eJournals Kodikas/Code 35/3-4

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
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2012
353-4

Von den 'brute Facts' zum Reflex

2012
Mathias Spohr
Von den ‚brute facts‘ zum Reflex Die Trichotomien von François Delsarte und Charles Peirce Mathias Spohr From ‘brute facts’ to the reflex. The Trichotomies of François Delsarte and Charles Peirce. This contribution compares Peirce’s categories of firstness, secondness, and thirdness with the Delsartian notions of vie, âme, and esprit, a comparison Peirce made himself in his article Trichotomic (1888). Major differences between these systems can be observed in the conceptions of firstness and secondness with respect to the authors’ notions of freedom and art. Classical conditioning and behaviourism are considered the end of the Delsartian method. Though, Delsarte’s idea of ‘good’ body signs versus the traditional semiotics of ‘bad’ signs such as desease symptoms or crime evidence had a widespread influence on ‘identity’ movements like for example gymnastics in the early feminism or the german Lebensreform. Das System der Körperzeichen von François Delsarte hat vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1920er-Jahre eine ungewöhnlich breite Wirkung entfaltet. Um die Gründe dafür besser zu verstehen und möglicherweise das verbindende Moment zwischen seinen Anwendungsbereichen zu finden, ist es hilfreich, seine Unterteilung der Körperzeichen mit der heute bekannteren Trichotomie von Charles Sanders Peirce zu vergleichen (Ikon, Index, Symbol), zu der es eine direkte Verbindung gab. Der hauptsächliche Unterschied zwischen Delsarte und Peirce liegt im Verständnis der Secondness, in der Terminologie des Letzteren. Hier offenbart sich sozusagen ein neuralgischer Punkt des Delsarte-Systems, der seinen Erfolg, aber auch seinen plötzlichen Untergang erklären könnte. Die folgenden Ausführungen versuchen, diesen Vergleich in einen historischen Zusammenhang zu stellen. 1 Objektivierung des Körpers François Delsarte entwarf eine Ausdruckslehre „nach der Natur“, um sich von konventionellen Vorstellungen in der Rhetorik und Schauspielkunst zu lösen. Die Erfolge in der Medizin und den Ingenieurwissenschaften seiner Zeit lenkten seine Aufmerksamkeit auf eine Natur, die zunehmend als ein System objektiver und messbarer Gesetzmäßigkeiten verstanden wurde. Delsarte war durchaus nicht der einzige Künstler, der eine Brücke zur Naturwissenschaft zu schlagen versuchte. Der zwölf Jahre ältere Sänger Manuel Garcia studierte die Anatomie des Kehlkopfs, was sich in Delsartes Arbeiten über die Stimme niederschlug (Porte 1992: 170f.), und erfand dabei die Laryngoskopie. Der Schriftsteller Emile Zola zeigte sich fasziniert von der experimentellen Physiologie des Mediziners Claude Bernard und versuchte, Romane als soziale Experimente anzulegen (Zola 1880). Von Bernards Vivisektionen K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 35 (2012) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Mathias Spohr 278 abgeschreckt, wurde seine Frau Marie-Françoise zusammen mit ihren Töchtern zu Pionieren des französischen Tierschutzes (Rudacille 2000: 19). Die Überwindung des Schreckens durch kalte Beobachtung war ein Faszinosum für Wissenschaft und Kunst. Auch Delsarte besuchte Leichenhallen, um die Ausdrucksmöglichkeiten des menschlichen Körpers zu studieren, und entdeckte, dass die Daumen von Toten stets eingeknickt sind. Die Entdeckung der „séméiotique de la mort“ (Porte 1992: 66), wie er es nannte, erleichterte es der französischen Armee, auf Schlachtfeldern die Toten von den Verwundeten zu unterscheiden, wofür Delsarte die vielleicht größte offizielle Ehre seines Lebens zuteil wurde, ein Vortrag 1867 an der École de médecine (vgl. Pradier 2000: 157f.). Delsarte ging davon aus, dass jeder Emotion bestimmte körperliche Symptome auf Grund physiologischer Gesetzmäßigkeiten zugeordnet seien. Exakte Beobachtung und Reproduktion dieser Symptome (wenngleich in idealisierter Weise) machten aus seiner Sicht den großen Rhetoriker oder Schauspieler aus. Die Analyse solcher Symptome nannte Delsarte „séméiotique“, ihre Reproduktion „esthétique“. Dabei ging es ihm nicht primär um ein wissenschaftliches Gebäude, sondern um praktisch umsetzbare Anweisungen. Die Körperhaltungen teilte er nach Muskelspannungen ein: konzentrisch (den korrespondierenden Körperteilen zugewandt), normal (Mittelstellung), exzentrisch (den korrespondierenden Körperteilen abgewandt). Konzentrisch ist der