eJournals Kodikas/Code 34/1-2

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2011
341-2

Streitgespräch: Intentionalität und intervenierende Störung im Talkshowgespräch am Beispiel ANNE WILL – Benedikts Schweigen

2011
Ulf Harendarski
Streitgespräch: Intentionalität und intervenierende Störung im Talkshowgespräch am Beispiel ANNE WILL - Benedikts Schweigen Ulf Harendarski After a brief introduction of current concepts of conversational dispute and its difference with conflict in conversational analysis the article expands the analytic field to include the concept of le différend / Widerstreit. Because a political talkshow can be interpreted as a system, this article will assume the effect of meta-intentionality. This meta-intentionality has a wider dimension than a single mental state or purpose of a speaker’s action in a single turn. Speakers are seen as co-authors of one single product the talk show. Although they are giving the impression of interaction, they are simply co-producing elements such as coherent signs rather than single turns in the game of turn taking. The analyzed example shows three speakers acting under one meta-intentionality, producing one turn, one meta-action as one co-production of elements like coherent textual signs despite the fact that classical turn-taking is apparent. 1 Einleitung Der folgende Aufsatz wildert thematisch und methodisch teils im Revier der kritischen Diskursanalysen, 1 ohne selbst eine Diskursanalyse zu sein. Daher wird auch nicht außerhalb der behandelten Sendung nach ihren Bedingungen gesucht wie in Macht, Machtwirkung usw. Der Ansatz ist prozessorientiert und sieht den zu untersuchenden Aspekt im Verlauf und der Entwicklung des Medientextes Talkshow selbst. Um den semantischen Relationen einer programmatischen Einzelsendung einer Polittalkshow nachzugehen, wird sie in ihrer Gestalt als Text mit eigener semantischer Dimension begriffen. Grundlage dafür ist eine bestimmte Richtung der Pragmatik, die sich in der Nachfolge von Charles Peirce und Robert B. Brandom Pragmatizismus 2 nennt, um sich von der Pragmatik im engeren Sinne nochmals leicht abzugrenzen. Der Pragmatizismus sieht zwei Handlungskonsequenzen: sprachliche Anschlüsse als Äußerungen, die auf Äußerungen folgen und andere sozialpraktische Handlungen, die auf Äußerungen folgen. Anders als die klassisch gewordene linguistische Pragmatik geht er nicht von der Basis einer gar mentalen Sprecherintentionalität aus, sondern verankert Intentionalität ganz und gar in Soziopraktik. Nachzuweisen ist derlei nur, wenn semantische Tiefenstrukturen von Äußerungen bestimmt und Anschlusshandlungen im Sinne dieser Gliederungen als rationale Konsequenz dargestellt werden können, eine positive, reine Form des Zeichens vor dem Prozess, der Semiose, kennt er nicht, er kennt Zeichen immer bloß als Prozess. Der diskursanalytische Positivismus 3 hingegen nimmt die reine, materiale Positivität der Aussage und verortet sie im Diskurs, um ihrer Semantik in Relation zum Diskurs auf die Spur zu kommen. Dennoch sind einzelne der nachfolgenden Beobachtungen durchaus kompatibel mit diskursanalytischen. Aber die Größe Diskurs als den aktuellen Text K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 34 (2011) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Ulf Harendarski 92 hierarchisch überlagendernde, kraftvoll mitbestimmende Superstruktur im Sinne der kritischen Diskursanalysen ist vom pragmatizistischen Standpunkt aus einfach nicht bestimmbar. Der Pragmatizist müsste sich außer Stande sehen zu sagen, was das ist, der Diskurs als ordnendes, machtdynamisches Gebilde, das die je kulturellen Sagbarkeiten umgrenzt. Wohlgemerkt, er leugnet den Diskurs als semantisch übergeordnet nicht, er weiß im Rahmen seines Ansatzes diesen nur nicht zu bestimmen, das bedeutet aber keineswegs, er müsste sich der Kritik enthalten. Der Pragmatizist betrachtet die Ebene des Äußerungsereignisses selbst als begriffs-holistisch tief, als vertikal inferentiell durchgliedert, d.h. er geht von einem Zuschreibungsspiel von Bedeutung, Intentionalität und zugewiesener Sprecherautorität aus. Er analysiert die Äußerung in soziopraktischer Situation und nirgendwo sonst. ‘Streitgespräche’ in inszenierten, künstlich herbeigeführten Situationen medialer Formate eines Programms des öffentlichen Fernsehens wie der politisch-thematischen Talkshow sind ein recht breit untersuchter und doch schwierig zu behandelnder Gegenstand. Problematisch ist bereits, ob es sich hier gewöhnlich überhaupt um einen Gesprächstyp handelt, der sich in analoger, wenigstens interpersonal vergleichbarer Konstellation in jedem gewöhnlichen Alltagsstreitgespräch zwischen - vor allem - zwei Dialogpartnern wiederfindet. 4 Die dritte Instanz Öffentlichkeit einerseits, Künstlichkeit der Situation und nicht am unmittelbaren Gegenüber orientierte Intentionalität führen zu noch zu erfassenden Verschiebungen. Daher soll hier eine handlungstheoretische Modellerfassung der besagten Situation am Beispiel der im öffentlich-rechtlichen Rahmen der ARD 5 ausgestrahlten thema-fokussierten Polittalkshow “ANNE WILL. Benedikts Schweigen - Sind wir noch Papst? ” vom 11. April 2010 6 partiell untersucht werden. Anhand der Unterscheidung von Streit und inszeniertem Streit soll sich ein Ansatz anbahnen, der die typologische Erfassung des spezifisch inszenierten Gesprächstyp im Medium Fernsehen erleichtert. Dazu wird der Begriff Intentionalität im Verständnis des aktuellen Pragmatizismus benötigt, der für diesen Aufsatz nicht gleichbedeutend mit Bewusstsein sein soll und der auch nicht kausalistisch interpretiert wird. Es wird vermutet, dass die Performanz medienspezifisch ist. Hartz et. al. meinen gar, dass Äußerungen in den Massenmedien im Wesentlichen auf die Logik des journalistischen Feldes und deren Aufmerksamkeitsökonomie zugeschnitten seien (Hartz/ Karasek/ Knobloch: 5), gehen aber kaum auf die Frage ein, ob Interaktanten in Gesprächssituationen derlei kontrollieren oder den jeweiligen Rahmenbedingungen unterworfen sind, ohne sich dessen ausreichend bewusst sein zu können. Im Folgenden wird vielmehr davon ausgegangen, dass Intentionalität auf den medialen Rahmen der Performanzen bezogen ist. Die Relation der Äußerung befindet sich also in diesem Quadrat aus Intentionalität, Performanz, Obejektbereich und medialem Rahmen. Auf dem Weg dorthin müssen sowohl die Begriffe ‘Streitgespräch’ und ‘inszenierte Oralität’ als auch ‘Intentionalität’ und ‘Gesprächsschritt’ auf ihre Anwendbarkeit geprüft und im Falle des Gesprächsschrittes einer Anpassung unterzogen werden. Der Vorschlag ist: Analytischer Wechsel zur Rezeptionsperspektive, daher ‘Gesprächsschritt’ als eine abgrenzbare Teilsequenz Handlung-Folgehandlung interpretieren, klar unterschieden vom Redezug und mit dem deutlichen Mehrwert, Einwürfe bzw. “intervenierende Störungen” als semantisches Störfeuer zu identifizieren. Dagegen spricht natürlich die Kontinuität gesprächsanalytischer Begriffsdefinitionen und deren Übertragbarkeit auf das Feld der Medienanalyse, und es lässt sich die damit verbundene, zwangsläufige Fokussierung des Gesprächsschrittes auf die Moderatorfunktion monieren. Als Gesprächsschritt bliebe womöglich nur übrig, was (im vorliegenden Beispiel) durch die Moderatorin initiiert wird. Die GesprächsteilnehmerInnen werden hier nun als kollektive Textproduzenten verstanden, Streitgespräch: Intentionalität und intervenierende Störung 93 die einer überspannenden Textintentionalität unterworfen sind. 7 Aus dieser Sicht und der Zuschreibung einer Meta-Intentionalität (“General-Intention”) 8 bahnen sich derart semantische Analysen an, die nicht in der Dialektik von Gemeintem und Gesagtem verharren und die die Trittbrettfahrerei dieses Sendungstyps auf den Wagen aktuell öffentlicher Diskurse nicht aus dem Gesagten rekonstruieren müssen, sondern die Sendung insgesamt als spezifische Bezugnahme zu jeweiligen Diskursen akzeptieren dürfen, ganz wie die Kritische Diskursanalyse dies vorsieht. 9 Um den Komplexitätsgrad nicht zu sehr anwachsen zu lassen, wurde auf Hinzuziehung multimodaler Relationen wie Gestik und Mimik, Kameraführung usf. weitgehend verzichtet, ein wichtiges Argument zur Unterstützung der These einer umspannenden Textintentionalität damit aber vernachlässigt. 2 Streitgespräche - Streitgespräche im Fernsehen ‘Streitgespräch’ als Determinativkompositum wäre ein weiterer Typus neben Verkaufsgesprächen, Beratungsgesprächen und all den Gesprächen, die durch Adjektive genauer spezifiziert werden wie informelle Gespräche und andere. In der nicht-gesprächsanalytischen Literatur und im Alltag ist ‘Streitgespräch’ ein Synonym für Disput. Gesprächsanalytische Literatur hat sich auf eine solche Synonymie nicht eingelassen. Vielmehr werden Streitgespräche als charakteristische Sequenzen unterschiedlicher Größenordnung zumeist eingebettet in eine Gesprächsmakroumgebung verstanden. Im Unterschied zu vielen anderen Gesprächstypen sind sie nicht an soziale Konstellationen als spezifische Settings gebunden. Aus jedem Gespräch kann prinzipiell aber mit unterschiedlicher Wahrscheinlichkeit ein Streitgespräch werden. Eine klare Definition des Streitgesprächs nach sozialen Situationsmarkern ist also schwierig. Streitgespräche sind nicht in gleicher Weise kooperativ wie andere Gesprächsarten. Wenn nun aber Gespräche zu Streitgesprächen werden können, so böte sich an, zu ihrer klaren Differenzierung rein formale Kriterien heranzuziehen (Intonation und Artikulation, spezifische Arten des Sprecherwechsels unter formal erkennbarer Missachtung kooperativer Regeln der Rederechtsübernahme reichen vermutlich bereits aus), womit Streitgespräche eigentlich Streitphasen mit spezifischen Sequenzmustern im Unterschied zum Umgebungsgespräch sein müssten. Das ist zwar bis zu einem gewissen Grad der Fall, problematisch werden die rein formalen Kriterien aber bei klarer Identifikation von Streitphasen in medial inszenierten Streits, da sie keine klare Differenzierung zulassen, ob ein Streit echt ist oder nur vorgeblich präskriptiven Streitmustern gefolgt wird. Hier werden eher semantische Aspekte heranzuziehen sein, die sehr wahrscheinlich in Relation zu aktuellen Diskursen stehen. Nachfolgend soll gelten: Streit ist ein kommunikatives Konzept. Sobald in einem Konflikt mit z.B. diskursiven und/ oder situativ, medial-institutionell gesetzten Konfliktlinien semantische Objekte Fokus der Auseinandersetzung werden, wird der Konflikt zum Streit. Sowohl Gruber (1996) als auch Spiegel (1996) grenzen Streit und Konflikt voneinander ab. Während aber Spiegel konsequent von Streit spricht, geht Gruber trotz des Titels Streitgespräche seines Buches eher zur Analyse von Konfliktkommunikation über. 2.1 Konflikt Im Konflikt geht es um unmittelbar ausgetragene Spannungen, die kein semantisch artikuliertes oder auch nur artikulierbares Objekt haben müssen, obwohl Wertvorstellungen, Interessen Ulf Harendarski 94 oder Zielsetzungen zentral sein können. Konflikte zwischen Nachbarskindern z.B. können einfach wegen räumlicher Nähe oder wegen Rollenansprüchen bestehen. Zum Konflikt gehört ein Spannungsverhältnis, bei dem die Stärke der Konfliktparteien ausgewogen scheint. Erst in akuter Auseinandersetzung zeigen sich die wirklichen Kraftverhältnisse. Konflikte können schwelen, unmittelbares oder sogar bewaffnetes Geplänkel sein, ohne dass sich die allgemeine Einschätzung der Kraftverhältnisse ändert. Der Konflikt kann kontinuierlich weitergehen und sich in gelegentlichem Auf-Die-Nase-Hauen artikulieren. Konflikt kommt von (lateinisch) fligo her, was schlagen, drauf schlagen oder zu Boden schlagen meint. Konfligieren meint einander schlagen, erst in der Hebung auf eine höhere Abstraktionsebene wird es zum unvereinbaren ‘Widerstreit’, als dessen unmittelbare Übersetzung es weithin gilt. Konflikt aber ist in Streit oder andere Konfliktformen überführbar, der durch J.