denken in Strukturen für Disziplinen wie Linguistik, Ethnologie oder Soziologie mit sich brachte. So hat man von der „epochalen Bedeutung des Cours für die moderne Linguistik“ und die Geistes- und Sozialwissenschaften des 20. Jahrhunderts gesprochen (cf. Scheerer 1980: 30). In ihm kündigt sich ein Paradigmenwechsel von der Linguistik des 19. zu der des 20. Jahrhunderts an, dessen Signum der bedeutende Phonologe Trubetzkoy schon 1933 in einem programmatischen Aufsatz darin sah, daß der „Atomismus“ der älteren Sprachwissenschaft, insbesondere natürlich der „herrschenden“, junggrammatischen Schule, durch den „systematischen Universalismus“ der strukturalen Phonologie überwunden worden sei (cf. Trubetzkoy 1933: 244ff.) . In der Tat stellt der CLG griffige Oppositionen und Formeln zur Markierung K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 36 (2013) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Christian Stetter 282 der Umorientierung der Zunft bereit: die diachronische Sprachbeschreibung wird durch die synchronische abgelöst; das Sprachsystem, die langue, „envisageé en elle-même et pour ellemême“, wird zum ausschließlichen, veritablen Gegenstand der Linguistik (cf. CLG 317, EC 515) - die „verbundene Rede“ (parole), in der sich für W. v. Humboldt allererst der Begriff der Sprache vollendete (cf. WW III: 180, 186, 228 et passim), verliert jede wissenschaftliche Dignität. Doch am eben zitierten, oft zitierten letzten Satz des CLG läßt sich das ganze Problem einer zutreffenden Würdigung Ferdinand de Saussures entfalten. Vorgeblich „l’idee fondamentale de ces cours“ zusammenfassend (cf. CLG 7ff.), ist er doch ein durch die Quellen nicht belegter Zusatz der Herausgeber des CLG, Ch. Bally und A. Sechehaye, die diesen Text 1916 publizierten. Grundlage ihrer Redaktionsarbeit waren Mitschriften der drei Vorlesungen, die Saussure zwischen 1906 und 1911 über allgemeine Sprachwissenschaft gehalten hatte. In welchem Maße die Herausgeber bei ihrer „reconstitution“ des Vorlesungstextes (cf. CLG 9) die originale Disposition des verehrten maître zerstörten und an deren Stelle ihr eigenes Gliederungsprinzip setzten, haben R. Godels Sources manuscrites (cf. Godel 1969 [ 1 1957]) und insbesondere die von R. Engler besorgte kritische Ausgabe des CLG (Wiesbaden 1967ff.), eine bewunderungswürdige philologische Leistung, verdeutlicht. Nicht die Summe des linguistischen Denkens Saussures gibt der zitierte Satz wieder, sondern dessen Interpretation durch die Herausgeber. Der CLG ist, so das Resultat des Versuchs einer kritischen Rekonstruktion der autentischen Sprach-Idee Ferdinand de Saussures durch L. Jäger, das erste Stadium der Deformation dieses Denkens (cf. Jäger 1976: 216) . Scheerers Darstellung der Saussure-Rezeption (cf. Scheerer 1980: 30ff.) ermöglicht einen Überblick über die Spannweite der Deutungen: Neben der traditionellen, strukturalistischen Lektüre des CLG reicht sie von Auffassungen, die Saussures Konzeption von Sprachwissenschaft bereits bei den Junggrammatikern, etwa in H. Pauls Principien der Sprachgeschichte vorgeprägt sehen (cf. Lieb 1967 und Koerner 1975), bis hin zu Jägers These, Saussures Sprach-Idee greife die Tradition der bei Humboldt, Schleiermacher und Hegel entfalteten hermeneutisch-idealistischen Sprachphilosophie wieder auf (cf. hierzu Jäger 1985). Von ungefähr kommt dieses diffuse Bild nicht: zu groß sind die logischen Brüche der Textfassung des CLG, die wohl vor allem auf das Konto der Redaktionsarbeit A. Sechehayes gehen (cf. insbesondere Jäger 1976: 216ff.). Wie wenig der Mythos vom Einfluß des CLG auf die strukturalistische Linguistik zu belegen ist, beweist schon der Blick auf den Begriff des Phonems, mit dem sich die Prager Schule dezidiert von Saussures Konzeption distanziert (cf. Trubetzkoy 1933, dazu de Mauro in CLG 433f.). Erst recht gilt dies - so wird sich zeigen - für Saussures Auffassung der Sprache als eines Systems von Zeichen. So kontrovers auch die gegenwärtige Saussure-Diskussion sein mag, so ist doch eines gewiß: Mit der Édition critique hat der CLG die Aura der Legitimationsquelle strukturalistischer Sprachwissenschaft definitiv verloren. Seine Wirkungsgeschichte ist eben - Geschichte. Der Weg zu einer angemessenen Würdigung des authentischen Saussure führt allein über eine erneute Lektüre der Quellen. Sie zeigt, daß Philologie durchaus systematische Konsequenzen haben kann. 1 Saussure und die historisch vergleichende Grammatik - Der „Mémoire“ Man hat also nach den Gründen zu fragen, die Saussure den Mythos des Paradigmengründers eingetragen haben. Daß er als Begründer der allgemeinen strukturalen Sprachwissenschaft gilt, ist um so erstaunlicher, als das Schwergewicht seiner Arbeiten und Lehre auf dem Gebiet Ferdinand de Saussure 283 1 Hierfür zwei Belege: Delbrück annonciert Saussure zwar in seiner Einleitung in das Studium der indogermanischen Sprachen in der zitierten Weise, berührt das vorgeblich epochale Werk in der folgenden Darstellung aber mit keinem Wort. Auffälliger ist dieses noch im theoretischen Hauptwerk der Epoche, Brugmanns und Delbrücks Grundriss (1889ff.). Obwohl Saussure seine zentralen Theoreme vorzugsweise als Folgerungen aus Arbeiten Brugmanns entwickelt, übergeht dieser den Mémoire an der Stelle, wo er ihn hätte diskutieren müssen, nämlich in Bd. I.1, §§ 77ff., mit Schweigen. Cf. hierzu auch Jäger 1975: 197f. der historisch vergleichenden Indogermanistik lag (cf. hierzu SM 23ff.). Schon 1881 wird er - eine außerordentliche Karriere für einen gerade Vierundzwanzigjährigen - als maître de conférence an die École Pratique des Hautes Études in Paris für das Gebiet der vergleichenden Grammatik der germanischen Sprachen berufen, 1891 nach Genf auf einen für ihn geschaffenen Lehrstuhl für vergleichende Grammatik der indoeuropäischen Sprachen. Thematisch - Godel hat dies durch die Liste seiner Genfer Lehrveranstaltungen i.E. belegt - bewegt er sich durchaus auf der Höhe und im Rahmen des herrschenden Paradigmas der zeitgenössischen Sprachwissenschaft, das der Strukturalismus ablösen wird. Die dem CLG zugrunde liegenden drei Vorlesungen resultieren daraus, daß ihm nach der Emeritierung J. Wertheimers 1906 aufgetragen wird, die von diesem bis dahin gehaltene Vorlesung über allgemeine Sprachwissenschaft fortzuführen. Auf dieser, sozusagen „nebenbei“ erledigten Lehrverpflichtung beruht seine wirkungsgeschichtliche Bedeutung. Dennoch ist diese kein Versehen; der die Saussure-Lektüre verhindernde Saussure-Mythos des 20. Jahrhunderts (cf. hierzu Jäger 1976: 210ff.) hat seinen rationalen Kern. Die Bedeutung der Figur Saussure gründet sich auf die exzeptionelle Stellung F. de Saussures in der zeitgenössischen „herrschenden“ Linguistik, eben der vergleichenden Indogermanistik, deren Wissenschaftsverständnis sich in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts in den programmatischen Äußerungen der „Junggrammatiker“ Osthoff, Brugmann, Paul, Leskien u.a. pointiert formuliert (cf. Delbrück 1919: 116ff.). Es gründet sich auf das Postulat der „ausnahmslosen“ Geltung von Lautgesetzen, deren Existenz der Däne K. Verner in seinem 1877 publizierten, berühmt gewordenen Aufsatz (cf. Verner 1877, dazu Putschke 1969) bewiesen zu haben schien. In den illustren Kreis der fast alle in Leipzig versammelten Gelehrten tritt 1876 der - um einen Großmeister der vergleichenden Indogermanistik zu zitieren - „man darf sagen geniale“ (cf. Delbrück 1919: 123) Außenseiter aus Genf ein, um zwei Jahre später, gerade einundzwanzigjährig, den Mémoire sur le système primitif des voyelles dans les langues indoeuropéennes zu publizieren. Mit diesem, nach dem eben schon zitierten Delbrück einem der „reifsten Werke der Epoche“ (ibid.) etabliert sich der junge Saussure als Autorität in der Zunft - der Ruf nach Paris läßt nicht lange auf sich warten -, zugleich aber wird er durch diese Schrift isoliert. Die Junggrammatiker ignorieren sie beharrlich 1 , obwohl ihre Thesen ins Zentrum der neuesten theoretischen Diskussion der vergleichenden Indogermanistik trafen. Der Mémoire teilt - wenn auch aus anderen „äußeren“ Gründen - durchaus das Schicksal der im CLG „rekonstruierten“ Lehre: Er wurde nicht oder nur verstümmelt rezipiert. Man wird also dem authentischen Denken seines Verfassers - und damit der realen Bedeutung Saussures für die Sprachwissenschaft näher kommen, wenn man den Mémoire als das nimmt, was er tatsächlich ist - das publizierte Hauptwerk Saussures, und nach den Gründen für seinen „Mißerfolg“ fragt. Es wird sich zeigen, daß sie unmittelbar zu den späteren Überlegungen zur Konzeption einer allgemeinen Sprachwissenschaft