verkürzte Muskel, exzentrisch der verlängerte. Analog dazu teilte Delsarte den Körper in vitale (vie), seelische (âme) und geistige (esprit) Zonen, die er mit der roten, der gelben und der blauen Farbe kennzeichnete. Die drei Teile teilten sich wiederum in je drei Varianten; dieses Prinzip nannte er „accord de neuvième“. Delsartes exzentrische, konzentrische und normale Haltungen dienten Choreographen ebenso wie Trickfilmzeichnern des 20. Jahrhunderts (siehe den Aufsatz von Bochow in diesem Band) als Inspirationsquelle für das Bewegungsvokabular ihrer Figuren. Selbst die Farbtheorien der Bauhaus-Künstler Wassily Kandinsky und Johannes Itten oder die Typenlehre des Psychologen C.G. Jung weisen Parallelen mit dem Delsarte-System auf, das im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts in aller Munde war, wenngleich sein Urheber nach dem Ersten Weltkrieg kaum mehr genannt wurde. Die Mode der Jahrhundertwende war bald abgelegt, die Methode dahinter entfaltete aber nach wie vor ihren Einfluss, in einem Prozess, den Thomas Leabhart „fertile misunderstanding“ (Leabhart 2005: 17) nennt. Noch in der Vorstellung von extravertierten und introvertierten Persönlichkeiten scheinen sich Delsartes exzentrische und konzentrische Haltungen als anscheinend unfehlbare Anzeichen innerlicher Zustände niedergeschlagen zu haben. 2 Religion und Identität Das Delsarte-System ist im 20. Jahrhundert in den Ruf des Esoterischen gekommen, was seinen Einfluss auf die wissenschaftliche Semiotik nicht gefördert hat. Für das Verständnis eines Emanzipations- und Identitätsdenkens, das sich aus religiösen Überzeugungen heraus entwickelt (vgl. Bochow 1997) und seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zu einer Vielzahl von „Ismen“ geführt hat, ist die Wirkungsgeschichte seiner Lehre jedoch von besonderem Interesse. Auf Delsartes Hinwendung zur Naturwissenschaft folgte in den 1830er Jahren die Hinwendung zum Katholizismus, was seine Freunde und Schüler zum Teil befremdete (Hamel 1906: 3-4). Ohne Delsarte zu unterstellen, dass die religiöse Komponente seiner Methode ein Vorwand gewesen sei, war die von ihm gelehrte Rhetorik als Kunst der Beeinflussung im Von den ‚brute facts‘ zum Reflex 279 Paris der Revolutionen ein nicht ungefährlicher Gegenstand. Sie konnte sich rechtfertigen, wenn sie sich religiös begründen ließ und kirchliche Autoritäten sie empfahlen. Der Begründer des Positivismus Auguste Comte, der Naturwissenschaft und Religion außerhalb der bestehenden Institutionen zu verbinden versuchte, hatte lebenslang mit Repressalien zu kämpfen. Eine dezidiert konservative Haltung, wie sie Delsarte vertrat, konnte in diesem Umfeld erfolgreich sein (vgl. Spohr 2012). Derart große Vorsicht war für den Schauspieler Steele Mackaye, Delsartes Vorzugsschüler in seinen letzten Jahren, der seine Lehre in den USA verbreitete, nicht nötig. So verzichten Mackaye und seine Schüler auf die religiösen Bezüge, ohne dass der von Delsarte übernommenen Ausdruckslehre etwas Wesentliches gefehlt hätte. Das auf den ersten Blick esoterisch wirkende Lehrgebäude eignete sich für die beiden Generationen nach Delsarte auch losgelöst vom ursprünglichen weltanschaulichen Hintergrund als praktische Anleitung zu Analyse und Synthese von Muskelspannungen und ihren korrespondierenden Gemütsbewegungen, vom darstellerischen Gefühlausdruck befreit sogar als Basis für Gymnastik. Ähnlich wie Delsarte, der eine Apparatur zum Stimmen von Tasteninstrumenten namens Phonopticon erfunden hatte, die selbst von Hector Berlioz gelobt wurde (Berlioz 1862), war auch Mackaye ein technisch begabter Bastler, der nicht nur Körperhaltungen optimierte, sondern auch die Bühnentechnik um neue Apparaturen erweiterte. Der Ansatz, Problemstellungen auf das Technische zu reduzieren, überbrückt Gegensätze und hat offenbar das Einverständnis zwischen den ungleichen Persönlichkeiten Delsarte und Mackaye befördert. Gerade im US-amerikanischen Zusammenhang erfolgreich war Delsartes Überwindung der Körperfeindlichkeit. Seine Auffassung vom Körper als einer heiligen „enyclopédie du monde“ (Delsarte o.J./ 1) revoltierte gewissermaßen gegen christlich-religiöse Traditionen, indem sie sich auf sie berief. Beschäftigung mit dem Körper erschien als eine Art Gottesdienst. So konnte auch Gymnastik, die etwas Neues war und im Verdacht des Ungehörigen stand, in einem ähnlichen gesellschaftlichen Rahmen stattfinden wie die Bibelstunde, was sich die zahlreichen delsartistischen Damengesellschaften zu Nutze machten (Ruyter 1999). Im Unterschied