eJournals Kodikas/Code 35/3-4

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
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2012
353-4

Schauspielausbildung und Charakterdarsteller im 19. Jahrhundert

2012
Wolf-Dieter Ernst
Schauspielausbildung und Charakterdarsteller im 19. Jahrhundert Wolf-Dieter Ernst Training for actors and character actors in the 19 th century. What are the guiding principles for educating actors in the 19 th century? How did an institution come into being, which ultimately gave way to our understanding of acting schools? This contribution seeks to foreground some developments in actor education in England, France and Germany with a focus on the life and times of the German character-actor and stage director Ernst von Possart (1841-1921). In the 19 th century, the possession of a main character role was the pivotal point for an actor’s career and much more than merely a theatrical role. Character was considered having multiple dimensions encompassing the ideal image of a role figure as well as a normative and heroic concept of identity and a noble acting-style. In the dominant hierarchy of roles only some actors were accepted to represent leading characters, not only because it was the most demanding individual part of a play, which demands certainly a certain craft. More important, it was associated with an ideal male body - a normative interpretation leaving little space for different male bodies let alone female bodies to be equally acknowledged. The prevailing idea of what is accepted as a normal representation of a character stood in harsh contrast to the insight, that acting as any other profession could be taught by skilled professionals according to certain objectives and methods. Im Hinblick auf die Bühnenreform François Delsartes und ihre Auswirkungen auf die Lebensreformbewegungen des 20. Jahrhunderts ist es aufschlussreich, die Situation in der europäischen Theaterausbildung zu beleuchten, die diesen Bestrebungen vorausging. Darstellung auf dem Theater war kein isoliertes Handwerk, so wird im Folgenden aufgezeigt, sondern hing eng mit einem bürgerlichen Bildungsbegriff zusammen. Für die Persönlichkeitsbildung, und dabei für die Bestimmung und Eingrenzung von Charakteren, war das Theater Vorbild und Ideal. Eine Veränderung der Konventionen auf der Bühne, wie sie Delsarte und seine Nachfolger durchsetzten, hatte demgemäß den Stellenwert einer Bildungsreform. Die Geschichte der Schauspielausbildung wie auch die Schauspieltheorie ist geprägt von den Bildungsbewegungen des 18. Jahrhunderts, welches nicht zuletzt deshalb auch als das pädagogische Zeitalter bekannt wurde. Der Schauspieler stand in dieser Zeit im Zentrum ästhetischer, anthropologischer und pädagogischer Fragestellungen. Wie Karl-Ernst Jeismann in seiner Einleitung zum Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte 1800-1870 schreibt, wurde [d]er rechtliche Rahmen für die Entwicklung des staatlichen Unterrichtssystems des 19. Jahrhunderts […] am Ende des 18. Jahrhunderts geschaffen. Die Reformpraxis auf allen Ebenen des Bildungswesens war im 18. Jahrhundert vielfältig und lebendig […]. Die Bildungsprozesse K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 35 (2012) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Wolf-Dieter Ernst 202 1 Gemeint ist Claude-Joseph Dorat, Dramatiker (1734-1780), und Pierre-Louis Dubus-Préville (1721-1799), führender Schauspieler der Comédie-Française. Günther Heeg macht auf die Identität stiftende Funktion des Fremden in den deutsch-französischen Theaterbeziehungen des 18. Jahrhunderts aufmerksam, die er als deutsches Phänomen entziffert (Heeg 2000: 157-172). innerhalb der Gesellschaft jenseits von Schule und Universität - Lektüre und bildende, ‚arbeitende Geselligkeit‘, Sonntagsschulen und Bildungsarbeit der Kirchen, Eigeninitiative einzelner Berufsstände - waren schon vor der Jahrhundertwende in beschleunigten Gang geraten. (Jeismann 1987: 1) Diese Bildungsreflexion entspricht freilich noch keinem einheitlichen Grad an Institutionalisierung, wie wir ihn heute voraussetzen, wenn wir über Schauspielschulen und Theaterhäuser sprechen. Für das 18. Jahrhundert und bis hin zum Ende des 19. Jahrhunderts lassen sich daher drei parallele Bildungsinstitutionen unterscheiden, in denen Charakterschauspieler unterrichtet wurden: - Die Ausbildung in Familien und durch ältere Schauspieler im Privatunterricht - die höfischen „Theatralpflanzschulen“, Konservatorien, Akademien - die Ausbildung an einzelnen experimentellen Privatschulen. Dabei sind diese Institutionen in den europäischen Staaten unterschiedlich stark ausgeprägt. Da insbesondere die Entwicklung der Ausbildungsinstitutionen in den deutschsprachigen Ländern im Zeichen des Vergleichs mit Frankreich und England stand, sollen die Entwicklungen in diesen Ländern einleitend kurz dargestellt werden. 