hinführen. Diese sind die logische Folge aus Positionen, an denen Saussure sich bereits im Mémoire orientierte. Christian Stetter 284 2 Cf. hierzu insbes. die ausführlichen Besprechungen in Scheerer 1980: 14ff. und Szmerényi 1980: 114ff. Welche Irritationen dieses Werk bis heute provoziert, zeigt sich darin, daß sich in der vergleichenden Sprachwissenschaft noch immer kein einheitlicher Standard ausgebildet hat, nach dem es beurteilt würde 2 . In der Tat scheint es unvereinbare Ausnahmen zu verbinden: Einerseits beweist es - dies wird noch am ehesten als seine „bleibende“ Leistung anerkannt - die Altertümlichkeit des europäischen Vokalismus (a, e, i, o, u) gegenüber dem des Sanskrit (a, i, u), andererseits entwickelt es eine Theorie, nach der alle Vokale der indoeuropäischen „Ursprache“ auf Kombinationen eines einzigen Volkes mit bestimmten ‚lautlichen Koeffizienten‘ desselben Vokals zurückzuführen seien. Die sog. ‚Laryngaltheorie‘, ursprünglich kaum beachtet, mit der Entdeckung des Hethitischen 1927 anscheinend bestätigt, heute wieder umstritten (cf. Szmerényi 1980: 116ff.), ist Teil dieser „Reduktionstheorie“ (cf. Mémoire, §§ 10 und 11). Gründe für das Unverständnis, das der Mémoire erzeugte, lassen sich in der Darstellung ablesen, die Szemerényi in seiner Einführung in die vergleichende Sprachwissenschaft ( 2 1980) der Geschichte der Laryngaltheorie gewidmet hat, gerade weil sie dem Autor durchaus gerecht zu werden versucht. Zutreffend referiert Szemerényi die erwähnte „Reduktionstheorie“, knüpft daran jedoch die Bemerkung, daß man nach einer „eigentlichen Beweisführung“ im Text vergeblich suche (cf. Szmerényi 1980: 114). Dies ist eine überraschende These, denn die vermißte Begründung entwickelt Saussure in mehreren Beweisschritten in den §§ 9-11 des Mémoire. Um zu sehen, wie Saussures Konzeption einer linguistique générale sich aus seinen indogermanischen Anfängen entwickelte, ist es notwendig, an dieser Stelle seiner Argumentation im Detail zu folgen: Als durch die Arbeiten Curtius’, Ficks, Brugmanns u.a. gesichert wird vorausgesetzt, daß der Vokalismus aller europäischen Sprachen folgende vier Arten von a aufweist: a 1 (= e), a 2 (= o), A (= a) und (= ); a 1 alternierend regelmäßig mit (cf. Mémoire, 120). Dies ergibt folgendes Schema: a 1 : a 2 ______ A : Bekannt war ferner aus dem Vergleich der europäischen mit den indoiranischen Sprachen, daß weder europ. a 2 und auf ein und dasselbe Phonem der indoeuropäischen Ursprache zurückführbar waren, noch a 1 oder A auf (ibid. 121). Schließlich unterscheiden die indoiranischen Sprachen a 2 und A, nicht jedoch a 1 und A (ibid. 122). Dies ergibt für das Indoeuropäische das Oppositionsschema: a 2 ____ : X (kurz wegen a 1 / A : ). Die entscheidende Frage lautet, wie dieses X zu interpretieren ist. Die Annahme, ihm entspräche in der „langue mère“ ein einziger Wert (valeur) (ibid. 121), würde zu der absurden Konsequenz führen, daß die europäischen Sprachen nicht nur ihren eigenen Ablaut (a 1 : a 2 ) geschaffen, sondern dabei einen älteren zerstört und das gesamte Vokalsystem durcheinander geworfen hätten. Folglich müssen dem X im Indoeuropäischen zwei verschiedene Werte entsprochen haben und folglich ist das gesamte für die europäischen Sprachen erkannte Schema auf die Ursprache zu übertragen (ibid. 122). Betrachtet man nun - so argumentiert Saussure weiter - die Distribution der Phoneme auf die Wurzeln unter Berücksichtigung von Ferdinand de Saussure 285 3 Die Tatsache, daß Saussure irrigerweise sowohl e wie a auf a1 + A zurückführte, ist hier irrelevant. Cf. dazu Szmerényi 1980: 115ff. deren grammatischer Funktion, so ergeben sich zwei verschiedene Wurzelarten, nämlich Vollstufe und Schwundstufe; die Vollstufe weist in der überwiegenden Mehrzahl aller Fälle a 1 auf (ibid. 123f.), a 2 nur selten und in wohlbestimmbaren Umgebungen (ibid. 133). Ein genetischer Zusammenhang von a 1 und a 2 ist nicht belegbar, auch wenn manches dafür sprechen würde, a 2 als verstärkte Form von a 1 aufzufassen. Die Verwirrung scheint an diesem Punkt vollkommen. Ist schon schwer einzusehen, wie sich der Beweis der Altertümlichkeit des europäischen Vokalsystems mit der Theorie vertragen soll, daß das Phonem a 1 „la voyelle radicale de toutes les racines“ (ibid. 135) sei, welche entweder allein oder in Kombination mit einem „coefficient sonantique“ (i, u, n, m, r, A, O) den Vokalismus jeder Wurzel bilde, so ist noch schwerer verständlich, wieso Saussure explizit Brugmanns These zurückweist, a 2 sei als „Verstärkung“ von a 1 zu betrachten (cf. Brugmann, ibid. 134), folglich für die Vollstufe jeder Wurzel sowohl a 1 wie a 2 zulassen muß. Ansatzpunkt für die Lösung des Rätsels - und zugleich entscheidender Hinweis für die Gründe, die zur „Verdrängung“ des Mémoire in der vergleichenden Indogermanistik führten - ist Saussures These, daß auch die Langvokale , , auf Kombinationen von e 1 + A bzw. e 1 + 0 zurückzuführen seien 3 . Noch Szemerényi bezeichnet diese Theorie als „spekulativ“, denn Wurzeln wie *st -, *dh -, *d -, die Saussure in diesem Zusammenhang betrachtet, böten „doch keinen Anlaß zu einer derartigen Analyse“ (cf. Szmerényi 1980: 115ff.) - eine in der Tat erstaunliche Auffassung, die verständlich allein von der Annahme her wird, man könne Formen wie Wurzeln, Suffixe etc. unter Abstraktion von ihrer syntaktischen bzw. morphologischen Funktion betrachten. Diese Annahme ist unmittelbarer Ausfluß des Postulats der ausnahmslosen Geltung von ‚Lautgesetzen‘. Sieht man in diesen die primäre Ursache des Sprachwandels, so muß man, um „Ausnahmen“ von der Regel zu erklären, einen Sprachwandeltypus anderer Art zulassen, den des analogischen Wandels. „Analogie“, um noch einmal Szemerényi zu zitieren, „ist eine morphologische Umgestaltung nach in der Sprache schon existierenden Modellen. Dadurch wird aber die rein lautliche und lautgesetzliche Entwicklung zumeist durchkreuzt und verdunkelt“ (ibid. 26). Szemerényi referiert und teilt hier exakt die Position der Junggrammatiker (cf. z.B. Delbrück 1880: 114). Deren positivistisches Fundament artikuliert sich deutlich etwa in H. Pauls Principien der Sprachgeschichte (cf. zum folgenden Paul 1960: 23ff.; dazu Jäger 1975). Die „deskriptive Grammatik“ beschreibt danach die in einer Sprachgemeinschaft verwendeten „grammatischen Formen und Verhältnisse“. Diese Beschreibungen repräsentieren jedoch nicht „Thatsachen, sondern nur eine Abstraktion aus den beobachteten Thatsachen“. Wissenschaftliche Dignität kann eine solche Beschreibung niemals gewinnen, denn „zwischen Abstraktionen gibt es überhaupt keinen Kausalnexus, sondern nur zwischen realen Objekten und Tatsachen“ (ibid. 24). Zum „wahren Objekt“ wird aufgrund dieser methodologischen Prämissen die Gesamtheit der individuellen „Äußerungen“ der Sprechthätigkeit“, diese aber nicht als verstandene, d.h. unter dem Aspekt ihrer Bedeutung betrachtete, sondern als beobachtbare Phänomene gefasst. Die sprachliche Form wird so als „Klangreihe“ begriffen, mit der die Vorstellung „nacheinander ausgeführter Bewegungen der Sprechorgane“ (ibid. 26) verbunden wird. Das dergestalt als „physiologisch-physikalisches Produkt“ (ibid. 28) betrachtete Wort, d.h. die Verbindung einer Klangmit einer Bewegungsreihe, die im Sprachgebrauch induktiv verallgemeinert wird, gewinnt nach Paul erst dadurch „Bedeutung“, daß sie Christian Stetter 286 4 Daß die Bedeutung des Mémoire in der Berücksichtigung der Morphologie liegt, hat Watkins (1978) deutlich herausgearbeitet. Am klarsten hat dies allerdings schon 1879 der klassische Philologe L. Havet (1978: 118ff.) gesehen. 