-F. Lyotard geprägte ‘Widerstreit (différend)’ hingegen nicht. Daher ist es sinnvoll, Konflikt als Oberbegriff für Streit und Widerstreit anzusetzen. Ein Konflikt besteht in vagen oder konkreten Vorstellungen darüber, was sein soll und nicht ist. Anders als beim Streit muss dies aber gerade kein von den Konfliktparteien abgelöster semantischer Gehalt sein, sondern kann im Wunsch bestehen, die andere Partei als Konfliktakteur zu eliminieren, was u.a. durch massive Schwächung des Gegners geschehen kann, so dass dem künftig die Potenz zum Konflikt fehlt. Im rohen Konflikt richtet sich eine etwaige propositionale Einstellung (Wunsch) auf die Potenz des Gegners, um einen Sachverhalt anderer Art muss es nicht gehen. Häufig taucht im Zusammenhang mit Konflikt auch der Terminus Konfliktlösung auf, bei dem die Absicht friedlicher Beilegung des Konflikts in den Vordergrund rückt, beispielsweise durch Gespräche. Wenn Konflikt aber eher Oberbegriff ist, so lassen sich ihm Konfliktlösungsgespräche und noch weitere Begriffe unterordnen. Wohlgemerkt, Konflikt in seiner rohen Form muss kein semantisches Objekt haben, da er unkooperativ ist. Aber er kann Anlass sein, kooperative Lösungsversuche zu suchen. 10 Im Falle der untersuchten Talkshow ist eher von kommunikativ ausgetragenem Konflikt zu sprechen (Gruber 1996: 70), gelegentlich auch von Streit, aber die unmittelbaren Teilnehmer suchen offensichtlich nicht nach Konfliktlösungen. Konfliktlösungen und Konfliktlösungssuche als Gesprächssubtypen sind medial wohl eher uninteressant, wenngleich freilich nicht ausgeschlossen. 2.2 Streiten Streit hingegen kann über das Kommunikationsverb streiten verstanden werden. Streiten motiviert morphosemantisch eher die Konversion zum Substantiv als umgekehrt. Denn während das Substantiv nur impliziert, es streiten Parteien oder Aktanten, setzt vor allem das reflexive Verb die Nennung von Aktanten in Präpositionalphrasen voraus (wer streitet sich mit wem worüber), solange es um den hier interessanten Streit als aktuale Kommunikationsform geht. Bei sprachabhängiger Analyse der sozialen Konstellation ist das Verb also expliziter als das Substantiv. Es könnte aber z.B. auch mit Adverbialphrase lauten: - “Peter streitet gern” 11 Explizit lautet die semantische Struktur folglich: - jemand streitet sich - mit jemandem (Präpositionalphrase1 - zugleich Hörer/ Empfänger der sprachlichen Handlung) Streitgespräch: Intentionalität und intervenierende Störung 95 - um/ über etwas (Präpositionalphrase2) - evtl. Satzergänzung eingeleitet mit ob oder wie (und anschließender vollständiger Proposition) 12 Formuliert lautet die Bedeutung: Eine Meinungsverschiedenheit mit jemandem austragen. 13 Dies umfasst wechselseitigen Austausch von satzwertigen Äußerungen mit propositionalem Gehalt, wobei kontroverse Einstellungen zu diesem Sachverhalt erkennbar Gegenstand sind. 14 Als Ziel gilt dabei, den eigenen Standpunkt durchzusetzen. Hier ergibt sich auch gleich ein zentrales Kriterium für die Charakterisierung des inszenierten Streits als eigens zu differenzierende Streitgesprächsform: Die Aktanten wollen oder müssen ihren Standpunkt nicht beim unmittelbaren Gegenüber durchsetzen. 15 Kommunikativ ausgetragene Konflikte können sich an (subjektiv erlebten und thematisierten) Normenverstößen von Gesprächsteilnehmern in drei globalen Bereichen (Weltwissen, Rollenbeziehungen und Regeln der Gesprächsorganisation) entzünden (= inhaltliche Merkmale). Diese Verstöße können entweder innerhalb oder außerhalb der aktuellen Situation auftreten. Zu einer dissenten Sequenz (d.h. zu einer Interaktion, in der eine Lösung des Konflikts auch potentiell möglich ist) kann es nur nach dem Durchlaufen einer Eingangsphase kommen, die mehr als zwei aufeinanderfolgende Sprechhandlungen umfasst. Dissente Sequenzen sind durch eine spezifische Diskursorganisation gekennzeichnet, die v.a. die Bereiche der Präferenzorganisation und das System des Sprecherwechsels betrifft (= formale Merkmale). Inhaltliche und formale Merkmale der DS-Organisation ermöglichen einen Rückschluß auf Art und Ausmaß der Kooperativität bei der Konfliktaustragung. Das Auftreten von Emotionen in dissenten Sequenzen ergibt sich zwangsläufig daraus, daß in ihnen gegensätzliche Handlungen und Ziele verfolgt werden (Gruber 1996: 81). Allein kommunikativ ausgetragenen Konflikte werden im Folgenden als Streitgespräch aufgefasst, weil damit bei der Medienanalyse leichter zwischen grundsätzlich vorhandener konfliktärer Situation und semantischer Streitsequenz differenziert werden kann. Streitanlässe und Streitphasen im Medium zeigen sich dann etwas anders organisiert als im dialogischen, nicht-öffentlichen Gespräch. 2.3 Streiten im Medium Streitgespräche sind bestimmte Formen des Ausagierens von Auseinandersetzungen mit semantischen Bezugsrelationen, Streitparteien haben in Bezug auf Streitobjekte nicht zwangsläufig Lösungs-, Entscheidungs-, oder überhaupt Diskursmacht (s.u.). Streiter im Medium Fernsehen fungieren als Aktanten, die diskursive Aspekte kontrovers formulieren können. Sie müssen tatsächlich aber nicht sozial als Subjekt eines Diskursstranges verortet sein, sie können so genannte Experten oder auch nur irgendwie bekannt sein. 16 Mehr als bei anderen Gesprächstypen ist das Streitgespräch also sehr wahrscheinlich der Ort eines Diskursfragmentes mit suprasententialen Strukturen, sofern übergeordnete Prämissen zur Disambiguierung genutzt werden müssen (siehe das Spülmaschinenbeispiel unten), wobei Streit aber auch allein mit Bezugnahme auf unmittelbare Sachverhalte geführt werden kann. Das hier zum Gegenstand gemachte Gespräch der Sendung ANNE WILL ist insgesamt mit den übergeordneten Diskursen zum Zölibat und dessen “feudalen Strukturen” (provokant sogar mehrfach als “diktatorisch” bezeichnet) in der Organisation der katholischen Kirche ein exemplarischer Fall derartiger, übergeordneter Bezugsrelationen. Ulf Harendarski 96 Vor allem sorgt dieser Typus der politischen Talkshow insgesamt eher für die nötige Identifikation des Zuschauers mit Personen, Standpunkten und Rationalitäten, als dass er aufklärerisch wäre. Mouffe meint, das Politische der Demokratie wie anderer politischer Systeme sei grundsätzlich geprägt durch Antagonismen von Wir-Sie-Relationen, die auch in der Demokratie nicht auflösbar, sondern konstitutiv seien. Demokratie müsse vielmehr Raum für agonistische Kämpfe und Identifkation bieten. Im agonistischen Kampf steht die Konfiguration der Machtverhältnisse selbst auf dem Spiel, um welche herum die Gesellschaft strukturiert ist: Es ist ein Kampf zwischen unvereinbaren hegemonialen Projekten, die niemals rational miteinander versöhnt werden können. Die antagonistische Dimension ist dabei immer gegenwärtig, es ist eine reale Konfrontation, die allerdings durch eine Reihe demokratischer, von den jeweiligen Gegnern akzeptierten Verfahrensweisen reguliert wird (Mouffe 2007: 31). Der im politischen Talk inszenierte Streit bietet alle Aspekte dieses Agonismus bis auf den einen tragenden: eine Machtkonstellation verändernde Entscheidung hinsichtlich des diskutierten Feldes kann nicht getroffen und mit sehr großer Wahrscheinlichkeit auch nicht angebahnt werden. Wenn eine Demokratie durch den inszenierten medialen Streit etwas gewinnt, dann muss der Gewinn anderswo liegen. Ein bekannter Streit unserer Tage findet im Privaten statt - es geht um das Spülmaschinenbeispiel. An ihm lassen sich je nach Konstruktion unterschiedliche gesellschaftliche oder auch nur rein private Streitpunkte verdeutlichen. Es kann beliebig variiert werden. Als Variante für den Geschlechterkampf geht es so, gemeinsames Wohnen ist in jedem Fall vorausgesetzt: Diesmal ist es ein Paar Sie-Er. Sie kommt von beruflicher Arbeit nach Hause in Erwartung, dass er (Zeit und Gelegenheit werden zugeschrieben) das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine eingeräumt hat, was nicht geschehen ist. Ihre Erwartung wurde enttäuscht, sie kann unter Umständen die Unterlassung als kommunikativen Akt interpretieren, als bräsigen Ausdruck der realer Machtverhältnisse, als faule Nachlässigkeit und mehr. Interpretiert sie es als Unterlassung aufgrund geschlechtlicher Aufgabenverteilung im Haushalt, dann wird sie womöglich im darüber geführten Streit emanzipatorische Argumente anbringen, also direkt oder indirekt suprasententiale, diskursive Strukturen nutzen, um sich durchzusetzen. Ihre Ziele sind dabei sowohl mittelbar als auch unmittelbar. Mittelbar möchte Sie ihre Interpretation der Geschlechterrollen im eigenen Haushalt durchsetzen und Einsicht beim Gegenüber erzielen, sie möchte emanzipatorisches Gedankengut etablieren. Unmittelbar geht es bloß um die Unterlassung einer erwarteten Handlung. In einer Wohngemeinschaft z.B. der Konstellation Er-Er wären die Bezugslinien andere. 17 Streit als verbale Kommunikation ist also eine Möglichkeit akuten Ausagierens von Konflikten. Die verbale Ebene führt den Streitgegenstand grundsätzlich möglicher rationaler Verhandlung zu und macht ihn so zu einer semantischen Frage. Aus dieser Sicht ist ein semantisch fokussierter Streit zivilisatorisch dem bloßen Konflikt gegenüber als fortgeschritten zu betrachten. Streit ist kommunikatives Handeln, was für ‘Konflikt’ nicht zwingend gelten muss. 18 Im Streit geht es um etwas, über etwas, die Präpositionen, die wir nutzen, stellen den Inhalt des Streites in den Akkusativ und machen ihn (auch? ) sprachlich zum Objekt. Aber - und jetzt kommen formale Kriterien dazu - natürlich kann Streit so ausgetragen werden, dass das Bezugsobjekt (oder die Klasse der Bezugsobjekte bzw. die Prädikationen der Bezugsobjekte) gar nicht zur Sprache kommt: Streitgespräch: Intentionalität und intervenierende Störung 97 • emotionale Gesprächsstile • erkennbare Reaktionen auf vermeintliche, wirkliche und/ oder intendierte Imageverletzungen • (extrem) verknappte Syntax aber eben auch: • Gründe in Funktion z.B. als Metaprinzipien • Normen (als enttäuschte Erwartung) • Image (Streit als Folge von Imageverletzungen) • Bewertungen (als (impliziter) Widerspruch in der Bewertung von Sachverhalten) • Argumente (als Verstoß gegen eine als richtig erachtete Argumentation). Carmen Spiegel formuliert dazu ausführlich: Streit hat folglich immer auch eine latent oder sogar explizit rationale (argumentative) Dimension. Darüber hinaus gehört zum Entstehen eines Streits noch eine Art […] Streitbereitschaft, die sich auf verschiedenen Ebenen manifestieren kann. Sie kann durch ein Vorkommnis, das der Gesprächspartner tatsächlich oder vermeintlich verursacht