eJournals Kodikas/Code 35/3-4

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
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2012
353-4

Der Delsartismus als Zeitzeichen. Rezeption in Zentraleuropa und Russland

2012
Gunhild Oberzaucher-Schüller
1 Etwaige Einwände, die Bewegungsstarre der Abgebildeten sei allein den damaligen fotografischen Möglichkeiten und Verfahrensweisen zur Last zu legen, sei entgegengehalten, dass das Zeichenmodell des Delsartismus die Gründe der körperlichen Anspannung in vielen Fällen sichtbar machen kann. 2 Siehe dazu Delsartes eigene Zeichnungen und Skizzen. In: Ruyter 2005: 14, 22, 28, 32, 36, 40, 42. Siehe dazu: Jeschke/ Vettermann 1992: 15-24, Jeschke 2007: 81-89. Der Delsartismus als Zeitzeichen. Rezeption in Zentraleuropa und Russland Gunhild Oberzaucher-Schüller The Reception of Delsartism in Central Europe and Russia Based on two publications appearing in Berlin in 1910, Hade Kallmeyer’s book Harmonische Gymnastik. System Kallmeyer and Prince Wolkonskis article in the Schaubühne entitled “Die Hauptsache”, the various types of reception of Delsartism, through which the two publications were made available to the broader public, are traced and compared with each other. The thesis is that these publications in 1910 disseminated that material on physical movement and thus were so influential on the Central European and Russian/ Soviet theatre of the period. This applies to expressive dance, and directing in the theatre, as well as music theatre. Müsste die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts nach Maßgabe der Körperbewegung charakterisiert werden, so wäre ohne Zweifel eine alles beherrschende körperliche Starre zu konstatieren. Ob sich diese Bewegungsstarre auf Mitteleuropa - den kulturellen Raum, auf den sich die folgenden Ausführungen konzentrieren - beschränkte, kann heute nur mehr schwer festgestellt werden. Die immer wieder dokumentierte Unbeweglichkeit von Personen, seien es Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, Bühnendarsteller, Angehörige aller sozialen Schichten, auch Pädagogen und Schüler, überrascht umso mehr, als gerade diese Zeit von einem an Maschinen orientierten Fortschrittsglauben getragen war. 1 Die Bewegung, die mit den technischen Errungenschaften jener Zeit in Verbindung gebracht werden kann, steht in krassem Gegensatz zu der Unbeweglichkeit ihrer Erfinder und Nutznießer. Von Konventionen aller Art - vom Staat, der Nation, der Religion, des Geschlechts - in körperliche Schranken gewiesen, agierten sogar die (deutschen) Turner mit posenhaftem Pathos. Es ist kaum verwunderlich, dass die Utopien, die sich in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts entwickelten, allesamt mit körperlicher Bewegung zu tun hatten. Es war der Delsartismus, um die Jahrhundertwende in Mitteleuropa bekannt geworden, der wie ein Befreier aus der Bewegungsstarre wirkte. Zunächst im Sinne seines Erfinders François Delsarte auf seinem Trinitätsgesetz 2 aufbauend, wurde er - wie im Folgenden zu sehen - im Zuge der Zeitläufte, die mehr und mehr die theologische Verankerung dieser Lehre hinter sich ließen, in seine Bestandteile zerlegt, wobei diese wiederum, jeder für sich, eine erstaunliche Überlebenskraft bewiesen. Heute wird der „Körper“-Teil des Delsartismus K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 35 (2012) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Gunhild Oberzaucher-Schüller 320 3 Da hier von Geschehnissen die Rede ist, die sich noch vor dem Hellerauer Wirken von Émile Jaques-Dalcroze ereigneten, also noch vor den europaweiten Erfolgen der Rhythmischen Gymnastik, wird das Wort „realisieren“ nicht im Jaques-Dalcroze’schen Sinne verwendet. Dieser verstand unter „Realisieren“ die körperliche Darstellung der Rhythmischen Gymnastik. 4 Der Begriff „Delsartismus“ wird hier von Käthe Ulrich übernommen, also jener Lehrerin, die die in Körperübungen transformierten Lehren von Delsarte 1911 in Wien etablierte. Ulrich, die verschiedene Schulen in Wien unterhielt und an weiteren tätig war, unterrichtete „Atem-Regenerations- und orthopädische Ausgleichs- Gymnastik“, „Hygienisch-ästhetisch-harmonische Gymnastik“, „Ausdruckskultur, Rhythmik, künstlerischen Tanz“ und bot auch eine „Spezialausbildung für Lehrfach und Tanzbühne“ an. Neben dem Begriff „Delsartismus“ war auch jener der „Delsartik“ gebräuchlich. Siehe dazu: Wedemeyer-Kolwe 2004. 5 Jaques-Dalcroze stellt 1904 in Genf die ersten Elemente der Rhythmischen Gymnastik vor. 1907 beginnt er mit seinen Demonstrationsreisen, er macht Station in Stuttgart, im Oktober 1909 folgen Reisen nach Österreich und Deutschland, neben anderen Städten „gastiert“ er auch in Dresden. Wolf Dohrn nimmt daraufhin Kontakt mit ihm auf. 1910 demissioniert Jaques-Dalcroze am Genfer Konservatorium, wo er unterrichtete, gleichwohl wird dort die Rhythmische Gymnastik in das Lehrprogramm aufgenommen. Ab Oktober 1910 unterrichtet Jaques- Dalcroze in Dresden, im Oktober 1911 wird der Unterricht in Hellerau aufgenommen. 6 Der Begriff „Bewegungsmethode“ wird hier nur mit größtem Vorbehalt herangezogen, denn weder die Rhythmische Gymnastik von Jaques-Dalcroze noch die Lehren von Rudolf von Laban können als den Körper allumfassend bildende „Methoden“ bezeichnet werden. Dasselbe gilt für die verschiedenen „Gymnastiksysteme“, die um die Jahrhundertwende aktuell waren. Speziellen Interessensgebieten oder auch den eigenen körperlichen Gegebenheiten folgend, waren die jeweiligen „Systeme“ dementsprechend entwickelt worden. Interessensgebiete waren: Reformpädagogik, Emanzipationsbewegung, Musik und Bewegung, Körper im Raum. - hier besonders die Bewegungsgesetze des Gegensatzes und der Folge - als Allgemeingut angesehen, sein Körperzeichen-Modell dient weiterhin nicht nur der Bestätigung der Wechselwirkungen eines nach „außen“ getragenem „Inneren“, sondern gleichzeitig auch als Lesehilfe für die Analyse von Zeitzeichen. 1 Verlagsort Berlin, 1910: Der Delsartismus wird bereitgestellt Die folgenden Ausführungen gehen in einer knappen Betrachtung der Delsarte-Rezeption in Mitteleuropa mit dem Ziel nach, die These zu belegen, dass die in Nordamerika in körperliche Übungen umfunktionierte Lehre von François Delsarte auch in Mitteleuropa zur Grundlage jenes körperlichen Instrumentariums wurde, das es dem Menschen des frühen 20. Jahrhunderts ermöglichte, die in Text und Bild vorformulierten Utopien zu realisieren. 