5 So der Titel des V. Kapitels des Mémoire p. 123. mit einem „Gedankeninhalt“ assoziiert wird (cf. ibid. 14ff.). Die Beschreibung von „Vorstellungsinhalten“, „Gedankeninhalten“ etc. aber ist Geschäft der Individualpsychologie, die Sprachwissenschaft dagegen hat es mit „physischen Produkten“ zu tun (ibid. 14). Eine sprachliche Form x 1 ist gemäß dieser Wissenschaftskonzeption erst dann „erklärt“, wenn durch den Vergleich mit Formen x 2 , x 3 usw. belegbar ist, daß sie „lautgeschichtlich“ auf eine Form x 0 zurückgeführt werden kann. Da x 1 , x 2 etc. belegte Formen aus verschiedenen indoeuropäischen Sprachen sind, muß x 0 einer gemeinsamen Urform, „dem Indoeuropäischen“, zugeschrieben werden, deren „Rekonstruktion“ somit zu demjenigen Zentralpunkt linguistischer Beschreibung wird, der ihr - mit heutigen Begriffen zu reden - allererst „explanative Adäquatheit“ und damit wissenschaftlichen Status verleiht. Die Reduzierung der Beobachtungsperspektive auf die Lautform zerstört jedoch nicht nur den syntaktischen Zusammenhang der verschiedenen Wörter im Satz, sondern auch den morphologischen innerhalb des einzelnen Wortes, der doch als verstanden vorausgesetzt sein mußte, wenn überhaupt irgendwelche Formen miteinander verglichen werden sollen. So setzt z.B. - um ein von Delbrück benutztes Beispiel zu zitieren (cf. Delbrück 1880: 126f.) - die These, von den beiden im Altgriechischen konkurrierenden Formen μ und μ sei lediglich das letzte Resultat einer ‚lautgesetzlichen‘ Entwicklung aus einer „Urform“ μ , die der Vergleich mit skr. mah¯ yasas nahe legt, ja selbstverständlich voraus, daß die beobachteten Gruppen - - bzw. - - als Äquivalent in ein und demselben morphologischen Zusammenhang μ -- fungieren. Diese „Selbstverständlichkeit“ setzt ihrerseits ein Verständnis der syntaktischen Formen μ und μ voraus. Wer das Altgriechische nicht beherrscht, dem entgeht der Zusammenhang dieser beiden Formen. Ludwig Jäger hat durch eine Notiz des jungen Saussure in seinem Exemplar der Grundzüge der griechischen Etymologie G. Curtius’, die 1876/ 7 formuliert sein dürfte, belegt, daß es dieser hermeneutische Vorbehalt ist, den bereits zu diesem Zeitpunkt Saussure gegenüber der „vergleichenden“ Methode der Indogermanistik zur Geltung bringt: „… peut-on considérer une forme telle qu’un imparfait comme un véritable mot tout fait. Ne faut-il pas plutôt … regarder un imparfait p.ex. dans un verbe, un datif p.ex. dans un nom comme n’existant qu’en principe dans la langue…“ (cf. Jäger 1975: 192f.). Als Genitiv ist μ nur identifizierbar unter Rekurs auf die Regularitäten der Adjektivflexion und Komparativbildung im Altgriechischen. Werden - so läßt sich Saussures Argument verallgemeinern - sprachliche Formen unter welcher Betrachtungsperspektive auch immer isoliert, so setzt dies immer ein Verständnis der Funktion der betreffenden Form im Rahmen des jeweiligen Sprachsystems voraus. Dies ist der für das Verständnis des Mémoire entscheidende Gesichtspunkt 4 . Denn Saussure entwickelt seine Theorie des indoeuropäischen Vokalismus im Zusammenhang der Betrachtung der „grammatischen Funktion der verschiedenen Arten von a“ 5 . Die Lösung der von Saussure aufgeworfenen Problemkonstellation bereitet, unter diesem Aspekt betrachtet, keinerlei logische Schwierigkeiten. Bezüglich ihrer grammatischen Funktion verhalten sich die Wurzeln mit langem , , ebenso wie Wurzeln, deren Vokalismus aus a 1 oder Kombinationen aus a 1 und Lautkoeffizienten gebildet sind; sie alternieren regelmäßig mit Formen der Schwundstufe, die anstelle der Langvokale entsprechende Kurzvokale aufweisen, z.B. gr. μ - μ , μ - μ , Ferdinand de Saussure 287 6 ‚Laryngale‘ nannte H. Möller die Koeffizienten, aus deren Kombination mit a1 die Lang-vokale entstanden. Cf. Szmerényi 1980: 115f. 7 Eine rühmliche Ausnahme bildet L. Havets Rezension des Mémoire, die jedoch, da im Journal de Genève (25.02.1879) erschienen, auf die Fachwelt keinen nennenswerten Einfluß ausübte (cf. CFS 32, 1978: 103-122) sowie die zustimmenden Reaktionen Hübschmanns und G. Curtius’ (cf. Redard 1978: 36). 8 Cf. dazu Scheerer 1980, 19f. und Redard 1978, 35 ˜ μ - μ usw. Die Alternation bezeichnet einen bestimmten Zusammenhang; μ (ich gehe) und μ (wir gehen) sind verschiedene Formen desselben Verbs. Folglich müssen die alternierenden Formen ein identisches Element aufweisen, das in der Schwundstufe erhalten sein muß. Der Mechanismus der Alternation beruht also auf dem Wegfall eines in der Vollstufe enthaltenen Elements. Da der Typus der Alternation stets derselbe ist - so das argumentum e silentio - wird diese grammatikalische Erscheinung am einfachsten erklärt, wenn sich zeigen läßt, daß stets dasselbe Element der Vollstufe wegfällt. Dieses Element kann nur a1 bzw. a2 sein, denn diese Theorie erklärt nicht nur den Zusammenhang von μ (a1 + i + m + i) und μ (= i + m + …), und usw., d.h. alle Fälle, in denen die Vollstufe a1 (a2) + Lautkoeffizient, die Schwundstufe nur den Lautkoeffizient aufweist, sondern auch alle die Fälle, in denen die Vollstufe nur a1 (a2) aufweist. Wie bei - - : - - entsteht die Schwundstufe durch Wegfall dieses Elements. Als Konsequenz dieses Zusammenhangs müssen auch die Langvokale als Kombinationen aus a1(a2) + Lautkoeffizient begriffen, z.B. ˜ μ also als μ gedeutet werden, mit dem ganz regelmäßig μ alterniert. Die Laryngaltheorie 6 des Mémoire ist, so betrachtet, nichts anderes als eine Prämisse, die eine einheitliche Erklärung des grammatischen Phänomens der Alternation gestattet. Daß damit das Zentrum der Argumentation Saussures getroffen ist, beweist seine Definition von a 2 : „La véritable définition de a 2 est, ce me semble: la voyelle qui, dans les langues européennes, alterne réguliêrement avec a 1 au sein d’une même syllabe radicale ou suffixale“ (Mémoire, 70; cf. ibid. 139: „L’ ablaut …“). Also muß zwischen a 1 und a 2 derselbe Zusammenhang bestehen wie zwischen Voll- und Schwundstufe. Deshalb ist es möglich, a 2 neben a 1 in der Vollstufe zuzulassen. Notwendig ist dies andererseits, weil sich dieser Zusammenhang aus den Quellen nicht mehr belegen läßt. 2 Konsequenzen Die hier nur skizzenhaft dargestellte, höchst komplexe Logik der Argumentation des Memoire ist von den meisten Zeitgenossen, insbesondere von den Junggrammatikern, nicht verstanden worden 7 . Die Polemiken gegen den „algebraischen“ Charakter der Problemlösung, die sich sozusagen um des Systems willens von der empirischen Wirklichkeit entferne 8 , signalisieren die Kluft, die sich mit diesem Werk zwischen seinem Verfasser und der „herrschenden“ Lehre aufgetan hatte. Zwar bestätigt es den singulären Rang Saussures innerhalb der historischvergleichenden Indogermanistik, zugleich aber isoliert es ihn, denn die Konsequenzen der in ihm entfalteten Theorie sprengen das traditionelle Paradigma, obwohl oder gerade weil sie streng aus Folgerungen des aktuellen Forschungsstandes der „Schule“ abgeleitet wurden; der Denkansatz steht quer zum herrschenden positivistisch-empiristischen Trend der Junggrammatiker. Der Preis, den Saussure für die Erklärungsadäquatheit seiner Theorie zu entrichten hat, besteht zunächst darin, daß auf eine phonetische Interpretation der mit „a 1 “, „a 2 “, „A“, „0“ Christian Stetter 288 9 Mémoire, 122. Saussures Argumentation in den Kapiteln IV und V belegt, daß er zwar noch nicht den Begriff des distinktiven Merkmals kennt, das ‚Phonem‘ aber bereits a) als Element des Sprachsystems faßt, dessen Wert sich b) in Opposition zu koexistierenden Elementen desselben Systems bestimmt. 10 Cf. z.B. H. Paul 1960: 49: „Um die Erscheinungen zu begreifen, die man als Lautwandel zu bezeichnen pflegt, muß man sich die physischen und psychischen Prozesse klar machen, welche immerfort bei der Hervorbringung der Lautkomplexe stattfinden.“ Dazu Putschke 1969: 22ff. 11 Ibid. I R 3.47; cf. dazu das Vorwort des Mémoire: „A cela s’ajoute que la question de l’a est en connexion avec une série de problèmes de phonétique et de morphologie …“ (p.1). usw. benannten Phoneme verzichtet werden muß. Saussure ist sich dieser Konsequenz durchaus bewusst: An der Schlüsselstelle des Beweises der historischen Priorität des europäischen Vokalismus vor dem der indo-iranischen Sprachen betont er, daß es für dieses Problem nur eine einzige plausible Lösung gebe: „transporter tel quel dans la langue mère le schéma obtenu pour l’européen, sauf, bien entendu, ce qui est de la détermination exacte du son que devaient avoir les différents phonèmes“ 9 . Während die Junggrammatiker, etwa Sievers oder Paul, an einer Begründung der Darstellung lautgeschichtlicher Entwicklungen durch eine lautphysiologisch-psychologische Phonetik arbeiten 10 , um die Sprachbeschreibung empirisch abzusichern, geht Saussure den entgegengesetzten Weg. Es kann - so präzisiert eine spätere Notiz über Phonologie (so sein Term für „Lautphysiologie“) (cf. N 5a, EC(4), 16) - nicht Gegenstand der Sprachwissenschaft sein, die Mechanik von Artikulationsbewegungen zu beschreiben, denn für den Physiologen muß in der Tat irrelevant sein, ob bestimmte „Positionen und Bewegungen einem p oder b entsprechen“, und in der ersten Vorlesung über allgemeine Sprachwissenschaft von 1906/ 07, die die Konzeption dieser Disziplin aus der Betrachtung der zentralen Theoreme der vergleichenden Indogermanistik entwickelt, benennt er auch den Grund für die strikte Trennung von „physiologie phonologique“ und Linguistik: „La langue est un systêmede signaux: ce qui fait la langue, c’est le rapport qu’établit l’esprit entre ces signaux. La matière, en elle-même, de ces signaux peut-être considérée comme indifferent“ (EC al. 3348, I R 1.44). Nicht zufällig