hat, ausgelöst werden; Streitbereitschaft kann aber auch in eine Kommunikationssituation mit eingebracht werden. Wesentlich bei einem Streit ist die direkte oder indirekte Demonstration eines Interaktanten, daß er einen Vorfall oder ein Vorkommnis im Zusammenhang mit dem Interaktionspartner als Erwartungsenttäuschung, Interessensverletzung oder gar als Identitätsbedrohung interpretiert. Das heißt, ein Problem oder eine schwierige Lage allein reichen nicht aus, um einen Streit auszulösen; es bedarf noch einer Äußerung oder eines Vorfalls, der von mindestens einem der Beteiligten als Provokation oder Imageverletzung interpretiert und dargestellt wird. Zusammenfassend wird hier unter Streit eine verbale Form der Konfliktaustragung im interpersonalen Bereich verstanden, in welcher divergierende Standpunkte oder Problemsichtweisen in bezug auf Sachverhalt, Handlung oder Verhalten mindestens eines Aktanten kontrovers thematisiert werden. Kennzeichen auf der Äußerungsebene ist ein wesentlich emotionaler Gesprächsstil verbunden mit Imageverletzungen (Spiegel 1996: 19). In aller Regel wird ein unmittelbar vorausliegender Anlass Streit herbeigeführt haben. Der Streitanlass hat vom Gesprächsprozess aus gesehen nahezu unmittelbar vor dem Streit stattgefunden, sei es als Ereignis, sei es als Äußerung oder andere Art von Handlung, so dass das gegenwärtige Gespräch explizite oder implizite Bezüge dazu aufweist. Dieses Muster wird im inszenierten Streit kopiert, der Konflikt schwelt bereits, so dass die Moderation dazu führen muss, die verbale Auseinandersetzung zu provozieren und bis zum Streit zu führen, ohne Eskalationen zuzulassen. Wenn es dann zu Imageverletzungen und entsprechenden Reaktionen kommt, mag das für die Qualität des Sendungsformats unter Umständen nur gut sein. 2.4 Widerstreit Widerstreit charakterisiert seit Jean-François Lyotard einen Konfliktfall zwischen mindestens zwei Parteien, der nicht angemessen entschieden werden könne, weil eine Urteilsregel fehle, die auf beide Argumentationen anwendbar ist (Lyotard 2 1989: 9). Lyotard erteilt mithin der vereinheitlichenden Beurteilung beispielsweise in einer Behandlung dieser Art des Konfliktfalles als Rechtsstreit eine Absage. Dies ist die berüchtigte Heterogenitätsthese der französischen Denker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in ihrer wohl radikalsten Ulf Harendarski 98 Form. 19 Der Sprache selbst, dem Sprechen fehlt die Möglichkeit der Vereinheitlichung heterogener Phänomene im besagten Konfliktfall, sie wird ihrer klassisch-metaphysischen Bestimmung als Vernunftstifter beraubt. Heterogen sind die Diskursarten - und bleiben das auch. “Ein Unrecht resultiert daraus, dass die Regeln der Diskursart, nach denen man urteilt, von denen der beurteilten Diskursart(en) abweichen” (Lyotard 2 1989: 9). 20 Lyotard verdeutlicht dies 21 damit, dass es je nach Diskursart (z.B. der theoretischen Physik im Gegensatz zur Sprachwissenschaft) Satzverkettungsregeln gebe, die mögliche Satzanbindungen ein- oder ausschließen. Gerade darin liegt so etwas wie innerdiskursive Rationalität. Unterschiedliche Diskurse folgen also unterschiedlichen Rationalitäten, formlose Alltagssgespräche demgegenüber müssen das nicht, Rechtsdiskurse aber schon. Wende man dennoch eine Urteilsregel auf beide an, werde einer von beiden Konfliktparteien ein Unrecht angetan (ebd.). In diesem Zusammenhang charakterisiert Lyotard auch den Terminus Opfer. Opfer sein bedeutet, nicht nachweisen zu können, daß man ein Unrecht erlitten hat. Ein Kläger ist jemand, der geschädigt wurde und über Mittel verfügt, es zu beweisen. Er wird zum Opfer, wenn er die Mittel einbüßt. […] Umgekehrt bestünde das »perfekte Verbrechen« nicht in der Beseitigung der Opfer oder der Zeugen (das hieße weitere Verbrechen hinzufügen und die Schwierigkeit erhöhen, alle Spuren zu tilgen), sondern darin, die Zeugen zum Schweigen zu bringen, die Richter taub zu machen und die Zeugenaussage für unhaltbar (unsinnig) erklären zu lassen (Lyotard 2 1989: 25). Demzufolge nennt er Widerstreit [différend] den Fall, “in dem der Kläger seiner Beweismittel beraubt ist und dadurch zum Opfer wird” (ebd.: 27). Es geht hier erkennbar zuerst um den Status Opfer, nicht zuerst um den Begriff. Es scheint daher, als ob es nicht reichte, gewaltsamen Zwang, gewaltsame Verletzung oder gar Mord erlitten zu haben, um Opfer zu sein. Natürlich kann all das unter den Begriff Opfer fallen. Aber um aufgrund der Tat, die man erlitten hat, von anderen überhaupt als Opfer in dieser Angelegenheit erkannt zu werden, unter den Begriff Opfer überhaupt fallen zu können, muss die Tat als Tat, die erlittene Gewalt als erlittene Gewalt erkannt werden, erst muss der Status des Opfers zugeschrieben werden, damit die begrifflichen Konsequenzen greifen können. 22 Insofern taugt Lyotards Ansatz sogar eher zur methodischen Charakterisierung dessen, was im Polittalk als Streit geschieht als der Begriff Streit selbst. Einigung ist nicht angestrebt, niemand, auch nicht die Moderation verfügt über Entscheidungsmacht oder reklamiert auch nur eine entsprechende Funktion der Formulierung einer Entscheidung, eines Urteils. In der hier analysierten Sendung geht es um Kindesmissbrauch, ein Verbrechen, das per se Opfer im Sinne Lyotards produzieren muss. Kinder sind nicht in der Lage, als Kläger aufzutreten, weder im Sinne der ihnen zugeschriebenen Versprachlichungsfähigkeiten (z.B. Differenzierung Fantasie und Realtiät), noch in ihrer Eigenschaft als voll berechtigte Rechtsperson, noch im Sinne des Spielens nach den Regeln von Rechtsdiskursen. So schreibt eines der Opfer nach Austritt aus der Opferphase als Erwachsener in der tageszeitung: Denn das Kind kommt da nicht mehr raus. Es zweifelt immer mehr an sich. Und das zum Mann gewordene Kind beginnt seine erlebte Geschichte in Frage zu stellen. War das ein deutlicher Übergriff, und das andere eher nur eine Bagatelle? Später wird er nicht mehr sagen können: Dies war ein sexueller Missbrauch und jenes war, auch wenn es noch so erniedrigend erschien, nur eine Grenzüberschreitung. Ohne Berührung. Das führt zu dem Gefühl: “Selbst schuld, wenn du so empfindlich bist! ” 23 Spiegel und Gruber übergehen trotz ihrer umfassenden Untersuchungen von Konfliktkommunikation offenbar ein zentrales Argument: Streit ist immer etwas, das von einer möglicher- Streitgespräch: Intentionalität und intervenierende Störung 99 weise eingesetzten Schiedspartei aufgrund von Argumenten (aufgrund von Urteilsregeln) entschieden werden kann. Daher grenzt Streit prinzipiell an Widerstreit. Streit in Inszenierungen des Mediums Fernsehen nutzt die Instanzen Moderation und Zuschauer als Instanzen der Entscheidung, das gerade ist die Inszenierung, denn diese Instanzen sind als Instanzen flüchtig und machtlos. Ein Beispiel für einen Widerstreit: Wenn innerhalb der Urteilsregeln des Rechtsdiskurses entschieden wird, dass Lehrerinnen in Schulen keine Kopftücher tragen dürfen, eine strenge Glaubensregel den fraglichen Personen dies aber vorschriebe, diese Glaubensregel im Rechtsdiskurs wiederum keinerlei Konsequenzen haben kann, dann geschieht ein Unrecht (übrigens unabhängig davon, wie wir Beobachter das nun bewerten). Warum ist das hier wichtig? Aus zwei möglichen Gründen: zunächst, weil das medial inszenierte Gespräch selbstverständlich immer der Beurteilung von Instanzen ausgesetzt wird, ja für diese inszeniert wird, so dass die ZuschauerInnen z.B. keine für beide Konfliktparteien angemessene Urteilsregel anwenden könnten, dennoch aber urteilen. Aber viel wahrscheinlicher ist, dass die Konfliktparteien gar keine unmittelbaren Konfliktparteien sind und dass die für vielleicht beide Seiten unpassende Urteilsregel durch das Medium selbst hervorgebracht wird, dass sich also auf diese Weise im Fernsehen niemals ein Streit austragen ließe, vergessen wir nicht, Streit ist hier Ware. 24 Widerstreit oder auch agonistische Konfliktlinien scheinen daher für das politisch-institutionell eigentlich machtlose Medium Fernsehen also gerade recht gute Begriffe der Beschreibung zu sein, daraus aber den Schluss zu ziehen, dass es sich hier um eine gesellschaftliche Konstituente handelt, würde zu weit gehen, das muss anderswo untersucht werden. 3 Intentionalität Dass Streitgespräche der Konsensfindung und manchmal sogar gut nachvollziehbar der Konstitution von Bedeutung dienen können, wird vielfach angenommen. Bei vorgeführten Streitgesprächen sind die Prozesse andere, weil hier die Rezeption als dritte Instanz eine herausragende Rolle spielt. Die politische Talkshow soll daher nun am ausgewählten Beispiel in ihrer Textualität aufgrund gemeinschaftlicher Intentionalität erfasst werden. Die Rolle der Rezeption bei der Interpretation des Schaugesprächs soll mediensemiotisch dadurch herausgestrichen werden, dass ihr ein einheitliches quasi-textuelles Format gegenübergestellt wird. Untersucht wird dafür vor allem ein einheitsbildendes Gesprächselement Gesprächsschritt, dessen Größenordnung den individuellen Redezug überschreitet. Um diese Größe zu beschreiben, wird nicht auf die Intentionalitätszuweisung an ein individuelles Subjekt gesetzt als vielmehr die Hypothese einer gemeinschaftlichen Intentionalität angewendet. Diese stützt und erhält das Sendungskonzept insgesamt und konstitutiert kollektiv das textuelle Endprodukt, das sich dem Publikum darbietet. Jede Äußerung erlangt derart also ihre pragmatisch-semantischen Gehalte nicht als individueller Sprechakt, sondern in der Relation Sendungsformat - Moderation - Gesprächsteilnehmer (Plural) - Rezeption. Sendungsformat, Moderation und Gesprächsteilnehmer sind aber in bestimmter Hinsicht gemeinschaftlich intentional, so die These der folgenden Überlegungen. Obwohl der Intentionalitätsbegriff als theoretische Erfassung einer semantischen Augenblicksstruktur fungiert, die all jene Elemente relationieren können soll, die bei der Kommunikation semantischer Gehalte eine Rolle spielen, scheint er auch für anderes gut geeignet zu sein. Intentionalität als semantischer Grundbegriff sprachlicher Handlungstheorie umfasst das Ulf Harendarski 100 an eine Äußerung gebundene Verfügen über propositionalen Gehalt, Einstellungen z.B. des Überzeugtseins dazu und das Verfügen über etwaige Folgen (Handlungen, Überzeugungen, Wünsche etc.). Sein Potenzial liegt seit den Arbeiten von G.H. Grice vor allem dort, wo es darum geht, Abweichungen der Bedeutung sprachlich-syntaktischer Formen im Prozess des Sprechens von einer rein denotativ-additiven Ebene zu erklären, auf welcher sich das Ganze nicht aus der Summe der Teile ergibt. Dies möglichst methodisch zu erfassen, führt ins Grenzgebiet von Grammatik, Semantik und Pragmatik sprachlicher Äußerungen. Anders gesagt: das Gemeinte muss bekanntlich nicht mit dem Gesagten übereinstimmen. Gerade in dieser Formulierung liegt aber auch das Problem überkommener Intentionalitätsauffassungen im Stile Grice’, sie sind autorensemantisch. 