zu einer hergebrachten Semiotik der Krankheitssymptome oder Verbrechensindizien (Eckart 1998) - Zeichen, die etwas Schlechtes bedeuten - war die von Delsarte entwickelte Semiotik grundsätzlich eine Zeichenlehre vom Guten. Dieses Glaubens- oder Überzeugungsmoment, das Delsarte mit Schauspielkunst und Rhetorik verband und von der Absicht einer Aufwertung des Körperlichen und des Visuellen getragen war, wurde in feministischen Varianten des Delsartismus ebenso wie in den Körperkultur-Bewegungen des 20. Jahrhunderts zu einem Identitäts- und Emanzipationsdenken modernisiert (Wedemeyer- Kolwe 2006): Delsarte-Anhänger wollten durch Körperbewegung nicht mehr bloß Theaterfiguren realisieren, sondern sich selbst, und forderten in dieser Identität gesellschaftliche Akzeptanz. Der Glaube an die moralische Qualität des Körperlichen, den Delsarte vertrat, entwickelte sich in der Rezeptionsgeschichte seiner Lehre zur Behauptung neuer Identitäten, die vom Körperbewusstsein ausgingen. Das Delsarte-System fiel in den Vereinigten Staaten auch deshalb auf fruchtbaren Boden, weil es keine sozialen Schranken kannte, die im monarchischen Europa stets noch hochgehalten wurden, sondern Ausdrucksverhalten als etwas allgemein Menschliches begriff, das auf einfache Regeln zurückgeführt werden konnte. Am objektivsten erschienen dazu die Regeln der Medizin, also physiologische Grundlagen. So wie sich Delsarte als einer der Ersten für Alte Musik einsetzte (mit Mozart habe seiner Aussage nach der Verfall des Musikalischen eingesetzt, vgl. Waille 2009: II, annexes 116), so versuchte er, der Wissenschaft ihre scholastischen Wurzeln zurückzugewinnen, von denen sie sich gerade erst emanzipiert hatte. Auf diesen wie anderen Gebieten profilierte sich Mathias Spohr 280 Delsarte parallel zu seinen Modernisierungsbestrebungen als Anwalt des Unmodernen, was jedem Konservativismus, der sich gegen ihn hätte richten können, den Wind aus den Segeln nahm. 3 Trichotomien bei Delsarte und Peirce Praktisch orientiertes Denken war auch für Charles Sanders Peirce der Ausgangspunkt seiner Philosophie. In seiner Zeichentheorie beschränkte er sich nicht auf das menschliche Ausdrucksverhalten wie Delsarte, sondern beschäftigte sich mit Rauch und Feuer oder der Beschriftung geometrischer Figuren, die er jedoch nicht, wie die Pioniere der maschinellen Zeichenverarbeitung seit Gottlob Frege, grundsätzlich von der Psychologie ihrer Wahrnehmung zu trennen versuchte, sondern im Hinblick auf die menschliche Wahrnehmung untersuchte. Mit seiner Einführung des „Interpretanten“ machte er die wahrnehmende Instanz zum Bestandteil des Zeichens. Der verwirrenden Mischung von physiologischen und psychologischen Aspekten des Verhaltens stellte er ein einfaches Ordnungsprinzip gegenüber, das er mit Beispielen aus dem täglichen Leben plausibel machte, etwa dem Erschrecken im Dunkeln oder einem beim Schlafen ausgebrochenen Brand der Bettwäsche (Peirce 1888: 281, 283). In beiden Beispielen, so sei im Hinblick auf die folgenden Ausführungen angemerkt, handelt es sich um Zeichen, die nichts Gutes verheißen. Peirce ging wie Delsarte von einer triadischen Zeichenlehre aus. Peirces Unterteilung der Zeichen in ikonische, indexikalische und symbolische gehört heute zum Schulwissen, doch weniger bekannt ist deren Herkunft vom erkenntnistheoretischen Konzept der „Firstness“, „Secondness“ und „Thirdness“, das sich als eine Art Lebensphilosophie durch sein Werk zieht. Trichotomien als methodische Konzepte sind verbreitet, und ihre leichte Fasslichkeit ist ein verbindendes Motiv, das keinen direkten Bezug erfordert: Während Delsarte ein praktisches Prinzip zur Einordnung komplexer Bewegungen und Haltungen suchte, entwickelte Peirce ein praktisches Prinzip zur Beschreibung wahrgenommener Zusammenhänge. Peirce kannte Delsartes Lehre durch die Vermittlung von dessen Schüler Steele Mackaye, der als Motor ihrer Verbreitung in den USA wirkte. Peirce und seine Partnerin Juliette waren mit den Mackayes befreundet, und Juliette nahm Unterricht bei Mackaye. Peirce interessierte sich seit seiner Jugend für Rhetorik und hatte sich einmal für eine Stelle als Rhetoriklehrer beworden (ausführlicher bei Smith Fischer 2009). In seinem Aufsatz Trichotomic (1888) bezieht sich Peirce im Weg über Mackaye auf Delsarte. Er bezieht die motivierenden Instanzen vie, âme und esprit des Delsarte-Systems auf seine eigenen drei Wahrnehmungs- Kategorien und bemerkt, dass die Konzepte ähnlich seien. Nach einer Erklärung seiner Kategorien Firstness, Secondness