kritisiert Saussure daher in derselben Vorlesung die Auffassung der Alternation als eines ‚phonetischen‘ (zur ‚Lautlehre‘ zu zählenden) Sachverhalts (EC al. 2398, I R 1.95ff.). „A l’instant ou nous avons quitté le changement phonétique pour considérer l’effet qui est de créer l’alternance, nous avons quitté le terrain phonétique“ (ibid. al. 2417, I R 1.99). Denn die Alternation ist ein durch und durch grammatikalisches Phänomen, ein Mittel des Sprachsystems, um Sinndifferenzen zu bezeichnen. Und wenn - um zum Mémoire zurückzukommen - es Aufgabe der Sprachwissenschaft sein muß zu erschließen, daß es im Indoeuropäischen ein bestimmtes System von Vokalen (x 1 , x 2 , x 3 , …) gegeben habe, die untereinander in bestimmten Oppositionen standen und aus morphologisch-syntaktischen Gründen sämtlich als auf x 1 zurückführbar betrachtet werden müssen, so verbietet sich jede im heutigen Sinn ‚phonetische‘ Interpretation dieser Chiffren eben deswegen, weil der einzige Zweck der Rekonstruktion darin besteht, durch quellenbelegte Sachverhalte im Sanskrit, Griechischen, Gotischen etc. dadurch systematisch deuten zu können. Nicht zufällig schließt die Vorlesung von 1907 mit einer Betrachtung des Wertes der „rekonstruierten Methode“ (I R 3.46ff.; cf. SM 64f.), und ohne Zweifel hat Saussure hier den Mémoire vor Augen, wenn er darlegt, daß es keine Lautwandelprozesse betreffenden Vergleiche geben könne, die sich nicht beständig morphologischer Betrachtungen bedienen müßten 11 . Daß dies nicht erst eine Einsicht der späteren Jahre ist, belegt die um 1894/ 5 entstandene Notiz zur Morphologie: Ferdinand de Saussure 289 La morphologie est la science qui traite des unités de son correspondent à une partie de l’idée et du groupement de ces unités. - La phonétique est la science qui traite des unités de son à établir d’après des caractères physiologiques et acoustiques. - Le vrai nom de morphologie serait: la theorie de signes - et non des formes (N 7, EC (4), 17). Saussures Semiologie resultiert - darauf deutet diese Definition hin - aus der hermeneutischen Orientierung der Erkenntnistheorie, der der junge Saussure, ohne dies dort schon explizit zu reflektieren, im Mémoire bereits folgt und aus der er die entscheidenden Einsichten gewinnt (cf. Jäger 1975: 184ff.). Damit gewinnt er - ohne sich freilich zu diesem Zeitpunkt dieses Traditionsbezuges schon bewußt zu sein - diejenige Position zurück, die Wilhelm von Humboldt - vergeblich - gegen die einzelne Lautbestände isolierende Methode des Sprachenvergleichs, wie sie von Bopp oder J. Grimm praktiziert wurde (cf. Stetter 1986), formuliert. Der Vergleich von Sprachen setzt immer das Studium ihrer systematischen Organisation unter dem Gesichtspunkt voraus, in welcher Weise die Sprachstruktur die Artikulation von Gedanken in der Rede ermögliche (cf. W. v. Humboldt 1820: §§ 9ff. u. 20f.). Offenkundig war damit die Bedeutung der sogenannten ‚Lautgesetze‘ entscheidend in Frage gestellt, und wiederum im Cours von 1907 wird Saussure dies in aller Klarheit aussprechen: Lautwandelprozesse sind durchaus regelmäßiger Natur. Dies hatten Rask, Grimm, Verner etc. hinreichend gezeigt. Deshalb betrachtet man sie als Auswirkungen von ‚Lautgesetzen‘. Aber - so der Einwand Saussures - „… un élement est atteint par le phénomène phonétique dans tous les mots, etc.: un élement ne peut pas être régi par une loi! C’est donc un contresens de parler de loi phonétique …“ (EC al. 2244, I R 1.51). Saussures im CLG durchaus zutreffend referierte Kritik am Begriff des Lautgesetzes (cf. CLG 202ff.) ist einhellig als „unoriginell“ bewertet worden (cf. Scheerer 1980: 35). In der Tat findet sich auch bei H. Paul oder Delbrück der Hinweis darauf, daß Lautgesetze keine Naturgesetze seien; sie konstatierten lediglich „die Gleichmäßigkeit innerhalb einer Gruppe bestimmter historischer Erscheinungen“ (Paul 1960: 68; cf. Delbrück 1919: 174ff.). Doch zielt die Kritik Saussures auf einen prinzipielleren Punkt, den bereits die von Jäger mitgeteilte Notiz zu Curtius von 1876/ 7 hervorhob: Die Elemente, die Lautgesetzen unterliegen sollen, sind keine zeitlich definierbaren Ereignisse, mit Paul zu sprechen individuelle „Äußerungen der Sprechtätigkeit“, sondern Elemente der langue, des Sprachsystems, also Schemata, d.h. psychische Gebilde. Sie existieren als Schemata ausschließlich, um sinnvolle Rede zu ermöglichen. Zwar ist die Regelmäßigkeit ihrer Veränderung durchaus beschreibbar, ja es charakterisiert geradezu die Besonderheit der Sprachen als historischer Phänomene, daß sich derartige überindividuelle, sich jenseits des Bewußtseins der einzelnen Sprecher vollziehende Erscheinungen an ihnen studieren lassen (cf. hierzu N 1.1, EC (4), 6); aber als psychische Formationen sind die Elemente der langue per definitionem jeder Form von Kausalität, wie sie von den ‚Gesetzeswissenschaften‘ beschrieben wird, entzogen. Erst gegen Ende der letzten Vorlesung von 1910/ 1 allerdings wird Saussure - und dies verdeutlicht den weiten Weg, der vom Mémoire bis dorthin noch zurückzulegen ist - das semiologische Prinzip hinreichend expliziert haben, aus dem die schon in der kurzen Notiz berührte kategoriale Besonderheit des linguistischen Objekts ableitbar ist: das des arbitraire du signe linguistique (s. dazu weiter unten). Christian Stetter 290 3 Grundlagenprobleme: die „notes“ der neunziger Jahre Nach zehn erfolgreichen Lehr- und Publikationsjahren in Paris, die seinen Ruf als einer der führenden Linguisten der Zeit festigen, übernimmt Saussure 1891 eine für ihn eingerichtete Professur für Geschichte und Vergleich der indoeuropäischen Sprachen an der Universität seiner Heimatstadt Genf. In den ersten dort gehaltenen Vorlesungen vom November 1891 (N 1.1-1.3, EC (4), 3-14) begründet er den Ort der Linguistik im Rahmen der faculté des lettres: Sie ist nicht als Hilfswissenschaft der Ethnologie oder Philologie zu legitimieren, sondern nur durch den Rang ihres Objektes selbst. Die Sprache aber ist die einzig allgemein anerkannte differentia specifica der Gattung Mensch: […] le langage a été le plus formidable engine d’action collective d’une part, et d’éducation individuelle de l’autre, l’instrument sans lequel en fait l’individu ou l’espèce n’auraient jamais pu même aspirer à développer dans aucun sens ses facultés natives (ibid. 4). Das Studium der Sprache als “fait humain”, so argumentiert Saussure weiter, sei nur möglich durch das Studium einzelner existierender Sprachen, dieses müsse aber umgekehrt stets auf “le problème général de langage” bezogen bleiben, andernfalls würde es steril (cf. EC 515, N 1.1, al. 3281). Es mag hier unausgemacht bleiben, ob Saussure zu diesem Zeitpunkt schon Humboldt gelesen hatte; die in dieser Vorlesung vertretene Position entspricht exakt dessen Postulat der Verbindung von ‚philosophischer‘ und ‚historischer‘, d.h. empirischer Sprachkunde (cf. Borsche 1981: 201ff.; Stetter 1986), und von diesem Ansatz her wird verständlich, wieso Saussure vehement den Versuch Schleichers, M. Müllers u.a. kritisiert - ohne Zweifel ist hier auch an Osthoff oder Brugmann zu denken -, die Linguistik als Naturwissenschaft zu etablieren. In diesen Inauguralvorlesungen zeigt sich eine philosophische Auffassung der Sprache, die mit der junggrammatischen Wissenschaftskonzeption nichts mehr gemein hat; die Linguistik ist eine durch und durch historische Disziplin: […] plus on étudie la langue, plus on arrive à se pénétrer de ce fait que tout dans la langue est histoire, c’est-à-dire qu’elle est un objet d’analyse historique, et non d’analyse abstraite, qu’elle se compose de faits, et non de lois […] (N 1.1 EC (4), 5). Um dies zu begründen, formuliert Saussure zwei korrelative Prinzipien, das der Kontinuität der Sprache in Raum und Zeit und das ihrer kontinuierlichen Transformation bzw. Diversifikation. Am Beispiel eines russischen Originals namens Boguslawski, der sich zwanzig Jahre lang am 1. und 15. eines jeden Monats photographieren ließ, um schließlich die so entstandenen 480 Photographien zusammen auszustellen, demonstriert er deren Zusammenwirken und das Kardinalproblem sprachlicher Identität, das sie theoretisch darstellbar machen sollen. Zu keinem Zeitpunkt hat z.B. das Latein aufgehört zu existieren, zwei beliebige benachbarte Photographien zeigen immer denselben Boguslawski, und doch spricht man heute Französisch, Italienisch oder Spanisch, nicht mehr Latein. Es ist eben die vergleichende Indogermanistik, deren Ergebnisse zu dieser Überlegung zwingen, denn dasselbe Verhältnis gilt für den Zusammenhang aller indoeuropäischen Sprachen, wenn er zugänglich wäre, darüber hinaus