25 Es ist dieser Auffassung zufolge dann beispielsweise so, dass der im Gesagten nicht enthaltene, aber mit ihm gewissermaßen transportierte semantische Mehrwert als Inferenz angelegt ist, die zusätzliche Proposition q ist an die Sprecherinstanz und Einhaltung bzw. Verletzung sozialer Normen geknüpft. Was in vielen Fällen sicher zutrifft, die berühmten konversationellen Implikaturen sind bekanntermaßen erklärungsmächtig, reicht doch zur Erklärung eines generell in Äußerungen systematisch vorhandenen Mehrwerts nicht aus, kann mithin die semantische Dimension der Sprache nicht hinreichend ausleuchten. Darauf hat besonders Levinson (2000) nachdrücklich hingewiesen, Brandom (2000) hat einen alternativen Vorschlag gemacht und mit Harendarski (2012) ist er in Richtung sprachwissenschaftlicher Anwendbarkeit vorangetrieben worden. Ganz allgemein ausgedrückt sieht das Modell nach Grice im Kern so aus: Ein Sprecher sagt mit X aufgrund sprachlich-arbiträrer Konventionalität p und aufgrund bestimmter kommunikativer Voraussetzungen, gegenseitiger Zuschreibungen sowie Vorannahmen und daraus resultierender scheinbarer Verletzung von Prinzipien der Kommunikationen einer bestimmten Situation und nur dann (im Kontext) überdies noch q, weil die Voraussetzungen dem Hörer ermöglichen, auf q als intendiertem semantischem Mehrwert (Inferenz) zu schließen. Dies Modell ist sowohl idealistisch als auch logisch. Demgegenüber besitzt jede Äußerung Brandom zufolge in einer jeweiligen Situation eine spezifische Signifikanz, die sich nicht allein an den Sprachregeln bemisst, sondern aufgrund der sozialen Status der Interaktanten zustande kommt, ebenfalls per Inferenz. Es kommt darauf an, wer was in welcher Situation sagt, Kontrolle hat der Sprecher über Inferenzen anderer auf Basis seiner Äußerungen aber nicht. Mit einer Äußerung legt sich ein Sprecher auf etwas fest, es wird aber nicht explizit gesagt, auf welche Begleitfestlegungen noch. Letzteres errechnet sich aus der jeweiligen sozialen Konstellation, die Brandom als deontisches Konto der Sprecher erfasst. Brandom und Levinson folgen beide der Einsicht, dass Mehrwert (nunmehr Signifikanz) stets äußerungsbegleitend ist und mithin zur Sprache gehört. Zuerst hat mit einiger Resonanz Derrida auf diesen Punkt aufmerksam gemacht - immerhin schon 1972 26 - als er zeigte, dass zur semiotischen Struktur von Zeichen ihre Zitierbarkeit gehört. Das ist letztlich nichts anderes als spezifische Signifikanz, die in sozialer Situation kontextuell verankert ist und nirgendwo sonst. Damit ist allerdings auch das auf Sprecher- Hörer begrenzte Kommunikationsmodell überwunden. Es ist buchstäblich egal, wie viele Rezipierende einer Äußerung vorhanden sind. Reicht der Terminus folglich in Bereiche hinein, in der sich die klare, dialogische Zweipersonenstruktur der Kommunikation längst auflöst? Angespielt ist damit auf programmatisch und formell wiederholbare Gespräche als Medieninszenierungen wie sie i.w.S. in politischen Talkshows vorkommen, die also Mustern folgen. Diese mit Hilfe des Intentionalitätsbegriffs zu analysieren, hat allerdings eine Hürde Streitgespräch: Intentionalität und intervenierende Störung 101 zu meistern, die mit der eben bereits erwähnten dialogischen Grundsubstanz der Intentionalität zu tun hat, welche abgeschüttelt werden muss. Denn in seiner genuinen Form - wenn auch nicht mit Bewusstsein zu verwechseln - ist Intentionalität doch nicht vom geistigen Zustand des Subjekts zu trennen, sei dies als Gerichtetsein des Geistes im psychischen Akt auf lokalisierbare Objekte oder umfassendere Relationen von Objekten vor allem mit dem Ziel, Zustandsänderungen zu erwirken. Um den Intentionalitätsbegriff ganz vom individuell Mentalen zu lösen, müssen bei der Analyse von Kommunikationshandlungen, die auf Zustandsänderungen abzielen, die sozialen Konstellation berücksichtigt werden. Sprechakte funktionieren semantisch aufgrund sozialer Status und situationsbedingter Normenwahl. Solche Wünsche oder Absichten des Erwirkens von Zustandänderungen lassen sich offenbar semantisch repräsentieren und kommunizieren. S muss X sagen, damit H Y tut. Was an Kommunikation geschieht, kann daher nur in der Erwartungserwartungsdialektik zweier Handelnder (Sprecher-Hörer) angesiedelt werden. Wird jedoch mehr als eine weitere Person Ziel der Kommunikationshandlung, dann lösen sich die Individuen theoretisch in der Gruppe auf - zweifellos paradigmatisch im Sprechakt des Befehlens. Sollen H1 und H2 jedoch Y1 und Y2 tun, - dann muss S die Hörer differenzieren und jeden gezielt in einer Einzelhandlung ansprechen. Denn nur auf diese Weise scheinen H1 und H2 auf vom Sprecher differenzierte Folgehandlungen verpflichtet werden zu können. - Anders liegt der Fall, wenn die beiden Hörer Folgehandlungen erkennen und ihrerseits koordinieren, welche der Folgehandlungen von wem ausgeführt wird. Das Modell ist aber in vielfacher Hinsicht zu eng, da die Beispielhandlungen so gestaltet sind, dass Hörer explizit etwas tun sollen, das verhaltensanalytisch wahrnehmbar, registrierbar und beschreibbar ist. Daher geht das Bemühen dahin, aufmerksamkeitslenkende Handlungen (Sperber/ Wilson 2 1995) oder Informationsbzw. Behauptungsakte (Brandom 2000) zu integrieren. Gerade im Falle des letzteren geht es verstärkt um die Frage, worauf sich ein Sprecher mit einer Behauptung festlegt und welche Folgen - Handlungen, Erkenntnisse oder separate Behauptungskonsequenzen des Hörers - der Sprecher lizensiert. Er muss dazu über eine inferentielle Gliederung verfügen, deren Relation in Bezug steht zu seiner eigenen Autorität in Hinblick auf die soziale Hierarchie im Rahmen des gegenwärtigen semantischen Feldes behaupten zu dürfen, sein deontisches Konto, das interessanterweise massiven Einfluss auf die Semantik der Äußerung hat. Er muss also wissen oder zumindest explizieren können, auf welche Folgerungen er sich gerade festlegt. Solch eine als materiales Konditional innerhalb einer Explikationssequenz darstellbare inferentielle Gliederung ist denn auch das Herzstück der Theorie Brandoms, in der die Behauptung als der elementarste Sprechakt gilt. 27 Die zugrunde liegende Idee […] ist, […] daß die Eigenschaft, über propositionale Gehalte zu verfügen, anhand der Praktiken des Lieferns und Forderns von Gründen zu verstehen ist. Eine zentrale Behauptung lautet, dass diese Praktiken als soziale Praktiken zu verstehen sind - ja als sprachliche. Der elementare Zug im Spiel des Lieferns und Forderns von Gründen ist das Aufstellen einer Behauptung - eine insofern gehaltvolle Performanz, als sie das Liefern einer Begründung sein kann und für sie eine solche verlangt werden kann (Brandom 2000: 219). Streitgespräche müssten eigentlich ein paradigmatischer Fall jenes Brandomschen Lieferns und Forderns von Gründen sein, aber Kenner solcher Talkshows ahnen bereits, dass es so einfach wohl nicht werden wird. Ulf Harendarski 102 Wir-Intentionen sind hier nicht als Alignment individueller Intentionen zu verstehen, sondern als kollektivistische Superstruktur von Gemeinschaftshandlungen. Zwar sind die Beiträge innerhalb des Gesprächskreises der Talk-Show im Rahmen individueller Intentionalität verständlich, das Funktionieren einer solch kulturell-momenthaften Gruppe als Gruppe ist aber nicht nach Maßgabe individueller Intentionen verständlich, denn in diesem Fall würde man nichts weiter tun, als die Sprecher als handelnde Subjekte zu charakterisieren, deren Handeln nicht durch die Situation normiert ist. Zur Norm gehört hier, dass sich aus den Einzelhandlungen eine Gemeinschaftskomposition ergibt. Dittrich betont bei der Charakterisierung entsprechender Gemeinschaftshandlungen, sie beruhe auf einem gemeinsamen Entschluss, der unter der Bedingung des gemeinsamen Wissens zustande kommt, wenn sich alle Beteiligten wechselseitig offen ihre individuelle Bereitschaft zur relevanten gemeinschaftlichen Festlegung anzeigen. Das Anzeigen der Bereitschaft sei allerdings nicht zu verwechseln mit dem Ausdruck der individuellen Intention. Erst aufgrund “dieser gemeinschaftlichen Festlegung auf ein Handlungsziel sind […] die resultierenden Verpflichtungen und Berechtigungen der Teilnehmer zu verstehen.” Die normative Dimension der Gemeinschaftshandlung solle dadurch gesichert werden (Dittrich 2005: 59). Zwar mag das Kriterium des Wissens allseitiger Bereitschaft zum gemeinsamen Entschluss zur Gemeinschaftshandlung heikel sein, aber im Falle der Talk-Show ist der Fall eindeutig, die Bereitschaft ist ab dem Moment offiziell bekundet, ab dem man an der Gesprächsrunde teilnehmen wird, der Übergang in die Gemeinschaftshandlung ist wie bei vielen anderen institutionellen Gesprächstypen auch in dem Moment gegeben, in dem der Eröffnungsritus erfolgt, der vermutlich vor der eigentlichen Sendung liegt. Das Beispiel Talk zeigt nun deutlich, dass die Individualhandlungen (Sprechakte) gar nicht unbedingt erkennen lassen, dass eine Gemeinschaftshandlung vorliegt, weil die Gemeinschaftshandlung für die Zuschauerperspektive indexikalisch kaum sichtbar von der Inszenierung überlagert ist. 4 Der Zölibat - Streit im Talk Ziel solcher Sendungen ist nicht zuletzt Einflussnahme auf bereits vorhandene öffentliche Wahrnehmungen. Letztere sahen zum Zeitpunkt der Ausstrahlung von “ANNE WILL. Benedikts Schweigen - Sind wir noch Papst? ” 28 vom 11. April 2010 in etwa so aus: Thema sind lange ausgebliebene, entschuldigende oder wenigstens Verhaltensverfehlungen der Institution mit Tätern und Opfern eingestehende Äußerungen zum Kindesmissbrauch durch Kirchenmitarbeiter des amtierenden Oberhauptes der katholischen Kirche, Joseph Ratzinger, der als Papst den Namen Benedikt der 16. trägt. Eine Reihe von teils Jahre zurückliegenden, teils noch jungen Kindesmissbrauchsfällen durch Amtsträger der Kirche war zuvor öffentlich geworden. Zudem hatte sich ein problematischer Umgang der Institution Kirche nicht nur mit den Tätern offenbart, die in der Regel lange Zeit nicht der jeweiligen staatlichen Justiz überantwortet wurden. Vielmehr war in nicht zu leugnender Klarheit deutlich geworden, dass die Kirche konsequent die Opferposition ignorierend oder gar negierend mit denjenigen umgegangen war, denen das Unrecht zugefügt worden war und hatte so den Verdacht provoziert, kirchliches Recht über staatliches zu stellen. Im Sinne Lyotards werden diejenigen, denen ein Unrecht widerfährt, erst in dem Moment, in dem sie der Möglichkeit beraubt werden, das Unrecht anzuklagen, zu Opfern. Nicht durch die Tat an sich werden Unrecht Erleidende zu Opfern, sondern eventuell auch zu Klägern. Im vorliegenden Fall hier hat erst die Kirche sie zu Opfern gemacht. Überdies stand der Verdacht im Streitgespräch: Intentionalität und intervenierende Störung 103 Abb. 1: Studioschema ANNE WILL: Punkte = Personen, Pfeil indiziert Bewegungsrichtung Raum, dass diese Vorgänge in Wahrheit fortwährend geschehen und nur das registriert werde, was ohne Zutun der Kirche an die Öffentlichkeit komme. 