1 Bildungsrealität in Frankreich und England Für die Entwicklung der Schauspielausbildung in Frankreich war die 1680 gegründete Comédie-Française als das erste, staatlich geförderte Nationaltheater prägend. Im zentralistisch organisierten Königreich gingen von diesem Theater die maßgeblichen Impulse aus, wie überhaupt die Entwicklung der Bildungslandschaft ihre Impulse in der Phase der Akademiengründung zu Paris erfuhr. 1648 wurde die Académie Royale de Peinture et de Sculpture eröffnet, gefolgt 1696 von der Académie Royale de Musique. 1795 schließlich wurde das Pariser Konservatorium gegründet, in welchem Instrumentalisten, Sänger und Tänzer ausgebildet wurden, und es folgte die Überführung der königlichen Akademien in das Institut National des Sciences et des Arts. Diese massive Bildungsinvestition blieb im deutschsprachigen Raum nicht unbemerkt. Im Theater-Journal für Deutschland 1781 veröffentlicht der Schauspieler Johann Friedel ein Philantropin für Schauspieler, den Entwurf einer Schule, mit der er das Ansehen des Schauspielerstandes zu heben sucht. Mit Blick auf das Modell Paris schreibt er: Der Beschluss zu einem Schauspielphilantropin ist nicht erst neu ausgebrütete Erfindung. Paris hat schon einige Zeit eine solche Pflanzschule. Man kennt die Verdienste, die Dorat und Préville, praktisch dieser, theoretisch jener, sich in der Bildung junger Zöglinge fürs Theater erwarben; und der Nutzen, der für das Schöne und Vollkommene der Kunst daraus entsprang, liegt jedem Kenner der französischen Schaubühne vor Augen. 1 (Friedel 1781: 20) Schauspielausbildung und Charakterdarsteller im 19. Jahrhundert 203 2 Die Aufhebung der Patenttheater-Regelung im Theatre Regulation Act von 1843 markiert hier das entscheidende Datum für die Entwicklung in England. Vgl. Brockett 1977. 3 Vgl. zum folgenden Abschnitt McDonald 1989: 199. 4 Vgl. McDonald 1989: 201; in der Literatur kursiert auch das Datum 1879; vgl. Susi 2006: 17. Ein Akademiegedanke, wie ihn etwa Conrad Ekhof (1720-1778) mit Blick auf Frankreich 1753 mit seiner Ersten Deutschen Schauspielakademie am Hofe in Schwerin zu verwirklichen suchte, von dem Eduard Devrient 1830 in seinen Briefen aus Paris schwärmte und den Franz Kugler in der gescheiterten Einführung staatlicher Schauspielschulen 1848-49 vor Augen hatte, war im Deutschland der Duodezfürsten freilich noch nicht in Sicht. In England verlief die Entwicklung der Bildungsinstitutionen nur teilweise und zeitlich verzögert nach dem von Frankreich her bekannten Modell der Akademien. Seit 1768 bestand die Royal Academy of Fine Arts, erst 1822 öffnete die Royal Academy of Music. Die königliche Schauspielschule (Royal Academy of Dramatic Arts) datiert auf das Jahr 1905, gefolgt von der Royal Academy of Dance im Jahre 1936. Im industriell weitaus fortgeschrittener entwickelten England und einem damit einhergehenden unternehmerischen Tätigkeitsfeld für Privatiers lassen sich allerdings sehr früh bereits private Schulen nachweisen. 2 In den 1830er Jahren gründete die populäre Schauspielerin Fanny Kelly eine private Schauspielschule. 3 Zur Finanzierung des Unternehmens pachtete sie das Strand Theatre, um mit ihren Solodarbietungen das nötige Kapital für die Schule einzuspielen und auch einen kleinen Stab von Lehrern anzustellen. Gegeben wurde das übliche Programm von Vortragskunst, Instrumental- und Vokalmusik, Tanz, Fechten, Gymnastik. 1840 ließ sie schließlich ein kleines Theater für ihre Schüler mit knapp über 200 Sitzplätzen errichten, welches als Miss Kelly’s Theatre sich einen Namen und dem pädagogischen Engagement alle Ehre machte. Eine weitere private Schule wurde 1885 von Sarah Thorne in ihrem Theater in Margate gegründet. 4 Ihre Schüler wohnten bei ihr im Haus. Sie bekamen täglich Schauspiel- und Stimmunterricht sowie Kurse für Gestik, Mimik, „dialects and accents“ und Schminken. Das Programm war weniger auf sozial schwache Schüler ausgerichtet, als dies noch bei Fanny Kelly der Fall war. Es schloss selbstverständlich bei Eignung der Eleven deren Auftritte in Thornes Truppe ein, und die Unterrichtsgebühren von 20 Pfund für drei Monate und 30 Pfund für sechs Monate müssen als beträchtlich angesehen werden. Überwiegend besuchten daher Schüler wohlhabender Eltern diese Schule, sie waren im allgemeinen Kinder von Anwälten, Schriftstellern, erfolgreichen Schauspielern oder kamen aus der Aristokratie. Unter ihnen waren zukünftige Stars wie z.B. Irene von Violet Vanbrugh, Gertrude Kingston, Edward Gordon Craig, Ben Greet and Granville Barker. (McDonald 1989: 199f.) Sowohl Phillip Ben Greet, als auch Henry Irving und Ellen Terry sollen ihre eigenen Schulen unterhalten haben (Susi 2006: 17; zu Ellen Terry auch Bassnett 1991). Wolf-Dieter Ernst 204 2 Ein „wüstes und wirres Durcheinander“. Schauspielausbildung in den deutschsprachigen Ländern zwischen Akademie, Wandertruppen und privater Schule Es waren vor allem finanzielle Überlegungen, die an den deutschen Fürstenhöfen zur Gründung von Schauspielschulen führten. Schauspielschulen waren, wie Peter Schmitt in seiner Sozialgeschichte des Schauspielerstandes zeigt, nicht selten Versorgungseinrichtungen für Waisenkinder, die zudem eine billige Ressource für den Bedarf an Statisten der Haupt- und Staatsaktionen garantierten (Schmitt 1990). Entsprechend instrumentell, nämlich auf kalkulierten Einsatz finanzieller Mittel für einen Gewinn an Unterhaltung hin ausgerichtet, gestaltete sich der Unterricht an diesen Schulen. Der Ruf nach einer staatlichen Schauspielschule, worunter man vor allem eine konstante Finanzierung und rechtliche Verankerung als Schule verstand, wurde dabei ein aufs andere Mal erhoben, massiv etwa in den Revolutionsjahren 1848/ 49 (Ernst 2014: [im Druck]). Dabei hatten wir es in den Reformschriften der Revolutionszeit mit einer Vorstellung von Schule zu tun, wie wir sie in ihren Grundzügen auch heute realisiert wissen: Dreijährige Ausbildungszeit, Aufnahmetest, Eintrittsalter für Mädchen 14, für Jungen 16 Jahre, Verknüpfung von Theorie und Praxis, Studium der Geschichte, Literatur, Kunstgeschichte, Gesang, Körperschulung in Rollenstudium, Reiten, Fechten, Gymnastik. Das Pariser Konservatorium lieferte das Modell. Der Kunsthistoriker Franz Kugler, Mitglied der Königlichen Akademie der Künste in Berlin und später einer der führenden Protagonisten innerhalb des Ministeriums unter Ladenburg, besuchte in den frühen 1840er Jahren die Akademien und Konservatorien in Belgien und Frankreich, um sich ein Bild von der Organisation des Kunstwesens zu machen. Die Einrichtung einer zentralen Kunstbehörde und die Bewilligung der Mittel für eine staatliche Schauspielschule fanden jedoch keinen Zuspruch. Das hatte auch mit der defensiven Haltung der bereits etablierten Akademien für bildende Kunst und für Musik zu tun, die sich nicht recht mit dem Gedanken anfreunden konnten, die Schauspielkunst als eine der freien Künste zu akzeptieren. Erst 1874 wurde in München an der Königlichen Musikschule eine dramatische Klasse eingerichtet, die - anders als die bekannten Schulen von Max Reinhardt, Louise Dumont oder Leopold Jessner zu Beginn des 20. Jahrhunderts - nicht privat finanziert war, sondern volle staatliche Förderung genoss. Letztlich kam im Vormärz im Zuge der beginnenden Verstädterung und der Gründung zusätzlicher bürgerlicher Theater u.a. in Berlin (Königsstädtisches Theater), Dresden, München (Isartortheater) und in der Wiener Vorstadt der Privatunterricht bei Hof- und Stadttheaterschauspielern als Weg zur Bühne auf. Gestützt wird diese städtische Theaterkultur von zahlreichen Laien- und Liebhabertheatern. Es ist bezeichnend, dass vor allem lesekundige Beamtenanwärter, die auf Grund einer geringen horizontalen Durchlässigkeit lange auf ihre Berufung warten mussten, häufig den Weg zur Bühne suchten. Schauspieler kamen im frühen 19. Jahrhundert zur Hälfte aus Schauspielerfamilien selbst, zu rund einem Viertel aus dem ‚öffentlichen Dienst‘, worunter man sozial mobile Beamtenanwärter und Akademiker rechnen muss, so Schmitt. Schauspielausbildung und Charakterdarsteller im 19. Jahrhundert 205 5 1860 erschien in einer Auflage von 100.000 Exemplaren das erste illustrierte Journal Die Gartenlaube. Vorbereitet wurde diese Publikationsform durch das Verlagswesen und den Kolportagehandel, also den Vertrieb von dafür eigens hergestellten Büchern im Haus-zu-Haus-Geschäft. In den deutsprachigen Ländern entwickelt C.J. Meyer um 1826 dieses System. Zu 2,5 bis 7 Silbergroschen konnte man Bände der so genannten Miniatur- Bibliothek erstehen. Meyer verkaufte mehrere Hunderttausend Exemplare (vgl. Prinz 1978; ferner Sarkowski 1976). Brockhaus übernahm das Vertriebssystem für den Absatz seines gleichnamigen Konversationslexikons. Die erste Auflage erschien 1809 mit 2.000 Exemplaren, die fünfte Auflage (1818-1823) hatte bereits 32.000 Exemplare, nach Absatz der elften Auflage (1864-1868) waren 300.000 Exemplare verkauft zu einem Preis von 12 Taler und 15 Groschen für sechs Bände à 615 Bögen. Vgl. Eintrag ‚Medien‘. (Ungern-Sternberg1987: 392). 6 Vgl. hier für das Theater des 19. Jahrhunderts Balme 2006: 11-28; Leonhardt 2007; für das Wilhelminische Zeitalter Marx 2008. 3 Bildungsentwicklung und Bildungsbegriff im 19. Jahrhundert Die Bildungsentwicklung im 19. Jahrhundert steht in Deutschland unter anderen demografischen, sozialen und wirtschaftlichen Vorzeichen als im 18. Jahrhundert. Hier wären die Auflösung der Ständegesellschaft und die stufenweise Einführung der Gewerbefreiheit ebenso zu nennen wie das Wachstum der Bevölkerung. Beide Faktoren haben unmittelbaren Einfluss auf die Pragmatisierung der Bildungskonzepte im Vergleich zum 18. Jahrhundert. Der Anspruch ‚Bildung für alle‘ lässt sich unter den Konditionen, die von gesteigerter sozialer Mobilität und mit der Entstehung eines vierten Standes, des Proletariats, gesetzt werden, eben nicht in gleicher Weise in die Tat umsetzen, wie dies von den Pädagogen und Philosophen für die relativ stagnierende Gesellschaft des 18. Jahrhunderts prognostiziert werden konnte. Ebenso ist mit der Spezialisierung und Ausdifferenzierung beruflicher Tätigkeiten sowie der Entwicklung urbaner und industrieller Berufsfelder ein anderer Wissensbedarf zu verzeichnen, welcher sich vom Erfahrungswissen der Zünfte und dem Gelehrtenwissen der Lesekundigen des 18. Jahrhunderts unterscheidet. Als prägende Faktoren für den Wandel der Bildungskonzepte können letztlich die Medien der Bildung gelten, vor allem die Zunahme der Lesefähigkeit und des Lesekonsums 5 sowie die Zirkulation von Druckgrafiken. In diesem Zusammenhang müssen auch die Darbietungen in Theatern, auf Konzerten, Festen oder Jahrmärkten als Leistungen einer bürgerlichen Unterhaltungskultur erwähnt werden. 6 Der wohl wirkmächtigste Wandel im Bildungsbereich vollzog sich gegen Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit der Übernahme des Erziehungsmonopols durch den Staat. Wiewohl die Schulpflicht als Idee bereits seit dem Ende des 16. Jahrhunderts bekannt war (und die quantitative Einlösung erst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelang), ist mit der Gründung und Wiedereröffnung von Universitäten (Berlin 1810, Bonn 1818, München [Verlegung von Landshut] 1826) und der Reform der Volksschule wie auch über das von neuhumanistischen Ideen geprägte preußische Gymnasium (Abiturreglement von 1812/ 34), das Engagement im Bildungsbereich und die Organisation von Bildung durch den Staat unübersehbar (vgl. hierzu Jeismann 1987: 4ff.; Kraus 2008: 41f.). Seit 1810 nehmen beispielsweise staatliche Prüfungsämter in Preußen das Examen für Gymnasiallehrer ab. In Berlin wurde 1817 eigens ein Ministerium für Unterricht und Kultus geschaffen, ebenso wurde ein System von Provinzschulkollegien für die Schulaufsicht eingerichtet. In Österreich folgte die Einführung des Gymnasiums als Vorbereitung auf das Universitätsstudium 1850 durch den Kultusminister L. Graf Thun, etwas zurückhaltender war der Reformeifer in Bayern, was konfessionelle Vorbehalte gegen die neuhumanistische Ausrichtung auf alte Wolf-Dieter Ernst 206 Sprachen zur Ursache hatte (vgl. Kraus 2008: 42f.). Zeichnete sich also noch im 18. Jahrhundert in den Erziehungsdiskursen die Idee ab, dass über die Bildung der ‚Persönlichkeit‘ auf eine neue Staatsform hin assoziiert werden könnte, so kehrt sich die Tendenz der Entwicklung im 19. Jahrhundert um: Der Staat wird nicht gebildet, sondern er bildet als Schulherr selbst aus. Damit differenziert sich das humanistische Bildungsideal aus in - Bildung als Besitz - Bildung als Ausbildung - Bildung als Charaktererziehung Für die Schauspielausbildung und die Stellung des Schauspielers hat diese Ausdifferenzierung zur Folge, zum Spielball ganz unterschiedlicher Interessen im Spannungsfeld des Bildungsbegriffs zu werden. Gemäß Schmitts These von der ‚Aristokratisierung der Künstler‘ partizipieren einige Schauspieler an der Idee von Bildung als Besitz. Die Virtuosen, die sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts auf lukrativen Gastspielreisen befinden und ihre Villen etwa am Englischen Garten oder in der Stuttgarter Wilhelmina beziehen, stellen den möglichen sozialen Aufstieg und das gesteigerte Renommee des darstellenden Künstlers unter Beweis. Zudem hat jeder Schauspieler eine körperlich-stimmliche Ausbildung durchlaufen, sei es in Form von Schule und Unterricht oder durch das imitierende Lernen innerhalb der Wandertruppen. Schauspielerei ist - anders etwa, als das bei Komponisten oder Malern üblich ist - in besonderem Maße körperliche Arbeit, die der geistigen und theoretischen Durchdringung zuwider läuft. Letztlich steht der Schauspieler als Darsteller des Menschen im Zentrum sittlich-moralischer Erziehungsansprüche. Anders als in den abstrakteren Künsten der Malerei und der Musik scheinen sich künstlerischer Ausdruck und Lebensführung in der Schauspielkunst zu decken. Folglich werden die Idee und die Norm der Charaktererziehung unmittelbar auf die jeweilige schauspielerische Tätigkeit projiziert. 4 Der Fall Possart Ernst Possart ist ein besonders aufschlussreiches Beispiel, um die Schauspielerausbildung im 19. Jahrhundert zu beleuchten. Seine Aussagen über die mühevolle Kontrolle des Körpers und die zentrale Funktion der Stimme beim Erlernen des Schauspielhandwerks sind nicht gar so verschieden von denjenigen François Delsartes, wenn er sich auch nicht wie jener gegen die Konventionen der professionellen Darsteller auflehnt. Der 1841 in kleinbürgerlichen Verhältnissen in Berlin geborene Possart besuchte zunächst das preußische Realgymnasium. Zum Schulstoff zählten u.a. das öffentliche Rezitieren von Versen, etwa der Choral von Leuthen oder Lützkows wilde verwegene Jagd (Possart 1916: 4). Seiner Schulzeit folgte eine Lehre in einem Verlag für Kalender und Kunstdrucke. Man verlegte „ausgezeichneten Nachbildungen“ u.a. die Kupferstiche Eduard Mandels und Reyhers (Possart 1916: 14). Als entlaufener Lehrling kam er über Privatunterricht bei dem Hofschauspieler Wilhelm Kaiser mit 16 Jahren zum Breslauer Theater, wo er sich auf Anraten seines Agenten mit memorierten Nebenrollen einschlägiger Repertoirestücke vor dem Bühneneingang herumdrückte, um bei Ausfall eines Schauspielers schnell besetzt werden zu können. Der Plan ging auf, und über Stationen in Bern und Hamburg sowie eine Zeit beim Militär gelangte Possart schließlich in der 60er Jahren ans Münchner Hoftheater. Hier wurde Schauspielausbildung und Charakterdarsteller im 19. Jahrhundert 207 er Erster Hofschauspieler und brillierte im Charakterfach u.a. in den Rollen von Richard III, Narziss oder Manfred. Es folgten Engagements als Regisseur und schließlich als Hofintendant und Darsteller zahlloser Separatvorstellungen des Königs Ludwig II. 1874-75 bekleidete er zusätzlich eine Professur für Schauspielunterricht an der Königlichen Musikschule. 1916 schrieb der fast 75-jährige Schauspieler seine Biografie Erstrebtes und Erlebtes. Mit der Gelassenheit und dem Witz älterer Herren schaut er darin auf seine Kindheit und Jugend zurück. Die Biografie setzt 1850 mit seinem neunten Lebensjahr ein und zeigt uns Possart als verträumten Schüler: „Stundenlang hockte ich in der Klasse und hörte gar nicht, was sie miteinander verhandelten; meine Gedanken waren draußen; heute da, morgen dort, wo gerade etwas Besonderes vor sich ging […].“ (Possart 1916: 3) Diese Selbst-Schilderung als kleiner, verträumter Junge taucht nicht nur immer dann auf, wenn Possart einen körperlichen Kontrollverlust beschreiben möchte, der ihn während seines Aufstiegs in der gesellschaftliche Hierarchie überkam. Der beschriebene Kontrollverlust deutet auch darauf hin, dass das Ziel der Schauspielausbildung für Possart eng mit der Idee der Charaktererziehung verbunden war, wenn nicht gar ein Synonym dafür. Es geht ihm darum, heraus zu stellen, wie er den körperlichen Kontrollverlust überwand, indem er als Mann und als Schauspieler zu einem gefestigten Charakter erzogen wurde. Entsprechend schildert Possart seine Kindheit und Jugend als eine Phase, in der diese Charakterfestigkeit überhaupt noch nicht gegeben war. So erinnert er sich etwa an sein erstes Vorsprechen vor dem Hofschauspieler Wilhelm Kaiser wie folgt: Er trat auf mich zu, fasste meinen Arm und führte mich gelassen in das Nebenzimmer vor einen großen Wandspiegel. Schweigend deutete er hinein. Jetzt überkam’s mich mit erdrückender Schwere: Neben der imponierenden Figur des Mannes mit dem schönen, edelgeformten Kopf, - ein kleines rothaariges Geschöpf, linkisch dastehend, das eingeschüchterte Gesicht von Sommersprossen verunziert, - - - welch ein trauriger Gegensatz! Seine großen Augen sahen auf mich herunter: ‚Mit dieser Erscheinung wollen Sie doch keine Liebhaber spielen? ‘. (Possart 1916: 24) Sein erster Theateragent äußerte sich über Possarts äußerliche Erscheinung mit den Worten, sie sei wenig „appetitreizend“, Possart überprüfte dieses Urteil auf dem Heimweg mit Blick „in die großen Spiegelscheiben, die bis zur Erde reichten“ und musste „unwillkürlich seufzen“ (Possart 1916: 63). Seine Charaktererziehung umfasste auch die bürgerliche Rolle: Als er um seine spätere Frau Anna Deinet warb, ließ er sich von einem Freund als „Trottel“ titulieren und inszenierte sich „trotz sonstiger körperlicher Gewandtheit“ als „miserabler Tänzer“. „Fräulein, ich kann keinen Walzer tanzen, wir schmeißen sicher um.“ (Possart 1916: 231f.) Seine erste Audienz bei König Ludwig II (1864) führte gar zur Quasi-Hypnose, in die ihm sein linkischer Körper verfiel: Mir stockt der Atem. Als ich nach tiefer Verbeugung mich aufrichte, steht die majestätische Gestalt dicht vor mir; ich muss den Kopf in den Nacken werfen, um ihr ins Antlitz schauen zu können. Aber mein Blick vermag nichts mehr zu unterscheiden, denn zwei mächtige stahlgraue Augen, von dunklen Wimpern umrahmt, senken sich forschend in die meinigen und halten sie gefesselt. Wie erstarrt stehe ich; nichts schaue ich mehr als dieses strahlende Augenpaar; der König spricht schon mit mir; der leise Ton seiner Stimme klingt gütig; allein ich vermag die Worte nicht zu fassen; immer blicke ich gespannt in diese überirdisch leuchtenden Sterne. (Possart 1916: 206) Der Kontrollverlust des Körpers wird in der Autobiografie immer in Relation zum vermeintlich schöneren, gewandteren und mächtigerem Körper bereits gesellschaftlich und künst- Wolf-Dieter Ernst 208 lerisch etablierter Akteure beschrieben. Deshalb wohl kommt es zur wiederkehrenden Beschreibung von Szenen, in denen die angenommene Inkongruenz des eigenen Körperbilds im Spiegel und im Blick des Anderen überprüft wurde. Dieses Konzept der Charaktererziehung dominierte auch die körperliche Ausbildung zum Schauspieler, weshalb hier für methodische und pädagogische Experimente wenig Raum war. Es ist augenscheinlich, dass die gesamten Ausbildung Possarts, wie auch seine Tätigkeit als Lehrer in der dramatischen Klasse in der Königlichen Musikschule der Idee des disziplinierten Kraftkörpers unterstand. Wir finden Hinweise darauf, dass der Lehrplan neben dem Kurs „Gymnastik, Tanz und Mimik“ (Königliche Musikschule 1874/ 75: 15) - ab dem Schuljahr 1876/ 77 dann „Körperliche Ausbildung“ (Königliche Musikschule 1876/ 77: 30) genannt - und dem „Exercirunterricht“ (ebd.) auch schon einmal die Zimmergymnastik nach Daniel Gottlob Moritz Schreber (1808-1861) vorsah (Königliche Musikschule 1874/ 75: 18). Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, wie Possart seine erste ästhetische Erfahrung mit dem Theater, sein erstes ‚Theatererlebnis‘ schildert. Denn in dieser ersten phänomenalen Erfahrung - die bis heute Theatermacher und Theaterzuschauer je spezifisch zu beschreiben wissen - wird zugleich deutlich, dass Possart den disziplinierten Kraftkörper vor allem als Stimmkörper imaginierte. Er beschreibt diese prägende Erfahrung in seinem Bericht von einem Gastauftritt, den der bereits gestandene Schauspieler Wilhelm Kläger 1862 am Theater in Bern absolvierte. Kläger spielt die Schlussszene als Franz Moor in Schillers Räuber. Possarts Beobachtung jedoch lässt Klägers Auftritt zu einer Art Sängerwettstreit zwischen individueller Physis und Theatermaschine werden: [D]ie Ausdrucksmittel des erstaunlich begnadeten Darstellers waren noch nicht erschöpft. Hatte er bis jetzt die Ausbrüche der Wut immer noch mit lechzendem Grimm, mit mehr innerlichem Ungestüm als stimmlichem Aufwand bestritten, - hier, bei dem mitternächtigen Emporschrekken vom Lager: ‚Verraten! Verraten! Ausgespien aus Gräbern, losgerüttelt das Totenreich aus dem ewigen Schlaf‘ entfaltete Wilhelm Kläger zum ersten Male eine gewaltige Lungenkraft und die tosende Stärke seines Organs. Die Beichte von der grauenvollen Vision des jüngsten Gerichts, anfangs sich ihm mit lallender Zunge entringend, dann von Satz zu Satz unter konvulsivischen Zuckungen im Tone gesteigert, drang bei dem Verdammungswort des Weltenrichters: ‚Gnade jedem Sünder der Erde und des Abgrundes! Du allein bist verworfen‘, donnernd an unser Ohr. Doch immer noch hatte Kläger seine physische Kraft nicht voll ins Treffen geführt; erst als die wimmernden Dorfglocken das Herannahen der Räuber verkündeten, als das Schießen und Pfeifen der wilden Bande sich mit dem Krachen eingeschlagener Türen, dem Klirren zusammenbrechender Fenster und dem Heulen der Windsbraut zu einem Chaos von Gedröhn verbanden, erst da ließ der Künstler die Wucht seiner Stimmmittel restlos erklingen, und die Verzweifelungsschreie des totgeweihten Franz Moor überdrangen siegend, markerschütternd den Höllenlärm. (Possart 1916: 117f.) Die Stimme des Schauspielers wird hier deutlich mit mechanischer Kraft gleichgesetzt. Das Ideal ist tatsächlich ein Crescendo, welches die dramatische Finalspannung - den Untergang des Intriganten Franz Moor - akustisch einzulösen vermag und dabei gegenüber der mechanischen Musik der Theatermaschine, dem Schießen, Pfeifen, Krachen, Klirren und Heulen, obsiegt. Der musikalische Kontrast von Solo-Instrument und Begleitung ist ein durchaus gängiges ästhetisches Prinzip und für die Gestaltung eines Schlusses nicht unüblich. Doch geht es Possart hier um mehr, denn er schildert deutlich, wie sehr er zumal als junger Schauspieler von Klägers Körper eingenommen war. Seine gewaltige Lungenkraft, die Stärke seines Organs, die Wucht seiner Stimmmittel trafen „donnernd an unser Ohr“. Schauspielausbildung und Charakterdarsteller im 19. Jahrhundert 209 7 Eine ähnliche Ausnahmestellung, die Juliane Vogel für die Furorszenen in den Dramen des 19. Jahrhunderts nachgewiesen hat (vgl. Vogel 2002). Aber welcher affektive Körper wird hier beschrieben? Possarts Vokabular für affektive Prozesse ist über lange Passagen seiner Biografie durchaus begrenzt. Frauenkörper erscheinen bei ihm mit anreizenden Flechten, die über den Nacken fallen, er selbst beschreibt sich überwiegend als gefasst oder um Fassung ringend. Hier aber ist plötzlich von einem Körper in „konvulsivischen Zuckungen“, von „lallender Zunge“, von „Verzweifelungsschreien“ die Rede. Es ist nicht abwegig, sich diesen Körper Klägers als affektive Ausnahme einer Regel vorzustellen, die für Schauspieler einen wohlgestalteten und kontrollierten Körper vorschrieb. 7 Diese Regel war jedoch nicht in der literarischen Figur des Franz Moor begründet. An vielen anderen Stellen bespricht Possart mögliche Rollenauffassung in normativer Weise, kritisiert Ungenügen und Abweichungen von der ‚einzig möglichen und regelhaften Art und Weise‘, eine Rolle zu spielen. Nicht so an dieser Stelle im Text, da das akustische Erlebnis einer Resonanz von Klägers Organ in Possarts Ohr im Vordergrund steht. Die Regel, die hier mit Klägers Stimmeinsatz vorgeführt wird, war auf der Ebene von Bildung als Besitz angesiedelt. Possarts Faszination galt weniger der dargestellten Figur Franz Moor, als der Tatsache, dass der Schauspieler Kläger vorführte, was man mit Bildung als Besitz bewirken konnte. Es ist dabei wichtig, zu bedenken, dass Kläger seinen Stimmeinsatz in einer Hauptrolle zeigte. Der Hauptrolle und besonders der Heldenszene kam innerhalb des Theatermodells zur Zeit Possarts die Funktion zu, den Besitz zu demonstrieren. Wer die Hauptrolle besaß, verfügte über größeren Redeanteil als dies in Nebenrollen der Fall ist. Die Rolle war zudem von höherem Schwierigkeitsgrad, was in der Wendung „man gehe unter oder siege darin“ in den Erinnerungen des Schauspielers Possart zum Ausdruck kommt. Daraus folgt auch, dass der Schauspieler in einer Hauptrolle den dafür nötigen Stimmkörper besitzen, d.h. ihn bei maximaler Kraftanstrengung zu kontrollieren fähig sein musste. Deshalb wurden Hauptrollen nicht an Nachwuchsschauspieler und nicht an ältere Schauspieler ausgehändigt. Welchen Energieaufwand es den Schauspieler aber kostete, sich auf der vorgeschriebenen Bahn und innerhalb des Modells der Charaktererziehung zu bewegen, wird erst deutlich, wenn Possart in seiner Autobiografie auf seine Faszination für die Abweichungen zu sprechen kommt. In keiner Passage wird dies anschaulicher als in der sehr ausführlichen Schilderung von Clara Zieglers erstem Engagement als Jungfrau von Orleans in Breslau, ein erster kurzer Auftritt, welchen der junge Possart hautnah miterlebte. Die Erzählung wird ähnlich dramatisch gestaltet wie der Auftritt Klägers. Von einer „jungen Debütantin“ ist die Rede. „Erst 18 Jahre alt, und doch so hoch aufgeschossen, dass sie mit ihrer dünnen Figur fast um Kopfeslänge hinausragte über alle unsere Heldenspieler,“ so wird ihr Körper exponiert, um sodann die Fragen zu kolportieren, die im Ensemble gestellt wurden: „‚Jungfrau von Orleans? Das junge Ding da? ‘ - ‚Nun, wenn das Organ so groß ist, wie die Figur? ‘“ (Possart 1916: 94) Es folgt eine ausführliche Beschreibung der ersten Probe, in der Ziegler überzeugen konnte. Sie verfügte über ein breites Tonspektrum, sprach mit „ehernem Organ“, in einem „Strom von Wohllaut, dem zarten Körper kaum zuzutrauen“, in „[g]ewaltigen Tonwellen, immer mächtiger anschwellend, ohne jemals in wüstes Geschrei auszuarten.“ (Possart 1916: 95) Wolf-Dieter Ernst 210 8 So beschreibt Possart Clara Zieglers Auftritt als „sirenenhaft“. Die sexuelle Konnotation einer sich ergießenden Stimme, welche ein ganzes Haus verführt, ist für dramaturgische Texte des 19. Jahrhunderts und insbesondere auch für Beschreibungen der Wirkung der Schauspielerin Charlotte Wolter in ihrer Wiener Zeit bereits eingehend dargestellt worden (vgl. Balk 2001: 35ff. sowie 207ff.; ferner Vogel 2002: 277ff; Wiesel 2001 und Bassnett et al. 1991). 9 Als „Jungfrau in Waffen“ interpretiert Claudia Balk diese Körperlichkeit der Clara Ziegler (Balk 1994: 12-59). [D]a wimmelte es in den Kulissen des Theaters von staunenden Zuhörern. Mit aufgerissenem Aug’ und Mund schauten sie auf die Szene, immer näher und näher rückend, Künstler wie Theaterarbeiter, die Scharen von Kindern, die beim Krönungszug mitwirkten, und die Bühnenmusiker, ihre Instrumente in der Hand; aus allen Ecken hatten sie langsam sich aufgemacht, von diesem wundersamen Organ angelockt, das aus der Brust des schmächtigen Kindes kam. 8 (Possart 1916: 96) Clara Ziegler, die hier in der Probe überzeugen konnte, wurde jedoch in Breslau nicht weiter engagiert. Die Direktion fürchtete, so Possart, dass ihr Organ „die künstlerische Linie überschritt“ (Possart 1916: 99), und Possart findet in seiner Erzählung Gründe, die Bedenken zu rechtfertigen. Er erwähnt die konservative Haltung des Publikums einem Neuling gegenüber, die Gefahr, die junge Clara Ziegler könne bei einem Durchfall in der Rolle ihre Karriere gefährden. Lediglich die Tatsache, dass der Direktor eine Umbesetzung der Ziegler verfügte, ohne sie persönlich gesehen zu haben, empfindet er rückblickend als Willkür. Dieser Willkür aber könne man abhelfen. Die Einführung von Examen, staatlichen Schulen und Prüfungsbehörde könnte hier Einhalt gebieten. Denn [d]as Theater ist ein Staat im Kleinen; allein diesem Staate fehlt die beschworene Verfassung, die sein Oberhaupt verpflichtet, nach bestimmten Grundsätzen die Fähigkeiten der Untergebenen zu bewerten und danach ihnen den gebührenden Wirkungskreis einzuräumen. (Possart 1916: 99) Diese Erzählung macht deutlich, wie sehr Possart die Regeln verinnerlichte. Wider seine eigene Faszination für die Darstellung von Clara Ziegler, wider seinen Gerechtigkeitssinn verteidigt er die Vorschrift, der gemäß eine Charakterrolle nur derjenige sein Eigentum nennen durfte, der über einen der Norm entsprechenden (d.h. männlich kodierten) Kraft- und Heldenkörper verfügte. Clara Zieglers Verfehlung bestand nun allein darin, über einen Stimmkörper für die Heldenrolle der Jungfrau zu verfügen, dem kein normierter physischer Körper entsprechen mochte: Sie war schlicht als Frau und Anfängerin zu groß, stand nicht in wohl proportioniertem Verhältnis zu den gestandenen Helden im Ensemble. 9 Man liegt sicher nicht falsch, wenn man die frühe Prägung, der Possart im Berlin nach der Revolution unterlag, als bürgerlich-konservativ bezeichnet, was eine ungebrochene Einstellung zu den Repräsentanten in Staat, Politik und Kirche einschloss. Er war Teil einer kleinbürgerlichen Schicht, die von den Jahren der so genannten Gründerzeit profitierte, wie letztlich auch Possarts gesellschaftliche Stellung als Theatermann gegen Ende des Jahrhunderts mit einer ungewohnten gesellschaftlichen Akzeptanz und lukrativen Geschäftigkeit als jenen Vorzeichen zusammenfielen, unter denen in dieser Zeit Theaterunternehmungen standen. Die dramatische Charakterrolle konnte also von Possart als Synonym für ein bürgerlich-konservatives Lebenskonzept interpretiert werden, in welchem Bildung den Besitz einer gesellschaftlichen Elite darstellt. Dabei fungierte der dargestellte Charakter zugleich als Kulminationspunkt, um die divergierenden Konzepte von Bildung - der Besitz, die Ausbildung und die sittlich-moralische Erziehung - gleichsam auf eine Figur und einen Körper zu beziehen. Es wundert nicht, Schauspielausbildung und Charakterdarsteller im 19. Jahrhundert 211 10 „Der Schauspieler soll uns ein Muster der Aussprache sein. Von seiner Aussprache dürfen wir daher mit Recht die Entfernung aller störenden, unorganischen Elemente fordern. Diese ist aber nur durch eine allseitige Unterwerfung des Materials, d.h. des artikulirten Tons möglich. Der erste Gegenstand dieser Disziplin, welche die Kunst des dramatischen Vortrags zu ihrer höchsten Aufgabe hat, ist mithin, auf die Bildung der Elemente, der Consonanten, Vokale und Diphthongen zurückzugehen und sowohl ihr inneres Verhältnis zu einander, in Bezug auf den Tongehalt, als ihre vollgültige, reine Aussprache und ihre Bedeutsamkeit für eine Kunst der Rede zu entwickeln und praktisch zu machen. Hier darf dem Individuum Nichts erlassen werden; auch der geringste Mangel muss gründliche Abhülfe finden.“ (Rötscher 1848: 10) 11 „Rein ist die Aussprache, wenn sie keinen Anklang an eine Mundart (Dialect) hat.“ (Benedix 1870: 6) dass dieses Ideal eines disziplinierten und selbst im Untergang standfesten Charakters zur Projektionsfläche nationalstaatlicher Interessen wurde - gerade, weil die staatliche Einheit in Deutschland lange nicht zu haben war. Die zum Nationalcharakter erhobene Idee umfasste den Körper, die Stimme und die Sprache gleichermaßen. Nicht von ungefähr sieht etwa der Theaterreformer Heinrich Theodor Rötscher die Bühne als den Ort an, an welchem sich das Hochdeutsch als Nationalsprache durchsetzen müsse. 10 Der Katechismus der Redekunst von Roderich Benedix beginnt mit dem Abschnitt zur „Reinheit und Deutlichkeit der Aussprache“ 11 (Benedix 1870: 6). Und Possart fordert die körperliche Normierung des Schauspielers. Er müsse über „gerade Gliedmaßen und normale Gesichtszüge“ (Possart 1901: 7) verfügen. Eine „eingedrückte Nase“ ließe sich noch durch eine „künstlich aufgeklebte geradlinig“ machen. Ein Gesicht mit „einer zu dicken oder auch zu stark gekrümmten Nase“ ist nicht zu gebrauchen, weil „wandlungsunfähig“ (Possart 1901: 7). Wie die Anekdote um Clara Zieglers Auftritt in Breslau zeigt, trug die Normierung der Schauspielausbildung im 19. Jahrhundert aber auch bereits jene intrinsische Spannung in sich, die sich dann in der Theaterreform um die Jahrhundertwende in unterschiedlicher Weise Luft machte. Die Proliferation der Lehren Delsartes über Genevieve Stebbins und Isadora Duncan nach Berlin und Darmstadt, oder über Jacques-Dalcroze nach Dresden-Hellerau war - wie zu zeigen war - auch ein Produkt eines Reformstaus, der sich zwischen dem Bildungsideal der Charaktererziehung des 18. Jahrhunderts, einer demografisch gewandelten Bildungsrealität im 19. Jahrhundert und dem Versagen des Staates ergab, seinem Anspruch einer staatlichen Erziehung mit der Einrichtung staatlich geförderter Schauspielausbildungen Folge zu leisten. Literatur Balk, Claudia 1994: Theatergöttinen. Inszenierte Weiblichkeit. Clara Ziegler, Sarah Bernhardt, Eleonora Duse, Basel: Stroemfeld/ Roter Stern Balme, Christopher B. 2006: „Die Bühne des 19. Jahrhunderts: Zur Entstehung eines Massenmediums“, in: Mennemeier et al. 2006: 11-28 Bassnett, Susan & Muchel R. Booth, John Stokes (eds.) 1991: Sarah Bernhardt, Ellen Terry, Eleonora Duse. Ein Leben für das Theater, Weinheim, Basel: Quadriga Benedix, Roderich 1870: Katechismus der Redekunst. Anleitung zum mündlichen Vortrage, Leipzig: Weber Brockett, Oscar G. 3 1977 (1968): History of the Theatre, Boston, London, Sydney, Toronto: Allyn and Bacon Ernst, Wolf-Dieter 2014: „Nationalerziehung und Öffentlichkeit. Die Kontroverse um die Einrichtung einer staatlichen Schauspielschule 1846-1848“, in: Wagner (ed.) 2014: [im Druck] Friedel, Johann 1781: „Philantropin für Schauspieler“, in: Theater-Journal für Deutschland, 18. Stück, Gotha: Ettinger, 15-27 Heeg, Günther 2000: Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Sprache und Bild im Theater des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a.M., Basel