für den aller Sprachen überhaupt (cf. damit Humboldt 1820). Desgleichen hatte die indogermanistische Forschung gezeigt, daß die Sprachveränderungen in allen Sprachen gleichförmiger Natur sind, so daß man - eine überraschende Pointe - den ‚Sprachursprung‘ als Form der ‚Sprachveränderung‘ auffassen muß (N 1.2, EC (4), 9), und daß es überall zwei Arten des Sprachwandels gibt, nämlich den ‚Lautwandel‘ und den ‚analogischen Wandel‘. Ferdinand de Saussure 291 In der Bewertung dieser beiden Phänomene zeigt sich der ganze Abstand, der Saussure vom junggrammatischen Paradigma trennt - und setzt sich fort, was bereits im Mémoire angelegt war. Der Lautwandel wird ganz en passant behandelt; er betrifft blind alle Formen des Sprachsystems (langue), wo sich der betreffende Laut (son) findet. Er wirkt also mit „mathematischer Regelmäßigkeit“; dies scheint ihn für eine wissenschaftliche Betrachtungsweise zu prädestinieren. Tatsächlich - so führt Saussure aus - wirkt er mit solcher Regelmäßigkeit, daß man, ein indoeuropäisches oder lateinisches Wort gegeben, prognostizieren könnte, welches griechische bzw. französische Wort sich daraus ergeben würde - wenn man eben ausschließen könnte, daß eine Analogiebildung den Entwicklungsprozeß unterbricht (N 1.2, EC (4), 10). Dies aber ist nicht möglich, denn da der Laut die eine Form ohne Rücksicht auf ihre Funktion im jeweiligen System betrifft, zerstört er dessen Ökonomie. Dies gerade erzwingt Analogiebildungen, die die „Symmetrie“ des Sprachsystems wiederherstellen (ibid.), um seine Funktionsfähigkeit zu erhalten. Im Cours von 1906/ 7 wird das Verhältnis der beiden Arten des Sprachwandels zum zentralen Thema werden (cf. zum Aufbau des Cours I SM 53ff.). Dort illustriert Saussure die 1891 nur abstrakt formulierte These mit vielen Beispielen. So bewirkt z.B. der Lautwandel, daß ahd. hirta (= der Hirte) und hirti (= die Hirten) beide im Mhd. zu nunmehr homonymen Formen hirte werden. Der damit verbundene Verlust von Singular- und Pluralform wird durch eine neue Form hirten, die in Analogie zu bote - boten gebildet wird, ausgeglichen (cf. EC al. 2473, I R 2.8). Angesichts der eingangs der ersten Inauguralvorlesung entfalteten philosophischen Bedeutung der Sprache als des elementaren Kommunikations- und Bildungsmediums der Gattung Mensch muß der Lautwandel irrelevant werden, die Analogiebildung dagegen ins Zentrum des Interesses rücken. Sie wird als „psychischer Akt“, „intelligente Operation“ beschrieben (N 1.1, EC (4), 9), die sprachliche Formen unter dem Aspekt ihrer Bedeutung miteinander verknüpft. Sie etabliert allererst Ordnung und Zusammenhang im Sprachsystem, denn sie ist das Vehikel des Spracherwerbs. Wiederum wird der Cours von 1906/ 7 die entscheidende sprachphilosophische Formel für den schon hier umrissenen Sachverhalt liefern: Die Analogie ist das „principe général des créations de la langue“ (cf. EC al. 2510, I R 2.19, SM 57). Man sieht, wie falsch Chomskys Ansicht war, Saussure habe die langue nicht unter dem Aspekt der Kreativität, sondern lediglich als „trésor mental“ betrachtet (cf. Chomsky 1969). Das Gegenteil trifft - wie schon der Text von 1891 belegt - zu: „… une langue quelconque à un moment quelconque n’est pas autre chose qu’un vaste enchevêtrement de formations analogiques …“. Einen Linguisten aufzufordern, Analogiebildungen zu benennen, hieße ebensoviel wie einen Astronomen nach Sternen zu fragen: „… ce ne sont pas de curiosités ou des anomalies, mais c’est la substance la plus claire du langage partout et à toute époque …“ (N 1.1, EC (4), 10). Die Analogie aber ist ein Schluß von Einzelnem auf Einzelnes aufgrund einer kontingenten Ähnlichkeit (cf. Aristoteles, Anal. pr. 68 b 38ff. und Peirce, CP 2.513). Ein durch Analogie gebildetes x kann somit niemals auf eine Regel zurückgeführt, d.h. erklärt bzw. seine Bildung prognostiziert werden. Sofern Saussure also das philosophische Phänomen der Sprache auf die Analogie gründet, begreift er sie per se als ein jeder „erklärenden“ Theorie sich entziehendes Objekt. Die Beschreibung der Analogie als „intelligenter Schluß“ begründet darüber hinaus die These, daß die Linguistik nur als historische Disziplin begriffen werden könne, denn danach muß jedes Sprachsystem als durch individuelle menschliche Akte vermitteltes Allgemeines betrachtet werden. „Äußerlich“ betreibt Saussure in den folgenden Jahren weiter historisch-vergleichende Indogermanistik. Er liest regelmäßig über das Sanskrit, über griechische und lateinische Christian Stetter 292 12 Cf. den Brief an Meillet vom 4.1.1894, SM 93. 13 Cf. die entsprechenden Hinweise Ms. p. [13] und [30]; Godel (SM p. 36) bringt N 7 in den Zusammenhang der „Étude de la declinaison gréque“ (1894/ 95), man könnte auch an die „Études d’etymologie gréque et latin“ von 1893/ 94 denken. Dies würde die in Ms. p [3] gegebene Definition von „Etymologie“ erklären, aus der die Notwendigkeit einer systematischen Unterscheidung von ‚Phonetik‘ und ‚Morphologie‘ folgt. Etymologie, über griechische und persische Inschriften usw. (cf. SM 24f.). Indessen treten die Implikationen des 1891 formulierten philosophischen Standortes seiner Wissenschaftskonzeption in zunehmender Deutlichkeit zutage; die prinzipielle Auseinandersetzung mit der überkommenen, immer noch „herrschenden“ Form der Linguistik war unvermeidlich geworden. Die drei großen Textfragmente der 90er Jahre - die notes über Morphologie (N 7; ~ 1894/ 5) (EC (4), 17ff.; zur Datierung cf. SM 36f.), diejenige über Whitney (N 10; 1894) (EC (4), 21ff.) und schließlich die sog. „notes item“ (N 15; nach 1897) (EC (4), 35ff.) - spiegeln den um eine Grundlegung der Disziplin ringenden Reflexionsgang Saussures wider, der zu immer abstrakteren Problemstellungen vordringt, sich mehr und mehr von der Begriffswelt der vergleichenden Indogermanistik entfernt und sich doch außerstande sieht, den Resultaten seines Nachdenkens eine definitive Form zu geben 12 . Die Semiologie Saussures - ein Torso - ist Produkt dieser Krise. Die note über Morphologie greift das seit dem Mémoire latente Problem der Begründung des linguistischen Kategorienapparates der vergleichenden Indogermanistik auf. Offensichtlich im Zusammenhang einer Übung zur Grammatik des Griechischen und Lateinischen entstanden 13 klärt dieser etwa dreißig Manuskriptseiten umfassende Text das systematische Verhältnis von ‚Phonetik‘ und ‚Morphologie‘. Den Grund dafür benennt die wohl in unmittelbarer Nachbarschaft entstandene note 8 (EC (4), 21): Un des plus amusants spectacles est la manière dont se divise la grammaire (scientifique) d’une langue. - Il y a d’abord la Phonétique (en allemand Lautlehre), puis la morphologie (allemand Formenlehre). C’est tout naturel n’est ce pas? D’abord les sons, puis les combinaisons de son; d’abord le simple, puis le composé; et ce qu’il y a de plus merveilleux est que l’on croit comprendre! Offenkundig ist dies auf die Junggrammatiker gemünzt, denn deren Methodologie ist der zentrale Gegenstand der note 7: Die „grammaire comparée“ zerlegte Wörter in Wurzeln, Prä-, In-, Suffixe, Endungen etc., so z.B. lat. pater (= Vater) in die Wurzel pa- und das Suffix -ter (pa-tr-is, pa-tr-i, …), ohne sich im geringsten zu fragen, ob diesen Einteilungen irgendwelche Einheiten eines ‚native speaker‘ („sujet parlant“) des Latein etwa zur Zeit Cäsars entsprachen. Kriterium der Zerlegung, etwa von gr. hippos in einen sog. o-Stamm hippo und eine Endung -s, war vielmehr der morphologische Zustand einer rekonstruierten idg. Form, hier also ekwo-s, ekwo-m usw. Diese Analyse besaß aber schon für den Griechen des 8. oder 7. Jahrhunderts keine Gültigkeit mehr; er faßte -os, -ou usw. als ein Morphem auf. Zu Recht - so Saussure - protestierten die Junggrammatiker gegen derartige Anachronismen und erklärten - wie z.B. oben H. Paul - alle diese ‚Wurzeln‘, ‚Stämme‘ usw. zu puren Abstraktionen, denen nichts Beobachtbares entspreche, bedienten sich dessen ungeachtet dieser Einheiten in ihren Materialanalysen weiter - „pour la commodité de l’exposition“. Aber - so wendet Saussure dagegen ein - „s’il y a pas de justification à l’établissement de ces categories, alors pourquoi les établir“ (p. [6], EC 418, al. 2775.). Neologismen und Analogiebildungen beweisen jedoch, daß jedes Sprecherbewusstsein (conscience du sujet parlant) Wörter in Untereinheiten zerlegt, um aus den Einheiten dieser „subjektiven“ Analyse neue Ferdinand de Saussure 293 Wörter zu bilden, und Saussure zieht daraus den entsprechenden erkenntnistheoretischen Schluß: […] avant de <venir> parler d’abstractions, il faut avoir un critère fixe touchant ce qu’on peut appeler réel