29 4.2 Setting: Die soziale Situation der Analyse-Sequenz Das moderator-geführte Gespräch dieser Sendung findet als Inszenierung unversöhnlicher Konfrontation im Medium Fernsehen statt. Themen und Gäste sind so gewählt, dass das Thema konfliktär bleibt. Die Sendung als Format folgt einem regelmäßigen, wenn auch gelegentlich variierten, programmatischen Muster mit zu jener Zeit festem Sendeplatz. Sie wiederholt sich in gewissem Sinne allwöchentlich selbst, Themen und Konfrontationsgrad allerdings wechseln. Die Interaktionen finden im begrenzten Raum 30 mit indexikalisch erkennbarer Öffnung zum Studiopublikum hin statt. Vor der eigentlichen Sendung sind Ratifikationen der TeilnehmerInnen nötig, sie geraten weder zufällig in die Situation noch gänzlich unvorbereitet. Die Öffnung gegenüber der Öffentlichkeit der Fernsehzuschauer hingegen dürfte den Akteuren weniger präsent sein als die Öffnung zum Studiopublikum, da erstere durch Kameras geschieht. Wie gewöhnlich sind geladene Gäste und Moderatorin (zugleich Namensgeberin der Sendung) im offenen Halbkreis ein wenig u-förmig platziert, die Moderatorin bildet den Bogen bzw. die Bogenspitze der U-Anordnung, die Senkrechten laufen auf das Studiopublikum zu, so dass die Gäste einander zugewandt sind, während das Studio- oder Präsenzpublikum sie aber mehr oder weniger nur im Profil sieht (Abb. 1). Die Gäste sitzen nach Pro- und Contra- Muster angeordnet. Die Moderatorin bekommt gleich in mehrfacher Hinsicht eine strategisch herausgehobene Position, vor allem aber schaut sie frontal in Richtung Studiopublikum und gehört erkennbar keiner Parteiung zu, wobei ihr Recht, das Wort zu erteilen oder zu entziehen auch optisch markiert ist. Sie ist diejenige Person, die je nach Phase der Sendung auch direkt in die Kamera blickt, sie ist diejenige, die je nach Erfordernissen des Sendungskonzeptes den Zuschauer am Bildschirm direkt anspricht und derart Gäste und Studiopublikum ausblendet, sie ist die Repräsentantin der Sendung, die Sendungsintentionalität ist optisch an ihr Portrait geknüpft. Denn die geladenen Gäste ihrerseits sitzen bereits nach Stellung zum Thema Studiopublikum Sofagast Studiopublikum Studiopublikum Moderatorin Pro Contra Ulf Harendarski 104 einander als Parteiung gegenüber, mit wirklichen oder vermeintlichen Partnern an der Seite. Die Sendung durchläuft mehrere Phasen wie Intro, Vorstellung des Themas durch die Moderatorin, kurzer überkreuz vorgenommener Einzelvorstellung der Gäste mit prägnantem Meinungszitat zum Thema durch die Moderatorin, gelegentlichen Einspielern aus dokumentarischem Filmmaterial mit Textelementen, erzählerischer Darstellung, Interview und mehr. Nach der Vorstellung der Gäste wird gewöhnlich einem Gast mit Hinleitung und konkreter Fragehandlung das Wort übergeben. Text-Bildrelationen und Kameraführung werden kunstvoll dramaturgisch den jeweiligen Entwicklungen des Gesprächs angepasst, verdienten eigene Aufmerksamkeit und haben diese auch bereits vielfach bekommen. 31 Der hier zur Modellanalyse ausgewählte Ausschnitt der Sendung beginnt nach Zählung des Podcast nach 21min und 50sec. Gäste der Verteidigungsseite sind der Essener Bischof Franz-Josef Overbeck und Sophia Kuby, die als Sprecherin der Generation Benedikt (offenbar einer internationalen Medieninitiative junger Katholiken) vorgestellt wird, deren Reputation und Werdegang ansonsten aber nicht weiter erwähnt wird. Unverkennbar ist sie in der Sendung als “authentische Katholiken” platziert, weil sie nach eigener Auskunft “aus freier Entscheidung” einst bereits als volljährige junge Erwachsene zum Katholizismus konvertierte. Außen sitzt der Journalist Matthias Matussek. “Die andere Seite” bilden in dieser Sendung nur zwei Personen. Links neben dem Journalisten Hans-Ulrich Jörges sitzt der Filmregisseur mit dem Künstlernamen Rosa von Praunheim. Im Verlauf der Sendung wird der Mangel der Konstellation, der im Fehlen von primären Missbrauchsopfern als vom Phänomen betroffenen Personen besteht, scheinbar dadurch ausgeglichen, dass noch ein weiterer Gast als “Missbrauchsopfer” herausgehoben außerhalb, mit gegensätzlicher Blickrichtung zur Moderatorin platziert wird. Allein der Essener Bischof als akteneinsichtiger Verantwortungsträger ist insofern sekundär betroffen, als er Teil der “angeklagten” Institution ist. Die Journalisten übernehmen die demokratische Verantwortung der Äußerung von Rechercheergebnissen, der Regisseur mag sich in der Vergangenheit mit dem Thema oder der Institution befasst haben, die “Katholikin” weiß zum Thema im Grunde nichts zu sagen und wird auch so behandelt. Neben anderem macht diesen Ausschnitt besonders, dass auch in der Streitphase eine Person - und zwar die auch vom Thema her erkennbar am wenigsten affizierte Kuby - sich nicht am Gespräch beteiligt. Das zu behandelnde Thema der Sendung, die letztlich unzureichenden Möglichkeiten des Mediums mehr zu tun als zu informieren, der Umgang mit dem entsetzlichen, verbrecherischen Phänomen im Rahmen einer programmatischen, in bestimmter Frequenz mit unterschiedlichen Themen wiederholten Sendung positioniert den Sachverhalt so, dass ein Lyotardscher Widerstreit entsteht. Der Sendung fehlt jegliche Urteilsregel, das Unrecht so zu versprachlichen, dass die also unzureichende Versprachlichung nicht ein weiteres Unrecht wäre. Immerhin gaukelt diese Art des Talks keine Nähe vor wie andere es tun, sie nutzt das geschehene Unrecht nicht noch aus, um in quasi-therapeutischer Künstelei Gefühle vorzuführen, sie gibt keinen Raum, in dem das Unrecht auch nur formuliert würde. Wenn es zum Streit kommt, dann kann offensichtlich nicht das Thema der Grund sein, sondern muss in Imageverletzung oder Angriff auf und Verteidigung der Institution liegen. Wie eben bereits erwähnt, kommt es in der ausgewählten Sequenz der Sendung beinahe zum Eklat, was bereits dem Setting zuzurechnen ist und nicht erst im Rahmen der gleich folgenden Analyse zur Sprache kommen sollte. Der Bischof handelt schroff (ab ca. 23: 20min), indem er sagt, dass Homosexualität eine der Natur des Menschen widersprechen- Streitgespräch: Intentionalität und intervenierende Störung 105 de “Sünde” sei, die Natur des Menschen sei angelegt auf das “Miteinander von Mann und Frau.” Diese Äußerung bei expliziter Zuschreibung der propositionalen Einstellung “wissen sie ja ganz genau” stellt einen Fauxpas dar, der im Rahmen der Sendung und soweit mir bekannt auch in den Reaktionen darauf, nur wenig zur Sprache gekommen ist. 32 Offenbar vertritt der Bischof hier eine Position des Papstes und also der Institution Kirche, daher kann er dieses in der Situation geradezu unverschämt wirkende “wissen sie ja ganz genau” so sagen, indem er “bekanntes, diskursives Wissen” meinen kann und nicht - hier der potentielle Eklat - wenn es explizit hieße “wissen Sie als in Sünde lebende, praktizierende und bekennende Homosexuelle ja ganz genau.” Denn dies sagt der Bischof in Anwesenheit zweier bekennender Homosexueller, nämlich Anne Will und Rosa von Praunheim. Der Fauxpas indiziert das Setting, weil besagte Äußerung in anderer Konstellation keine derartige, beleidigende Komponente gehabt hätte. 4.3 Analyse Der Analyse liegt ein halbinterpretatives Transkript zugrunde (Podcast: 21: 50-23: 45min). 33 Wie gesagt, der Gegenstand der Sendung kann im Rahmen des Sendungs-Gesprächs nur im Widerstreit bleiben (s.o.). Publikum und Öffentlichkeit fungieren durch Rechtgeben oder Verurteilen als Pseudo-Schiedsinstanz. Die Öffentlichkeit kann damit durch emotionale und kognitive Beteiligung das angenehme Gefühl genießen, den Widerstreit aufgelöst zu haben: z.B. “Ja, der Zölibat zieht Perverse an, viele Priester sind daher pervers, der Zölibat muss weg”, oder “Ja, sexuellen Missbrauch gibt es in vielen Institutionen, die momentanen Ankläger wollen bloß dem Ansehen der Kirche schaden” usf. Die Beteiligten treten mit unterschiedlichen deontischen Konten an, je nachdem als wie hoch ihr jeweiliges Wissen je nach Situation gewichtet wird, sie alle aber eint - bis auf den Studiogast - dass sie offensichtlich von vornherein wissen, der Widerstreit wird nicht formuliert werden. Dies ist thematische Grundlage der Wir-Intentionalität neben ihrer konsensualen, die Sendungsstruktur an sich tragenden Grundlage besteht. Die erste Handlungs-Reaktionssequenz beginnt mit einer Frage der Moderatorin direkt an Praunheim gerichtet (21: 50). Allein die Wortwahl ist signifikant: Ob der Angesprochene dem Papst Bußfertigkeit abnehme. Bußfertigkeit ist an sich bereits als Wortbildung interessant. Zwar ist Reue vordergründig ein passendes Synonym, aber man bereut schlechte Taten, seine Lügen, Gewaltausbrüche, strafbare Handlungen, Verbrechen. Reue muss keine weitere Konsequenz über die Äußerungshandlung hinaus haben, nicht mit innerer Bußbereitschaft oder gar Bußehandlungen verbunden werden. Die Äußerung besteht in der Kundgabe, dass zum fraglichen Sachverhalt (Proposition) eine veränderte Einstellung eingetreten ist. “Ich habe meinen Hund Waldi geschlagen, heute bereue ich das zutiefst.” Eine Wiederholung derselben (einmal bereuten) Handlung sollte damit ausgeschlossen sein. Gänzlich anders ist die Bedeutung der Wortbildung Buß(e)-fertig-keit einzustufen. Implizite Derivation führt von büßen zum Nomenkonvertat Buße, zur Adjektivierung -fertig, zur erneuten Substantivierung mit -keit. Einen i.w.S. theologischen Begriffsumfang zu ermitteln ist hier kaum nötig, zumal sich die Moderatorin der theologischen Begriffstiefe keineswegs bewusst sein muss. Neben Reue und dem Eingeständnis von Schuld kommt aber noch zum Tragen, dass echte Bußfertigkeit als Voraussetzung zur inneren Offenheit gegenüber Gott gilt. Wer bußfertig ist, hat die richtige Haltung gegenüber seinem eigenen, “sündhaften” Menschsein und seiner Überantwortung an Gott bei aller Sündhaftigkeit. Auszuschließen ist wohl, dass die Moderatorin dem Ulf Harendarski 106 Papst per faktitiver Präsupposition (q = Papst ist nicht bußfertig) eine innere Öffnung gegen Gott absprechen wollte. Eher geht es ihr um die Konnotation des Substantivs, vage einer Art theistischen Sprachregisters zuzugehören. Sie fragt nicht etwa danach, ob der Gefragte dem Papst die Bußfertigkeit abnehme, nicht etwa nur glaube, was bereits einen latenten Zweifel in der Glaubwürdigkeit dessen konnotiert, dem etwas abgenommen wird. Im theologischen Sinne ist Bußfertigkeit also etwas zwischen Mensch und Gott. Mithin liegt eine große Provokation an die gegnerische Seite von Praunheims, letzteren als Bewertungsinstanz päpstlicher propositionaler Einstellungen zu installieren. Vor allem aber gehört Bußfertigkeit einerseits zum theologischen Sprachregister und konnotiert dies zugleich auch für Personen, die mit diesem Register wenig vertraut sind: Es wird einfach entsprechend klingen. Der angesprochene Interaktant nimmt dieses Angebot tatsächlich auch genauso auf, indem er durchgängig in der ersten Person Singular spricht und damit aus der subjektiven Perspektive urteilt. Allerdings begeht er nicht den zu drohenden Fehler, wirklich über die innere Einstellung des Papstes zu Gott zu urteilen, sondern spricht von der Institution Kirche. Bemerkenswert ist, dass er semantisch kontinuierlich beim durch das von der Moderatorin gewählten Verb abnehmen bleibt und nicht bei Bußfertigkeit. Er verharrt beim Zweifel an der Zutreffendheit der geäußerten propositionalen Einstellungen der Kirche zum Objekt Sexualität des Menschen und einer von ihm konstatierten Diskrepanz zwischen sexueller Praxis von Kirchenvertretern, womit er ein moralisches Problem konstatiert. Er kommt semantisch vom Verb abnehmen, das dem Angesprochenen zuschreibt, den bisherigen Äußerungen noch nicht zu glauben, zu Verlogenheit und bleibt mithin semantisch konstant. Hier ist deutlich zu sehen, dass die Handlungs-Reaktions-Sequenz