und Thirdness fährt er fort: Mr. Mackaye’s division of the principles of being has considerable resemblance with this. What he calls the vital or passional principle, which sustains life, seems to be nearly what I call the simple consciousness of Feeling; what he calls the affectional or impulsive principle is my dual consciousness plus Desire and minus Sense; what he calls Reflection is probably Reason with the esthetic understanding (Peirce 1888: 283f.) Delsartes âme bzw. Mackayes Vorstellung des „affectional and impulsive principle“ entspreche der Secondness, aber enthalte zusätzlich ein Moment des Begehrens (Desire). Delsarte und Mackaye sprechen ihrerseits nicht von Begehren, sondern von einem Willen, in dem sich das Gute, Wahre und Schöne manifestiert. Die vérité expressive hat für sie einen moralischen Von den ‚brute facts‘ zum Reflex 281 Nutzen (Waille 2009: 2, 474f.). Abgesehen von dieser feinen, aber wesentlichen Differenz glaubt Peirce die Delsarte-Trichotomien auf sein eigenes Prinzip der Dreiteilungen übertragen zu können: Mr. Mackaye divides dramatic expression into pantomime, voice, and language. A person would at first glance make the division into speech and gesture, and this would doubtless answer some purposes better. But with reference to the value of the different instruments at our command it is important to make a division, which shall correspond as nearly as may be with the different kinds of representation. Now language is in the main representation by the force of association; it involves the analysis of whatever is to be conveyed [on the part of the hearer as well as on the part of the author] and the separate expression of abstract points. Voice, on the other hand, awakes attention, directs it to particular channels, calls up feelings, and modifies consciousness generally, in a physiological way in the main; and is therefore a mode of expression of the second kind. Pantomime alone is mainly representation of the purely artistic kind, to be contemplated without analysis and without discrimination of the sign from the thing signified. Pantomime may itself be divided, on the same principle, into three varieties […] (Peirce 1888: 282) Mackaye unterscheide zwischen Pantomime, Stimme und Sprache, nicht zwischen Gestik und Rede. Während Pantomime der Idee ohne Realitätsbezug entspreche (Firstness), ziehe die Stimme die Aufmerksamkeit auf sich (Secondness), ohne Information zu vermitteln, und die Sprache transportiere Bedeutung im Rahmen gewohnter Regeln (Thirdness). Die künstlerische Pantomime ist nicht auf Realität angewiesen und lässt ihre Zuschauer gewissermaßen in Ruhe, gewährt ihnen die Freiheit der Wahrnehmung (was für Peirce zur postulierten Gemeinsamkeit des Betrachters mit dem Künstler gehört). Die Stimme allerdings übe einen Zwang auf ihre Hörer aus, suggeriere etwas mit ihrem Ausdruck, als würde der Akteur seinen Zuschauer anrempeln (Secondness), während ihre Worte (oder auch die sprachähnlichen Gesten der Gehörlosensprache, wie Peirce im Anschluss an den zitierten Abschnitt ausführt) im Rahmen gewohnter Regeln zu verstehen seien (Thirdness). Pantomime ist für Peirce ikonisch, weil das von ihr Wahrgenommene nur Idee und nicht Wirklichkeit sei. Von Bedeutung in diesem Zusammenhang ist, dass Peirce die Nachahmung (die nach Aristoteles Aufgabe der Künste ist) beziehungsweise das Ikonische zur Firstness zählt: „The sign is a likeness; and this is the main mode of representation in all art“. (Peirce 1888: 282). Secondness dagegen ist indexikalisch, weil das solcherart Wahrgenommene einen notwendigen Bezug zu etwas Gegebenem hat, Thirdness ist symbolisch, weil sie auf Konventionen beruht. Oder nochmals anders formuliert: Firstness ist das spontan Empfundene, noch auf nichts anderes Bezogene, Secondness der notwendige, noch unreflektierte Zusammenhang der Wahrnehmung mit etwas Vorgegebenem und Thirdness die Fähigkeit zur Assoziation, die sich aus Erfahrung ergibt. Peirces Firstness, Secondness und Thirdness können auf banale Weise mit Delsartes elementaren Unterteilungen des Körpers parallel gesetzt werden, zum Beispiel mit der Dreiheit von Unterarm, Oberarm und Hand: Der Unterarm verkörpert nach Delsarte das vitale, impulsive Prinzip, zu dem (nach Peirce) kein Zweites nötig ist. Der Oberarm als zweites Glied verkörpert das Prinzip der âme (Delsarte) und reagiert zwangsläufig auf das erste (Peirce), die Hand ist ein Drittes, verkörpert den esprit (Delsarte), und ihr Gebrauch steht der Konvention und Argumentation am nächsten (Peirce). Oder in einer anderen von Delsarte vorgeschlagenen Unterteilung veranschaulicht: So wie der Unterarm am Leib befestigt ist, stehen Beine und Unterleib durch die Schwerkraft verankert auf dem Boden und bilden nach Delsarte die vitale Komponente einer Dreiheit, Firstness nach Peirce. Der Oberkörper reagiert auf dieses Fundament (Secondness) und wird von Delsarte als „see- Mathias Spohr 282 lischer“ Teil verstanden, wie es sich auch in der Redewendung vom „Herz“ in dieser Region niederschlägt, und der vermittelnde Kopf (Thirdness) ist der von Delsarte als „geistig“ wahrgenommene Teil des Ganzen. Delsartes leicht nachvollziehbare Charakterisierung der Körperteile und Muskelspannungen nach ihrem Ausdruckspotenzial bewährte sich mehrere Generationen lang als Orientierungshilfe für Praktiker. 4 Secondness und das Unmittelbare Peirce rechnet die Kunst zur Firstness, weil er sie mit Freiheit von den Zwängen des Alltags und geringer Reflexion verbindet (vgl. Leja 2000: 98). Delsarte und Mackaye rechnen ihre Kunst hingegen zu dem, was Peirce Secondness nennt, gewissermaßen als Inspiration oder Eingebung, die aus einer wirklichen Quelle stamme. Für Peirce ist die „indexikalische“ Konfrontation mit Wirklichkeit aber etwas Gewaltsames und Handfestes, das die Freiheit zerstöre, die für ihn zu Kunst gehört. […] the mind floats in an ideal world and does not ask or care whether it be real or not. This character makes a striking point of difference between this kind of representation and the second. And that is why the use of the second mode of representation is so unartistic. (Peirce 1888: 282) Dass Peirce in diesem Aufsatz mehrmals das Unkünstlerische der Secondness betont, ist eine deutliche Kritik an Delsarte/ Mackaye. Interessant ist in diesem Zusammenhang Peirces Zuordnung der Stimme zur Secondness: Voice, on the other hand, awakes attention, directs it to particular channels, calls up feelings, and modifies consciousness generally, in a physiological way in the main; and is therefore a mode of expression of the second kind. (Peirce 1888: 282) Zum Verständnis hilft hier ein weiterer Hinweis auf Delsarte: Als ausgebildeter Sänger verstand Delsarte den Klang der Stimme als textlose Musik, was sowohl für Instrumentalmusik als auch für die sprachlich unartikulierte Singstimme gilt. Textlose Musik, so eine verbreitete Auffassung im 19. Jahrhundert, appelliert direkt an das Gefühl, Sprache hingegen besteht aus Konventionen, die zu ihrem Verständnis gelernt werden müssen. Delsartes Erinnerungen an musikalische Kindheitserlebnisse wie Engelsstimmen, Kirchen- und Drehorgeln (siehe den ersten Aufsatz von Waille in diesem Band) betonen die textlose und emotionalisierende Musik. Von ihrem Ursprungsort sind Stimme und Sprache verschieden, wie Delsarte betont: Die Stimme sitze hinten im Kehlkopf, während die Sprache als Beschäftigung von Lippen und Zunge im vorderen Teil des Mundes angesiedelt sei (Delsarte o.J./ 2). Für Peirce hat die Secondness insofern etwas Zwanghaftes, als sie das Spontane der Firstness auf den Boden einer (als grob verstandenen) Realität zurückholt. Wirklichkeit macht sich unsanft bemerkbar: This is the only kind of sign which can demonstrate the reality of things, or distinguish between things exactly alike. As I am walking alone in a dark night, a man suddenly jumps out of a corner with a “Boh! ” and thus brings his presence home to me in a particularly forcible manner. (Peirce 1888: 281) Dieser Schrei ist für Peirce kein künstlerischer Akt. Erst die Thirdness gewinnt gedanklichen Abstand zur gewaltsamen Wirklichkeit. Peirce misstraut der Manipulationsmacht des unmittelbar ausgelösten Gefühls, wie seine Erklärung der Secondness deutlich werden lässt, Von den ‚brute facts‘ zum Reflex 283 während sich Delsarte in einer auf Jean-Jacques Rousseau zurückgehenden, der Empfindsamkeit nahe stehenden Tradition befindet, die den unmittelbaren Gefühlausdruck als eine allverbindende Ursprache begreift. Rousseaus „cri de la nature“ als sprachliches wie musikalisches Urphänomen ist im Unterschied zu Peirces Beispiel ein zugleich künstlerischer und versittlichender Schrei (Rousseau 1755). Zu dieser Ursprache, darin stimmt Delsarte mit Rousseau überein, solle der Künstler zurückkehren, wenn die Konventionen des gesellschaftlichen Lebens überhand nehmen. Ziel und gesellschaftliche Aufgabe des Künstlers ist aus dieser Sicht die Rückkehr zu einer verlorenen unreflektierten Unmittelbarkeit. Rousseau hatte sich mit Vorstellungen von einer friedlichen Urgesellschaft, die er mit seiner Auffassung von Melodie verband, radikal gegen Thomas Hobbes’ Entwurf eines Naturzustands gewandt, bei dem im Gegenteil ein Krieg aller gegen alle herrsche. Die Hinwendung zur Natur als Befreiung von Konvention ist bei Delsarte allerdings mit der Hinwendung zum Naturgesetzlichen durch wissenschaftliche Beobachtung verbunden, was Rousseau noch nicht vorschwebte. Als Reflex dieser Kontroverse steht Delsartes Verständnis des Seelischen (âme) und zugleich Sittlichen (morale) gerade jener Secondness am nächsten, die für Peirce Inbegriff des Unfreien und Unfriedlichen ist. Die Konzeption der Secondness als ‚brute facts‘, deren unmittelbare Wirkung sich nicht zuletzt aus einer fehlenden Einsicht in die Zusammenhänge erklärt, die erst durch Thirdness ermöglicht wird, erscheint bei Peirce erheblich nüchterner und skeptischer als das unwillkürliche seelische Geschehen bei Delsarte, das jener als versöhnende Grundlage des menschlichen Handelns betrachtet und mit religiösen Vorstellungen verbindet. Was Peirce als unsanfte Konfrontation mit Realität versteht, das ist für Delsarte notwendige Versittlichung durch eine naturgegebene Ordnung. Sie erfolgt durch eine Verknüpfung von Ursache und Wirkung, wie sie einer noch wortlosen Musik zugetraut wird, in Anlehnung an die von Rousseau politisch gedeutete antike Ethoslehre. Emotionen als freie Äußerungen gleich gestellter Individuen sind für Delsarte eine moralische Instanz, nicht jedoch für Peirce, der sie bloß für Zeichen hält. Das Emotionale ist einer gedanklichen Analyse nach dessen Verständnis zwar vorgeordnet, aber untergeordnet. Delsartes und Mackayes erleuchtete Körper waren Peirce fremd, obwohl er nach seiner Aussage von einer ähnlich aufgebauten Semiotik ausging, sich durchaus für Mackayes Theaterproduktionen interessierte und sich wie Delsarte mit scholastischer Philosophie beschäftigte. Während die christliche Trinitätslehre die Einheit der göttlichen Autorität bekräftigen soll, was für Delsarte nicht in Frage stand, ging es Peirce bei seinen Dreigliederungen vielmehr um eine Emanzipation von Gewalten. Vater, Sohn und Heiliger Geist in Tertullians Kunstwort trinitas aus tres und unitas, der damit drei personae in einer substantia zusammenführt, können gewiss im Sinne von Peirce als Ursache, Wirkung und verbindendes Prinzip interpretiert werden. Ein wesentlicher Unterschied besteht jedoch, und es ist ein ähnlicher wie derjenige zwischen Delsarte und Peirce: Der Heilige Geist nach Tertullian ist zwar eine erleuchtende Instanz, aber diese Erleuchtung geht nicht aus der gedanklichen Leistung des Menschen hervor, sondern wird ihm eingegeben. Daher ist er kein Interpretant, als Aktivität eines Rezipienten wie in Peirces Vorstellung. 5 Reflexlehren als Ende des Delsartismus Heute hat Delsartes Systematik der Körperzeichen ihre Bedeutung für den Schauspielunterricht, von dem sie einst ausging, weitgehend verloren. Was Animationsfilmer stets noch Mathias Spohr 284 interessiert, weil sie das gezeichnete Objekt von außen sehen, halten Schauspieler nicht mehr für hilfreich, da sie nicht mehr zum Einstudieren von Haltungen und Bewegungen vor dem Spiegel stehen wie ihre Kollegen im 19. Jahrhundert, sondern seit der Lehre Konstantin Stanislawskis dazu angehalten sind, von ihrem inneren Erleben auszugehen. Ein äußerliches Herangehen an Emotionen, der Weg von Haltung und Bewegung zur Emotion des Zuschauers und des Darstellers, so lernen sie seither, sei kunstlos und mechanisch. Trotzdem besteht die Einsicht, dass sich eine detaillierte Choreographie von Bewegungen nicht immer vermeiden lässt, etwa beim Filmschauspiel, das mit seinen Möglichkeiten der Großaufnahme im Zusammenspiel mit Licht und Kamera oft ein sehr exaktes Agieren verlangt. Ähnlich verhält es sich bei Tänzern, die Bewegungsabläufe in der Regel genau einstudieren, so wie Leser einen Text wortwörtlich lesen oder Musiker die exakten Vorgaben einer Notenschrift ausführen, ohne sich deshalb ausdruckslos und mechanisch anhören zu müssen. Delsartes Lehre hat wohl aus diesem arbeitstechnischen Grund großen Einfluss auf den Tanz des 20. Jahrhunderts gehabt, obwohl Delsarte sich zu seinen Lebzeiten durchaus nicht für Tanz und Tänzer interessierte. Der Schauspiellehrer Lee Strasberg hat die Ablösung des Delsarte-Systems im Schauspielunterricht mit dem wissenschaftlichen Fortschritt gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Zusammenhang gebracht, der neue Erkenntnisse über das „affective behaviour“ geliefert habe. Delsarte became dissatisfied with routine acting techniques. […] Knowledge of affective behaviour had not advanced far enough to serve as an aid in solving the problem of the actor: there was still too little understanding of human behaviour, of the relation between the conscious and unconscious, and of the role of the senses. (Strasberg o.J.: 6) Die wesentliche Neuerung habe der Regisseur Konstantin Stanislawski mit seiner Konzeption des „affective memory“ gebracht (7). „Emotionales Gedächtnis“ nach Stanislawski versucht, Emotionen zu vergegenwärtigen, die zu bestimmten Reaktionen führen. Statt körperliche Ausdrucksmöglichkeiten zu beobachten und zu ordnen wie Delsarte, sollen vielmehr Stimuli gesammelt werden, die körperliche Reaktionen „auslösen“. So erklärt der fiktive Schauspiellehrer Arkadij Nikolajewitsch in einem der Hauptwerke Stanislawskis: „Man darf nichts verschmähen, was das emotionale Gedächtnis auslösen könnte.“ (Stanislawski 1983: 218). Gewiss werden nicht die Empfindungen vom Publikum gesehen, sondern die Körper. Strasberg spielt in seinem Text auf die Entdeckung oder Erfindung der Reflexe an. Wladimir Michailowitsch Bechterew und Iwan Petrowitsch Pawlow waren die Vorreiter einer Lernmethode, die mit Automatisierungen operierte und in den US-amerikanischen Behaviorismus mündete. Der „Reflex“ ist eine isolierte Verbindung von Ursache und Wirkung. Kritiker der Reflexlehre stellten gewöhnlich den Sachverhalt in Frage, ob solche Isolationen außerhalb der Versuchsanordnungen, die sie künstlich herbeiführen, überhaupt existierten. Der Siegeszug der Maschinen in jener Zeit beförderte allerdings den Glauben, dass auch der Mensch als Maschine betrachtet werden könne, und der Erfolg der „klassischen Konditionierung“ von Reflexen in Medizin und Pädagogik gab dieser Sichtweise in gewissem Maße Recht. Reflexe revolutionierten die Lerntechniken (vgl. Rüting 2002). Künstliche Wirkungen wurden nicht mehr durch den Verstand modelliert, wozu es diesen Verstand erst geben musste, sondern automatisch im Umweg über künstliche Ursachen produziert. Der Magensaft des Pawlowschen Hundes beginnt bereits zu fließen, wenn er die Glocke hört, die bei seiner Fütterung erklingt. Eine ähnliche Konditionierung geschieht durch das „emotionale Gedächtnis“, das Konstantin Stanislawski ins Spiel brachte (vgl. Lazarowicz 1992: 44): Um einen gewünschten Ausdruck darzustellen, versucht sich der Schauspieler an eine Situation zu Von den ‚brute facts‘ zum Reflex 285 erinnern, die der Situation gleicht, in der sich die gespielte Figur befindet. Über die Erinnerung an jene Gefühle, also eine ersatzhafte Ursache, soll der gewünschte authentische Körperausdruck von selbst zustande kommen. Strasberg bringt es auf die knappe Formel: „Conscious preparation - unconscious result.“ (Strasberg 1987: 79) Diese Methode hatte einen Erfolg, der bis heute anhält, obwohl sie gewiss nicht unangefochten blieb. Stanislawskis „System“ und später Strasbergs „Method Acting“ wurden in ähnlicher Weise als Zaubermittel für den Schauspielunterricht betrachtet (der sich in seiner Spezialisierung mittlerweile von einer Bildungs- und Verhaltensschule entfernt hatte) wie zuvor das Delsarte-System. Das von der konkreten Körperlichkeit statt von den Emotionen ausgehende Delsarte-System eignete sich von da an besser für den Bühnentanz. Indem der Schauspieler nach Stanislawskis Lehre die Emotionen seiner Figur nachvollzieht, entstehen die passenden Zeichen von selbst, als Wirkungen ihrer simulierten Ursachen. Nicht das Zeichen wird konstruiert, in jenem Prozess, den Delsarte „esthétique“ nannte, sondern sein Objekt, mit dem es indexikalisch verbunden ist. Ästhetik, um Delsartes Terminus zu verwenden, ist dann nicht mehr die freie Zusammenstellung von Zeichen durch geeignete Auswahl aus der „encyclopédie du monde“, bewusst gemacht durch das Studium des Körpers, der sie darbietet, sondern ein Herbeiführen von Zwängen durch gelungene Konditionierung; trotz der Vorstellung, dass hier Natur zum Vorschein komme, bedeutet dies eine Mechanisierung des Verhaltens, weil die automatische Abbildung der Emotionen auf dem Körper vorausgesetzt werden muss; natürliche Spontaneität und Mechanik werden deckungsgleich. Jeder Schauspieler hat dagegen schon erlebt, dass er fühlt und die Zuschauer nichts davon sehen. Die ‚brute facts‘ holten Delsartes und Mackayes Ideologie des Wahren und Guten ein, die technische Machbarkeit des Ausdrucks durch Konditionierung von Reflexen zerstörte das historistische Fundament der Lehre, das Delsarte aus antiken und scholastischen Elementen gezimmert hatte. Eine Vorstellung vom heiligen Körper, in dem sich das Gute unmittelbar zeigt, ließ sich in diesem Zusammenhang auch unabhängig von konkreten religiösen Vorstellungen nicht mehr halten. Dies bedeutete eine Umwälzung nicht nur für die Schauspieltechnik. Während für Delsarte und Mackaye die Loslösung von gesellschaftlichen Zwängen durch genaue Beobachtung, Aufzeichnung und Nachzeichnung naturgesetzlicher Zusammenhänge eine Rolle spielte, wobei sie die Autorität des Wahren und Guten nicht als Zwang empfanden, wird durch die Methodik der bedingten Reflexe ein neutraler, wertfreier Zwang kultiviert. Peirce war ein Gegner des Determinismus. Das Künstlerische als ein Symbol des unreflektierten freien Handelns sollte nach seiner Meinung von Zwängen befreit sein. Bei Delsarte ist der Schauspieler allerdings kein unreflektierter Erlebender (wie es Peirces Ideal sein mochte, der die Angelegenheit nur aus der Zuschauerperspektive kannte) sondern ein Nachahmer, der sich gegen unreflektierte Gewohnheiten stellt und beobachtete Ausdrucksformen mit dem Körperbewusstsein und dem Bewegungsgedächtnis des Tänzers nachzeichnet. Mit dem konditionierten Reflex der folgenden Generation kommt ein Moment kalkulierter Unfreiheit in die Kunst hinein, das diese ‚äußerliche‘ Bewusstheit in Frage stellt. Aber nur die ideale Kunst gehört für Peirce zur Firstness. Weniger begeistert schreibt er auch über Theatervorstellungen, die erwünschte unmittelbare Reaktionen beim Publikum auslösen, die also zu jener Art Secondness gehören, die Delsarte und Mackaye vorschwebte. Dabei dachte Peirce gewiss an die populäre Gattung des Melodrams, die das Publikum erschrecken oder rühren sollte (vgl. Randi 1996: 85-96). Was Peirce beim Publikum des Melodrams beobachtet und, wenn ich mich nicht täusche, gering schätzt, ist die Auslösung Mathias Spohr 286 physischer Reaktionen durch das Vorgeführte. Aufgeklärte Menschen, so der Unterton dieser Ausführungen, brauchen solche Abhängigkeiten nicht: So a desired frame of mind on the part of the audience is often brought about by the dramatist in a forcible way by directly affecting the nervous system, without appealing to association; or the attention of the audience may be awakened, as a clergyman shouts out the commencement of a new head to his sermon, or may be directed to a particular part of the stage, as the jugglers do. (Peirce 1888: 281) Der Rührstückautor, der Geistliche und der Jongleur werden hier in einem Atemzug genannt, und, wie diese Parallelsetzung nahelegt, nicht mit besonderem Respekt. Ihre Kunst hat unmittelbare Wirkungen, sie zieht die Aufmerksamkeit auf sich, ohne dass es einen Inhalt brauchte. Peirce spricht nicht von den machtvollen Wirkungen der Musik, die Delsarte als „Stimme ohne Text“ im Sinne hatte, doch sie ließe sich als melodramatische Hintergrundmusik in diese Kritik mit einbeziehen. Das positive Verständnis der Wirkungen von Theater und Rhetorik, wie es Delsarte vertritt, trifft in diesem Zusammenhang auf ein negatives, das die Unfreiheit solcher Reaktionen hervorhebt und den Vorgang sogar als unkünstlerisch kritisiert. Modern gesprochen, wäre es die Manipulation, der Peirce kritisch gegenübersteht. Nicht eine versittlichende Wirkung, sondern eine versklavende sieht er im Vordergrund. Der alte Vorwurf gegen die Rhetorik als Kunst der Lüge, den Delsarte mit seinem ganzheitlichen Wissenschaftsbegriff und seinem Glauben an die moralische Qualität authentischer Körperzeichen bewältigen wollte, klingt hier im Hintergrund mit. Die Überzeugung, dass durch veröffentlichte Körper das Gute, Wahre und Schöne verkündet werde, ist für Peirce nicht gegeben, bildete aber die Grundlage für eine ganze Reihe von emanzipatorischen Strömungen, die von Delsartes Schülern ausgingen. Der kollektive Glaube an das Gute prägte sich in den Lebensreformen des 20. Jahrhunderts wie in politischen Bewegungen aus und führte im Gegenzug zu einer Skepsis, die sich zum Beispiel im Bedeutungswandel des Wortes ‚Propaganda‘ von der Werbung zur Manipulation niederschlägt. In dieser Hinsicht scheint Peirce gegenüber Delsarte Recht behalten zu haben. Literatur Berlioz, Hector 1862: Moyen trouvé par M. Delsarte d’accorder les instruments à cordes sans le secours de l’oreille », in À travers chants. Études musicales, adorations, boutades et critiques, Paris: Lévy frères, article 18, S. 244f. Bochow, Jörg 1997: Vom Gottmenschentum zum neuen Menschen. 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