en morphologie. Criterium: ce qui et réel, c’est ce dont les sujets parlants ont conscience à un degré quelconque, et rien que ce dont ils peuvent avoir conscience (Ms. p. [7], EC 419, al. 2779). Im Cours von 1906/ 7 geht Saussure wiederum einen Schritt über den hier schon erreichten Reflexionsstand hinaus, indem er explizit zwischen ‚subjektiver Analyse‘ (der jeweiligen native speakers) und ‚objektiver Analyse‘ (des Linguisten) unterscheidet (Cf. I R 2.64ff., EC al. 2588ff.) und deren Verhältnis zueinander diskutiert. Natürlich kann sich die Blickrichtung der ‚objektiven Analyse‘, etwa in sprachhistorischen Untersuchungen, von der der ‚subjektiven‘ entfernen. Sie vermag zu verdeutlichen, was dem sich in seiner jeweils synchronischen Perspektive befangenen Sprecher nicht mehr bewußt ist, daß sich z.B. in dem Namen Nachtigall bis ins Neuhochdeutsche eine ahd. Form nahti (der Nacht, nächtens) erhalten hat, die dem heutigen Sprecher als solche natürlich nicht mehr verständlich ist. In jedem Fall muß aber gelten, daß die ‚objektive‘ Analyse in letzter Instanz immer auf einer ‚subjektiven“ beruht; dies allein kann sie rechtfertigen. Schon in dieser note 7 zieht Saussure aus diesem Sachverhalt eine zweifache Konsequenz: Da die subjektive Analyse Einheiten immer unter dem Aspekt ihrer Funktion bei der Bildung sinnvoller Ausdrücke betrachtet, wäre die wahre Definition der Morphologie: „La théorie des signes - et non des formes“ (EC (4), 17). Wenn eine Einheit der langue im Sinne des o.g. Kriteriums „real“, nämlich für ein bestimmtes Sprecherbewusstsein, genannt wird, so heißt dies eben, daß sie in bestimmter Weise interpretierbar, für dieses Bewußtsein also ein Zeichen ist: „la langue n’a conscience du son que comme signe“ (ibid.). Eine Morphologie des Neuhochdeutschen würde also Nachtigall als ein nicht weiter analysierbares Morphem aufführen. Die morphologische Analyse bezieht sich also in erster Instanz immer auf den Gebrauch von Zeichen im Rahmen einer einzigen Epoche: „Une morphologie vraiment scientifique aurait pour premier devoir de séparer les différentes époques et de se pénétrer <exclusivement> de l’esprit de chacune d’elles“ (Ms. p. [13], EC al. 2770.). Auch ‚Phonétique‘ (Lautlehre) im tradierten Sinne zu betreiben kann nach der hier entfalteten Erkenntnistheorie nur bedeuten, Formen miteinander zu vergleichen, z.B. ahd. zugi mit mhd. züge, denn nur in diesen begegnen sich die ‚Laute‘. Der Vergleich bezieht sich hier aber auf verschiedene Epochen, und die Form wird nicht bezüglich ihrer systematischen Funktion, sondern bezüglich ihrer Veränderung in der Zeit betrachtet. Die Opposition von Synchronie und Diachronie ist in dieser Konzeption schon impliziert, wenn auch die Termini noch nicht geprägt sind. Man sieht, wie Saussures Ideen über das Problem, in den Kategorien der Linguistik einen zureichenden philosophischen Begriff der Sprache zu entfalten, damit die Konzeption einer linguistique générale sich in diesen Jahren in zunehmendem Maße aus logischen Problemstellungen entwickeln, die die Begrifflichkeit der vergleichenden Indogermanistik implizierte und die er offenkundig als einziger der Zunft als solche erkannte. Ein Brief an A. Meillet von 1894 belegt, daß Saussures Denken spätestens zu diesem Zeitpunkt die Ebene der Grundlagen des Faches erreicht hatte. Dort beklagt er die Schwierigkeit, über die „faits de langage“ überhaupt noch Allgemeingültiges aussagen zu können: „Préoccupé surtout depuis longtemps de la classification logique de ces faits, de la classification des points de vue sous lesquels nous traitons, je vois de plus en plus à la fois l’immensité du travail qu’il faudrait pour montrer au linguiste ce qu’il fait, en reduisant chaque opération Christian Stetter 294 14 Zu Recht hat Godel die Bedeutung der notes 9.1-2 hervorgehoben; cf. SM 136. 15 Cf. hierzu die ausführliche Analyse in Jäger 1975: 77ff. 16 Cf. etwa das SM 30 berichtete Gespräch mit M.L. Gautier; ähnlich auch N 10, p. [9], EC (4), 22. à sa catégorie prévue; et en même temps l’assez grande variété de tout ce qu’on peut faire finalement en linguistique“ (cf. SM 31). In um dieselbe Zeit entstandenen Skizzen für ein Buch über allgemeine Sprachwissenschaft (N 9.1-9.3, N 11 und N 12) wird die logische Klassifikation der den Gesamtbegriff der Sprache insgesamt konstituierenden Theoreme in zunehmender Präzision erfaßt. In N 9 vertieft er die methodologische Argumentation der note über Morphologie: Das fait linguistique ist nicht als Naturobjekt gegeben, denn seine Identität beruht auf Identitätsurteilen der sujets parlants - „jugement d’identité prononcé par l’oreille“ (N 9.1 p. [7], EC al. 129). Der Laut, z.B. die „figure vocale nü“ existiert als sprachliches Element nur, sofern er als Einheit identifiziert wird. „Hors d’une relation quelconque d’identité, un fait linguistique n’existe pas“ (N 9.1 p. [11], EC al. 129). Diese Überlegung ist die erkenntnistheoretische Keimzelle der ganzen späteren Systematik 14 : Die sprachliche Einheit muß als solche von einem Sprecherbewusstsein konstituiert werden, und aus logischen Gründen muß es immer einen bestimmten Gesichtspunkt geben, der dieses beim Geschäft der Identifizierung von Einheiten leitet, einen Gesichtspunkt, aus dem z.B. folgt, daß ein Sprecher des Neuhochdeutschen Nachtigall nicht mehr wie ein Zeitgenosse Notkers von St. Gallen als zusammengesetzten Term, sondern als nicht weiter zerlegbare Einheit auffaßt. Die Sprachwissenschaft muß dieser besonderen, durch Bewusstseinsleistungen welcher Art auch immer konstituierten „Natur“ ihres Objektes Rechnung tragen. Ihr Gegenstand ist eben von der besonderen Art, daß man sich ihm nicht unabhängig von einer bestimmten Perspektive nähern kann, und so zeigt sich, daß die Konstitution des wissenschaftlichen Gegenstandes ‚Sprache‘ dieselbe Form hat wie die Konstitution sprachlicher Elemente durch die conscience des sujets parlants: Ailleurs il y a des choses, des objets donnés, que l’on est libre de considerer ensuite à différents points de vue. Ici il y a d’abord des points de vue à l’aide desquels on CRÉE secondairement les choses (N. 9.2 EC al. 131). Saussure plädiert hier nicht für eine konventionalistische Theoriebildung im Sinne der nachmaligen Forschungslogik Poppers 15 . Denn die Wahl des die Theorie konstituierenden Gesichtspunktes ist für ihn keineswegs beliebig bzw. an das Kriterium „erfolgreicher“ Forschung gebunden; „Ces créations se trouvent correspondre à des réalités quand le point de départ est juste, ou n’y a pas correspondre dans le cas contraire …“. Es kommt m.a.W. darauf an, in der Wahl der theoretischen Kategorien diejenigen Gesichtspunkte zu treffen, die die Konstitution des realen Gegenstandes ‚Sprache‘ durch die jeweiligen ‚sujets parlants‘ leiten. Man könnte dies eine ‚verstehende‘ Begründung der Linguistik im Sinne von Wrights nennen (cf. von Wright 1974: 122ff.), denn für eine ‚Erklärung‘ der Sprache insgesamt oder auch einzelner sprachlicher Phänomene fehlt die vor jeder Sprache gegebene Regel, unter die das Explanandum zu subsumieren wäre. Und wenn Saussure die vergleichende Kritik verschiedener „points de vue“ als „einzig zulässigen“ Ausgangspunkt linguistischer Theoriebildung bezeichnet (N 9.1 p. [9], EC al. 129), so entspricht dies zweifellos dem hermeneutischen Prinzip reflexiver Aufklärung der wirkungsgeschichtlichen Prämissen des je einzelnen Denkens. Allerdings spricht das ebenso zu konstatierende axiomatische Interesse des Saussureschen Denkens 16 dagegen, es nun umstandslos der hermeneutischen Tradition zuzurechnen. Jedenfalls handelt es sich um den Versuch, in einem „adäquaten“ Netz linguistischer Katego- Ferdinand de Saussure 295 17 Mit dieser Charakterisierung trifft man die Bedeutung Saussures besser, als wenn man ihn als Begründer der Semiologie o.ä. bezeichnete. Denn die zeichentheoretischen Überlegungen stehen ja gleichfalls im Zusammenhang seines Begründungsversuchs. rien einen philosophisch zutreffenden Begriff von Sprache als „institution humaine“ zu explizieren. Die Sprachphilosophie des 20. Jahrhunderts hat gezeigt, daß dieses Unternehmen der Quadratur des Kreises gleichkommt. Als Wissenschaft muß die Linguistik auf die Formulierung allgemeiner Aussagen über Sprache ausgehen, dies kann jeweils nur von einem als gültig vorausgesetzten Gesichtspunkt ausgehen, zu dessen Begründung wiederum ein unbestimmter Begriff von Sprache vorausgesetzt werden müßte usw. ad infinitum. Sprachwissenschaft kann das anthropologische Phänomen der Sprache immer nur partiell „rekonstruieren“ (cf. Simon 1981: 197ff ). Immerhin kann sie die unvermeidlichen Verkürzungen ihres Ansatzes noch philosophisch reflektieren und als solche kenntlich machen, und hierin liegt die genuin sprachphilosophische Qualität des saussureschen Denkens 17 , die sich in der note über Whitney (N 10, EC (4), 21ff.) vielleicht deutlicher als in irgendeinem anderen Text des Genfers zeigt. Nicht zufällig ist die geplante Würdigung Whitneys, der 1894 gestorben war, unvollendet geblieben, denn in ihrem Zusammenhang mußte Saussure auf das bezeichnete Begründungsproblem eingehen, dessen Unlösbarkeit ihm zu seiner Zeit noch nicht durchsichtig sein konnte. Was er schärfer als jeder andere Linguist sieht, sind die logischen Widersprüche in jedem von ihm erwogenen System linguistischer Kategorien, die vom vorausgesetzten Begriff der Sprache her kategorial aufgehoben werden müßten. Gerade seine Überlegungen führen aber zum gegenteiligen Resultat, und Saussure ist sich dessen bewußt: Nous nourrisons depuis bien des années cette conviction que la linguistique est une science double, et si (profondément, irrémédiablement) double, qu’on peut (à vrai dire) se demander s’il y a une raison suffisante pour maintenir sous ce nom de linguistique une unité (factice), génératrice (précisément) de toutes les erreurs, de tous les inextricables pièges contre lesquels nous nous débattons chaque jour […] (N 10 p. [14a], EC (4), 23). Er war davon ausgegangen, die Linguistik als historische Disziplin zu begründen; dies hatte zur Rehabilitierung der Morphologie als eines genuinen Zweiges der Sprachwissenschaft geführt. Dieser aber impliziert den Begriff der Synchronie. Saussure als derjenige, der der Disziplin griffige Dichotomien - langue-parole, Synchronie-Diachronie, signifiant-signifié etc. - zu zweckmäßigen Unterscheidungen bereitstellte, ist in seinem Anliegen verkannt. Es geht ihm vielmehr darum, das dichotomische Auseinanderfallen der Linguistik - und die notes über „status et motus“ (N 11 und 12, EC (4), 26ff.) sind nichts anderes als Sammlungen solcher Dichotomien als begrifflich aufzuklärender Problemstellungen - in „Lautlehre“ versus „Formenlehre“ etc. zu überwinden. Eine Bemerkung aus der note 9 weist bereits den Weg: Parmi les choses qui peuvent être opposées au son (material), nous nions, essentiellement (et sans aucune défaillance future dans le détail), qu’il soit possible au son matériel, c’est le groupe son-idée, mais absolument pas l’idée (N 9.2 p. [6], EC 26, al. 131). Dies wäre eine Lösung, denn der Begriff „die Gruppe son/ idée“ impliziert den Begriff „son“. Folgerichtig handelte es sich hier nicht um eine Dichotomie - wenn eine nicht-dichotomische Interpretation des Begriffs „die Gruppe son/ idée“ gefunden werden könnte. So präsentiert sich im Denken Saussures allmählich die Idee, daß es einen systematischen Grund in der sprachwissenschaftlichen Begrifflichkeit geben müsse, der die beklagten Widersprüche insgesamt Christian Stetter 296 erzeugt, und daß dieser in einer falschen Auffassung vom signe linguistique liegen müsse, denn der oberste Gesichtspunkt, der die Identifizierung eines Elementes x als sprachliche Einheit rechtfertigt, ist, daß es in bestimmter Weise interpretierbar sein muß. Philosophisch bedeutsam ist die Sprache nicht unter dem Aspekt des Lautwandels, sondern allein als System von Zeichen. So wird das eigentliche Problem darin liegen, einen Begriff der langue als eines Systems von Zeichen zu entwickeln, der per se die Beschränkung auf die Ebene der Synchronie vermeidet. Diesen Gedanken formuliert Saussure schon in der note 9.3 sehr klar: Das kategoriale Grundproblem der Linguistik hängt danach nicht davon ab, ob die langue als „fait social“ repräsentiert wird, sondern viel allgemeiner, „s’il y a dans un règne quelconque quelque chose qui par les conditions comparatives de son existence et de changement donne le symétrique de la langue” (N 9.3, EC (4), 21). Die note über Whitney präzisiert diese allgemeine Frage in zeichentheoretischer Hinsicht. Seit alters her gilt das sprachliche Zeichen in Philosophie, Logik, Psychologie als konventionelles Symbol. Doch trügt die Analogie des Konventionsbegriffs; denn gesellschaftliche Konventionen kann man aus ihrer Geschichte verstehen, nicht aber die „Konvention“, die zwischen dem sprachlichen Zeichen und seiner Interpretation besteht. In einer Epoche galt im Altniederdeutschen aufgrund der Opposition von : i das i als Zeichen des Plurals, zu einer späteren der Umlaut (f ¯ ot : f ¯ oet). Der betreffende Lautwandelprozeß läßt sich aber nicht erklären (N 10 p. [9a], EC al. 1392). Die arbiträre (N 10 p. [13a], EC (4), 23) Natur des sprachlichen Zeichens liefert es, und zwar seine Zeichengestalt, den „unkalkulierbaren“ Einflüssen der Zeit aus; dies macht aus der Sprache eine Institution „sans analogue“ (N 10 P. [18], EC al. 1264). Zum zentralen Problem der Begründung einer konsistenten linguistischen Theorie wird so die Entwicklung eines Begriffs des sprachlichen Zeichens, aus dem die scheinbar paradoxe Doppelnatur der Sprache, zu jedem Zeitpunkt gleichzeitig historisches Produkt vorausgegangener Epochen und für sich geltendes System zu sein (N 10 p. [14], EC (4), 23), als notwendige Konsequenz folgt. Ins Zentrum der Überlegungen Saussures rückt damit der traditionelle Begriff des sprachlichen Zeichens, die auf Platons Kratylos zurückgehende Vorstellung, nach der seine Grundfunktion darin besteht, nichtsprachliche Objekte zu bezeichnen, „donc (ce que nous nierons toujours) base extérieure donnée au signe, et figuration du langage par ce rapport ici: x a objets x b noms x c alors que la vraie figuration est: a b c, hors de toute connaisance d’un rapport effectif comme x ---a fondé sur un objet” (N 12 p. [19] f., EC al. 1091). Die vielzitierte “note onymique” (N 15 [3312.1], EC (4), 36) aus den notes item, in denen Saussure seine semiologischen Überlegungen am weitesten vorangetrieben hat (N 15, EC (4), 35ff.), beschreibt den Grund für die geradezu „natürliche“ Illusion, die mit der Auffassung der Sprache als simpler Nomenklatur verbunden ist. Es gibt tatsächlich „dans l’ensemble de la sémiologie“ den besonderen Fall eines Objekte bezeichnenden Sprachgebrauchs, „où il y a un troisième élément incontestable dans l’association psychologique du sème, la conscience qu’il s’applique à un être extérieure …“. Der „Konstruktionsfehler“ der Linguistik liegt nach Saussure darin, diesen Sonderfall verallgemeinert zu haben. So skizziert er einen „Katalog fundamentaler Irrtümmer“ (N 15 [3313.1], EC (4), 37): ot f ¯ f ¯ ot Ferdinand de Saussure 297 1 0 Erreur des signes pris chacun pour soi. - Ou erreur de croire qu’une langue composée de 500 mots représente 500 signes + 500 significations. - Ou erreur de croire qu’on représente en rien le phénomène de la langue quand on se croit autorisé à dire ‘le mot et sa signification’, oubliant que le mot est entouré de (autres mots). In einer an Wittgenstein erinnernden, “sinnkritisch” zu nennenden Überlegung legt Saussure den Grundirrtum des auf der Konventionsanalogie aufgebauten Begriffs vom sprachlichen Zeichen frei: Weil nach dem Nomenklaturmodell die - in moderner Terminologie zu sprechen - Extension eines „Namens“ als gegeben vorausgesetzt werden kann, scheint dies zu berechtigen, das Zeichen (son, figure vocale etc) von seiner Bedeutung (sens, signification) zu unterscheiden. Doch ist die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks nur dann verständlich, wenn er in einen bestimmten Kontext anderer Ausdrücke eingebettet ist. Saussure umspielt hier den Sachverhalt, der für die durch Wittgenstein beeinflußte Sprachphilosophie des 20. Jahrhunderts zu einer fundamentalen Einsicht geworden ist: die Extension eines Begriffs ist nur feststellbar, wenn zuvor seine Intension verstanden wurde (cf. Simon 1981: 72ff. u. 134ff.). Die Begründung dieser These erfolgt in zweierlei Hinsicht: Einerseits ist die Betrachtung einer sprachlichen „Form“ wie z.B. μ unter dem Aspekt des Lautwandels oder im Zusammenhang eines Flexionsparadigmas immer nur eine Abstraktion von der „normalen“ Verwendungsweise der Form in der parole, in der sie immer eine bestimmte Sinnfunktion erfüllt; es gäbe ohne diese Funktion keine sprachliche Form (N 15 [3310.6]). Auch die formale Betrachtungsweise setzt ein Verständnis der Form „dans le discursif“ immer voraus (N 15 [3311.2] und [3314.4] ff.). Andererseits ist die „Bedeutung“ (sens, signification) einer sprachlichen Einheit immer nur durch den Gebrauch anderer sprachlicher Einheiten zu beschreiben. Keine Beschreibung des Sinns kann jedoch jemals vollständige Synonymie zwischen beschriebenem und beschreibendem Ausdruck erzielen. In immer neuen Reflexionen legt Saussure in den notes item den Sprache charakterisierenden entscheidenden Sachverhalt frei: Der Begriff einer sprachlichen ‚Form‘ impliziert stets den der ‚Bedeutung‘, umgekehrt der der ‚Bedeutung‘ stets den der ‚Form‘; folglich sind beide Begriffe bezüglich der Kennzeichnung einer sprachlichen Einheit äquivalent. Dies macht die Unvergleichlichkeit des semiologischen Systems Sprache aus. Der traditionelle Begriff des signe, der stets als Zeichen für etwas verstanden wurde, ist daher gänzlich ungeeignet, ihren besonderen Charakter zu kennzeichnen, er ist geradezu systematisch irreführend. Saussure entwirft folglich in diesen Skizzen eine Terminologie, die die mit der traditionellen semiotischen Begrifflichkeit verbundenen Trugschlüsse vermeiden soll, indem sie in ihrem Grundbegriff die oben bezeichnete Äquivalenz zum Ausdruck bringt: an die Stelle des Terms signe tritt der Term sème: le mot de sème écarte, ou voudrait écarter toute prepondérance et toute separation initiale entre le côté idéologique du signe. Il représente le tout du signe, c’est-à-dire signe et signification unis en une sorte de personnalité (N 15 [3310.12]). Keine sprachliche Einheit existiert anders denn als sème, d.h. als eine ‚Form‘, der wir insofern ‚Bedeutung‘ zusprechen können, als wir sie zusammen mit anderen derartigen ‚Formen‘ zu sinnvollen, d.h. verstehbaren sprachlichen Ausdrücken im linearen Verband der parole zusammensetzen. Eine Phonemfolge wie - bd - dagegen ist weder im Französischen noch im Deutschen als sème identifizierbar, weil es in beiden Sprachen keine Einheiten x und y gibt, so daß x + bd (bzw. bd + x) und x + y (y + x) interpretierbare Formen wären (cf. N 15 [3314.5]). Christian Stetter 298 18 In der Mitschrift Constantins handelt es sich um die Seiten [263] ff. Jedes sème ist jedoch „signe conventionell“ (N 15 [3310.11]) - das Arbitraritätsprinzip bleibt bis zur letzten Vorlesung von 1910/ 11 das Grundprinzip der saussureschen Semiologie. Angesichts der oben bezeichneten Äquivalenz kann dieses Prinzip in Bezug auf ein beliebiges sème nur besagen, daß in der Form a kein Grund dafür liegen kann, daß sie als a interpretiert wird. Saussure kommt so zu der scheinbar paradoxen Einsicht, daß ein sème für sich allein keinerlei Bedeutung hat; auf diesem für uns intuitiv uneinholbaren, nur logisch erschließbaren Sachverhalt beruht die eigentümliche Qualität der Sprache: Il y a défaut d’analogie entre la langue et toute autre chose humaine pour deux raisons: 1 0 La nullité interne des signes. - 2 0 La faculté de notre esprit de s’attacher à un terme en soi nul (N 15 [3316.1]. Erst diese Einsicht lenkt den Blick auf den entscheidenden zweiten, das sème konstituierenden Sachverhalt: es ist stets „signe faisant partie d’un système“ (N 15 [3310.11]). ‚Bedeutung‘ gewinnt die sprachliche ‚Form‘ dadurch, daß sie in systematischen Korrelationen zu andren ‚Formen‘ steht. Jedes sème ist bezüglich aller Einheiten desselben Sprachsystems ‚parasème‘. Die Verknüpfung von Einheiten zu Parasemien ist der entscheidende sinnkonstituierende Tatbestand, und diese Verknüpfung wiederum unterliegt einem zweiten semiologischen Grundprinzip, dem der „uni-spatialité“ (N 15 [3316.2]ff.) oder - wie es im CLG genannt wird - dem der Linearität des Signifikanten (cf. SM Nr. 116 und 124, pp. 83 u. 85). Die moderne Sprachphilosophie wird die diesem Prinzip entsprechende Einsicht in den Satz prägen, daß der Name nur im Satzzusammenhang Bedeutung habe (cf. Wittgenstein, Tractatus). Wird ein sème aus dem Kontext einer Parasemie isoliert, z.B. in morphologischer Analyse, so verliert es damit per se seine Zeichenqualität, wird zum Abstraktum, zum ‚aposème‘ (cf. Jäger 1985). Damit ist die logische Struktur des von Saussure skizzierten Zeichenbegriffs hinreichend offengelegt: der Begriff des parasème impliziert den des aposème. Der Grund wäre so gelegt für einen Übergang zur Morphologie und Syntax, deren Formen als notwendige Bedingungen zur Bildung interpretierbarer Parasemien zu entwickeln wären. Diesen Übergang hat Saussure jedoch nicht mehr vollzogen. Erst in der letzten der drei dem CLG zugrunde liegenden Vorlesungen ist er zu einer Fassung seiner semiologischen Einsichten gelangt, von der dieser Übergang für ihn erkennbar wurde, und in dem letzten, La langue überschriebenen Teil dieser Vorlesung wird man die Summe seines sprachphilosophischen Denkens erblicken können 18 . Gilt auch für das signe linguistique - die Terminologie der notes item greift Saussure hier, vielleicht aus didaktischen Gründen, nicht wieder auf - das Prinzip der radikalen Arbitrarität, so wird dieses doch aufgrund der Tatsache, daß das signe linguistique Bestandteil (Term) eines Systems ist, in synchronischer wie diachronischer Hinsicht eingeschränkt. Daß einem bestimmten Term a durch seinen Gebrauch in der parole ein bestimmter Wert (valeur) zugemessen wird, ist eben in dem Sinne nicht mehr willkürlich zu nennen, als das Verständnis dieses Wertes darauf beruht, daß a von koexistierenden Termen des Sprachsystems a’, a’’ usw. ebenso unterschieden wird wie von den in der parole vorausgehenden bzw. folgenden Termen b, c, d … . Der Wert eines Terms wird stets durch den Schnittpunkt zweier korrelativer Funktionen bestimmt, der „coordination syntagmatique“ auf der Ebene der parole (cf. III C 379) und der „coordination associative“ auf der Ebene der langue. Ferdinand de Saussure 299 19 Cf. III C 318: „Le Principe d’altération se fonde sur le principe de continuité“. 20 Cf. III C 373ff.: “La Linguistique statique”; dazu CLG 170ff. u. 189ff. Aus diesen Überlegungen wären Morphologie und Syntax zu entwickeln; zu mehr als Skizzen ist Saussure jedoch nicht mehr gelangt. Immerhin wird soviel deutlich, daß die berühmt gewordene Konzeption, wonach alles in der Sprache auf dem auf die Differenz gegründeten „Spiel der Signifikanten“ beruhe (cf. III C 404), bei Saussure selbst eingebettet bleibt in das Problem der Begründung linguistischer Kategorien (cf. hierzu auch Stetter 1985). Auch in diachronischer Hinsicht wird das Prinzip der radikalen Arbitrarität begrenzt: Obwohl in der synchronischen Perspektive der ‚sujets parlants‘ es als nicht mehr erklärbares Faktum hingenommen werden muß, daß der Term x eben so und so verwendet wird und folglich dies oder jenes ‚bedeutet‘, wird dies in diachronischer Perspektive verstehbar, nämlich aus der Bildungsgeschichte des betreffenden Terms. Gilt schon als synchronisch, daß der Gebrauch mancher Terme, z.B. neunzehn, auf den anderer Terme, hier neun und zehn, zurückführbar, mithin nicht arbiträr, sondern ‚relativ motiviert‘ ist (cf. III C 299f.), so muß dies in diachronischer Perspektive für jeden Term des Systems gelten. Die durch E. Benveniste initiierte Diskussion des Arbitraritätsprinzips (cf. dazu Engler 1962) hat dieses in der Regel im Sinne des traditionellen Konventionalitätsprinzips mißverstanden und dadurch den ihm von Saussure zugemessenen systematischen Sinn verfehlt. Erst durch die Beschränkung dieses Prinzips kann die Funktion der eine bestimmte langue kontinuierlich gebrauchenden und damit verändernden Gesellschaft 19 logisch beschrieben werden: die Gesellschaft qua Sprachgemeinschaft ist das pragmatische Subjekt, durch dessen Sprachgebrauch eine jede langue kontinuierlich tradiert und verändert wird. Sprachgebrauch impliziert eine fortwährende Interpretationsarbeit der sprechenden Subjekte (native speakers), in der alle Elemente des jeweiligen Systems, mithin auch morphologische, syntaktische und semantische Strukturen, ausgeprägt, tradiert und kontinuierlich verändert werden. Über wenige Skizzen, die in diese Richtung weisen, ist Saussure auch in seiner letzten Vorlesung nicht hinausgekommen 20 . Immerhin wird erst durch die Beleuchtung der Vermittlungsarbeit der „masse parlante“ der status des ‚fait social‘ verständlich, den Saussure der langue zuweist. Mit dieser Charakterisierung der Sprache ist eine linguistische Konzeption angedeutet, in der der Strukturalismus seinem vermeintlichen Gründervater nicht gefolgt ist, nämlich die Konzeption einer historisch-sozialen Begründung sprachlicher Kategorien auf der Basis der bezeichneten semiologischen Prinzipien. Theorien sprachlicher Universalien können sich nicht auf Saussure berufen. Dort, wo sich - etwa im Syntax-Konzept Chomskys - innerhalb solcher Theorien sprachphilosophische und logische Aporien zeigen (cf. hierzu etwa Simon 1971), könnte das Wiederanknüpfen an Saussures Überlegungen der „nachstrukturalen“ Linguistik philosophisch gangbare Wege weisen. 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