Moderatorin und Befragter zusammengehören und intentional insgesamt eine Einheit bilden, die auf Provokation der Gegenseite abzielt. Sämtliche der an der Vorlage der Moderatorin anschließenden Äußerungsabschnitte sind der Meta-Intention konfrontatorischer Spannungserzeugung unterzuordnen, die Moderatorin nutzt ihr Recht, Themen zu initiieren, sie lässt von Praunheim weitersprechen, obwohl dieser auf das Bezugswort Bußfertigkeit nicht reagiert. Anders als zu erwarten, wird in der Folge auch nicht der singuläre Terminus (Papst) aufgegriffen, um diesem noch verschiedene Prädikationen zuzuordnen, sondern es wird das genutzte Verb (abnehmen) als Anlass zur Entfaltung aufgegriffen. Als Einheit im Sinne einer Meta-Intentionalität können die Äußerungen der Moderatorin und der anschließenden Folgehandlung auch dann eingeordnet werden, wenn dem zweiten Interaktanten selbstverständlich eine der Metaebene untergeordnete Sprecherintentionalität zugebilligt wird. Er übernimmt den ihm geschickt zugespielten Part vermutlich ohne groß seine ihm damit zugedachte Rolle zu reflektieren. Überdies repräsentiert sein Sprachgebrauch sein deontischen Konto (vgl. Harendarski 2012) sehr explizit, er vertritt die Position des kritischen Bürgers, hat sich bereits in jüngster Zeit mit Filmen kirchenkritisch geäußert und reklamiert keine andere Autorität als subjektive. Diese ist verglichen beispielsweise mit der des Bischofs also eher gering, er verfügt nicht über Insiderwissen - oder doch? Im folgenden Abschnitt nämlich behauptet er (ca. 22: 40), Kenntnis von “internen Zahlen sozusagen” über sexuelle Ausrichtungen von Priestern zu haben. Es könnte sehr gut sein, dass er in diesem Moment die Wahrheit sagt, seine Quelle aber nicht preisgeben kann und lieber in Kauf nimmt, dass ihm abgesprochen wird, derlei überhaupt behaupten zu können oder gar zu dürfen. Seine Gegner Matussek und Overbeck setzen genau hier an: sie bemühen sich, sein deontisches Konto zu mindern, seine Behauptungsautorität zu zerstören, ohne ihm sein Rederecht streitig zu machen. Streitgespräch: Intentionalität und intervenierende Störung 107 Abb. 2 ! "# $ % & ' ! ! ! ( & ) & ) ! * + & ) ,- . ! ! ! / ! ' ! ! 0 % & ! " # ! ! ! * + & ) ,- . % . ! ! 0/ & ) 0 ! Ulf Harendarski 108 Das deontische Konto eines Interakteurs bzw. Interlokutors ist im Rahmen der sozialen Konstellation festgelegt aber variabel. Sobald die Moderatorin einen Gesprächsteilnehmer auffordert, eine Bewertung von Sachverhalten abzugeben, wird dem Angesprochenen damit zugeschrieben, für solche Bewertungen auch über die nötige inferentielle Gliederung zu verfügen (z.B. Hintergrundinformationen, herausgehobene Kenntnis von Zusammenhängen o.ä.). Genau hier setzt die intervenierende Störung an, daher wird es sie in dieser Form wohl fast nur in Streitgesprächen geben, die die beobachtende Rolle einer Schiedsinstanz integriert haben wie in solchen Inszenierungen oder auch vor Gericht, im Streit von Kindern vor Eltern und anderen Gesprächssituationen mit entsprechender übergordneter Autorität (also mit höherem deontischen Konto). Diese Schiedsinstanz kann im vorliegenden Fall wohlgemerkt nur die Funktion der zustimmenden oder ablehnenden Bewertung von Redebeiträgen haben, nicht etwa die Dimension des Widerstreits berühren. Interessanterweise besteht offensichtlich kein Anlass, die Frage der Moderatorin mit einer Proposition zu beantworten, die relevant direkt zur Frage passte, eine Korrektur durch die Moderatorin kann daher ausbleiben, die Antwort von Praunheim verstößt offensichtlich nicht gegen den intentionalen Rahmen der Situation. Natürlich gibt es in solch einer Sendung auch andere Frage-Antwort-Sequenzen, die aber gehören eher in frühe Phasen des Gesprächs vor der “heißen Phase” der Auseinandersetzung. Es lassen sich also Intentionalitätshierarchien gemäß einer deontischen Kontoführungspraxis ausmachen. Diese Hierarchien haben semantische Funktionen, ganz wie das für Intentionalität kennzeichnend ist. Zur Wir-Intentionalität gehört die normative Festlegung, dass die Moderatorin für die Gesprächsstruktur lenkende Funktionen hat. Würde sie an irgendeiner Position eine eigene, klar semantisch Position beziehende Äußerung etwa aufgrund einer Imageverletzung machen, würde sie dadurch ihre herausgehobene Position opfern, ihr Beitrag hätte mit großer Wahrscheinlichkeit dann sogar das geringste Gewicht von allen. Zur ratifizierten Wir-Intentionalität gehört eine zugeschriebene Parteilichkeit der übrigen Interlokutoren, die in der Beispielsendung nicht aufgebrochen wird. Die Interlokutoren können entsprechende semantische Gehalte nur mit entsprechender Autorität äußern, wenn sie sich an diese grundsätzliche Opposition halten. Ihre deontischen Konten sind unterschiedlich. Von Praunheim kann offensichtlich keine “Insiderinformationen als Insiderinformationen” äußern - er weiß das, die Interlokutoren wissen das, die Rezeptionsseite weiß das. In der Beispielsequenz wird dies überdeutlich: Der Bischof als Institutionsrepräsentant kann interne Informationen in der ersten Person Singular äußern, von Praunheim als außerhalb stehende, aber immerhin teils journalistisch recherchierende Person bräuchte dafür den Verweis auf die Autorität einer verlässlichen Quelle, er müsste de dicto zuschreiben. Solange er keine Quelle seiner “internen Zahlen” nennt, hat seine Behauptung keinen Verlässlichkeitsanspruch. Das deontische Konto wird zudem durch die Aktivität des Publikums beeinflusst, da das Konto immer bezogen auf die geäußerten Sachverhalte und die damit einhergehende inferentielle Gliederung als rational relationierte Handlungspraxis zu verstehen ist. Die gegnerische Seite nutzt das Mittel der intervenierenden Störung nur dazu, das deontische Konto des Sprechers zu minimieren, ihn als Behauptungsautorität für das Publikum zu destruieren. Eine analoge Sequenz mit etwas anderer Konstellation findet sich ab Minute 46: 08 des Podcasts. Journalist Jörges entwickelt seinen zentralen Punkt einmal mehr, wonach die Kirche anhaltend glaube, ihre Belegschaft an Priestern sei zuerst kirchlichem Recht unterworfen und dann vielleicht staatlichem. Overbeck unterbricht ohne Anspruch auf das Rederecht wiederholt, am deutlichsten aber mit den Worten “das ist unwahr was sie sag-n”. Hier wird die Streitgespräch: Intentionalität und intervenierende Störung 109 mehrmals wiederholte semantische Störung dazu genutzt, den Gegner tatsächlich dazu zu bringen, sein Argument noch expliziter und vor allem detailgenauer zu formulieren, ihn aber gleichzeitig in seiner semantischen Entwicklung zu behindern. Jörges tappt in diese Falle, die darin besteht, dass gerade der anwesende Bischof den Gegenstand, die fragliche Untersuchung bzw. Versetzung verantwortet und daher über herausragende, nicht-öffentliche Detailkenntnis verfügt, mit der er das Argument scheinbar widerlegt. Tatsächlich beansprucht er das Rederecht erst, nachdem Jörges endlich Details geäußert hat, die der Bischof als Experte mit höchstem deontischen Konto wegwischen kann: er war Zeuge, er war ausführende Organ, ihm wurden Informationen zugetragen, über die niemand sonst verfügt. Jörges deontisches Konto wird an dieser Stelle mit einem Schlag weitgehend geleert, das des Bischofs umgekehrt immens erhöht. Eine Sequenz mit umgekehrten Vorzeichen und ebenfalls semantischer Störung aber etwas weniger ausgeprägt als die eben genannten Beispiele erfolgt ab 9: 58 min des Podcasts. Zu stören versucht hier mit Mitteln der intervenierenden Störung - abermals ohne erkennbare Absicht, den Redezug zu übernehmen - von Praunheim (10: 17, 10: 25 min; “alles tun - da bin ich sehr skeptisch”) und erneut 10: 40 min. Das Ziel ist die Veränderung des deontischen Kontos Overbecks analog zu den eben geschilderten umgekehrten Versuchen, hier allerdings gelingt dies nicht, Overbeck ignoriert die Störung hier wie auch später einmal in seiner Argumentation völlig. Seine Redebeiträge richten sich erkennbar nicht an die anderen Teilnehmer der Talkrunde, sondern an Studio- und Fernsehpublikum, so dass seine Ausführungen eher Merkmale schriftbasierter Oralität tragen als Merkmale von Gesprächen. Die Strategie vermittelt zugleich aufgrund vorgefertigter Meinung, Argument und Konzept der Bischof sei unansprechbar. D.h., der Punktestand im Spiel um deontische Konten, der dafür verantwortlich ist, wer was mit welcher Akzeptanz mit welcher semantischen Konsequenz äußern darf, wird zwar oberflächlich nicht angetastet, eine andere Ebene aber bringt Bewegung in dieses Spiel: das Image des Bischofs könnte hier in den Augen der anderen stark leiden. 34 Denn Thema der Sendung ist ja vor allem die “Glaubwürdigkeit der Kirche”. Das alles ist charakteristisch für Streitsequenzen im Medium. Ganz gleich, ob der jeweilige Sprecher konzeptionell schriftlich agiert, ob er emotional gefärbt spricht oder irgendetwas anderes, das intervenierende Störmanöver ohne erkennbares Indiz der Beanspruchung des Rederechts durch die störende Person wird von allen Konfliktparteien genutzt. Der Sprecher driftet in der Darstellung (Abb. 2) immer weiter nach rechts, er expliziert und untermauert die von ihm zunächst vorgebrachte Proposition. Gerade im Streitgespräch, sicher aber auch in anderen, freundlicheren lebhaften Gesprächen, gibt es diese intervenierende Störung, die den Sprecher zu einer veränderten argumentativen Entfaltung bewegt, ohne dass ihm sein Rederecht streitig gemacht würde. Kennzeichen von Streitsequenzen medial inszenierter Gespräche am Beispiel “Bußfertigkeit abnehmen” sind zusammengefasst: Meta-Ebene der Wir-Intention Streitsequenzen und Wir-Intention Aktions-Ebene der Gemeinschaftshandlung (in Streitsequenz identisch) Normenkonsens • Moderatorin besitzt herausgehobene Rechte • Moderatorin initiiert Makrosequenzen oder Phasen Normenkonsens • Moderatorin besitzt herausgehobene Rechte • Moderatorin initiiert Makrosequenzen oder Phasen Ulf Harendarski 110 Meta-Ebene der Wir-Intention Streitsequenzen und Wir-Intention • Konflikt ist Konsens (“Wir [bis auf Moderatorin] sind Konliktakteure”) • Konflikt ist Konsens (“Wir [bis auf Moderatorin] sind Konliktakteure”) intentional geteilte Normen (Abweichung in Streitsequenz) • Regeln und Ablauf der Gesprächsführung sind von allen ratifiziert, • semantischer Gehalt bestimmt sich im Rahmen der Sendung als Text und durch sie • semantischer Gehalt ergibt sich auch durch ich-intentionale Handlung wie Behauptung, intervenierende Störung, Widerspruch etc. ich-intentionale Konsequenzen, publikumsfokussiert (kaum oder selten Abweichung in Streitsequenz) Das Sendungskonzept legt die Interakteure auf diskursive (suprasententiale), bekannte Propositionen fest, z.B. • “Die Kirche hat ein eigenes Rechtssystem jenseits des staatlichen.” vs. • “Jeder Kirchenamtsträger untersteht staatlichen Rechtsprinzipien.” • trotz Streit kann die diskursive Rahmenfestlegung ichintentional nicht oder nur unter Aufkündigung der umspannenden Gemeinschaftshandlung verändert oder gebrochen werden 5. Fazit und kurzer Ausblick Semantische Störungen führen nicht zur Redezugübernahme, beeinflussen aber die semantische Entwicklung des Redezugs. Hierfür kann der Begriff Gesprächsschritt sinnvoll dann verwendet werden, wenn eine meta-intentionale