3 Bei dieser Betrachtung wird weniger dem ästhetischen Umfeld der jeweiligen Spielart des Delsartismus 4 - sei sie nun gymnastischer oder künstlerischer Natur - nachgegangen, als vielmehr der an sich zu wenig bekannten Tatsache, dass die Lehre Delsartes zu jeder Zeit in einer Unmenge von Auslegungen in Mitteleuropa präsent war. Darüber hinaus soll aufgezeigt werden, wie der Delsartismus sich in weiterer Folge nicht nur zur Bewegungsgrundlage des viel beschworenen „Menschenfrühlings“ und somit auch des Ausdruckstanzes entwickelte, sondern auch nach dem Ersten Weltkrieg Basis der immer breiter werdenden Gymnastik- und Laienbewegungen blieb. Von den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg ausgehend, in denen sich die Delsarte’schen Ordnungen, seine Bewegungsgesetze sowie seine Körperzeichenmodelle - noch vor der breiten Rezeption der Jaques-Dalcroze’schen Lehre 5 - bereits mit Elementen anderer Bewegungsmethoden 6 zu vermischen begannen, soll den immer breiter werdenden Delsartismus- Netzwerken bis in die Dreißigerjahre nachgegangen werden, in denen er zwar omnipräsent ist, aber weder im Ausbildungsangebot noch im körperlich Angewandten namentlich genannt wird. Dass der Grund hierfür nicht etwa ein Beiseiteschieben oder eine Ausgrenzung, sondern Der Delsartismus als Zeitzeichen. Rezeption in Zentraleuropa und Russland 321 7 Der Begriff der „Körperbildung“ nahm in den verschiedensten Entwicklungsphasen der Körperkultivierung unterschiedliche Bedeutungen an. Während etwa Hade Kallmeyer ihn - wahrscheinlich ganz intuitiv - in ihrer Schrift 1910 einsetzt, wird er zu Beginn der Zwanzigerjahre für das Nachfolge-Hellerau-Institut, die Neue Schule Hellerau, zu einem wichtigen Schritt im Prozess der Ablösung von Jaques-Dalcroze. 8 In dieser frühen Zeit kann - gerade im Zusammenhang mit der körperlichen Ertüchtigung der Frau - noch keineswegs von „Fitness“ gesprochen werden (siehe dazu Möhring 2003). Das Wissen um die Körperfunktionen war damals (siehe dazu etwa Zepler 1906) dermaßen gering, dass es zunächst galt, hierüber Kenntnis zu erhalten. im Gegenteil die völlige und basisgebende Aneignung des Delsartismus war, soll ebenfalls unter Beweis gestellt werden. Noch vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten war der Delsartismus - so die These - bereits so weit zum Allgemeingut geworden, dass er von den neuen Machthabern nicht mehr als ein in sich geschlossenes separates Lehrgut wahrgenommen wurde und daher auch nicht evaluiert zu werden brauchte. Die europäische Nachwirkung François Delsartes entfaltete sich nicht im Weg über seine französischen Schüler wie Alfred Giraudet, der am Pariser Conservatoire lehrte, sondern im Umweg über die Vereinigten Staaten. Als Delsartismus war um die Jahrhundertwende im mitteleuropäischen Raum jene Lehre bekannt geworden, die sich aus den theoretischen Schriften des französischen Meisters durch verschiedenste direkte und indirekte Schüler in den Vereinigten Staaten entwickelt hatte. Dies war eine Zeit, in der es bereits dringlich schien, ein Bewegungssystem zu finden, das tauglich wäre, den „Körper zu bilden“. 7 Ein neues Körperbildungssystem sollte es ermöglichen, den öffentlich heraufbeschworenen „Neuen Menschen“, genauer die „Neue Frau“ und den „Neuen Mann“, endlich auch realiter vor sich zu sehen. Eine für verschiedene Ansätze verbindliche Form der Körperbildung zu finden, schien umso notwendiger, als die „Neue Frau“ beziehungsweise der „Neue Mann“ unabhängig von dem Ambiente, in dem man agierte - sei es auf der Bühne, im Gymnastiksaal, in der freien Natur, allein oder mit anderen, unter Professionisten oder Laien -, fast ausschließlich mit ganzkörperlicher Bewegung verbunden waren. Worin die Utopie des „neuen Menschen“ auch immer verankert gewesen ist - sei es in den Schul-, Lebens- und Gesellschaftsreformen, der Gymnastik- oder Laienbewegung, den bildenden Künsten oder der Literatur, der Emanzipationsbewegung oder dem Bestreben der Erneuerung der Antike -, die körperliche Bewegung war in jedem Fall Teil des Neuen und somit ein herausragendes Merkmal. Nun galt es also einerseits, eine möglichst neutrale, von Restriktionen, vom Drill und Pathos des 19. Jahrhunderts unbelastete Art und Weise zu finden, den Körper zu bilden, andererseits aber auch eine geschlechtsspezifische Methode der Körperertüchtigung zu entwickeln, mit deren Hilfe der sich selbst ins Zentrum des Interesses rückenden Frau die Möglichkeit gegeben werden sollte, eigene Wege einzuschlagen. Im Delsartismus schien nun eine solche Methode gefunden, mit deren Hilfe - so der allgemeine Konsens - zuerst die Körperwahrnehmung 8 , daraufhin jedwede Bewegung, sei sie künstlerischer oder rein gymnastischer Natur, ausgeführt werden konnte. In diesem Zusammenhang werden zwei 1910 publizierte Schriften vorgestellt, die erstens exemplarisch zeigen, wie präsent der Delsartismus zu dieser Zeit in Mitteleuropa bereits war, und zweitens ebenso exemplarisch dokumentieren, von welchen völlig unterschiedlichen Ansätzen man sich dem Delsartismus mit der Gewissheit näherte, hier endlich die „richtige“ Körperbildung gefunden zu haben. Die unterschiedlichen Ansätze lagen sowohl im intellektuellen Anspruch als auch im Anwendungsbereich; dem entsprachen die Interpretationen der verschiedenen Zielgruppen. Beide Schriften formulieren eindeutig ein Ziel und zeigen dabei, wie breit gefächert der Anwendungsbereich einer neuen Bewegungsgrundlage zu sein hatte. Gunhild Oberzaucher-Schüller 322 9 Dieser Erscheinungstermin ist deswegen von besonderer Bedeutung, weil beide Schriften noch vor dem Einsetzen der ungemein breiten Hellerau-Rezeption vorgelegt wurden. 10 Die Schaubühne, seit 1905 unter der Leitung von Siegfried Jacobsohn, gehörte zu den einflussreichsten Theaterpublikationen der damaligen Zeit. Ebendieser Zeit entsprechend waren auch der Neue Tanz, die Bewegung an sich, Fragen der (bewegten) Regie sowie theaterpädagogische Fragen immer wieder Themen jener Wochenschrift. Zu den Autoren der Schaubühne gehörten außer Jacobsohn selbst unter anderen Julius Bab und Alfred Polgar. Insbesondere Polgars ebenso scharfe wie witzige Beobachtungen des Neuen Tanzes sind eine wichtige Quelle für das Werden des Ausdruckstanzes. 11 Dieses Interesse kommt weniger von der Tanzwissenschaft als vielmehr von der Kulturwissenschaft, besonders jener, die an Körperbildung, Körperkultur und Reformpädagogik im urbanen und ländlichen Raum interessiert ist. Dazu gehören neben Sportwissenschaftlern auch „Laienforscher“ als Anhänger von Körpersystemen, die sich aus der Zeit des frühen 20. Jahrhunderts bis heute erhalten haben. 12 Die erste Ausgabe von Mensendiecks Buch Körperkultur des Weibes erschien bereits 1906 in Berlin, die 2. Auflage 1907, 3. Auflage 1908, 4. Auflage 1909, 5. Auflage 1912, 6. Auflage 1919, 7. Auflage 1920, 8. Auflage 1921, 9. Auflage 1925. Ab der 5. Auflage hatte das Buch den Titel Körperkultur der Frau. 13 Die Berliner Schule von Bess Mensendieck wurde 1906 eröffnet, die von Kallmeyer 1909 ebenfalls in Berlin. 14 Genevieve Stebbins nannte die auf den Theorien François Delsartes basierende Körperbildung „Harmonische Gymnastik“. Die Stuttgarter Demonstration wurde von der amerikanischen Stebbins-Schülerin Densmore ausgeführt. 15 Die biografischen Daten entstammen Kallmeyer 1970. Siehe dazu auch: Hede Kallmeyer-Simon: Éléments de biographie (1881-1976) von Christiane Boutan-Larose. Vgl.: www.gym-holistique.fr/ index.php/ gymnastique-holistique/ les-pionnieres/ item1, erschienen im November 2011. Bouton-Larose vertritt die Methode „Gymnastique Holistique - méthode Dr. Ehrenfried“. Lily Ehrenfried stützt sich in ihrer Methode auf Elsa Gindler, die eine der ersten Schülerinnen von Kallmeyer in Berlin war. Zu Gindler siehe: Edith von Arps-Aubert, Das Arbeitskonzept von Elsa Gindler (1885-1961), dargestellt im Rahmen der Gymnastik der Reformpädagogik, Hamburg 2010. Die Autoren der Schriften sind Hade Kallmeyer und Sergej Wolkonski, die Schriften sind das 1910 9 erschienene Buch Künstlerische Gymnastik. Harmonische Körperkultur nach dem amerikanischen System Stebbins Kallmeyer sowie Wolkonskis in der Dezembernummer der Berliner Schaubühne 10 veröffentlichter Aufsatz Die Hauptsache. 2 Kallmeyer oder Die Utopie einer „harmonischen Erziehung“ im Sinne von Stebbins/ Delsarte Obwohl gerade in den letzten Jahren ein neues Interesse an den Konzepten der Körperbildung um 1900 erwacht zu sein scheint, 11 gehören Hade (Hedwig, Hede) Simon-Kallmeyer (1881-1976) und Bess Mensendieck (1864-1957) noch immer zu den weitgehend Unbekannten der Körperkulturbewegung. Dies steht in krassem Gegensatz zu jenem hohen Stellenwert, der der Lehre der beiden für das Entstehen und den weiteren Verlauf der Körperbildungsbewegung - aus dem heraus auch der Ausdruckstanz entstanden war - in Mitteleuropa zukam. Kallmeyer und Mensendieck 12 waren jene Persönlichkeiten, die mit ihren Schulen 13 , von Genevieve Stebbins als Mittlerin zwischen der Theorie Delsartes und deren Zurichtung zu einer weiter vermittelbaren Körperbildung ausgehend, Generationen von Lehrerinnen und Lehrern ausbildeten. Diese überzogen Mitteleuropa mit einem Netz von Körperbildnerinnen und -bildnern. Es waren Kallmeyer und Mensendieck, die die notwendigen Grundlagen für eine geschlechtsspezifisch und/ oder künstlerisch orientierte Körperbildung schufen. Hade Kallmeyer, in Stuttgart geboren, wo sie bereits 1901 eine Demonstration von Genevieve Stebbins’ „Harmonischer Gymnastik“ 14 gesehen hatte, 15 ging 1906 zunächst nach Der Delsartismus als Zeitzeichen. Rezeption in Zentraleuropa und Russland 323 16 „Calisthentics“ war um 1900 eine insbesondere in England beliebte Körperbildung, die, je nach Ausrichtung, mit Delsartismus kombiniert sein konnte. Sie wurde auch mit Geräten wie Expander, Keulen und Reifen ausgeführt. Margarete N. Zepler, eine Publizistin, die sich Fragen der (Frauen-)Körperbildung, der Volksbildung und dem sozialen Fortschritt widmete, definiert sie in ihrem 1906 in München erschienenen Büchlein Erziehung zur Körperschönheit. Turnen und Tanzen. Ein Beitrag zur Mädchenerziehung wie folgt: „Calisthenics sind Übungen, die dem oberflächlichen Betrachter einfach als ›Turnfreiübungen‹ erscheinen mögen. Man versteht aber darunter die edelste Form der Gymnastik, die eine vollkommene Beherrschung des Körpers erstrebt, vollendete Harmonie, Anmut, Grazie, Beweglichkeit, Heiterkeit, Geschmeidigkeit. Sie schafft der Seele eine starke und zugleich edelschöne Hülle“ (28). 17 Das „Deutsche Turnen“, eine für Männer entwickelte, auf Körperdisziplinierung und Drill abzielende Leibeserziehung, war gemäß seiner Entstehungszeit (um 1800) und durch seinen Gründer (Friedrich Ludwig Jahn) im nationalen „deutschen Boden“ verortet. Im Laufe des Jahrhunderts, besonders nach der Reichsgründung 1871, erlebte das Deutsche Turnen Veränderungen und Intensivierungen und wurde schließlich - auch durch den Einsatz von Massen - als eine Vorstufe beziehungsweise als Teil der Wehrerziehung gesehen. Diese Auffassung von Körpererziehung war sowohl den Reformpädagogen wie auch der Emanzipationsbewegung zuwider. 18 Die „Schwedische Gymnastik“ war von Pehr Henrik Ling (1776-1839) auch in bewusstem Gegensatz zur „Deutschen Gymnastik“ entwickelt worden. Ling unterteilte seine Gymnastik in eine medizinische, eine pädagogische, eine Wehrgymnastik und eine ästhetische Gymnastik. 19 Das „Gymnastiksystem“ des Dänen Jørgen Peter Müller (1866-1938) erlangte nicht nur in seiner Heimat, sondern auch im übrigen Europa große Verbreitung. Siehe dazu: Möhring 2003: 73-85. 20 George Herbert Taylor, amerikanischer Arzt, der auch mithilfe der Ling-Gymnastik therapeutische Methoden entwickelte. Er schrieb u.a. das Buch Health by Exercise. Showing What Exercise to Take, New York 1883. England, um dort „Calisthenics“ 16 zu studieren. Ab 1906 nahm sie in New York Unterricht bei Stebbins in Harmonischer Gymnastik, im Herbst 1907 war sie diplomierte Lehrerin. Nach Stuttgart zurückgekehrt, ging sie nach der Heirat mit Ernst Kallmeyer 1909 nach Berlin, wo sie eine Schule eröffnete. 1917 übersiedelte sie nach Breslau, 1925 kehrte sie nach Berlin zurück. Von 1934 an setzte sie ihre Unterrichtstätigkeit auf Schloss Marquartstein in Oberbayern fort, wo sie bis zu ihrem Tod blieb. Ihre Mitarbeiterin Friede Lauterbach führte in Hamburg die Kallmeyer-Lauterbach-Schule. Kallmeyer referiert in der Einleitung ihrer Schrift über jene Körperbildungssysteme, die im ersten Jahrzehnt nach der Jahrhundertwende in Deutschland aktuell waren. Dies waren neben dem „Deutschen Turnen“ 17 und der „Schwedischen Gymnastik“ 18 vor allem das System von Jørgen Peter Müller 19 , dem sie Mangel an „Anmut“ nachsagt (Kallmeyer 1910: 2). Kallmeyer erwähnt auch bereits das Wirken von Émile Jaques-Dalcroze, das schon vor der Eröffnung von Hellerau 1911 in Deutschland Aufmerksamkeit erregt hatte. Zu den alten Formen gelte es, so Kallmeyer, eine Alternative zu bieten. Eine bereits vorhandene Alternative sei das „System Mensendieck“, das sich ganz an das System Stebbins anlehne und da „Vorzügliches“ leiste. Es setzt, so Kallmeyer, die Ideen von Stebbins fort, „körperliche Erziehung auf künstlerischer Grundlage“ (Kallmeyer 1910: 3) zu leisten, wobei die Muskelausbildung die Grundlage sei. Kallmeyers Buch sei, so die Autorin, keineswegs eine bloße Übersetzung der Bücher von Stebbins (u.a. Delsarte System of Expression 1887, Society Gymnastics and Voice Culture 1888, Dynamic Breathing and Harmonic Gymnastic 1892, System of Physical Training 1898), sondern eine Zusammenlegung einiger ihrer Schriften. Diese seien jedoch um die Erfahrung der eigenen Lehrtätigkeit ergänzt. Wie bei Stebbins, deren Übungen, sich auch auf das medizinische System von George H. Taylor 20 sowie die schwedische Heilgymnastik stützen und die zu Musik ausgeführt wurden, baue auch Kallmeyer die Körperbildung auf „gesetzmäßiger Grundlage“ auf, wobei „das künstlerische Moment sowie die Pflege des Ausdrucks in ihr zur Geltung“ gebracht werden müssen (Kallmeyer 1910: 5). Basis dafür sei, wie bei Gunhild Oberzaucher-Schüller 324 21 Hier wird die erste Phase des Ausdruckstanzes als „Freier Tanz“ bezeichnet. Es war dies die Zeit bis etwa 1914, in der Individualisten wie Rita Sacchetto, Adorée Villany, Gertrude Barrison, Gertrud Leistikow, Olga Desmond, die Schwestern Wiesenthal, Sent M’ahesa, Alexander Sacharoff - auch angeregt durch das Wirken von Isadora Duncan in Mitteleuropa - auftraten. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs fand man sich eher in „Familienordnungen“ zusammen: etwa die Familien um Émile Jaques-Dalcroze und deren Nachfolgefamilien, die Familie um Rudolf von Laban und die von Mary Wigman. Stebbins, das Delsarte’sche „System des Ausdrucks“, wobei es um eine „Wiederentdeckung und Formulierung der Gesetze der Ausdruckswissenschaft“ gegangen sei (6). Im Mittelpunkt der Stebbins-Ausbildung und somit auch in der ihren stehen: Kräftigung der inneren Organe, Kräftigung der Muskulatur, besondere Berücksichtigung des weiblichen Organismus, die Harmonie der Bewegung, Erziehung zur bewussten gesetzmäßigen Beherrschung des Körpers, Pflege des Ausdrucks und stufenweise Entwicklung der einfachsten Bewegungen, des Weiteren Übungen, Stellungen, Schritte, die, zusammengesetzt, den Menschen „zu plastischen Darstellungen“ und zum künstlerischen Tanz führen können (8). „So schuf sie [Stebbins] ein System, welches selbst von Kindern in seinen Anfängen mit großem Nutzen ausgeübt werden kann und jedem die individuelle Freiheit lässt, so viel aus dem überreichen Material zu wählen, wie er Lust hat, Zeit und Veranlagung besitzt.“ (8) Kallmeyer schreibt dann über die „Harmonische Erziehung“, die sie nach Stebbins lehrt. Wie Stebbins geht sie von der Delsarte’schen Dreiheit Intellekt (Geist), Gemüt (Seele) und Körper (Materie) aus. „Um Harmonie ermöglichen zu können, müssen alle drei Gebiete zu Geltung gelangen und jedes für sich gesondert, sowie in Beziehung zu den beiden anderen Elementen, volle Beachtung finden.“ (11) Kallmeyers Lehrziele sind zweierlei: erstens die „Harmonische Durchbildung des Frauen- und Männerkörpers und Erziehung zur Bewegungsschönheit auf Grund der Gesetze der Bewegung“ (3); zweitens: die Schulung des Körpers als Instrument des Ausdrucks im täglichen Leben, für die Bühne sowie zur plastischen Darstellung musikalischer Eindrücke. Als Grundelemente für die Übungen nennt Kallmeyer neben der Atmung das „Schlaffmachen“ und das „Muskelanspannen“. Dazu kommen die drei Gesetze der Bewegung. Es sind dies: I. das Gesetz der harmonischen Stellung; II. das Gesetz der Gegenbewegung; III. das Gesetz der Folge. Der Zweck der Schrift war die Bewusstmachung jener Bewegungsordnungen und -gesetze des Körpers, wie sie via Stebbins von Delsarte gelehrt worden waren. Nur wer Bewegungsordnungen und -gesetze befolgt, bewege sich „richtig“, was gleichzusetzen war mit „harmonischer“ Bewegung, worunter man wiederum die Einhaltung der Dreierordnung verstand. Kallmeyers Schrift stellte somit die Harmonische Gymnastik von Stebbins in deutscher Sprache vor, dadurch wurde aber auch die Lehre von Delsarte für den deutschen Sprachraum bereitgestellt. Sowohl für den Laienbereich wie für die (Frauen-)Gymnastikbewegung legte die Schrift eine breite Basis für einen Prozess der Körperwahrnehmung, an den sich eine Stärkung des Körperbewusstseins der Frau anschloss, eine Entwicklung, die in weiterer Folge zu einem neuen Selbstverständnis führte. Der Inhalt der Schrift legte aber auch das Fundament für eine Körperbildung, aus der heraus sich jene Körperkonzepte entwickelten, die wiederum zum „Freien Tanz“ 21 und ein wenig später zum „Ausdruckstanz“ führten. Wie kein anderer Verfechter eines Körperbildungssystems nämlich versuchten Stebbins/ Kallmeyer, „ganzheitlich“ denkend, den „ganzen“ Körper zu erreichen. Dem durchgebildeten Körper war es nunmehr nicht nur möglich, jedwede gewünschte Bewegung nicht nur ökonomisch auszuführen, sondern auch den Körper auf der Bühne bewusst einzusetzen. Mit einem als Der Delsartismus als Zeitzeichen. Rezeption in Zentraleuropa und Russland 325 22 Zu Wolkonski siehe: Oberzaucher-Schüller 1992, 1995, 2004; Bochow 1992, 1998; Ruyter 2005. 23 1913 veröffentlichte Wolkonski Vyrazitel’yj c elovek. Scenic eskoe vospitanie zesta (po Del’sartu) in Sankt Petersburg. Davor war bereits elovek na scene, Petersburg 1912, erschienen. Es folgten: Vyrazitel’noe slovo, Petersburg 1913, My Reminiscenses, London 1924, Moi vospominania, Moskau 1992, deutsch 2008. 24 Die russische Theaterwissenschaftlerin Maria Trofimow setzte sich ausführlich mit Wolkonski auseinander. Die Besprechung von Wolkonskis Buch Vyrazitel’yj c elovek basiert auf einem unveröffentlichten Manuskript Trofimows. Materialfundus zur Verfügung gestellten Körper konnte man nun, so die Annahme, professionell auf jene vielen Impulse mit gezielt eingesetzter Bewegung reagieren, die um die Jahrhundertwende in Wort und Bild formuliert worden waren. Einer, der neben vielen anderen an diese Annahme glaubte, war Sergej Wolkonski. 3 Sergej Wolkonski oder Die Utopie vom Körper als darstellerischem Material Sergej Wolkonski (1860-1937) 22 hatte sich dem Delsartismus aus einem ganz anderen Blickwinkel als Hade Kallmeyer genähert (siehe Bochow 1997: 63-75). Der Historiker, Reformpädagoge, Theologe, Schriftsteller, Musiker, Künder eines „neuen Menschen“, nicht zuletzt Mitglied der russischen Hocharistokratie und als solcher in der Welt zu Hause, kann als einer der Wegbereiter des russischen Freien Tanzes sowie der russischen (Bühnen-) Avantgarde gesehen werden. Als Intendant der Kaiserlichen Theater (1899-1901) war er auch Direktor der angeschlossenen Ballettschule gewesen und hatte sich schon in dieser Zeit mit der Ausbildung von Bühnendarstellern beschäftigt. Über dieses Thema hatte er auch in den Theaterjahrbüchern der Kaiserlichen Theater geschrieben. (Für die Herausgabe des Bandes 1900 war Sergej Diaghilew verantwortlich.) Wolkonskis Beschäftigung und sein schriftlich festgehaltenes Denken über François Delsarte sind umso wertvoller, als es sich bei ihm um eine Persönlichkeit handelte, die imstande war, sich der Problemstellung sowohl theoretisch wie auch praktisch zu nähern. Wann Wolkonski mit dem Gedankengut von Delsarte vertraut wurde, ist nicht überliefert; belegt ist jedoch der Zeitpunkt des ersten öffentlichen Vortrags über das Thema Delsarte in Russland. In ihrem Artikel François Delsarte, Prince Sergej Volkonsky and Mikhail Chekhov (Ruyter 2005: 96-111) berichten George Taylor und Rose Whyman, dass der Schauspieler und Regisseur Jurij Osarowski 1903 in Moskau einen Vortrag über Delsarte gehalten habe. Es kann davon ausgegangen werden, dass Wolkonski davon Kenntnis hatte, umso mehr, als er sich vielleicht schon auf seinen ausgedehnten Amerikareisen 1890 und 1896 mit den dort neuen Körperbildungssystemen und damit auch mit „angewandtem Delsarte“ vertraut gemacht hatte. Wann Wolkonski seinen Aufsatz Die Hauptsache schrieb und wie die Verbindung zur Berliner Schaubühne und zu Siegfried Jacobsohn zustande kam, ist nicht bekannt, fest steht jedoch, dass er sich im Herbst 1910 auf dem Weg nach Genf befand, um sich dort mit der Lehre von Jaques-Dalcroze vertraut zu machen, und dabei Station in Berlin machte. Dort lieferte er nicht nur seinen Aufsatz ab, sondern erfuhr auch, dass sich Jaques-Dalcroze zu dieser Zeit bereits in Dresden aufhielt. 1910 hatte sich Wolkonski bereits eingehend mit Delsarte auseinandergesetzt, die Übersetzungen der Delsarte’schen Schriften sollten erst später erscheinen. 23 Sein Buch Vyrazitel’nyj elovek. Scenic eskoe vospitanie zesta (Po Del’sarty), das von der russischen Wolkonski- Forscherin Maria Trofimow als „psychologische Anatomie des Menschen“ gesehen wird 24 , Gunhild Oberzaucher-Schüller 326 ist mit seiner Darstellung und Beschreibung kleinster Gesten nebst den Positionstabellen für Arme und Beine sowie für den ganzen Körper als Lehrbuch und praktischer Leitfaden für die Entwicklung der Ausdruckskraft auf der Bühne gedacht. Wolkonski legt die Lehren Delsartes als wissenschaftliche Klassifizierung jener äußeren Bewegungen und Positionen des Menschen dar, in denen sich seine inneren Bewegungen und Zustände ausdrücken. Das System, so Wolkonski, basiert auf der Semiotik, die er definiert als das Auffinden der äußeren Zeichen, die der inneren Empfindung entspricht. Er schlägt drei allgemeine Bewertungskategorien vor, die dem Wahrnehmen, Denken und Fühlen entsprechen: die „exzentrische“, das sind Lebensäußerungen, die nach außen streben; die „konzentrische“, das sind Denkprozesse, die nach innen gerichtet sind; und das „Normale“, der Zustand eines tiefen Gefühls, das das Gleichgewicht der gegensätzlichen Bestrebungen wiedergibt. Diese Grundsätze werden für alle Gliedmaßen und Positionen des Menschen untersucht. Die Semiotik ist in zwei Teile untergliedert, in Statik und Dynamik. Die Statik ist die Lehre vom Gleichgewicht, weniger in physischer als vielmehr in ästhetischer Sicht. Die plastische Harmonie des Menschen wird in kontrastreichen gegengewichtigen Positionen und gegengerichteten Gesten verwirklicht. Die Dynamik untersucht die Gesetze der Bewegungssteuerung, die den Sinn beziehungsweise den Charakter der Bewegung bestimmen, etwa die Schnelligkeit oder Langsamkeit, die Kraft oder Schwäche, die Ausrichtung, die Form, Ansatzpunkte der Geste und Ähnliches. Die Unverwechselbarkeit von Wolkonskis Sicht ergibt sich aus der Verschmelzung der Lehren von Delsarte mit der „Rhythmus-Bewegung“ von Jaques-Dalcroze, in der der Russe die Grundlage „zur Erneuerung des Menschen durch die Offenbarung seiner Natur“ (Bochow 1997, 66) sieht. „Der Mensch findet einerseits seine individuellen Rhythmen, andererseits aber vereinigt ihn das rhythmische Prinzip mit der Gemeinschaft und dem Universum.“ (Bochow 1997, 66-67) Hatte Hade Kallmeyer ihre Überlegungen zum System Stebbins/ Kallmeyer in einer Art erweite r tem Schulprospekt festgehalten, so legte Wolkonski seine Gedanken in Form eines Streitgesprächs nieder, eine literarische Form, in der er - freilich nur, um die eigene Meinung ausführen zu können - in ebenso lebendiger wie raffinierter Weise in Rede und Gegenrede Gegner oder einen nur Ahnungslosen zu Wort kommen ließ. Wie Kallmeyer ging es auch Wolkonski um die Bewusstmachung der Bewegungsordnungen und -gesetze des Körpers, wie ihr ging es Wolkonski um „richtige“ Bewegungen, was heißen sollte, dass die Delsarte’schen Ordnungen zu erfüllen seien. Allein der körperlich sich „richtig“ Bewegende könne der viel beschworene „Zukunftsmensch“ sein. Für die Bühne, so Wolkonski, seien aber noch weitere Aspekte von größter Wichtigkeit, nämlich jene des Ausdrucks jeder einzelnen Geste sowie das Zusammenwirken von Geste und Gemüt, das heißt also von „innerer“ und „äußerer Bewegung“. Wolkonski erklärt seinem Gesprächspartner, der nicht schnell begreift: „Nehmen wir das einfachste, oder, wie Sie sagen würden: die kleinste der Nebensachen. Die Haltung der Hand: Handfläche nach oben oder Handfläche nach unten. Nach oben gekehrt ist die Hand des Bittenden, des Fragenden, des Elenden, des Offenherzigen, des Lernenden, des Betenden. Nach unten gekehrt ist die Hand des Gebenden, des Antwortenden, des Prahlerischen, des Zeremoniösen, des Belehrenden, des Segnenden. Und wenn wir nun den Sinn dieser beiden Gesten erweitern und die Hände immer weiter voneinander entfernen, so gelangen wir dahin, dass die Hand mit der Fläche nach oben die Erde ist, die gen Himmel schaut, die Hand mit der Fläche nach unten - der Himmel, der auf die Erde herabschaut. Wenn also schon die Lage der Hand, nicht einmal die Geste, so wichtigen Sinn haben kann - wie wichtig müssen da erst die Der Delsartismus als Zeitzeichen. Rezeption in Zentraleuropa und Russland 327 25 Hedwig Hagemann hatte bei Bess Mensendieck studiert und gehörte dem 1918 gegründeten nicht autorisierten „Mensendieck-Bund - Bewegungskunst Ellen Petz“ an. Zu ihren Schülerinnen zählt u.a. Dorothee Günther. Folgen einer falschen oder auch nur dem Zufall überlassenen Bewegung sein.“ (Wolkonski 1910: 1340) Auf die Frage, ob denn nun die falsche Führung der Hand Konsequenzen habe, wird die Antwort gegeben: „Gewiß, denn es handelt sich hier nicht um die Hand allein, sondern um den Sinn der Bewegung, und dieser wird sich durch die Hand auf die Haltung des ganzen Körpers übertragen, auf das Benehmen, die Bewegung, den Gang, den Ausdruck des Gesichts, auf die Art des Sprechens.“ (1340) In Zentrum stehe, so Wolkonski weiter, die Übereinstimmung des „Gemüts und der Bewegung“; diese müsse zuallererst auf eine mechanische Weise eingeübt werden, eine Bemerkung, die einiges Entsetzen hervorruft (1341), von Wolkonski jedoch ausdrücklich hervorgehoben wird, denn, je mechanischer dies eingeübt werde, desto freier werde sich der Künstler bewegen. Ob denn Gebärden an sich klassifiziert werden könnten, lautet die nächste Frage. „In drei Kategorien müssen sie, die Gebärden, eingeteilt werden. Die erste ist die Kategorie der rein physisch-mechanischen Gebärden: Wir strecken die Hand aus, um zu greifen; wir heben sie, um zu grüßen. Das ist die allernötigste, die manchmal unentbehrliche Gebärde, aber auch die uninteressanteste von allen. Die zweite ist die Kategorie der beschreibenden Gebärde. Hier gibt es zwei Unterabteilungen. Erstens: die Hand als Zeiger. […] Zweitens: die Hand berührt nicht einen sichtbaren, sondern beschreibt den erwähnten unsichtbaren Gegenstand. […] Und […] die dritte Kategorie: die psychologische Gebärde, die interessanteste, aber auch die am seltensten richtig angewandte. Die physisch-mechanische hatte einen äußeren Zweck, die psychologische hat eine innere Ursache.“ (1341f.) Und weiter: „Richtig sind unsere Bewegungen, wenn sie den der menschlichen Natur innewohnenden Normen entsprechen, die die Verhältnisse zwischen psychischen und physischen Bewegungen regieren; schön sind unsere Bewegungen, wenn sie den Bedingungen des Gleichgewichts - eines ganz besonderen physio-aesthetischen Gleichgewichts - erfüllen, durch die die gemeinsame Stellung und die korrespondierenden Bewegungen der Organe des menschlichen Körpers bestimmt werden.“ (1344) Wer war nun Wolkonskis Zielgruppe, und wie unterschied sich diese zu Kallmeyer? Während Kallmeyer vor allem Frauen ansprechen und sie für jedwede körperliche Tätigkeit, also auch eine künstlerische, ermutigen wollte, versuchte Wolkonski, besonders Lehrende und Schüler von Ausbildungsstätten für Bühnendarsteller (Tänzer, Schauspieler, Sänger) zu erreichen. Wie weitreichend ihm das gelang, bezeugt sein Lebenswerk. (Oberzaucher-Schüller 1992, 1995, 2004; Bochow 1992, 1998; Ruyter 2005) Obzwar die bleibenden Verdienste von Kallmeyer und Wolkonski noch weit detailliertere Forschung benötigen, kann festgestellt werden, dass der Delsartismus, der durch diese beiden Persönlichkeiten nach Mitteleuropa beziehungsweise Russland transportiert wurde, sowohl für das soziokulturelle Gefüge als auch für die künstlerische Szene der Zeit von kaum zu überschätzender Bedeutung war. Welches Ausmaß die Delsarte’schen Lehren via Kallmeyer, Mensendieck und deren Schülerinnen - etwa Hedwig Hagemann 25 - bereits im Mitteleuropa der frühen Zwanzigerjahre sowohl auf dem Gebiet der Gymnastik als auch auf dem des künstlerischen Tanzes angenommen hatten, soll an zweierlei festgemacht werden: zum einen am Unterricht des Mensendieck-Systems durch Hagemann, des Weiteren an der Publikation Gymnastische Grundübungen nach System Mensendieck von Dorothee Günther, München 1926. Beide Gunhild Oberzaucher-Schüller 328 26 Diplomierte Mensendieck-Lehrerinnen dieses nicht autorisierten Bundes unterrichteten in folgenden deutschen Städten: Aachen, Altona bei Hamburg, Annaberg im Erzgebirge, Bergisch Gladbach, Berlin, Blankenese bei Hamburg, Bonn, Breslau (7 Unterrichtende), Bremen, Dortmund, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Erfurt, Essen, Esslingen, Frankfurt am Main, Freiburg im Breisgau, Göttingen, Güstrow, Hagen, Halle, Hamburg (9 Unterrichtende), Hannover, Heidelberg, Jena, Karlsruhe, Kassel, Köln, Königsberg, Leipzig, Lübeck, Magdeburg, Mannheim, München (7 Unterrichtende), Neiße, Neubrandenburg, Nürnberg, Oberschreiberhau, Oppeln, Reutlingen, Schleswig, Schmiedeberg, Stolp, Stuttgart, Sundwig, Ulm; im Ausland: Prag, London, Ostende, Rom, Trondheim, Lofthus, Wien, Dorpat, Riga, Locarno, Zürich, Budapest. Beispiele zeigen zudem, dass ein einmal bereitgestelltes Körperbildungssystem von Schülern und Praktizierenden, die meist die eigenen körperlichen Voraussetzungen und die eigene Ästhetik einbringen, sofort verändert wurde. 4 Bess Mensendiecks wütende Zwischenrufe 1922 erregte ein mit größtem Nachdruck abgegebenes Statement von Bess Mensendieck, die mit der von ihr entwickelten „Körperbildung“ schon seit geraumer Zeit im Zentrum des Interesses aller Bewegungsausbilder Mitteleuropas stand, die Gemüter. Die Basis für die breite Akzeptanz ihrer frauenorientierten Körperbildung war nicht nur durch ihre Publikationen, sondern auch, vor dem Krieg, durch eine breite Vortragstätigkeit gelegt worden. Während Mensendieck in den Kriegsjahren in den USA lebte, wurde ihr System in Mitteleuropa von vielen unterrichtet und dabei - etwa von Ellen Petz - mehr oder minder modifiziert. Petz gründete in der Folge den „Mensendieck-Bund - Bewegungskunst Ellen Petz“, der in Hamburg 1918 als Verein eingetragen wurde. Vorsitzende dieses Bundes war Hedwig Hagemann, die zusammen mit Fritz Giese das Buch Weibliche Körperbildung und Bewegungskunst herausbrachte. Im Anhang dieses Buches werden nicht nur die Satzungen dieses nicht autorisierten Mensendieck-Bundes angegeben, sondern auch die in diesem Jahr bereits lehrenden diplomierten Mensendieck-Lehrerinnen des Bundes genannt. Aus der Auflistung geht hervor, dass sich schon 1920 in allen größeren Städten Mitteleuropas „nichtoffizielle“ Mensendieck-Lehrende befanden. Allein in Berlin werden 15 Schulen aufgeführt. 26 Im Nachwort zu der 1922 erschienenen 7. Auflage ihres Buches Funktionelles Frauenturnen macht Mensendieck nun ihrer Empörung Luft, wobei allerdings offenbleibt, wem ihr größter Zorn gilt: „Nach sechsjähriger, durch den Krieg bedingter Abwesenheit nach Europa zurückgekehrt, finde ich es [das System] zu meiner großen Überraschung so verlottert und verstümmelt vor, daß ich mich genötigt sehe, dem begonnenen Verfall drastisch Einhalt zu tun. Unter dem Vorgeben, das Mensendieck-System ›weiter‹ [! ] zu entwickeln, ist dasselbe ausgepolstert worden mit Zutaten aus allen möglichen und unmöglichen heute grassierenden Neusystemen. Was ich vorfinde, ist ein groteskes Etwas, das nichts zu tun hat mit dem konzisen, konstruktiv logisch aufgebauten Schema meines Systems.“ Mensendieck attackiert dann heftig diejenigen, die eigene Wege gegangen waren: „Da Laienfrauen sich nicht abfinden können mit dem Streng-Unabänderlichen der Naturgesetze, wie die Physik sie nun einmal bietet, so haben meine Lehrerinnen (mit wenig Ausnahmen) meinem System jedes Jahr neue Modehütchen aufgesetzt, ihm ein neues Modejäckchen umgehängt, bis auf der ›Tagung für künstlerische Körperbildung‹ in Berlin (5.-7. Oktober 1922) ein derartig grotesker Mischmasch von Körperübungen unter dem Namen ›Mensendieck-System‹ vorgeführt wurde, daß es nicht verwunderlich war, daß die Mehrzahl der anwesenden Ärzte […] aus schierer Langeweile davonliefen, und ich selber im Audito- Der Delsartismus als Zeitzeichen. Rezeption in Zentraleuropa und Russland 329 27 Die Lehren von Bess Mensendieck hatten sich schließlich dermaßen verbreitet, dass ihre Körperbildung zu einem Haushaltsbegriff geworden war. Dies wird durch einen Eintrag im Großen Brockhaus von 1932 belegt: „Beß Mensendieck: holländisch-amerikanische Gymnastikreformerin, lebt in New York. Sie steht mit ihrem System am Anfange der neuen Gymnastikbewegung. Körper und Bewegungsformung werden gestaltet nach den anatomisch-physiologischen Gesetzen des Frauenkörpers. M. hat zuerst eine körperliche Erziehung geschaffen, die der Eigenart der Frau gerecht wird und den bisherigen Einfluß des Männerturnens bewußt ausscheidet. Durch reichhaltige Bewegungsübungen, in denen die Muskeln in physiologisch richtiger Tätigkeit auch im Alltagsleben erzogen werden, erstrebt die Mensendieckgymnastik eine gründliche gesundheitliche und schönheitliche Körperdurchbildung (›mensendiecken‹ - tägliche Hausgymnastik treiben). M. schrieb ›Körperkultur des Weibes‹ (1906), ›Funktionelles Frauenturnen‹ (1923). Der 1926 gegr. ›Bund für Reine Mensendieck-Gymnastik‹ (Sitz in Berlin) sorgt für die Reinerhaltung und Verbreitung ihrer Arbeit. Deutsche Bundesschulen der Mensendieck- Gymnastik befinden sich in Berlin, Hamburg, Düsseldorf, Köln, Wiesbaden, Göttingen.“ rium diese vielköpfige Mißgeburt meines Systems anstarrte wie eine Serie hysterischer Grimassen.“ Die zu Delsarte hinzugekommenen zitierten „Modehütchen“ hatte Mensendieck übrigens schon bei Genevieve Stebbins geortet. Über Stebbins schreibt sie: Durch sie sei die Delsarte’sche Lehre, die mit der schwedischen Heilgymnastik verquickt worden war, in das Alltagsleben verpflanzt worden. Stebbins habe die Delsarte’schen „Aufstellungen“ (Mensendieck 1922: 12) auf ihre Richtigkeit hin überprüft und war zur Erkenntnis gekommen, Grazie hänge vom methodisch angewandten Muskelspiel ab. „Es handelt sich bei der anmutigen Schönheit darum, durch einen bestimmten Unterricht den Vorteil heraus zu finden, mittels dessen man eine Muskelgruppe der anderen rhythmisch untertänig macht, und immer nur gerade diejenige Muskelgruppe auf jegliche Bewegung verwendet, die nach der anatomischen Anordnung und den physikalischen Gesetzen des Körperbaues dazu bestimmt ist.“ (12f.) Diese „Körperkultur“ habe einen unglaublichen Erfolg in Amerika gehabt und werde unter dem Namen „ästhetisches Turnen“ in Mädchenschulen angeboten. Schon in Stebbins’ Schriften aber, so Mensendieck, hätte sie „ungenießbare metaphysische Beimengungen“ (13) gefunden. Dadurch sei sowohl von Stebbins wie schon von Steele Mackaye „blühender Unsinn“ hinzugekommen.“ (13) Der Fehler der beiden sei gewesen, nur den „schönheitlichen Moment“ im Auge gehabt und die „gesundheitliche Nützlichkeit“ völlig außer Acht gelassen zu haben. Ihr, Mensendieck, gehe es allein um „Bewegungsmechanik des menschlichen Körpers“, sie biete nun Delsarte „von allen metaphysischen Verschnörkelungen entkleidet, nur auf ihren praktischen Wert kondensiert“. (13) Und Mensendieck stellt dann klar: „Der Mechanismus des menschlichen Körpers hat nichts zu tun mit den Modenarrheiten der Neuzeit. Er wird konstruktiv derselbe bleiben in hundert Jahren, wie vor hundert Jahren.“ (322) Des Weiteren: „Meine Arbeit besteht in der Analyse und Synthese der menschlichen Bewegungen.“ (322f.) Und sie zieht einen Schlussstrich: „Mit dem Mensendieck-Bund, der während meiner Abwesenheit ohne meine Erlaubnis den Namen zweimal geändert hat, identifiziere ich mich nicht mehr.“ (324) 5 François Delsarte, neu gesehen und omnipräsent Die Behauptung, Mitteleuropas Körperbildner hätten auf die Zwischenrufe der mittlerweile in ganz Mitteleuropa bekannten Bess Mensendieck 27 reagiert, kann nicht mehr bewiesen werden. Was dagegen belegt werden kann, ist, dass in vielen Beschreibungen von Ausbildungszielen, „Methoden“ und eigenen Lehrweisen - zielten sie nun auf gymnastische oder Gunhild Oberzaucher-Schüller 330 28 Jedem dieser Begriffe kam in den verschiedenen Epochen eine ganz bestimmte Bedeutung zu. Sosehr sich diese auch veränderten, so bezogen sie sich doch meist auf eine nicht genau bestimmte Antike. 29 Es würde den Rahmen dieser Ausführungen sprengen, würde hier eine ausführliche Beweisführung für diese These dargebracht. 30 Die in der Fotografie festgehaltene Stellung ist als ein Teil eines Bewegungsablaufs zu sehen. Siehe dazu die Bewegungsfolgen bei Günther und vergleiche diese mit Fotografien der Zeit: Übungen der Schulter, der Arme, des Beinpendels, der Beine, des Liegens, des runden Beugens, des geraden Beugens, des Rückbeugens, des Seitbeugens, der Spirale, des Kniebeugens, der Verlagerungen, des Ganges, des Beinkreisens, des Kniegangs, des Rumpfkreisens, der Standwaage, der Lockerung. künstlerische Ziele ab - bestimmte schmückende Beiwörter wegfielen. Diese waren „Schönheit“, „Anmut“ und „Grazie“ 28 , nunmehr diffus gewordenes Beiwerk, mit denen man Frauen noch immer ummanteln zu müssen glaubte. Der Zeit entsprechend, legte man nicht nur diese Umhüllungen ab, sondern auch jene, die die Körperausbildung betrafen. Vielfaches Ziel dieser Ausbildung war es nämlich auch gewesen, die Frau körperlich zu stärken, um die Entstehung einer kräftigen neuen (deutschen) Nation zu begünstigen. Dagegen war man nun an der Bewegung selbst interessiert, wandte man sich zunehmend den Fragen zu: Wie, durch welchen Körperimpuls, entsteht Bewegung? Wodurch wird ihr Charakter bestimmt, was bestimmt die Bewegung, ihre Länge, ihre Richtung? Wie ist der Krafteinsatz? Wie entsteht eine Bewegungsfolge? Gibt es tatsächlich eine Wechselwirkung zwischen „innerer“ und „äußerer“ Bewegung? Damit war man nun endlich bei der Auseinandersetzung mit der Bewegung an sich und auch - aufs Neue und ohne dass dieser besonders hervorgehoben worden wäre - bei Delsarte angelangt. Dieser via Mensendieck auf Delsarte geworfene Blick konzentrierte sich, die Ausdruckslehren oft hinter sich lassend, nun vor allem auf die Gesetze der Bewegung. Zu der Flut von Büchern, die im mitteleuropäischen Raum in den Jahren nach 1925 erschienen, gehört auch das von Dorothee Günther herausgegebene Buch Gymnastische Grundübungen nach dem System Mensendieck. Im Bewegungsablauf dargestellt, das 1926 in München herauskam. Günther, eine bei Hagemann ausgebildete diplomierte Gymnastiklehrerin, war in diesen Jahren durch ihre 1923 in München gegründete Schule (vgl. Kugler 2002) bereits eine deutschlandweit bekannte Persönlichkeit. Durch die Mitarbeit von Carl Orff, der hier vor allem zusammen mit Gunild Keetman das „Orff-Schulwerk“ entwickelte, ist die Schule auch heute noch ein Begriff. Günthers Übungsbuch, das „zum Gebrauch in Schulen und zum Selbstunterricht“ gedacht war, unterscheidet sich grundlegend von fast allen anderen „Methoden- oder Systembüchern“. Waren Publikationen dieser Art nämlich gemeinhin entsprechende Fotografien beigegeben, die den Kern einer bestimmten Übung zeigten, so zeichnete die gelernte bildende Künstlerin Günther mithilfe von Strichfiguren ganze Bewegungssequenzen. Bei diesen insgesamt 50 Sequenzen aber - Günther hatte sie in Zusammenarbeit mit bekannten Mensendieck-Lehrerinnen wie Toni Homagk (Breslau), Hedwig Hagemann (Hamburg), Marie Müller-Brunn und Thekla Malmberg (München) zusammengestellt - handelt es sich nicht nur um die grundlegenden körperbildenden gymnastischen Übungen, wie sie nunmehr nicht nur mitteleuropaweit unterrichtet wurden, sondern auch um jenen Fundus an Bewegungsabläufen, mit denen der Ausdruckstanz arbeitete. 29 Diese Behauptung kann durch einen Vergleich der abgebildeten Übungen mit den Fotografien der Exponenten der Stilrichtung belegt werden. 30 Der Delsartismus als Zeitzeichen. Rezeption in Zentraleuropa und Russland 331 31 In ihrem 1962 erschienenen Buch Der Tanz als Bewegungsphänomen. Wesen und Werden wird Delsarte nicht mehr namentlich erwähnt, seine Lehren sind jedoch - selbst in den Bildunterschriften - in hohem Maße präsent. So lautet etwa eine Unterschrift (gegenüber S. 128): „‚Ausdruck‘ ist immer Folge ‚innerer Anteilnahme‘.“ 32 Zur Wechselwirkung zwischen der russischen Theaterszene und jener Mitteleuropas siehe Oberzaucher-Schüller 1992. In einer deutschsprachigen „Propagandaschrift“, die anlässlich eines 1924 erfolgten Gastspiels Alexandr Tairows in Mitteleuropa verfasst wurde, ist von der Ausbildung des Schauspielers die Rede: „Die Technik des Leibes wird durch Akrobatik, Fechten, klassisches Ballett und rhythmische Gymnastik und durch andere Zweck- Doch im künstlerischen Bereich war Günther 31 keineswegs die Einzige in Mitteleuropa, die sich letztlich - via Mensendieck - auf Delsarte berief. Von den zahlreichen Körperbildungsmethoden, die, ebenfalls auf Mensendieck basierend, in den Zwanzigerjahren entwickelt wurden und die auch als Ausbildungssysteme noch heute weltweit unterrichtet werden, sei nur jenes von Rosalia Chladek erwähnt. Chladek, eine Exponentin des Ausdruckstanzes, war an der Neuen Schule Hellerau ausgebildet und dort auch durch die Pragerin Jarmila Kröschlová geformt worden. Die „Mensendieckerin“, wie sie allgemein bezeichnet wurde, unterrichtete von 1922 bis 1924 das Fach „Körperbildung“ (siehe Oberzaucher- Schüller 1993). Sie formulierte lapidar: „Das Ziel [der] hygienischen, allgemein erzieherischen Körperbildung ist, den Körper zu wecken, ihn zu seinen eigensten Gesetzen zurückzuführen, sein Aufnahme- und Reaktionsvermögen zu stärken.“ Diese kühle, fernab von jeden Körperschnörkeln ausgerichtete Betrachtungsweise, die auf Mensendieck und somit auch auf Delsarte beruhte, legte die Basis für das Chladeksystem, das in den kommenden Jahren entwickelt wurde. Ausgangspunkt für die Bewegungsarbeit, in der es um das Erfahren und Erleben von Gesetzmäßigkeiten geht, ist die „Körperwahrnehmung“. „Durch die Konzentration auf den Körper“, so schreibt Ingrid Giel, „wird er in seiner Totalität und Partialität als aktiv und passiv, als fixiert oder beeinflussbar erfahren“, wobei, und dies ist einer der wesentlichsten Punkte dieser Lehre, „es gilt, die Ursache einer Bewegung und deren Auswirkung selbstständig zu erforschen“ (Giel 2002: 130). Obwohl dieses System - es lässt, wie fast alle Systeme, die in dieser Zeit entstanden, die Delsarte’sche theologische Verankerung beiseite - klar auf Bewegungsfunktionen, somit auf einen Teilaspekt der Delsarte’schen Lehre, konzentriert ist, wird der zweite Aspekt, der Ausdruck, nicht vernachlässigt. Denn: „In dieser Bewegungsarbeit wird der Mensch ständig in seiner psycho-physischen Totalität angesprochen.“ (Giel 2002: 131) Die äußere Bewegung sei in jedem Falle ein Spiegel des Inneren des Menschen. 6 Zeitzeichen lesen Lässt man nun den hier dargelegten Zeitraum - er umfasst von den ersten Demonstrationen des Delsartismus bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten, die nicht nur einen tiefen Einschnitt in eine natürlichen Entwicklung, sondern auch eine ästhetische Kehrtwende mit sich brachte, etwas über 30 Jahre - noch einmal Revue passieren, so kann festgestellt werden: Der Delsartismus wurde in Mitteleuropa von Beginn an als Basis gebend, zuweilen sogar im buchstäblichen Sinne als „Heil bringend“ angesehen. Dabei wurde er selten inhaltsgetreu angewandt, sondern mehr paraphrasiert, in zunehmendem Maß losgelöster von seinem „Erfinder“. Delsarte am nächsten (bereichert durch die Lehren von Émile Jaques-Dalcroze) war Wolkonski, dessen Anschauung offenbar erst in den Zwanzigerjahren auch in Mitteleuropa auf fruchtbaren Boden fiel. 32 Kallmeyer, Mensendieck und in weiterer Folge Günther und Gunhild Oberzaucher-Schüller 332 Übungen (denen Delsartes und - wenigstens unbewußt - Mensendiecks Prinzipien zu Grunde zu liegen scheinen) ausgebildet.“ Siehe dazu: Raimund Theater, Gastspiel Tairoff, Wien 1925. 33 Dazu kommen die Schulen der Ausdruckstanzfamilien wie die um Jaques-Dalcroze, Laban und Wigman. Chladek - um nur die Hauptexponenten zu nennen - nahmen sich vom Delsartismus das, was einerseits ihrer psycho-physischen Disposition, andererseits der sich rasch verändernden Ästhetik gemäß war. Ihre Lehren sowie die ihrer Kollegen und Schüler etablierten den neuen Delsartismus als fixen Bestandteil einer Körperbildung. Dies ist etwa an einem populären Werk wie dem zwanzigbändigen Großen Brockhaus abzulesen: Ein Jahr vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten, somit ein Jahr bevor Ideologie und Politik (Frauen-)Körper wieder in die Körpermaske „Schönheit“, „Anmut“ und „Grazie“, des Weiteren in nationales Pathos zwangen, listet das Lexikon folgende Gymnastiksysteme beziehungsweise Schulen auf, die nun netzartig über ganz Mitteleuropa gespannt sind 33 : Hedwig-Kallmeyer-Schule in Berlin, Hamburger Schule für Reine Mensendieck-Gymnastik, System J.P. Müller, Schule Hellerau-Laxenburg, Elli-Björsten-Schule Helsingfors, Elizabeth-Duncan-Schule in Salzburg und Prag, Hannoversche Musterturnschule, Dora-Menzler-Schule Leipzig, Hedwig- Hagemann-Schule Hamburg, Schule Loheland bei Fulda, Bodeschule, Rhythmische Schulgemeinde Hilde Senff, Anna-Hermann-Schule und Günther-Schule in München. Sieht man einmal von den reinen Turnschulen ab, so haben alle Genannten mit Delsarte zu tun. Das Gleiche gilt für den künstlerischen Tanz. In der Ausgabe von 1934 sind folgende Vertreter genannt: Ellen von Cleve-Petz, Rudolf von Laban, Mary Wigman und Kurt Jooss. Jede dieser Persönlichkeiten hatte direkt oder indirekt mit dem Delsartismus zu tun. Was Käthe Ulrich, die den Delsartismus in Wien 1911 eingeführt hatte, 1913 in einer Werbeschrift über ihre Schule in bewusst einfacher Weise formuliert, hat auch heute noch Gültigkeit. Das System Delsarte/ Stebbins wandle, so Ulrich, den ganzen Menschen „äußerlich und innerlich harmonisch“ (Ulrich 1911: 13), es eigne sich für jedes Alter und jedes Geschlecht, und zwar sowohl in hygienischer, heilgymnastischer, ethischer wie auch künstlerischer Richtung. Diese Deutung bestätigte sich in ihrer ganzen Tragweite. Der Delsartismus wurde zu einem körperlichen Mittel, das die Bewegungsstarre des 19. Jahrhunderts zu lösen half, er wurde damit zu einem Zeichen für eine Zeit, der „wahre“ Körperäußerungen wichtig wurden. Darüber hinaus kann er selbst - genauer sein Körperzeichenmodell - als ein Instrumentarium angesehen werden, das die Körperzeichen und somit die Zeichen der Zeit zu lesen vermag. Diese zusätzliche Qualität, als Lesehilfe für das Verständnis bestimmter Zeiten, ist bislang vielleicht noch zu wenig genutzt worden. Literatur Aufschnaiter, Barbara, Brötz, Dunja 2004 (eds.): Russische Moderne interkulturell, Innsbruck: StudienVerlag Baer, Nancy V. (ed.) 1991: Theatre in Revolution. Russian Avant-Garde Stage Design 1913-1935, Ausstellungskatalog Hammer Museum Los Angeles, London: Thames & Hudson Beil, Ralf (ed.) 2008: Russland 1900. Kunst und Kultur im Reich des letzten Zaren, Ausstellungskatalog zur gleichnamigen Ausstellung, Darmstadt: Mathildenhöhe Bochow, Jörg 1997: Vom Gottmenschentum zum neuen Menschen. Subjekt und Religiosität im russischen Film, Trier: WVT Bochow, Jörg 1998: Der Ausdrucks-Mensch in Theater und Film. Russische Avantgarde-Konzepte vom neuen Darsteller-Menschen im kulturellen und religiös-philosophischen Diskurs, in: Brandstetter, Gabriele, Finter, Helga, Weßendorf, Markus (eds.) 1998: 103-111 Der Delsartismus als Zeitzeichen. Rezeption in Zentraleuropa und Russland 333 Bochow, Jörg 2 2010: Das Theater Meyerholds und die Biomechanik, Berlin: Alexander Bowlt, John E. 1979: The Silver Age. Russian Art of the Early Twentieth Century and the ‘World of Art’ Group, Newtonville: Oriental Research Partners Bowlt, John E., Chernova, Natalija (eds.) 1996: Moto-Bio - The Russian Art of Movement. Dance, Gesture, and Gymnastics, 1910-1930 = Experiment. A Journal of Russian Culture vol. 2(1996) Brandstetter, Gabriele, Finter, Helga, Wessendorf, Markus (eds.) 1998: Grenzgänge. Das Theater und die anderen Künste, Tübingen: Narr Buchholz, Kai, Latocha, Rita et al. (eds.) 2001: Die Lebensreform. 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