Ebene vorliegt. Eine Metaebene kommt ins Spiel, wenn SprecherInnen in der Pflege ihres deontischen Kontos nicht allein dialogisch wirken, sondern vor Dritten (Personen oder Publikum) und grundsätzlich am Erhalt der Struktur mitwirken. Im Sinne der Meta-Intentionalität funktioniert die Sendung nicht wie ein Stück aufklärend-informierender Diskurs, sondern wie Literatur als Kunstwerk: Die auftretenden Figuren sind eher Charaktere, die der Komposition des Ganzen dienen. In der Regel wird Wir-Intentionalität so dargestellt, dass sich Individuen einer gemeinsamen Intentionalität für besondere Vorhaben oder Aufgaben unterwerfen - und sei dies nur Spazierengehen. Die individuellen Intentionen spielen dabei keine Rolle mehr hinsichtlich der Durchführung bis zu dem Zeitpunkt, wenn eines der Individuen aus der Wir-Intentionalität ausschert. Hier hingegen liegt nun ein allgemein bekannter, durch die Allgegenwart des Fernsehens vertrauter Fall vor, bei dem es gerade zwecks der Inszenierung auf die individuellen Intentionen ankommt, ja diese geradezu einen Nährboden finden und letztlich aber doch vollkommen hinter der Wir-Intentionalität zurücktreten, als handelte es sich um Schauspieler, die nur spielen dürfen, wenn sie spielen, dass sie nicht spielen. Das sind keine “parasitären Sprechakte” 35 , sondern unmittelbare. Dass ihre kontroversen, diskursfragmentarischen Äußerungen nicht zur Aufhebung der Kontroverse hinein in eine Metasprache führen, verwundert dabei Streitgespräch: Intentionalität und intervenierende Störung 111 nicht nur nicht, es wäre auch unsinnig, wenn sie zur Aufhebung führten - jedenfalls in genau dieser Sendung. Künftig müssen solche Analysen noch verfeinert werden - insbesondere die intervenierende Störung verdient noch einige Aufmerksamkeit mit einem dann korpusbasierten Verfahren. Zwei Dinge werden von einer einzelnen Sendung nicht behelligt: der Diskurs und das in der nächsten Woche wiederholte Sendungskonzept. Denn Diskurse formieren sich kontrovers. Dass die Missbrauchsfälle öffentlich wurden, gewährleistet, dass sie gesellschaftliche Konsequenzen haben müssen, doch öffentliche Medien können den Widerstreit nicht aufheben, im Gegenteil, sie verstärken ihn noch. Literatur Apel, Karl-Otto (ed.) 1991, Charles S. Peirce : Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus, Frankfurt a.M., Suhrkamp Black, Max 1993: “Bedeutung und Intention”, in: Meggle (ed.) 1993: 52-81 Brandom, Robert B. 2000: Expressive Vernunft : Begründung, Repräsentation und diskursive Festlegung, Frankfurt a.M., Suhrkamp Burger, Harald 2000: “Gespräche in den Massenmedien”, in: Burkhardt u.a. (ed.) 2000: 1492-1505 Burkhardt, Armin u.a. (ed). 2000: Text- und Gesprächslinguistik. Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, Berlin usw., De Gruyter Dancygier, Barbara, Sweetser, Eve 2005: Mental Spaces in Grammar : Conditional Constructions. Cambridge [u.a.], Cambr. Univ. Press Daubach, Saskia 2005: Linguistische Aspekte der Analyse von Talkshows am Beispiel der Talkshow “Arabella”, Taunusstein, Driesen Derrida, Jacques 2001: Limited Inc. . Wien, Passagen Dittrich, Sabine 2005: Intentionen - Eine Studie zum Kommunikationsbegriff. Aachen, Shaker Engel, Sabine 2002: “Viele Hunde sind des Hasen Tod” - Mobbing. Vortragstext als pdf-Download [09.06.2011] Fiske, John 1989: “Augenblicke des Fernsehens. Weder Text noch Publikum”, in: Pias u.a. (ed.) 1999: 234-253 Gruber, Helmut 1996: Streitgespräche : zur Pragmatik einer Diskursform, Opladen, Westdeutscher Verlag Harendarski, Ulf (voraussichtl.) 2012: Kommunikation und Sprache : Indexikalität, Inferenz und Sprachtheorie, Habilitationsschrift, Bremen Harras, Giesela u.a. (ed.) 2004: Handbuch deutscher Kommunikationsverben, Berlin usw., De Gruyter Hartz, Ronald u.a. (2007): Inszenierte Konflikte, Inszenierter Konsens. Münster, 5-17, Unrast Hess-Lüttich, Ernest W.B. 1997: “Schau-Gespräche, Freitagnacht : Dialogsorten öffentlicher Kommunikation und das Exempel einer Talkshow”, in: Zeitschrift für Semiotik, Bd. 19, Heft 3, 291-306 Holmström-Hintikka, R. Tuomela 1997: Contemporary Action Theory, Vol. II: Social Action. Dordrecht usw., 65-85, Springer Leonhard, Joachim-Felix u.a. (Hg.) 1999, Medienwissenschaft. Ein Handbuch zur Entwicklung der Medien und Kommunikationsformen. Text- und Gesprächslinguistik, Berlin usw., 2321-2330, De Gruyter Jäger, Siegfried u.a. (ed.) (2010): Lexikon Kritische Diskursanalyse. Eine Werkzeugkiste. Edition DISS Bd. 26. Münster. Unrast Levinson, Stephen C. 2000: Presumptive Meanings. The Theory of Generalized Conversational Implicature, Cambridge Mass. usw., MIT Press Löffler, Heinrich 1999, “Entwicklung, Funktion, Präsentationsformen und Texttypen der Talkshows”, in: Leonhard u.a. (ed.) 1999, 2321-2330 Lyotard, Jean-François 2 1989: Der Widerstreit, München, Fink Meggle, Georg (ed.) 1993, Handlung, Kommunikation, Bedeutung. Frankfurt a.M., Suhrkamp Mondada, Lorenza u.a. (ed.) 2010: Situationseröffnungen : zur multimodalen Herstellung fokussierter Interaktion, Tübingen, Narr Mouffe, Chantal 2007: Über das Politische : wider die kosmopolitsche Illusion, Frankfurt a.M., Suhrkamp Mühlen, Ulrike 1985: Talk als Show : eine linguistische Untersuchung der Gesprächsführung in den Talkshows des deutschen Fernsehens, Bern, Lang Ulf Harendarski 112 Peirce, Charles S. 1991: “Kernfragen des Pragmatiszismus”, in: Apel 1991, 454-478 Penz, Hermine 1996: Language and Control in American TV Talk Shows : An Analysis of Linguistic Strategies, Tübingen, Narr Pias, Claus u.a. (ed.) 1999: Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, Stuttgart, DVA Sperber, Dan und Deirdre Wilson 2 1995: Relevance : Communication and Cognition, Oxford usw., Blackwell Spiegel, Carmen 1995: Streit : eine linguistische Untersuchung verbaler Interaktionen in alltäglichen Zusammenhängen, Tübingen, Narr Stefani, Elwys De und Lorenza Mondada 2010: “Die Eröffnungen soziale Begegnungen im öffentlichen Raum: Die emergente Koordination räumlicher, visueller und verbaler Handlungsweisen”, in Mondada u.a. (ed.) 2010, 103-171 Tenscher, Jens (ed.) 2002: Talk auf allen Kanälen : Angebote, Akteure und Nutzer von Fernsehgesprächssendungen, Wiesbaden, Westd. Verlag Warmer, Gebhard und Klaus Gloy 1995: Lyotard. Darstellung und Kritik seines Sprachbegriffs, Aachen, ein-Fach Welsch, Wolfgang 1996: Vernunft : die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft, Frankfurt a.M., Suhrkamp PD Dr. Ulf Harendarski, habilitiert im Sommer 2010 an der Universität Bremen ist derzeit Vertretungsprofessor für Pragmatik und Didaktik der deutschen Sprache an der Universität Flensburg. Im Fokus seiner Arbeit stehen semantische Fragen unmittelbar semiotischer Kommunikationsprozesse. Notes 1 Das sind die kritische Diskursanalyse im Sinne Siegfried Jägers und die Critical Discourse Analysis (CDA). 2 Siehe Peirce 1991: 454ff, siehe Brandom 2000. In seinem hier 1991 in deutscher Übersetzung abgedruckten Artikel von 1905 legt Peirce als naturwissenschaftlicher Experimentator seine Idee zum wissenschaftlichen Common Sensism dar und leitet mit der pragmatischen Maxime ein: “Überlege, welche Wirkungen, die denkbarerweise praktische Auswirkungen haben könnten, wie den Gegenständen unseres Begriffs in der Vorstellung zuschreiben. Dann ist der Begriff jener Wirkungen das Ganze unseres Begriffes des Gegenstandes.” Robert B. Brandom hat in seiner groß angelegten Schrift vor allem die kommunikative Dimension dieser Maxime im Blick. Es geht mehr darum, worauf wir uns mit Äußerungen festlegen (worauf wir von anderen als festgelegt behandelt werden) und zu welchen Folgehandlungen (inklusive Äußerungen) wir andere mit unseren Äußerungen berechtigen. Zur Semantik von Äußerungen gehört mithin stets die Berücksichtigung dieser soziopraktischen Dimension. Die Bedeutung von Äußerungen ist daher nicht ohne Rücksicht auf die deontischen Konten (als Behauptungsberechtigungen) zu denken. 3 Siehe Jäger/ Zimmermann 2010: 15, 100f. 4 Das wird natürlich allgemein eher gründlich bezweifelt. Siehe zusammenfassend: Löffler 1999. 5 Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland. 6 Die Sendung ist als Podcast (nur Ton) über das Internet beziehbar. Alle Zeitangaben unten richten sich nach eben diesem Podcast. 7 Vgl. Fiske 1989. Bereits Fiske regt eine solche Perspektive an. In seinem Artikel “Augenblicke des Fernsehens” zeichnet er das Bild einer Textualität des Fernsehens, die sich gewissermaßen in Performanzen exemplizifiert. Das Fernehen habe weder einen Autoren noch ein einheitliches Zuschauersubjekt. 8 Vgl. Löffler 1999: 2322f. Löffler versteht unter General-Intention eher die Grundfunktion als das Grundziel einer Talkshow, was beispielsweise zwischen Unterhaltung und Infotainment je nach Sendungstyp variieren könne. 9 Siehe die linguistische, z.T. auch quantitative Untersuchung von Daubach 2005, siehe Mühlen 1985 und Penz 1996, die Moderatorenstrategien linguistisch untersuchen sowie auch Gruber 1996 zum Zusammenhang von Streit und Gesprächsstrategie aus dem Blickwinkel der Critcial Discourse Analysis (CDA). Siehe zur Talkshow allgemein den Sammelband von Tenscher/ Schicha 2007. Schaffar (2002) vertritt die Auffassung, dass unklar artikulierte Themen und unklare Strategien in der Sendung CHRISTIANSEN Zuschauererwartungen enttäuschen, die durchaus in Lösungsangeboten bestehen können. Dies haben analysierte Gruppendiskussionen nach der Sendung ergeben (Schaffar 2002: 127). Sie beklagt aus hermeneutischer Sicht, dass andere Untersuchungen - wie meine also - insgesamt fast nur noch davon ausgingen, der Zweck solcher Sendungen bestehe allein in der Streitgespräch: Intentionalität und intervenierende Störung 113 Inszenierung des Gesprächs. Zu möglicher Qualitätsverbesserung siehe Schmidt 2007. Siehe mit semiotischem Ansatz Hess-Lüttich 1997, zusammenfassend linguistisch Burger 2000 und Löffler 1999. 10 Vgl. Mouffe 2007: 42ff. Mouffes Konzeption der agonistischen Konfrontation geht im Rahmen der politischen Theorie in eine ganz ähnliche Richtung wie Lyotards Widerstreit. Mouffe allerdings lotet nicht die Grenzen der Sagbarkeit aus, sondern fordert grundsätzliche Akzeptanz produktiven agonistischen Potentials innerhalb einer demokratischen Gesellschaft. Das sozialliberale Motiv des Konsenses sei tatsächlich ausgeübte Herrschaft immer dort, wo agonistische Konfrontation eben nicht harmonisierbar sei. Das Problem entsteht erst - gleich kommen wir auf Lyotard zurück - wenn die angesetzte Urteilsregel auf eine der Parteien und deren Sachverhalt nicht anwendbar ist. Beispielsweise lässt sich ökonomische Rationalität in unmittelbaren politischen Prozessen wie der Ausschreibung von Gewerbegebieten in Gemeinden nicht auf ökologische anwenden. Die Ökologie wird in gewissem Sinne Opfer. S.u. 11 Diese Variante wird hier ignoriert. 12 Vgl. den entsprechenden Eintrag in Harras u.a. (ed.) 2004: 422ff. 13 Ebd: Interessanterweise ordnet das Handbuch (sich) streiten als Redesequenzverb ein. 14 Ebd. 15 Denn hier greift erstmals die Konzeption, eine solche Sendung gleichsam als von einer Meta-Intentionalität regierten Text zu verstehen (s.u.). Weder sind die Akteure dann im herkömmlichen Sinne als gesprächskooperativ noch -unkooperativ zu sehen. Denn eine solche Textintention wird erstens nicht mit der unmittelbaren Intention der Aktanten übereinstimmen, und zweitens werden diese trotz der äußeren Form des Streits auf einer Metaebene kooperieren. 16 Dies wird bei den exemplarischen Analysen unten deutlich werden. 17 Dies ist ein typisiertes Beispiel, es handelt sich nicht um eine Erlebniserzählung. 18 Dadurch sind extreme, laute, unversöhnliche, brutal-gewalttätige Streitgespräche gar nicht geleugnet, im Gegenteil. Es geht hier vor allem um die Potenz des Streits, den semantischen Gegenstand zu formulieren und rational aufzuheben. Das muss nicht geschehen. Hier ist eine Modalität gemeint. 19 Vgl. Welsch 1996: 302ff. 20 Diskurs ist hier als institutionell normierte Art der Satzverkettung zu verstehen. 21 Vgl. Warmer/ Gloy 1995: 96, die sich als Sprachwissenschaftler von Lyotard nicht recht überzeugen lassen. 22 Ein Beispiel ist das so genannte Mobbing. Wer im Betrieb von Kommunikationsprozessen ausgeschlossen wird und dann permanent die Schuld dafür zugeschrieben bekommt, seine Arbeit nicht hinreichend zu erledigen, für die er genau die zurückgehaltenen Informationen aber brauchen würde, muss nachweisen, dass ihm dies Unrecht geschieht. Dieser Nachweis ist überaus schwierig. Gelingt er, kann die Person in aller Konsequenz den Status Opfer erhalten. Interessanterweise scheinen Mobbingopfer selbst erst dann anzufangen, die Schuld an der vertrackten Arbeitssituation nicht mehr bei sich zu suchen. Unrecht im Sinne des Widerstreits geschieht, wenn der Arbeitgeber leugnet, dass es diese Art des Zufügens von Unrecht, dass es so etwas wie Mobbing überhaupt gibt. Siehe als Überblick: Engel 2002. 23 Die tageszeitung, 04.03.2011, S. 13. 24 Mancher »Daily (Streit-)Talk« US-amerikanischen Musters hat als oberste Urteilsinstanz den vermeintlich “unbestechlichen” Lügendetektortest eingesetzt und hantiert binär mit den adjektiven “wahr-gelogen” hinsichtlich der Aussagen “Angeklagter”, macht also die propositionalen Einstellungen gegenüber Sachverhalten, Kernelement der Philosophie des Geistes, zu einer geistlosen Sache - damit wird wohl eine Sehnsucht nach unzweifelhaftem Verurteilen gestillt. 25 Vgl. exemplarisch Black 1993. 26 Siehe Derrida 2001. Erstmals veröffentlich wurde der Vortrag 1972 unter dem Titel Signatur Ereignis Kontext. 27 Siehe aber linguistisch allgemeiner auch Dancygier/ Sweetser 2005. 28 Der Untertitel “Sind wir noch Papst? ” spielt auf eine Aufmacherschlagzeile der BILD-Zeitung des Tages nach Ratzingers Wahl zum Papst am 19. April 2005 an. Die Aufmacherseite dieses Tages findet sich vielfach im Internet. Dieses inkludierende “wir sind Papst” suggeriert eine de facto nicht existierende katholisch-nationale Einheit analog zu vergleichbaren Aufmacherüberschriften anlässlich verschiedener Leistungen der Fußballnationalmannschaft. Noch geradezu zurückhaltend fragt die ANNE WILL-Redaktion, ob denn diese Einheit nach Bekanntwerden der Missbrauchsfälle noch bestehe. Die darin liegende perfide Präsupposition, dass sie tatsächlich bestanden habe, wird im Folgenden nicht weiter analysiert. 29 Heute ist bekannt, dass die meisten Opfer erst mit ca. 47 Jahren beginnen, öffentlich über die Ereignisse zu sprechen. Dies scheint jedenfalls die Arbeit der “unabhängigen”, durch die Bundesregierung mit Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs an Kindern in verschiedenen Institutionen beauftragten Exfamilienministerin Ulf Harendarski 114 Christine Bergmann zu belegen. Zudem gibt es derzeit einen so genannten “Runden Tisch”, der unter anderem Selbstverpflichtungen der Institutionen zum Ausgleich des Unrechts entwickeln soll. Im Zusammenhang damit hat die Bischofskonferenz der katholischen Kirche am 02. März 2011 für weitere Empörung gesorgt, indem sie für die Opfer eine selbst im internationalen Vergleich beschämende Summe von je 5000 angeboten hat. Die Idee der Entschädigung folgt nicht in erster Linie der Ökonomisierung des Unrechts, es geht eigentlich nicht darum, dem geschehenen Unrecht durch Aufhebung in den ökonomischen Diskurs als Ware eine weitere Dimension des Widerstreits hinzuzufügen. Vielmehr sind die meisten der Opfer seit langem auf therapeutische Hilfe angewiesen, sie konnten ihr Leben nie so leben, wie es ohne die Ereignisse möglich gewesen wäre, eben auch deshalb, weil sie stets Therapien bezahlen müssen. Daher achten die meisten Beteiligten und Delegierten der Institutionen offenbar darauf, nicht den Verdacht entstehen zu lassen, sie wollten sich aus der Verantwortung frei kaufen. (Stand: März 2011.) 30 Zur Rolle der Grenzen von Räumen für Gesprächseröffnungen vgl. die Überlegungen von De Stefani und Mondada 2010: 117f. 31 Siehe Anm. 8 und 9. 32 Die Süddeutsche Zeitung vom 12.04.2010, Kirchenaustritt live - Eine kleine Nachtkritik von Alexander Kissler bringt diese Sequenz zur Sprache: “Keine Brücke führt auch von Overbecks Ablehnung der Homosexualität zu Praunheims wütendem Konter. Die »Natur des Menschen«, urteilte der Bischof, sei auf das »Miteinander von Mann und Frau« angelegt, also widerspräche Homosexualität der Natur.” Der Autor entdeckt das Unerhörte hier offensichtlich nicht. 33 Im Rahmen eines Seminars “Streitgespräche” im Wintersemester 2010/ 11 an der Universität Oldenburg wurden nahezu alle Streitsequenzen transkribiert, hier aber ist nur eine davon ausgewählt worden. 34 Vergleichbares geschieht noch ca. 38: 32-39: 32 min. 35 Vgl. dazu Derrida 2001. Streitgespräch: Intentionalität und intervenierende Störung 115 wIE viel muss er ihrer meinung noch sagn> damit sie ihm bußfertigkeit abnehm ° also ich glaube vor allem muss sich die ganze sexuAlmoral ändern / die kirche is so rigIde in dem was sie verlAngt von den gläubign / das und sie hält es selber nich nich EIn / es is sozusagen die bigotterIE> die verlogenheit der kirche / die mich unheimlich ärgert / is die verlogenheit was denn nein das stimmt ja überhaupt nich in keiner der kr der der priester> / ich meine weise stimmt das würd=n sie mal deutlich was denn im einzelnen zum beispiel homosexualität / in dEUtschland oder so / wenn ich deutlich werd=n< klar mit intern=n leut=n spreche sag=n sie virzich prozent der katholisch=n priester / s werdn geschätzt / dass sie homosexuell sind / das hat nichts solche unter- 1 M: 2 3 P: 4 5 6 P: 7 (22.07) M: 8 O: 9 P: 10 O: 11 M: 12 P: 13 O: 14 M: 15 P: 16 17 (22.22) O: 27 Transkriptionszeiten nach Podcast, Start 21: 50 halbinterpretative Transkription SprecherInnen und verwendete Zeichen: A : A. Will, Moderatorin J : H.J. Jörges K : S. Kuby M : M. Matussek O : F-.J. Overbeck P : R. Praunheim GROß: akzentuierte Silbe oder Teilakzente, falls sie als signifikant erachtet werden Partiturklammern (zeigen Simultanität), sind hier interpretativ selektiv und sparsam eingesetzt [Komm] : Kommentare, wenn Selektion der Information durch den Sprecher angezeigt wird „(betont o.ä.)” (h) : unverständlich (hh) : mehr als ein unverständliches Wort = : Verschleifung / Elision und dergl., falls Markierung nötig (z.B. artikuliert: ihn=n) : : Dehnung ° : einatmen / : kurzes Absetzen im Gesprächsfluss (..) : Pause von 2 Sekunden (5); (6) : Pause von 5 oder 6 Sekunden, je nach Zahl < : (auf fälliges) Abfallen der Tonhöhe > : (auf fälliges) Ansteigen der Tonhöhe z.B. bei Frage Ulf Harendarski 116 mit päderastie zu tun das heißt wenn sich stellungn möchte ich hier nicht diskutiert wissen / wirklich nicht dasn gerücht alle / wenn sich alle (..) [Applaus Publikum] [gedehnt] das=n gerücht mit solchn gerüchtn kann man nicht leb=n wenn sich alle wenn sich alle sich alle priester outen nein herr von praunheim um es klar zu machn das is=n gerücht für das sie einen beleg hab=n> ham sie ein beleg> ä ich kanns nur interne zA: hln sozusagen von leut=n die in der kirchen sind und sie und sie wissens selbst / interne zahln (hh) nicht mit klarheit(hh) nicht wie viele priester homosexuell sind / und ä und sie wiss=n auch wie viele priester / mit ihren haushälterin= zusamm lebn / wie wenich priester sich um dieses rigide sexual sexualmoral das stimmt überhaupt nicht selber selber kümmern und das das stimmt überhaupt nich / erstmal gilt die / erstmal gilt das wort und das is die verlogenheit / und die kriegn wir immer erst des vertrauns raus / nur durch solche fälle herr von praunheim erstmal gilt die klarheit der vertrauns in ein versprechn verlogenheit ham ham wa als argument mitbekomm [längerer Applaus Publikum] erstma gilt / gilt das moment der vertrauns in ein versprech=n das die priester gegeb=n hab=n wenn sie den zölibat gelob=n bei ihrer diachronenweie sO wie es / genauso bei eheparn ist von denen ich annehme dass sie treu bleibn wenn se sich / gegenseitige treue verspoch=n habm< / zweitens gibt es unendlich viele priester die gerade desweg=n so krÄftich ihren glaub=n bezeugn könn weil sie im zölibat lEb=n> / und weil es darum geht> zu zeign ganz für gott und ganz für die mensch=n da zu sein das ob sie das wirklich tun tun sie gr mit gr großer kraft / und dann wissn wir auch / und rosa / sie arbeitn wirklich mit unterstellung=n die dann wissen wir auch und das gehört zur bußfertichkeit ganze zeit mit unterstellung=n der kirche / dass es unter diesn leutn solche sünder gibt wie sie woanders auch gibt / dafür gibt es bUße aber für mich ist das keine sünde / ich meine das is ne sünde / wissen sie ja ganz homosexuell zu sein sonnern für mich is das fü für mich is das was ganz 1 P: 2 O: 3 P: 4 (22.28) 5 O: 6 P: 7 M? : 8 A: 9 A: 10 P: 11 P: 12 M: 13 O: 14 P: 15 16 P: 17 O: 18 P: 19 O: 20 P: 21 O: 22 P: 23 O: 24 A: 25 A: 26 (22.58) 27 O: 28 29 30 31 32 33 O 34 P: 35 O: 36 M: 37 O: 38 M: 39 O: 40 O: 41 P: 42 O: 43 P: Streitgespräch: Intentionalität und intervenierende Störung 117 klar und eindeutig dass es das ist> / das widerspricht der natUr das natürliches ä und und [Lachen; Ausruf („buh”)? ] die natur des menschen is angelegt auf das miteinander von mann und frau völliger quatsch / das glaubn sie doch selbst nich das glaubn sie doch selbst hörn sie / herr bischof [Lachen des Publikums, wem gilt es? ? ] mit völliger klarheit herr bischof / da / herr bischof jetz würde ich aber tatsächlich gerne nachfrag=n warum genau mAßt herr / herr bischof / da würd ich / die kirche sich an / ä den menschn vorzuschreibn da würde ich ihn=n widersprech=n welche Sexualität sexualität sie lebn dürfn> die kirche selbst maßt sich das gar nicht an was die sie lebn dürfn kirche tut is zu sagn was von gott her für uns mensch gedacht ist / und da wir aha [Lachen vermutlich im Studiopublikum] menschn von gott / geschaff=n sind als mann und frau / auf dass wir uns ergänz=n und kinder zur welt bring=n / und kinder sie ham mit gott gesprochen und der hat ihn=n das gesagt zur welt bring=n und desweg=n dafür sorg=n dass in ehe und familie ja wer hat ihn das gesagt die gesellschaft wächst und lebt darum ist das so> das ist nummer eins aber aber herr bischof ich glaube / liebe der liebe gott und wächst und lebt was tun sie dafür liebt jeden mensch=n so wie er ihn gemacht hat sie dafür dass die gesellschaft wächst und lebt was ich dafür tue> ja 1 O: 2 (23.45) P: 3 4 O: 5 P: 6 J: 7 8 O: 9 A: 10 A: 11 M: 12 A: 13 M: 14 A: 15 O: 16 O: 17 P: 18 19 O: 20 O: 21 P: 22 O: 23 P: 24 O: 25 O: 26 M: 27 P.: 28 M: 29 P: 30 O: 31 (23.45) P: