eJournals Kodikas/Code 33/3-4

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2010
333-4

Das Collage-Prinzip als Strukturmerkmal der gegenwärtigen Mode - Ein Ausdruck der europäischen Identität?

2010
Isabelle Prchlik
Das Collage-Prinzip als Strukturmerkmal der gegenwärtigen Mode - Ein Ausdruck der europäischen Identität? Isabelle Prchlik; Leuphana Universität Lüneburg In this article the western fashion will be understood from a cultural semiotic point of view - as a symbolic form in terms of Ernst Cassirer. The various scientific perspectives on fashion are defined as competitive models, but their conclusions can be used as aspects and important dimensions of signification of the symbolic form ‘fashion’. With the semiotic analysis the dimensions of signification in fashion - textile, clothes and fashion - can be described as sign relations. Together with other characteristics of the structure of fashion (like e. g. its dynamics) these relations can be described as determining layers of fashion as a symbolic form. By means of several examples ranging from avant-garde fashion to subcultural fashion and designer fashion as well as street wear, the principle of collage, as a characteristic of structure of the current European identity, is explained as the specific symbolic code of fashion. The study argues how fashion as a material objectification of the present, forms and creates a characteristic of structure of the current era. 1 Einleitung In diesem Beitrag wird die westliche Kleidermode aus kultursemiotischer Perspektive als symbolische Form nach Ernst Cassirers verstanden. Die verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven auf Mode werden nicht als konkurrierende Modelle begriffen, sondern ihre Erkenntnisse werden als Teilaspekte und entscheidende Bedeutungsdimensionen von Mode als symbolische Form verstanden. Durch die semiotische Analyse lassen sich die Ebenen Textil, Kleidung und Mode als Zeichenrelationen erklären, die zusammen mit weiteren Strukturmerkmalen des Symbolsystems Mode - wie beispielsweise ihre Dynamiken - als entscheidende Ebenen der Formation von Mode als symbolische Form verstanden werden. Anhand vieler Beispiele, von Avantgardeüber Subkultur- und Designer-Mode bis hin zur Street-Wear, wird das Collage-Prinzip als aktuelles Strukturmerkmal der europäischen Identität in der symbolischen Form Mode nachgewiesen. So wird gezeigt, wie Mode als materielle Objektivation der Gegenwart ein Strukturmerkmal des aktuellen Identitätsbegriffs und damit der gegenwärtigen Epoche formiert und aktiv an ihrer Gestaltung beteiligt ist. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 33 (2010) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Isabelle Prchlik 448 2 Mode als symbolische Form “Unter symbolische Form soll jede Energie des Geistes verstanden werden, durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird.” (Cassirer 1959: 17) Mode ist in den verschiedensten Sphären des Lebens allgegenwärtig. Besonders die Kleidermode 1 stellt in Europa und der westlichen Welt ein ständig präsentes kulturelles und gesellschaftliches Totalphänomen dar. So wird sie in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen anhand bestimmter Eigenschaften erforscht. Durch Untersuchungen aus der Psychologie, Soziologie, Anthropologie und Ethnologie, Wirtschaftstheorie, Kulturgeschichte und Kulturphilosophie, Kommunikationstheorie, ästhetischen Theorie, Semiotik 2 und auch in der Folge des interdisziplinären Forschungsansatzes der Modetheorie 3 , wird Mode zu einem wissenschaftlichen Grenzthema. In diesem Beitrag wird die westliche Kleidermode aus kultursemiotischer Perspektive als symbolische Form nach Ernst Cassirer bestimmt. So werden die oben genannten wissenschaftlichen Perspektiven nicht als konkurrierende Modelle begriffen, sondern Ihre Erkenntnisse als Teilaspekte und entscheidende Bedeutungsdimensionen von Mode als symbolische Form verstanden. Durch die semiotische Analyse lassen sich die Ebenen Textil, Kleidung und Mode als Zeichenrelationen erklären. Diese werden zusammen mit weiteren Teilaspekten des Gesamtphänomens Mode - wie beispielsweise ihren Dynamiken - als entscheidende Ebenen der Formation von Mode als symbolische Form erkennbar. Mode wird meist als augenblicklicher Zeitgeschmack oder als Normengefüge, das von bestimmten Personen oder Personengruppen für eine kurze Zeitdauer als solches akzeptiert und beibehalten wird, verstanden (vgl. hierzu Keppler 1995: 393; Sommer & Wind 1988: 101; Bleckwenn 1981). So definiert auch der Duden “Mode 1. a) Brauch, Sitte zu einem bestimmten Zeitpunkt; b) Tages-, Zeitgeschmack. 2. Die zu einem bestimmten Zeitpunkt bevorzugte Art, sich zu kleiden od. zu frisieren. 3. (meist Plural) dem herrschenden Zeitgeschmack entsprechende od. ihn bestimmende Kleidung” (Duden Das Fremdwörterbuch 2001: 642) und “als zeitgemäß geltende Art, sich zu kleiden; etwas, was dem gerade herrschenden Geschmack entspricht.” (Duden Rechtschreibung 1996: 499) Dieses Verständnis von Mode entspricht dem Begriff “modern”, der sich vom lateinischen “modo” (eben jetzt, gegenwärtig) ableitet, was im Alltagsverständnis oft mit “modisch” gleichgesetzt wird. Es stimmt mit dem französischen “la mode” und dem italienischen “la moda” im Sinne von Sitte, Tages- und Zeitgeschmack, Trend und Gewohnheit oder “der gewöhnlichen und gebräuchlichen manier” (Grimm & Grimm 1885: 2436) überein. Die Beschränkung auf dieses Verständnis von Mode würde dazu führen, Mode auf ein Beispiel für dauerhaften Wandel zu reduzieren (vgl. Loschek 2007: 11, 159 f.; Sommer & Wind 1988: 101). Der lateinische Wortstamm “modus” (Art und Weise, Form) von dem sich das französische “le mode” und das italienische “il modo” ableiten, verweist dagegen auf den Begriff Form und das Verständnis von Mode als Gestaltungsprinzip sowie auf das Formieren als kreative Tätigkeit. 4 Diese kreative Tätigkeit als menschliche Gestaltungskraft ist bei Cassirer zusammen mit der Zeichenfunktion die wichtigste Funktion von Symbolen, wenn es um Formierung von Kultur durch Neuartikulation von Bedeutung geht. Hier zeigt sich die etymologische Nähe des Begriffs “modus” zu Cassirers Begriff “symbolische Formen”, die als Modi der Wirklichkeitskonstruktion sowie Ausformungen geistiger Energien und semioti- Das Collage-Prinzip als Strukturmerkmal der gegenwärtigen Mode 449 scher Objektivierung (Zeichen), nicht als starre Gebilde, sondern als Funktionen verstanden werden. Die Kultursemiotik nach Umberto Eco und Jurij M. Lotman geht aufbauend auf die Zeichentheorie nach Charles S. Peirce von dem dynamischen Charakter der Zeichensysteme aus. Vor diesem theoretischen Hintergrund werden die Moden als das Gegenwärtige, als eine Form der Dynamik verstanden und sind somit ein Teilaspekt der symbolischen Form Mode. 5 Der Gegenwartsbezug darf deshalb nicht nur auf ein “gerade modisch” im Sinne von “momentan im Trend sein” reduziert werden, denn Mode ist im Sinne der Kultursemiotik ein komplexes Symbolsystem, das als materielle Objektivation der Gegenwart lesbar ist und somit als Seismograf kultureller Prozesse und Identitäten verstanden werden kann. Besonders die Kultursemiotik, die Cassirers Begriff “symbolische Form” konkretisiert, indem sie ihn auf der Ebene der Zeichensysteme ausarbeitet, und mit Hilfe der präzisen Erklärung von Zeichenprozessen, Dynamiken und innovativen Momenten für dynamische Systeme (wie die Mode) anwendbar macht, stellt dazu eine geeignete Methode dar. 2.1 Zeichen- und Medialitätscharakter von Mode “Clothes are, after all, what links the biological and physical body to the social world, between the self and the ‘not self’ or Other. The clothes we wear are never purely functional in that they also communicate on a symbolic and aesthetic level (however ambiguous) about the self.” (Grove-White 2001: 195) Kleidermode hat wie kein anderes Artefakt mit Konstruktion von Selbst- und Fremdbildern zu tun (vgl. Mentges 2005: 150). Kulturelle Identitätsbildung findet im Sinne Cassirers durch Symbole statt und Identität ist dabei kein statischer Ist-Zustand, sondern ein auf Bedeutung(en) beruhender Prozess, der sich durch Interaktion und Kommunikation aufbaut und verändert. Demgemäß ist auch die Bedeutung von Gegenständen nie naturgegeben, sondern wird vom Menschen im Interaktionsprozess geformt. Da es sich dabei um einen interaktiven Prozess handelt, ist Bedeutung stets veränderbar. Somit kann auch das mehrdimensionale Phänomen Mode als Kommunikation auf symbolischer beziehungsweise ästhetischer Ebene innerhalb einer Gesellschaft untersucht werden. Da Gesellschaft symbolisch strukturiert und somit abhängig von gesellschaftlicher Interpretation ist, ist es für eine erfolgreiche Kommunikation und Interaktion unabdingbar den Bedeutungsgehalt von Symbolen zu kennen und anzuwenden. So kann auch Mode erst durch Bewusstwerdung, Interpretation und Kommunikation semiotisch als ein Zeichensystem festgelegt werden und ihren sozialen Zweck erfüllen. Dazu braucht sie im Sinne der Kultursemiotik nach Eco stabilisierende Codierungen durch kulturelle Konventionen. Denn erst durch Zuordnung von Sinn kann ein Code zu einem Mittel der Kommunikation werden. Gleichzeitig ist der Code aufgrund seiner Bedingtheit durch gesellschaftliche Konvention Veränderungen ausgesetzt. Dadurch erhält er seinen dynamischen Charakter, der im Sinne des Peirceschen Verständnisses, dass Zeichen wachsen (vgl. Pierce 2004: 46), Wandel und damit Neuheiten und Innovationen ermöglicht. Der Code wird somit durch die Dialektik von Invarianz, die konservierend wirkt, und Innovation, die erneuernd und aktualisierend wirkt, bestimmt (vgl. Eco 1994: 20, 130 f.). Die europäische Kostümgeschichte belegt seit ihren Anfängen die Funktion der Kleidung als Zeichen und Kommunikationsmedium gesellschaftlicher Struktur und damit auch von Identität. Im Altertum gab es unterschiedliche Bekleidungsformen für Männer und Frauen Isabelle Prchlik 450 und der gesellschaftliche Rang wurde durch Schmuck und Kulttracht zum Ausdruck gebracht. In der römischen Antike spiegelte die strenge Bekleidungsordnung die gesellschaftliche Hierarchie wider (vgl. Binger 1996: 20; Black & Garland & Kennett 1983: 20). Besonders im Mittelalter war Kleidung als Zeichen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sowie als Ausdruck gesellschaftlicher Stellung (Standeszeichen) von extrem hoher Relevanz (vgl. Sommer & Wind 1988: 31). Das verdeutlichen die Kleiderordnungen als rechtliche Verordnungen, die ab Mitte des 13. Jh.s den Zusammenhang von Gewändern und sozialen Strukturen in Mitteleuropa pedantisch regelten. Sie war das entscheidende Erkennungszeichen für die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe und verwies so auf Stand, Religion, Alter, Geschlecht und politische Macht. “Ein enges Korsett aus Kleidungskonventionen umschloss die Gesellschaft.” (Keupp 2005: 68) Diese Konventionen verhinderten die Durchmischungen von gesellschaftlichen Gruppierungen, wie beispielsweise Religionsgemeinschaften. Beispiele dafür sind der spitze Judenhut und die anstößigen Gewänder von Prostituierten. Auf hoher politischer Ebene zeigte sich in der Kleidung Ehrenstellung und Ranganspruch der sozialen Führungselite und sie galt als “symbolisches” Synonym für Herrschaftswürde. Diese Autorität des Äußerlichen und die suggestive Wirkung der Kleidung durchzogen auch alle Ebenen des Alltagslebens. Versuchten Individuen, sich durch Kleidung einem höheren Stand anzugleichen, wurde dieses Vorgehen gesellschaftlich verachtet, da es als Störung der Regeln und Provokation an der bestehenden Weltordnung empfunden wurde. Der Bruch von Kleidernormen war ein Verstoß gegen Konvention und gesellschaftliche Ordnung, der mit Geldbußen bestraft wurde (vgl. Loschek 2007: 27; Keupp 2005: 68; Sommer & Wind 1988: 31 f.). “Die Autorität der Äußerlichkeiten erstreckte sich auf nahezu alle Lebensbereiche. Herbe Kritik und beißender Spott trafen jene, die sich in Kleidung und Montur einem höheren Stand anzugleichen suchten. Wohin sollte das führen? Doch nur zu einer verkehrten Welt, zur Auflösung jeglicher Ordnung und Moral auf Erden! ” (Keupp 2005: 68) Besonders aus Sicht der Kirche war das Überschreiten von Kleidergrenzen ein Zeichen für Selbstüberschätzung und somit ein verwerfliches inneres Laster (vgl. ebd.: 68 f.). Die Kleiderordnungen belegen somit auch, da sie als Eindämmungsversuche von Individualisierungstendenzen - und damit Innovationen 6 - in der Mode dienten, dass die Tendenz zum Modewandel spätestens seit dem Mittelalter bestand. Dabei war der Mechanismus des Angleichens niederer Schichten an höhere Stände, woraufhin letztere sich wieder abgrenzten, die erste aus sozialen Gründen entstandene Form des Modemechanismus, wie wir ihn heute in Europa kennen (vgl. Loschek 2007: 27, 29, 109; Sommer & Wind 1988: 32). Die Geschichte der Reformkleid-Bewegung, die Ende des 19. Jh.s begann, verdeutlicht exemplarisch die bisher angerissenen Eigenschaften der Mode: die Zeichenhaftigkeit von Kleidung, die Bedeutung von Kleidung in Bezug auf gesellschaftliche Normen und Regeln sowie den Mechanismus der Störung der bestehenden Ordnung, der bei erfolgreicher Umsetzung zu Wandel führt. Die Reformkleid-Bewegung, bei der die Frau gegen das Korsett und um die Hose kämpfte, gilt als Paradebeispiel für den Kampf der Frau um Emanzipation. Die Hose war ein zentrales Symbol männlicher Macht und ein die Herrschaftsordnung beispielhaft repräsentierendes Kleidungsstück (vgl. Keupp 2005: 68; Sykora 1994: 30). Im Laufe der Reformkleid-Bewegung wurde die Hose zu einem Kleidungsstück für beide Geschlechter und hat somit ihre vorherige Bedeutung geändert. Das Beispiel zeigt wie im Sinne der Semiotik in einem interaktiven Prozess neue Bedeutung entsteht und über ein Symbol kommuniziert wird. Darüber hinaus wird auch deutlich, wie Modegeschichte als Spiegel von Gesellschafts- Das Collage-Prinzip als Strukturmerkmal der gegenwärtigen Mode 451 geschichte und Zeitgeist funktioniert. Denn bei der Mode geht es nicht nur um die Form der Kleidung allein, sondern auch um inhaltliche 7 Faktoren, die über die Kleidung ausgedrückt werden und, wie bei diesem Beispiel die Emanzipation der Frau, von zeitgeschichtlicher Relevanz sein können. “Fashion is rarely ‘set’, however; more often it develops, with strong reactions between one generation and the next.” (Black & Garland & Kennett 1983: 9) Mode ist daher auch immer Produkt von gesellschaftlicher Entwicklung und braucht den Zeitgeist um sich durchzusetzen. Die europäische Geschichte belegt somit die identitätsbildende Zeichenfunktion der Kleidung mit ihrem Bezug zu gesellschaftlichen Strukturen und Normen und zwei weiteren wichtigen Komponenten der Mode: Zum einen die Abweichung von der Norm mit daraus resultierendem Wandel, der die Neuartikulation von Bedeutung ermöglicht; zum anderen die Kategorie des gesellschaftlichen Zeitgeistes, als notwendiger Kontext aus und in dem jede Form der Veränderung erst möglich ist. Denn um das Neue innovative Realität werden zu lassen, bedarf es der gesellschaftlichen Zustimmung der Individuen. Im Folgenden werden diese Merkmale von Mode kultursemiotisch analysiert. 2.2 Die Strukturmerkmale von Mode und Ihre Funktionen in der Kultur “Denn der reflexive Prozeß des Begreifens ist seiner Richtung nach dem produktiven Prozeß entgegengesetzt; beide können nicht zugleich mit einander vollzogen werden. Die Kultur schafft in einem ununterbrochenen Strom ständig neue sprachliche, künstlerische, religiöse Symbole. Die Wissenschaft und die Philosophie aber muß diese Symbolsprache in ihre Elemente zerlegen, um sie sich verständlich zu machen. Sie muss das synthetisch erzeugte analytisch behandeln. So herrscht hier ein beständiger Fluß und Rückfluß. Die Naturwissenschaft lehrt uns, nach Kants Ausdruck, ‘Erscheinungen zu buchstabieren, um sie als Erfahrungen lesen zu können’; die Kulturwissenschaft lehrt uns, Symbole zu deuten, um den Gehalt, der in ihnen verschlossen liegt, zu enträtseln, - um das Leben, aus dem sie ursprünglich hervor gegangen sind, wieder sichtbar zu machen.” (Cassirer 1942: 95) Als Ausformungen der geistigen Fähigkeiten des Menschen, dem Denken, 8 sind die symbolischen Formen nach Cassirer materielle Objektivationen kultureller Intelligenz und funktionale Strukturierungen von Bedeutung. Symbolische Formen weisen dabei verschiedene Strukturmerkmale auf, die anhand ihrer Funktionen beschrieben werden können. So können die Elemente der Mode mit Hilfe der Semiotik in Analogie zur Systematik der Sprache als Zeichen und ihre Gesetze als Grammatiken sowie die Logik der Mode in ihrer Anwendung als Medium beschrieben werden. Als eine Spezifität der Mode als symbolische Form zeigt sich in ihrer Zeichenhaftigkeit eine Relationalität in Analogie zu den materiellen Schichten der symbolischen Form Mode mit ihren Formierungen durch den Menschen. Worin bestehen die entscheidenden Ebenen der Formation von Mode als symbolische Form? Die materielle Ebene der Mode ist der Stoff der Kleidung, das Textil. Dieses weist, je nach Materie, die ihm zu Grunde liegt, wie beispielsweise zu Stoff geformte Baumwolle, bereits eine Struktur und Form und damit auch eine Codierung auf. Beispielsweise wird festes Leder als robust, gewebte Seide hingegen als zart codiert. Das Textil stellt damit die Struktur der nächsten Bedeutungsebene, der Kleidung, dar. Die Kleidung weist als formierte Materie Züge, Strukturen und Codierungen auf, die als Zeichen lesbar sind. Indem der Träger das spezifische Vokabular und die Grammatik von Kleidung zur Kommunikation nutzt, verwendet er den Kleidungscode beispielsweise innerhalb von Konventionen wie bestimmten Isabelle Prchlik 452 Anlässen oder Tageszeiten. Diese Kleidersprache wird vom Träger als Zeichen und Medium zum Ausdruck und zur Kommunikation von Identität eingesetzt. So weist das Zeichen Kleidung aufgrund seiner Abbildfunktion im Sinne der Peirceschen Zeichenklassifikation primär ikonischen Charakter auf und hat modellbildende Funktion auf der Ebene der primären Codierung 9 im Sinne einer natürlichen Sprache. Dabei weist die Sprache der Kleidung - insofern es sich nicht um uniformierte Kleidung wie beispielsweise Trachten und damit starke Codierung handelt - aufgrund der zahlreichen konnotativen Überlagerungen einen schwachen Code auf. Ein Zeichen ist dabei nie ein Zeichen durch sich selbst, sondern wird immer erst in Bezug zu einem Subjekt, das es als solches wahrnimmt (Perzeption) und interpretiert, zu einem Zeichen. Das Denken ist dabei die fundamentalste Art des Symbolismus, denn erst wenn wahrgenommene Elemente (Gefühlsebene), mit Erfahrung in Verbindung gebracht werden, findet der Übergang zur Bedeutung statt (symbolische Referenz). So existiert auch das Artefakt Kleidung erst dann als Zeichen, wenn der aktiv denkende Interpret es als solches wahrnimmt und auf Grundlage seiner Erfahrung, die er durch seine Fähigkeit zu lernen und Wissen zu speichern erlangt hat, Bedeutung zuschreibt. Weiterhin bestimmen die Beziehung zu anderen Formen und der Kontext, der Interpretationsrichtungen vorgibt, die Bedeutungszuschreibung. Kleidungsstück, Träger, Interpret und Kontext stehen demnach in dem nicht zu trennenden Zusammenhang der Semiose nach Peirce. 10 So steht das denkende symbolbildende Subjekt mit seiner individuellen Realität und seinen individuellen Handlungen im Mittelpunkt der zeichentheoretischen Position und bildet die Schlüsselinstanz von Kommunikation, Semiosphäre 11 und kultureller Entwicklung. Zusammen mit der Gesellschaft formiert das Individuum so seine Umwelt in Zeichen. Die Kleidung wird in einer nächsten Relation zu der Materie der Mode. In dieser Dimension strukturiert die Mode als Sprache die Kleidung, welche, wie zuvor beschrieben, selber eine Sprache ist. Das Medium Kleidung wird zur materiellen Form des Mediums Mode. 12 So wird die Mode zu einem doppelt codierten Zeichen und kann im Sinne Lotmans als sekundär modellierendes künstlerisches System auf symbolischer Ebene verstanden werden (vgl. Lotman 2004: 317). In dieser Bedeutungsebene ist sie ein Medium der Bildung und Modifikation von sozialer Gegenwart. Modellbildend ist das Zeichensystem Mode deshalb, weil es nicht einfach nur der Repräsentation oder Kommunikation dient, sondern - wie uns das Beispiel der Reformkleidbewegung zeigte - zur Erzeugung neuer Bedeutung fähig ist. Durch die Überschreitung der rein kommunikativen Funktion kommt die Poetizität des Zeichens, die Lotman modellierende Eigenschaft nennt, als ästhetisches Motiv im Sinne Ecos 13 zum Vorschein. Seine Funktion liegt in der Verwandlung bzw. Formierung der Realität wie es die symbolischen Formen nach Cassirer leisten. Die Analyse der Mode als Bedeutungsformation auf mehreren Ebenen führt so, neben der ikonischen Dimension in der Analyse ihrer Verschiebungen und ihrer Entwicklungsmechanismen, zu der prozesshaften poetischen Dimension als Strukturmerkmale der symbolischen Form Mode. Im Semiosphäre-Modell nach Lotman wird die Poetizität als Erzeugung von neuen Bedeutungen durch Grenzmechanismen beschreibbar. Die gewebeartige Struktur, die unterschiedlichen Funktionen und den ständigen Austausch mit der Umwelt, prägt die Semiosphäre als einen von Differenzen und Dynamiken sowie Zentren und Peripherien geprägter semiotischer Raum. Durch Übersetzung der Erfahrungen in Codes und Symbole wird das Gewebe wieder stabilisiert. Ausdifferenzierte Systeme werden so zu langsamen Kernsystemen und fremde Codierungen und Symbole aus der Peripherie können durch Eindringen neue Strukturen und Innovationen erschaffen. Sie dienen so als Katalysatoren im kulturellen Mechanismus. Lotmans holistischer Ansatz erfasst so Das Collage-Prinzip als Strukturmerkmal der gegenwärtigen Mode 453 sowohl die synchrone als auch die diachrone Dimension der Kultur und ermöglicht durch das Verständnis von Kultur als dynamischer, von Prozessen geprägter Raum, die Analyse komplex gewachsener Symbolsysteme, wie der Mode. 14 Mit den differenzierten Modellen der Semiotik von Eco und Lotman kann die Neuartikulation von Bedeutung als kreative (schaffende, bildende, gestaltende, formierende) Kraft des aktiv handelnden Subjekts nach Cassirer verstanden werden. Über die Betrachtung der innovativen Momente in der Bedeutungsdimension der sekundären Modellierung kann der Blick durch die Masse der kurzfristigen Kleidung von Industrie, wirtschaftlicher Globalisierung und Werbung hindurch auf die innovativen Formen gerichtet werden. Diese sind als Initiatoren des Modewandels im kulturellen Gedächtnis gespeichert und entstehen als Neuheiten aus der peripheren Kultur wie der Avantgarde, der Haute Couture oder den Subkulturen. So wird in der Mode als System mit künstlerischem Charakter Wandel nicht als Störung, sondern über die Generierung von Bedeutung als innovatives Moment und Motor für Fortschritt und Identitätsbildung verstanden. Solche Bewegungen tragen die Kultur und haben richtungsbestimmende Wirkung. Als symbolische Form befindet sich auch die Mode in ständiger Bewegung und praktischer Gestaltung und ihre überlagerten materiellen Schichten und Bedeutungsdimensionen werden sowohl von sukzessiven als auch von unvorhersagbaren Entwicklungsmechanismen (Explosionen) 15 geformt. Das innovative Moment stellt die entscheidende zukunftsorientierte und innovationstreibende Kategorie für Mode dar und macht die Abweichung von der Regel zur bestimmenden Regel der Mode. Symbolische Formen stehen immer im Spannungsverhältnis zwischen Verfestigung und Evolution, Tradition und Innovation, reproduzierenden und kreativen Kräften. Damit basieren auch Neuheiten auf der Grundlage von Wissen, dem kollektiven Gedächtnis und den stabilisierenden Mechanismen, wie der Festschreibung von Erfahrung in Codes. Als Prozess des Aushandelns von neuen Regeln auf der Seite der Invarianz in der Dialektik der Modecodes oder als experimentelle Überprüfung der Grenzen des Erlaubten durch Normabweichung hat die poetische Eigenschaft der Mode immer provozierende und schockierende Wirkung. Aus der Abweichung von der Regel resultiert ein Unverständnis der Botschaft mit irritierender Wirkung und Zweideutigkeit. Dies lenkt die Aufmerksamkeit des Betrachters, der den Willen hat, das Unverständnis durch Übersetzung in Kommunikationserfahrung umzuwandeln, so dass daraus ein Informationszuwachs entsteht (Bereicherung des Codes), auf die Botschaft selbst (Autoreflexivität) (vgl. Eco 1994: 145-147). Im Falle der Mode ist das die Kleidungsdimension als materielle Form der Mode-Botschaft. Bei der Mode, die wie jedes bildende Denken Formierungen und Symbole braucht, zeigt sich, wie geistige Energie des Menschen an ein konkret sinnliches Zeichen geknüpft wird. “Es gibt auf dem Standpunkt der phänomenologischen Betrachtung so wenig einen ‘Stoff an sich’, wie eine ‘Form an sich’, es gibt immer wieder nur Gesamterlebnisse, die sich unter dem Gesichtspunkt von Stoff und Form vergleichen und ihm gemäß bestimmen und gliedern lassen.” (Cassirer 1964: 231) Die Untrennbarkeit von Sinn und Sinnlichem, Gegenstand und Symbol, Stoff und Form ist besonders in der Kleidermode in ihrer konkreten physischen Materialität alltäglich und permanent präsent, was zeigt, dass die mentale Dimension der Mode (Idee und Konvention) auf die Kleidung (Artefakt) als notwendiges Organ der materiellen Formierung angewiesen ist. Da Zeichen Wahrheit über bestehende Dinge vermitteln können und komplexe Zeichen wie symbolische Formen als Vermittler aktueller Werte und Normen gelesen werden können, Isabelle Prchlik 454 lässt die Mode als Zeichen auch Rückschlüsse auf die Kultur zu. Weiterhin weisen Veränderungen der Mode auf Veränderungen der Gesellschaft hin, denn die Mode spricht nie nur für sich selbst, sondern steht im Symbolnetz der Kultur immer in Bezug zu Zeit, Raum, Individuum und Gesellschaft mit deren Wissen, Werten und Normhorizonten. In ihrer Eigenschaft als Artefakt ist die modische Kleidung ein konkreter Träger der kulturellen Aktivität und steht mit den verschiedenen symbolischen Formen beziehungsweise Zeichensystemen und Texten in der Semiosphäre in Relationen zueinander. Da jede Epoche ihre eigenen Symbole und ein bestimmtes Bewusstsein entwickelt, aus dem die Symbole der Kultur entstehen, sind Symbole als Träger der kulturellen Aktivität somit auch immer an die Form der Zeit gebunden. Die Inhalte des soziokulturellen Zustandes einer Zeit verdichten sich in ihren symbolischen Formen, wie der Mode. Da sich eine Gesellschaft somit durch gemeinsame Signifikationsmodi auszeichnet, können sowohl die Zeichen der materiellen als auch der geistigen Kultur als Seismograf der Gegenwart verstanden werden. Im Umkehrschluss sind durch Dekodierung dieser Formierungen, wie Mode, Rückschlüsse auf das Bewusstsein der jeweiligen Zeit in ihrer mentalen und sozialen Dimension möglich. Als gesellschaftliches Konstrukt, das in Form der Kleidung wahrgenommen wird, wird die innovative Dimension als Teilaspekt der symbolischen Form Mode immer kommunikativ in Interaktion verhandelt, ist Resultat sozialer Kommunikation und damit semiotisches Produkt einer Gemeinschaft. So wird nicht alles, was das Kriterium der Neuheit aufweist, zu Mode, sondern Mode braucht die Gegenwart, den Zeitgeist und die Gemeinschaft, denn Mode existiert nur dann, wenn sie durch das Bewusstsein der Subjekte ins kulturelle Gedächtnis aufgenommen wird. Erst dann durchdringt die Innovation im Modemechanismus die Gesellschaft, als Verlagerung von Peripherie ins Zentrum im Sinne des Semiosphäre-Modells nach Lotman, und gestaltet so die Wirklichkeit. Hier zeigt sich die Vermittlung kollektiver Erfahrung (Commonsense) auf der Ebene des Symbolischen. Symbolische Formen als Objektivation des Gegenwärtigen tragen dabei immer Elemente der Vergangenheit und Hinweise auf die Zukunft in sich. Der Hinweis auf die Zukunft als Motor des Fortschritts ist dabei eine entscheidende Aufgabe der innovativen Ebene des Symbolischen auch in der Mode. So formuliert Walter Benjamin: “Das brennende Interesse der Mode liegt für den Philosophen in ihrer außerordentlichen Antizipation. Jede Saison bringt in ihren neusten Kreationen irgendwelche geheimen Flaggensignale der kommenden Dinge. Wer sie zu lesen verstünde, der wüßte im voraus nicht nur um neue Strömungen der Kunst, sondern um neue Gesetzbücher, Kriege und Revolutionen.” (Benjamin 1982: 112) Eine Eigenschaft der symbolisch strukturierten Welt und damit der symbolischen Formen ist laut Cassirer der Zwang, dass die Menschen sich den Medien des gesellschaftlichen Lebens und ihren Regeln unterwerfen müssen (vgl. Cassirer 1990: 338). Dies trifft auch auf Kleidung und Mode zu. Aber gleichzeitig kann das Subjekt aktiv an deren Hervorbringung und Veränderung Teil haben. So wird die Mode zu der menschlichen Verhaltensform, mit der dem Zwang der Kommunikation durch Kleidung aktiv begegnet werden kann. Die Mode kann als konkrete Identitätsfolie bewusst eingesetzt werden, so dass die menschliche Gestaltungskraft in der symbolischen Form Mode ihre konkrete Ausformung findet. So kann Bedeutung neu formiert und Identität produziert werden. Die symbolische Form Mode stellt eine der konkretesten Projektionsflächen von Identität und damit eine Identitätsfolie dar. Identitätsbildung, ob im individuellen oder kollektiven, findet wie immer durch Interaktion und Kommunikation statt und ist ein ständiger Prozess als Austausch von Information an den Grenzen innerhalb der Semiosphäre. Durch die Fähigkeit Das Collage-Prinzip als Strukturmerkmal der gegenwärtigen Mode 455 der Selbstbeschreibung erlangt das denkende Individuum ein Bewusstsein von “Eigenem” und “Fremden” - Kategorien die in Codes im kollektiven Gedächtnis gespeichert werden - und besitzt damit auch die Fähigkeit zur Individuation und Schaffung eigener semiotischer Räume (vgl. Lotmann 1990: 127, 131 f.). So läuft auch Mode-Verhalten als ständige Verhandlung zwischen dem Fremden und dem Eigenen immer kommunikativ ab. Unter soziologischen Gesichtspunkten zeichnet sich Mode als symbolische Form durch eine Doppelfunktion aus: Einerseits unterstützt sie die Eingliederung in eine Gemeinschaft (Egalisierung) und andererseits fungiert sie als individuelle Identitätsbehauptung (Individualisierung). Mode erfüllt damit sowohl das soziale Abheben als auch das soziale Anlehnen (vgl. Simmel 1905: 10 f., 22). Differenzierung durch Formierung eines neuen Stils eines Individuums oder einer Gruppe ist durch Normbruch möglich, so dass auch innerhalb der primären Codierung Kleidung bereits modellierende Eigenschaften zu erkennen sind. Das Individuum vollzieht dabei Inszenierung im Ganzen und Inszenierung des Selbst als Teil des Ganzen. (Kleidungs-)Identität ist somit nie statisch, sondern stellt einen Prozess dar, der einer ständigen Beeinflussung durch Kommunikation und Interaktion unterliegt. Der Ort von Kleidung als Botschaft ist dabei immer die Öffentlichkeit, ob eine erwartete, beabsichtigte oder erhoffte. Somit ist Mode für das soziale Individuum, das seine Identität in der Kommunikation mit anderen ausbildet, ein ständig präsentes Medium der Bildung und Modifikation von individueller und sozialer Identität. Die Mode als symbolische Form in Kultur und Gesellschaft ist ein offenes System, das zum einen von einer stabilisierenden Grammatik (über Kleidungscodes und über den Code modisch-unmodisch), die soziales Verhalten fördert, und zum anderen von Konflikten, die zu neuer Bedeutung führen, bestimmt ist. Da sich die gewebeartigen kulturellen Strukturen in einer ständigen Dynamik befinden, ändern sich auch die Strukturmerkmale der symbolischen Form Mode. Von einem “Ende der Mode” ist dann nur insofern zu sprechen, wenn sich Veränderungen oder “Enden” bestimmter Strukturmerkmale zeigen. Denn wie Peirce bereits feststellte, wachsen Symbole und neue Ideen führen zu neuen Symbolen und Bewegung in der Kultur. Mittels des Verständnisses der Mode als symbolische Form und der Analyse ihrer Funktionen, Interdependenzen und Transformationen, ist sie als zeichenhafte Objektivation von kulturellen Gegenwarts-Zuständen und Identitäten innerhalb des codierten kulturellen Gewebes identifizierbar. 3 Das Collage-Prinzip als Strukturmerkmal der gegenwärtigen Mode - Ein Ausdruck der europäischen Identität? Wie sieht die gegenwärtige Mode aus? Nach Loschek hat sich die “[…] Mode […] von einer Chronologie verabschiedet und ist parallel zur heutigen gesellschaftlichen Struktur von Diversifikation geprägt.” (Loschek 2007: 13) Die Mode der Gegenwart, lebt “nicht länger von dem Schein, uns mit einem endgültigen Selbst und Selbstverständnis zu versorgen” (Keppler 1995: 403), sondern lässt den Benutzer die Gestaltungsaufgabe zukommen, je ein “vorübergehendes Bild” (ebd.) von sich selbst zu formieren. Dieses Formierungsprinzip entspricht dem postmodernen europäischen Identitätsverständnis. Der Begriff Postmoderne wird nicht als Epochenbegriff, sondern als Sammelbegriff für die aus der Infragestellung der Moderne und ihrer Postulate - nicht Ablösung dieser als Epoche - resultierenden verschiedenen Strukturmerkmale von Kultur und Gesellschaft verstanden (vgl. Behrens 2004: 89). 16 Ein gemeinsamer Nenner postmoderner Strategien ist Isabelle Prchlik 456 dabei die kritische Auseinandersetzung mit und das kritische Verhältnis zur Moderne. Damit ist die Auseinandersetzung auf Grundlage von Entwicklungen wie Säkularisierung, Industrialisierung und Beschleunigung gemeint. Gekennzeichnet ist die Moderne außerdem von Globalisierung, Technisierung und Medialisierung, relativem Wohlstand, Bildungsexpansion, zunehmender Mobilität und Urbanisierung sowie Herausbildung eines komplexen Wirtschaftssystems. Als Universalmerkmal postmoderner Theorie und Handlungspraxis kann dabei die Radikalisierung der Moderne in der Provokation des Bruchs mit dieser durch Pluralisierung der modernen Kultur und Gesellschaft herausgestellt werden. So wird Chronologie zugunsten von Vielfalt und Eklektizismus aufgegeben und singuläre Schlüsselkonzepte der Moderne wie Wahrheit, Vernunft und Ästhetik werden pluralisiert. 17 Das totalisierende dialektische Widerspruchskonzept und Denken in Oppositionen als Kennzeichen der Moderne wird abgelöst von der Strategie, Differenzen hervorzuheben. Dies geschieht durch die Abkehr von totalisierenden Wesensideen der Moderne hin zur Schichtung von Oberflächen. Dieser Zugang ermöglicht es, die Texte der Moderne und ihre Strukturen zu hinterfragen (vgl. Behrens 2004: 24, 38). 18 Indem die Muster und Motive der Moderne wie ihre Geschichtsvorstellung, ihr Zeitbegriff, die auf Vernunft und Sprache beruhende Schriftkultur, das Postulat des Fortschritts oder die Freiheit des Individuums überdacht und neu formuliert werde 19 , findet der Bruch mit der Moderne statt. Die Strategie oder Methodik ist das in Frage stellen der Logik der Texte der Moderne durch Eindringen in deren Struktur und Zerlegung in ihre Einzelteile, die wieder neu zusammengesetzt werden (vgl. Behrens 2004: 10 ff.). Hier zeigt sich das Prinzip der Dekonstruktion, das in der Avantgarde-Mode, durch die kritische Analyse von Ursprüngen, Grundlagen und Grenzen der Mode Brüche aufgezeigt. Im Sinne der Poetik entstehen durch das Zeigen von Formen, die der gewohnten Wahrnehmung völlig entgegen gesetzt sind, irrationale, den Betrachter irritierende Momente. Strukturen werden auf den verschiedenen Ebenen von Mode als symbolische Form dekonstruiert und neu konstruiert. Beispiele sind Werke, die die Dimensionen wie den Entstehungs- und Arbeitsprozess (bspw. Margiela, der Kleider aus alten getragenen Kleidern zusammensetzt, wie einen Pullover aus Socken), den Stoffverschleiß (bspw. die Spitzen-Kollektion 1981 von Rei Kawakubo und Yohji Yamamoto, die durchlöcherte “Kleidlösungen” zeigt), das Gebundensein an den Körper, die Definition von Mode als stetiger Wandel im Entstehen und Vergehen der Mode und auch die Präsentation von Mode auf dem Laufsteg thematisieren. Barbara Vinken und Loschek bezeichnen diese Mode, die von der japanischen Avantgarde um Rei Kawakubo und der späten Antwerpener Schule um Martin Margiela lanciert wurde, in Anlehnung an Jacques Derrida als dekonstruktive Mode (vgl. Loschek 2007: 125 f.; Vinken 1994a: 11 ff., 119 ff.; Vinken 1994b: 10). Diese Merkmale zeigen sich ebenso in postmodernen Identitätskonzepten. Auch der Mensch im Sinne des modernen Subjekts, verstanden als stabile Einheit des Lebens mit einer homogenen Identität durch Selbstbewusstsein und Persönlichkeit, wird als Erfindung der Moderne dekonstruiert. Ein einheitliches konsistentes Subjekt in Opposition zu anderen eindeutigen Einheiten ist deshalb nicht mehr möglich, da die metastabilen Lebensbedingungen von Globalisierung etc. den Menschen zwingen, sich ständig neu zu erfinden. Insofern wird von einem Verschwinden des Menschen, dem “Tod des Subjekts” (Behrens 2004: 82) oder dem “dezentrierten Subjekt” (ebd.) gesprochen, da es sich in eine Biografie der Brüche, Neuanfänge und Flexibilitäten auflöst und Identität im Sinne konstruktivistischer Theorien als ständiges Herstellen und Umbilden, Finden und Werden eines mentalen Gebildes, das das Subjekt formt, verstanden wird. 20 Ähnlich greift hier auch das Argument vom “Ende der Mode”, im Sinne vom Ende einer linearen und homogenen Struktur der Mode. Kohärenz-, Das Collage-Prinzip als Strukturmerkmal der gegenwärtigen Mode 457 Kontinuitätsbrüche und Heterogenität der prozessualen Kultur- und Gesellschaftsmodelle finden sich in den Identitätsmodellen wieder, die das Individuum als Konstrukteur seiner Identität, der kollektive Sinnmuster, Leitlinien und Symbole überprüft, und als Bauteile für eine mehrdeutige Identitätskonstruktion verwendet, versteht (vgl. Kimminich 2003: xiii-xv). 21 Diese Aufgabe, beständig wechselnde Elemente auf individueller Ebene in Einklang zu bringen und Identität somit als produzierbar und nicht mehr vererbbar zu verstehen, wird als Individualisierungstendenz interpretiert. 22 “Individuation heißt deshalb nicht Ich-Zentrierung und Ende eines sozialen Gemeinschaftslebens, sondern es bedeutet den Ausstieg des Subjekts aus Wir-Schablonen, seine Entfaltung zu einem seine Einzig- und Andersartigkeit erkennenden, dabei aber auch verantwortungsfähigen und kommunitären Individuum.” (Kimminich 2003: xxiii) Diese Individualisierung als singulärer Weg der Selbsterfahrung beruht dabei aber noch immer auf dem Ausgangspunkt jeder Identitätsbildung: der Erfahrung von Eigen- und Fremdwahrnehmung als Bewusstwerdungsprozess. Gleichzeitig ist die singuläre Identitätsbildung auch immer noch an Raum und Zeit gebunden und braucht die Auseinandersetzung mit dem individuellem und dem kollektivem Bewusstsein. 23 Neue Formen der Gemeinsamkeit und Lebensführungen, ob als Chancen oder Krisen interpretiert, sind Folge der oben beschriebenen Entwicklungen der Moderne und zeigen sich im biografischen Horizont des Subjekts als Entstandardisierung von Lebensläufen, Lösung aus kulturellen und sozialen Mustern und auch als soziale Zwänge oder Entscheidungs- und Gestaltungsfreiheiten in Hinblick auf Beruf, Wahlverhalten, Religion sowie Partner- und Familienkonstellation (vgl. Beck-Gernsheim 1998: 126). 24 Das Individuum gehört somit einer Vielzahl von Gruppen an und ist bestimmt vom fraktalen Erleben wechselnder Lebenssituationen, von Additionen, die Handlungsspielräume erweitern, sowie von einer Form der Gemeinschaft, die Differenzen und Heterogenität in sich duldet (vgl. Kimminich 2003: xxi; Keupp 1996: 380; Keppler 1995: 403). So “sampelt” es sich sein Weltbild zusammen (vgl. Rohr & Schulz 2009: 22). Die von der Soziologie als Zunahme von Handlungsspielräumen und Wahloptionen interpretierte Veränderung der Wirklichkeitsschichten geht einher mit der Veränderung der Wahrnehmungsstruktur: Die Subjekte nehmen die zeichenhaft strukturierte Umwelt - entsprechend der Aufgliederung dieser - als differenzierter wahr (vgl. Rhein 2006: 30 sowie Schulze 2005: 249). Es zeigt sich, dass gegenwärtige Identitätsbildungsstrategien genau wie die theoretische Auseinandersetzung mit der Moderne gekennzeichnet sind vom Verfahren der Collage. Begriffe wie Pluralisierung, pluri-kulturell und pluri-lokal oder Patchwork-Identität verweisen eher auf Stile, Codierungen oder kulturelle Einheiten nach Eco im Sinne von Strukturen der Identitätsbildung, die, wie bei der Collage, sichtbar gemacht werden, um sie dann selektiv zusammenzufügen. Darüber hinaus, so kritisiert Kimminich, blendet die Verwendung von Begriffen und Schlagworten der Postmoderne wie Multikulturalismus und Hybridität oftmals die geschichtliche Dimension aus (vgl. Kimminich 2003: xxv). Führt man solche Begriffe auf kulturelle Codierungen und Bedeutungsebenen von Zeichensystemen im Sinne der Semiotik zurück, bleiben sowohl die diachrone als auch die synchrone Dimension impliziert. Aktuelle kultursemiotische (Identitätsbildungs-)Modelle betonen so das Verständnis von Kultur nicht mehr als Ort, der für das Fremde geöffnet ist, sondern als Ort, der das Andere bereits impliziert (vgl. ebd.: xi). Hier zeigt sich das Potential des Semiosphäre-Modells nach Lotman als ein Raum von Differenzen, in dem der Ort der Grenze ein Ort der Sinnbildung durch Zusammenkunft von Eigenem und Fremdem, Innen und Außen, Zentrum und Peripherie ist. Isabelle Prchlik 458 Dabei stehen alle Zeichensysteme in Beziehungen und ständigen Dynamiken zueinander und können bewusst anhand der Grenze Spannungen zueinander aufbauen. Die Strategie, die Kultur als heterogenen Raum in Schichten und Differenzen und nicht in Oppositionen zu denken, diese Strukturen zu hinterfragen, indem sie in ihre zeichenhaften Elemente oder Codierungen zerlegt werden (so werden Grenzspannungen im Sinne Lotmans sichtbar), um sie dann im Sinne der Dekonstruktion wieder neu zusammenzusetzen, bestimmt auch das Verfahren der Collage als ein Prinzip, das seinen Ursprung im Bereich der bildenden Kunst hat. Die Welt im Sinne der Semiotik als Text zu verstehen und in Codierungen einzuteilen, wird hier als Grundlage für das Collage-Prinzip verstanden, bei dem einzelne nicht zusammengehörende Einheiten mit dem Ziel des Normbruchs, was neue Informationen schafft, zusammengesetzt werden. Aus semiotischer Perspektive handelt es sich somit um ein genuin poetisches Prinzip. Das Collage-Prinzip zeigt auch, dass etwas Neues nicht ohne Bezugnahme auf Texte und bestehende stabilisierende Codierungen geschaffen werden kann. Das kulturelle Gedächtnis hat dabei die wichtige Funktion, Bedeutungen zu speichern, aus denen die Subjekte dann wieder Elemente wie Zeichen und Texte nutzen, um die Entwicklung und Dynamik weiter voranzutreiben. Diese mögliche Strategie die Strukturen der Kultur - auf Grundlage der differenzierten Wahrnehmung dieser in ihrer Zeichenhaftigkeit - zu bearbeiten, kann anhand der Mode aufgezeigt werden, so dass das Collage-Prinzip als ein Strukturmerkmal der gegenwärtigen europäischen Mode erkennbar wird. Bereits von den Wortbedeutungen her lassen sich Parallelen zu Begriffen wie Patchwork oder Hybridität erkennen. Der aus dem Französischen stammende Begriff Collage wird als “[…] (künstlerische) Komposition, die aus ganz Verschiedenartigem, aus vorgegebenen Dingen verschiedenen Ursprungs, Stils zusammengefügt ist (z. B. Klebebild).” (Duden Das Fremdwörterbuch 2001: 182 f.) Bzw. “Kunst aus Papier od. anderem Material geklebtes Bild, auch für literar. od. musikal. Komposition aus verschiedenen sprachl. bzw. musikal. Materialien; collagieren (aus verschiedenen Materialien zusammensetzten).” (Duden Rechtschreibung 1996: 193) verstanden. Der Begriff Assemblage bezieht sich auf einen dreidimensionalen Gegenstand, der aus verschiedenen Objekten kombiniert ist (vgl. Duden 2001: 95). Die Montage als ein aus der Technik und Industrie stammender Begriff der Industrialisierung mit ihren arbeitsteiligen Produktionsmethoden bezieht sich darauf, dass die arbeitsteilig produzierten Teile zusammengesetzt - montiert - werden. “Die Montage setzt die Fragmentierung der Wirklichkeit voraus und beschreibt die Phase der Werkkonstitution.” (Bürger 1974: 98) In diesem zeitgeschichtlichen Umbruch, bezogen auf wirtschaftliche Produktion, zeigt sich bereits das Strukturierungsprinzip, das auch im Zusammenhang mit Urbanisierung, Medialisierung etc. zu einer “Realmontage” (Möbius 2000: 118) der gesamten Gesellschaft führte, die aktuelle Identitätstheorien beispielsweise mit dem Begriff Patchwork-Identität beschreiben (vgl. ebd.: 117 ff.). Der Begriff Montage setzte sich in der Moderne bezogen auf Literatur, Lyrik oder Erzählkunst (beispielsweise James Joyces Ulysses), Musik, Film (beispielsweise Sergei Eisenstein), Fotografie und auch Theater (beispielsweise Brechts episches Theater) oder Werke der bildenden Kunst als ein aus ursprünglich nicht zusammengehörenden Einzelteilen zu einer neuen Einheit zusammengesetztes Werk durch. 25 Besonders bekannt wurde die Montage als Technik für die moderne Filmästhetik, bei der aus einzelnen Handlungs- und Bildeinheiten ein Film entsteht, während das Sampling als Bezeichnung für Zusammenstellung und Mischung auf tonaler Ebene, wie beispielsweise verschiedene Musikstücke am Mischpult, verwendet wird (vgl. Duden 2001: 649, 888). Der biologische Begriff Hybrid, der Das Collage-Prinzip als Strukturmerkmal der gegenwärtigen Mode 459 sich von dem lateinischen Begriff hybrid herleitet, unter dem etwas Gemischtes, von verschiedener Herkunft Zusammengesetztes verstanden wird, bezieht sich auf Arten- und Rassenkreuzungen (vgl. ebd.: 404). Dieser Begriff hielt auch Einzug in die kulturtheoretische Diskussion (vgl. Kimminich 2003: xxvi). Patchwork bezeichnet wieder eine Technik, bei der Stoffe durch das Zusammensetzten von Textilflicken, hergestellt werden. Im Bereich der audiovisuellen Medien zielt der Begriff Postproduktion auf die Logik von Auswahl und Kombination bereits existierender Elemente für die Generierung eines neuen Stils ab. “Since the early nineties, an ever increasing number of artworks have been created on the basis of preexisting works; more and more artists interpret, reproduce, re-exhibit, or use works made by others or available products, this art of postproduction seems to respond to the proliferating chaos of global culture in the information age, which is characterized by an increase in the supply of works and the art world’s annexation of forms ignored or disdained until now.” (Bourriaud 2002: 13) Die Leitfigur stellen dabei der DJ und der Programmierer dar, deren Aufgabe es ist, zu selektieren und das selektierte in neue Kontexte setzen (vgl. Bourriaud 2002: 13; Gaugele 2005: 227, 234). Die technischen Entwicklungen im Bereich der digitalen Medien erweitern somit stets die Möglichkeiten der Collage und Montage als Ursprungsverfahren. Als Kunstform der Stunde beschreibt Kortmann in der “Die Zeit” im April 2009 das sogenannte Mash- Up, dessen Prinzip es ist, Inhalte, die nicht für eine Mischung bestimmt sind, zu vermischen. Auf dem Collage-Prinzip beruhend werden sämtliche Formen von digitalen Dateien, ob in Text-, Ton- oder Bildform, bewusst konfrontativ und gegensätzlich kombiniert. Anarchisch werden mittlerweile nicht mehr nur digital verfügbare Artefakte und Mentefakte, wie Videos des Internets, klassische Romane oder Dialekte, experimentell zur Kollision gebracht. “Ein Mash-Up ist ein ästhetischer Teilchenbeschleuniger.” (Kortmann 2009: 41) Dabei ist das Ergebnis extrem schwer voraussagbar, da es erst im Moment der Wahrnehmung nach dem Zusammenprall, als etwas Unerwartetes erscheint. Fehlversuche und Verpuffung sind dabei im großen Raum des Internets inklusive (vgl. ebd.: 41 f.). Lotmans Begriff der Explosion verdeutlicht dieses Prinzip aus kultursemiotischer Perspektive. Die Explosion ist neben der sukzessiven kontinuierlichen Vorwärtsbewegung ein kultureller Bewegungsprozess in der Semiosphäre, der der Bedeutungserzeugung dient und dadurch die Möglichkeit neuer Identitätskonstruktion bietet. Im Gegensatz zu den sukzessiven Vorwärtsbewegungen sind Explosionen von Unvorhersagbarkeit, dem Zufall und dadurch von potenzierten Energien und erhöhter Information geprägt. Durch die retrospektive Beschreibung dieser Unvorhersagbarkeit aber wird sie in die kulturelle Entwicklung integriert und so als Teil des kulturellen Gedächtnisses zu einem sukzessiven Prozess (vgl. Lotmann 2000: 18, 22 ff., 101). Besonders das Mash-Up machte deutlich, wie die Subjekte die Welt in Einheiten wahrnehmen, denn die Welt wird bewusst in “Dateien” mit ihren jeweiligen Codierungen, ob als Video, Bild, gedruckter Text oder regionale Stereotype, zerlegt. Als Vorläufer auf digitaler Ebene und sich dabei auf Bilder beschränkend, entstand in den 1990er Jahren das computerbasierte Compositing, dass die Abfolge von Bildelementen ähnlich der Montage ändert, jedoch immer mit dem Ziel, ein stimmiges Gesamtbild zu schaffen. So entstand die Ästhetik der Überblendung, die Grenzen verwischt, um Kontinuität und Glätte zu erzielen (vgl. Gaugele 2005: 227). Hier zeigt sich, wie Grenzen bewusst aufgelöst werden, während in den 1980er Jahren das Kreieren visueller Dissonanzen durch Betonung historischer Referenzen und Medienzitate die Ästhetik bestimmte. Diese visuelle Ästhetik bestimmte auch die Subkulturen dieser Zeit, deren Lebensstil in wissenschaftlichen Untersuchungen mit dem Begriff Bricolage be- Isabelle Prchlik 460 schrieben wird (vgl. Hebdige 1998: 396). Der durch den Anthropologen Claude Lévi-Strauss in den 1960er Jahren als Bastelei - das französische “coller”, von dem sich der Begriff Collage ableitet, heißt übersetzt “kleben” und beschreibt damit auch eine Basteltätigkeit - im Bereich von Kulturen, die keine Schriftkultur besitzen, geprägte Begriff, beschreibt die Tätigkeit von Volksgruppen, ihre Welt durch Zerlegung in konkrete Grundelemente auf magischer Ebene zu strukturieren. (Beispielsweise in Mythen, Aberglaube oder Hexerei) (vgl. Lévi-Strauss 1968: 29 ff.). Die Bricolage subkultureller Gruppierungen auf vestimentärer Ebene 26 begann in Europa in den 1960er Jahren und bezieht sich auf die Art und Weise des von der Wirtschaft vorgegebenen Warengebrauchs. So werden beispielsweise von den Punks Massenartikel wie Nadeln, Wäscheklammern, Rasierklingen oder Elektronikteile, aus ihrem scheinbar “natürlichen” Zusammenhang genommen und entgegen ihres konventionellen Gebrauchs in den Bereich der Kleidung transferiert. Durch das Lösen der Zeichen aus ihrem ursprünglichen Kontext als radikale Dekontextualisierung mit der zusätzlichen Wandlung der Funktion (die Sicherheitsnadel wird zum Körperschmuck) findet eine radikale Bedeutungsverschiebung statt (vgl. Hebdige 1998: 359, 398). 27 Im Sinne der Lotmanschen Logik der Semiosphäre werden Zeichensysteme aus nicht-vestimentären Bereichen in Bezug zum vestimentären Zeichensystem gesetzt und erzeugen so eine Kollision zwischen zwei fremden Bereichen. So findet durch den bewusst hergestellten Grenzmechanismus Informationsaustausch zwischen den Systemen statt. Dieser Vorgang des Zusammentreffens fremder Bereiche entspricht dem Collage-Prinzip. Die Technik der Bricolage zielt bewusst auf die Befreiung der Zeichen von ihrem ursprünglichen Sinn hin zu einer Leerung des Zeichens von der Bedeutung ab. 28 Als weitere Beispiele können hier exemplarisch der Teddy-Boy-Stil und der Mod-Stil genannt werden. Mitglieder der Teddy-Boy-Subkultur trugen die britische Flagge als Jackett und edwardianische Anzüge in Kombination mit proletarischen Pomadefrisuren. Auf diese Weise löschten die Mods die Konnotationen von Zeichen der Geschäftswelt wie Anzug oder Krawatte genau wie von mit Biedermann-Konnotation aufgeladenen Symbolen durch Umfunktionierung der Artefakte. In der konsequenten Anwendung von Chaos, Brüchigkeit und Mangel an Festigkeit liegt dann wieder die vermeintliche Einheit des subkulturellen Punk-Stils (vgl. Hebdige 1998: 396 f.). Die gezielte Gegenüberstellung oder Vereinigung von unvereinbaren Realitäten entspricht auch der surrealistischen Praktik der Collage. Die motivierte Kommunikation der Subkulturmitglieder durch die Strategie der Bricolage macht deutlich, wie Individuen durch die bewusste Zurschaustellung der Zeichenhaftigkeit von Objekten gezielt mit Codierungen spielen, um einen Effekt zu erzielen. Es handelt sich dabei um das bewusste Brechen einer Norm auf Code-Ebene mit schockierender und provozierender weil verfremdender Wirkung, die die Aufmerksamkeit des Betrachters, nach der Autoreflexivität als poetischen Eigenschaft des Zeichens nach Eco, auf das Zeichen an sich lenkt. Im Falle der Kleidung oder der Massenartikel wie die Sicherheitsnadeln, die zur Kleidung gemacht werden, ist dies die materielle Form. So wird, der Interpretation Hebdiges von der Leerung des Zeichens folgend, die Britische Flagge für die Mods zum reinen Material für das Jackett. Durch die bewusste Umstellung von kulturellen Einheiten wird ihre Codierung im Sinne der ästhetischen Funktion des Zeichens verändert. Denn anders als beim Prinzip der Kopie soll aus dem explosiven Zusammenbringen unvereinbarer Realitäten bei der Collage etwas Neues entstehen. Dass dabei immer auf Grundlage und mit Bezugnahme auf das kulturelle Gedächtnis und bereits in der Semiosphäre bestehender Texte und Codierungen gearbeitet wird, ist, wie die oben erläuterten kultursemiotischen Modelle zeigten, Grundbedingung für jede kulturelle Tätigkeit. Das Collage-Prinzip als Strukturmerkmal der gegenwärtigen Mode 461 Im Collage-Prinzip werden diese Codierungen bewusst eingesetzt, indem in ständiger experimenteller Überprüfung der Grenzen mit diesen gespielt und sie dadurch aufgezeigt werden. So wird in der Semiosphäre durch Kollision neue Information geschaffen. Lotmans semiotisches Modell zeigt, wie Texte aus der Peripherie, die aus Sicht des Zentrums als unkorrekt empfunden werden, ins Zentrum eindringen, und Innovationen genau dann entstehen, wenn die Regeln des Textes durch die Regeln des eindringenden Textes rekonstruiert werden und so eine neue Struktur entsteht (vgl. Lotman 1990: 137). Besonders interessant sind nach Lotman die Fälle, bei denen das Eindringen eines Textes in einen anderen Text klare semantische Funktionen erhält, da die verschiedenen Strukturen und Codierungen der Texte bestehen bleiben und so sichtbarer Faktor der Konstruktion sind. Das ist beispielsweise der Fall bei rhetorischen Konstruktionen oder bei der einfachsten Variante dieses Prinzips, der Einbindung eines Abschnitts, der den gleichen Code besitzt, diesen aber doppelt, wie beispielsweise beim Film im Film (dokumentarischer Film wird in Spielfilm eingebaut). Die Grenzen der jeweiligen Texte werden auf diese Weise betont und ein Spiel mit diesen Grenzen und den jeweiligen Codierungen ergibt sich (vgl. Lotman 2000: 66 f.). Solche Formen der Collage liefert Margiela, wenn er einen Pullover aus Handschuhen herstellt im Sinne von Kleidung in Kleidung (vgl. Jones & Mair 2005: 313). Als Vorläufer der Collage-Künstler des Dadaismus und Surrealismus zu Beginn des 20. Jh.s 29 und der Pop-Art der 1950er Jahre gelten Duchamps Ready-mades, die seit 1913 ausgestellt wurden und einen sichtbaren Bruch hin zu einem konstruierten Zusammenhang zeigten. Duchamp überführte fertige Industrieprodukte, meist Alltagsgegenstände der Massenproduktion, in die Kunstrealität und verzichtete dabei auf weitere Gestaltung am Objekt. Als Avantgardist praktizierte er eine Ästhetik des sinnlichen Wahrnehmens, durch Verunsicherung und Veränderung von Sehgewohnheiten und Perspektiven (vgl. Behrens 2004: 49; Möbius 2000: 118; Daniels 1992: 166). 30 Seine Poetik zielt somit bewusst auf die Perzeption und die symbolische Referenz, in dem das Subjekt die symbolisierende Tätigkeit vollzieht und Bedeutungskonstitution satt findet, ab. Bei Duchamp wird er selbst als Subjekt zum Menschen, der Kunst zu Kunst macht, weil er sie ins Museum bringt, genau wie der Betrachter das Objekt zu Kunst - das Zeichen zum Zeichen - werden lässt. So fordern die Readymades als Codierungen mit poetischer Eigenschaft die Wahrnehmung und die symbolisierende Tätigkeit des Subjekts heraus. Dies kann erst geschehen, wenn das Objekt gemäß des Collage-Prinzips mit einem ihm fremden Element - in diesem Fall die Kunstausstellung - aufeinander trifft. So ist das Wesentliche am Ready-made, dass es ausgestellt wird, denn ohne Präsentation im Kunstkontext - der musealen Ausstellung -, die das Ready-made erst zu diesem macht, würde das Objekt der Gegenstand bleiben, der es ist (vgl. Daniels 1992: 167). Auch die bewusst auf Entmaterialisierung angelegten Kollektionen des Avantgarde-Designers Margiela stellen im Sinne der Avantgarde-Künstler des 20. Jh.s eine Ästhetik des sinnlichen Wahrnehmens dar. Ein Beispiel ist seiner ersten Kollektion 1995/ 96, die er vergrub, um sie verwesen zu lassen, oder seine Kollektion von 1997, bei der er in einer Freiluftausstellung in Rotterdam Kleider zeigte, die von Bakterien zersetzt wurden. So thematisierte er neben der Vergänglichkeit der Mode in einem weiteren Schritt auch die Mode als symbolische Form und ihre Funktionen in der Kultur bis hin zur Selbstauflösung des gesamten Modesystems. Diese Beispiele zeigen, wie nah Margiela an der konzeptionellen Kunst liegt: Entmaterialisierung wird thematisiert und am Ende sind von dem Kunstprojekt selbst keine original-materiellen Objekte mehr vorhanden, sondern nur noch verbale oder fotografische Dokumentationen übrig. In diesem Sinn macht Margiela Mode über die Mode: Meta-Mode (vgl. Dercon 2008: 52; Loschek 2007: 78; Behrens 2004: 71 f.). Im Sinne der Bedeutungsdimensionen von Mode Isabelle Prchlik 462 als symbolische Formen befindet sich diese Form der Mode auf der Ebene des Symbolischen nach Peirce, des Künstlerischen nach Lotman und hat als Zeichen poetische Eigenschaft. Die bewusste Nutzung der Spannung von Eigenem und Fremden bzw. der Elemente der Semiosphäre untereinander in der Kunst, um fremde Codierungen als Katalysator im Sinne der Lotmanschen Bedeutungsgenerierung einzusetzen, zeigt sich auch im Montage-Prinzip nach Adorno. “Der Schein der Kunst, durch Gestaltung der heterogenen Empirie sei sie mit dieser versöhnt, soll zerbrechen, indem das Werk buchstäbliche, scheinlose Trümmer der Empirie in sich einlässt, den Bruch einbekennt und in ästhetische Wirkung umfunktioniert.” (Adorno 1970: 232) Die Montage als Gestaltungsprinzip des Kubismus zu Beginn des 20. Jh.s 31 war auf den Schock angelegt und hat nach Adorno die “Negation der Synthesis” (ebd.) zum Paradigma. So brach es als innovatives avantgardistisches Prinzip in der Kunst mit dem bis dahin vorherrschenden Prinzip des planvollen harmonischen Ganzen und der organischen Einheit. Was Adorno hier bezogen auf die Kunst beschreibt, findet sich in den oben skizzierten aktuellen Identitätstheorien als Strukturmerkmal wieder. So beschreibt auch Adorno das Montage- Prinzip als Strukturmerkmal der Moderne. “Das rückt die Montage in einen weit umfassenderen Zusammenhang. Alle Moderne nach dem Impressionismus, […] schwören dem Schein eines in der subjektiven Erfahrungseinheit, dem ‘Erlebnisstrom’, gründenden Kontinuums ab.” (ebd.: 233) Ziel des Gestaltungsprinzips der Montage war es, die reinen Fakten nicht über die Form oder den Begriff zu vermitteln, sondern diese direkt auszustellen. So wird gezeigt, dass die Zeichen nicht auf die Wirklichkeit verweisen, sondern Wirklichkeit sind (vgl. Adorno 1970: 232 ff. und Bürger 1974: 98 f., 105, 108). Dies entspricht aus semiotischer Perspektive der Autoreflexivität als Eigenschaft der ästhetischen Botschaft nach Eco, die besagt dass die Aufmerksamkeit auf die Botschaft an sich gelenkt wird (vgl. Eco 1994: 145-147). In der Mode, in der die Mitteilung der Botschaft auch die Form der Botschaft ist, kann das Prinzip der Collage/ Montage auf den verschiedenen Bedeutungsebenen von Mode als symbolische Form nachgewiesen werden. Auf der materiellen Ebene zeigt es sich dann in der Stofflichkeit und ihren Formierungen. 32 Die Design-Mode von Coco Chanel ist bekannt für den “total look”, der zu Anfang des 19. Jh.s als Revolution im Damenbekleidungsbereich, bezogen auf Materialien für Frauenkleidung sowie die Silhouette und die Proportionen des Körpers der Frau gesehen wurde, stellt ein Beispiel für das Collage-Prinzip auf diesen Ebenen dar. Die Struktur (auf materialer Ebene und in den Schnittformen) des Chanel-Kostüms weist Kombinationen von bereits semiotisiertem Material aus den Bereichen Arbeitskleidung, Matrosenkleidung und männliche Kleidung auf. Das Chanel-Kostüm galt auch deshalb als modern, praktisch, klassisch, funktional und weiblich. Dieses Beispiel zeigt wie Bedeutungen auf physische Eigenschaften der Kleidung und Formierungen wie Schnitte zurückzuführen sind. Materialien und ihre Formungen beinhalten demnach Codierungen, die dem Collage- Prinzip folgend aus oppositionellen Realitäten - bei diesem Beispiel: nicht arbeitende ausstaffierte kurvige Frau im Gegensatz zur der arbeitenden Männerschaft - neu zusammengestellt werden. Die mit Arbeit und Männlichkeit codierten Formen und Materialien fanden sich im Chanel-Kostüm für die Frau wieder, die zu der Zeit den Arbeitsmarkt eroberte. Darüber hinaus dekontextualisierte Chanel auch Codierungen aus dem Bereich Lebensstil und auf regionaler Ebene (im Sinne von Ortsgebundenheit), indem sie die Codierung des Chanel- Das Collage-Prinzip als Strukturmerkmal der gegenwärtigen Mode 463 Jäckchens dem Bauernjanker aus der Alpenregion entlieh (vgl. Loschek 2007: 127; Giannone 2005: 67 f.). Das Collage-Prinzip lässt sich am mentalen Codierungs-Komplex “Ethno” sehr anschaulich als Grenzen aufzeigendes Prinzip erklären. Seit den 1960er Jahren zeigt sich auf dem europäischen Modemarkt diese Demokratisierung und Liberalisierung der Mode, weg von der vertikalen hin zu einer horizontalen Struktur. Die Demokratisierung der Mode führte seit den 1960er Jahren zu Diversifizierung, Liberalisierung und auch Internationalisierung. Damit ging auch eine starke Internationalisierung einher und nationale Differenzen wurden sichtbar und bewusst in der Mode betont (vgl. Black & Garland & Kennett 1983: 163, 167, 192) 33 . “Ethnic-Crossing”, zunächst als innovative Kleidungsform von den Hippies der 1960er Jahre als Ausdruck des politischen Ziels der Egalisierung und der “one world” getragen, wurde bald von Designern wie Kenzo aufgenommen (vgl. Loschek 2007: 131). Kenzo wählt fertige Kleidungsstücke. Beispielsweise kombiniert er Norwegerpullover mit türkischen Pluderhosen. Während Chanel also männlich konnotierte Materialien und den Schnitt des Bauernjankers zitiert, um sie in den Kontext des “total look” zu integrieren, arbeitet Kenzo auf der Ebene der Kleidung, um sie neu zusammen zu setzen. Vivienne Westwood greift immer wieder auf englische und schottische gemusterte Stoffe zurück, die sie als Elemente im Sinne von lokalen Signifikanten in ihre Kleidungsstücke integriert. Das Collage-Prinzip greift bei diesem Beispiel also innerhalb der Mode als symbolische Form sowohl auf der Bedeutungsebene der codierten Kleidungsstücke als auch in bestimmten Teil- Elementen dieser auf der Ebene der Schnitte, Materialien oder Muster. Der übergreifende Codierungs-Komplex bleibt dabei “Ethno”. John Gallianos “Mapping the World” Herbst/ Winter 2004/ 05 Kollektion zeigt exemplarisch wie sich der Designer weltweit möglicher Formierungen aus dem Themenbereich “Ethno” bedient. Er fügte Kleidungsstücke und einzelne Elemente wie Schnitte, Stoffe und Muster aus verschiedenen Epochen und Ländern wie dem Jemen, Peru oder Vietnam und auch von osteuropäischen Trachten zusammen. Zusätzlich werden andere Codierungs-Komplexe integriert: Zeit (beispielsweise wählt Galliano als barock codierte Formen wie bestimmte Rüschen für seine Kollektionen) oder Geschlecht (in erster Linie werden männlich konnotierte Elemente adaptierend in die Frauenmode - das Hemd wird zur Bluse - eingearbeitet, während sich beispielsweise der Männerrock in den späten 1990er Jahren nicht durchsetzte). Bei Westwood werden im Codierungs-Komplex “soziale Gruppen” Punkelemente mit aristokratisch konnotierten Elementen “gekreuzt” (vgl. ebd.: 131, 140 f., 147). Letztere Beispiele zeigen, wie sich Mode kultureller Mentefakte wie Nation, Geschlecht oder Zeit-Epochen bedient, diese in ihre Einheiten zerlegt, um sie dann wieder zusammenzusetzen. 34 Die sozialwissenschaftliche Forschung liefert Ergebnisse, beispielhaft wird hier Gerhard Schulze 2005 gewählt, die zeigen, dass Individualisierungstendenzen keineswegs zu einer atomisierten Gesellschaft führen, sondern sich auch weiterhin gesellschaftliche Gruppierungen ausmachen lassen, deren Definitionsrahmen allerdings weg von Kategorien wie Klasse oder Schicht hin zu Lebensstil führt. Die ausdifferenzierten Gestaltungsmöglichkeiten, die zur Ausbildung von Identität führen, brauchen Präsentations- und damit Formierungsebenen, die sich besonders in Präsentationsformen wie der Mode finden (vgl. Schulze 2005: 75 ff.). Neue Formen der Gemeinsamkeit und Lebensführung werden in erster Linie von Jugendlichen oder jugendlichen Subkulturen entworfen (vgl. Kimminich 2003: xxi). So ist das Prinzip der Postmoderne mit dem Individualismus bereits selbst zu einem Lebensstil, einer Geisteshaltung oder eben einer Vorgehensweise für Jugendliche geworden. Jugendliche verwenden das Sampling (der Begriff wird von Gaugele verwendet) von Kleidungsstücken als Gegenstrategie Isabelle Prchlik 464 zu Markenkult und Massenproduktion, die sie mit Uniformität und damit als verwerflich und oberflächlich gleich setzen. Im Sinne des Differenzierungsmechanismus nach Georg Simmel grenzen sie sich so als Individualisten und authentische Subjekte in ihrer Einzigartigkeit von den “Markenkult-Uniformisten” ab (vgl. Gaugele 2005: 223-225; Behrens 2004: 87 f.) 35 . Da sie als “Sampler” gezielt den Lebensstil des Individualismus praktizieren, formieren sie auf diese Weise wieder eine Einheit, so dass Individualismus wieder in Uniformität umschlagen kann. Im Sinne Lotmans schaffen sich die Jugendlichen so ihren eigenen semiotischen Raum und somit Identität. “D. h., auch das Kombinieren verweist auf geschlechter- und gruppenspezifische Formen und Codes.” (Loschek 2007: 191) Bei diesem Fall wird die Praxis des Kombinierens selbst zum Code. Auch das Deutsche Mode-Institut 36 beobachtet das Collage- Prinzip als eine Codierungsform, die die gesamte Mode-Welt bis hin zu Konfektion und Street-Style durchzieht: “Wenn wir auf die Mode schauen, haben wir statt eindeutiger Bilder ‘Collagen’ vor uns, in denen sich ganz unterschiedliche Einzelteile zu immer neuen und ganz unterschiedlichen ‘Looks’ zusammenfügen. Dabei gehören stilistische Brüche und Widersprüche inzwischen zur Normalität; sie sind die typische Reflektion der Mode auf unser modernes Leben.” (Deutsches Mode-Institut 2009: o. S.) So dokumentierte das Deutsche Mode-Institut das Collage-Prinzip in der getragenen Straßen- Mode 2009 in Berlin anhand von 5.000 Straßenfotos modebewusster Menschen zwischen 20 und 35 Jahren (vgl. Dörre 2009: o. S.). Der Designer und Modeschöpfer Michael Michalsky stimmt dem zu, indem er den “Genre-Mix”, der sich im Street-Style formiert, als den heute “modernen” Stil befindet. 37 Auch die Sortimente und Looks der Bekleidungsindustrie werden gemäß dieser Struktur einzelteiliger, Stilbrüche wichtiger und Kollektionen collagenartig zusammengestellt. 38 Westwood formuliert in Fortführungen der Erkenntnis, dass das Zeitalter der provozierenden Anti-Moden vergangen ist programmatisch: “Mittlerweile aber gibt es fast alles. Nichts ist noch extrem oder anders. […] In einer Zeit der Gleichförmigkeit ist es das Subversivste, was man tun kann: den Menschen eine Wahl zu bieten. Und das tue ich.” (Westwood 2003: VIII) Im ständigen Dualismus des Symbolischen zwischen Streben nach Individualität und Eingliederung in eine Einheit konnte die symbolische Form Mode als Bedeutungsträger anhand des Strukturmerkmals der Collage sowohl in ihren stabilisierenden als auch in ihren Innovationen generierenden Eigenschaften beschrieben werden: So stellt das Collage-Prinzip für das Bricolage betreibende Subkulturmitglied und den Sampling praktizierenden Jugendlichen ein festes Prinzip der Identitätsformierung dar und wirkt so stabilisierend. Genau so benutzen diese Individuen das Prinzip aber auch, um modellierend neue Bedeutung in der Semiosphäre zu erzeugen. Mode-Designer verwenden das Collage-Prinzip, um in Themenbereichen (hier wurde exemplarisch das Themengebiet “Ethno” gewählt) neue Bedeutung zu produzieren, die aufgrund ihrer innovativen Eigenschaft im Rahmen des Zeichensystems der Mode sekundär modellbildend wirkt. Das Collage-Prinzip als Prinzip der Gegenwart, 39 hier exemplarisch anhand aktueller Identitätstheorien und künstlerischer Verfahren eingeführt, konnte als ein die verschiedenen strukturellen Bereiche der symbolischen Form Mode durchziehendes Prinzip nachgewiesen werden: Mit Hilfe des Semiosphäre-Modells Lotmans konnte gezeigt werden, wie das Collage-Prinzip als die Grenzmechanismen der Semiosphäre strukturierendes Prinzip als Kommunikationsmechanismus zwischen fremden Zeichensystemen eingesetzt wird. Beispielhaft wurde gezeigt, wie sich die Punks der Massenprodukte bedienen, die nicht zum Das Collage-Prinzip als Strukturmerkmal der gegenwärtigen Mode 465 Zeichensystem der Kleidung gehören, diese aber als solche zu nutzen. Auf der medialen Ebene setzen Individuen singulär und als Teil einer Gruppe das Collage-Prinzip bewusst als Kleidungstechnik ein, um in Abgrenzung zum “Anderen” ihre Identität beispielsweise bewusst als Sampler zu kommunizieren. Zum anderen können innerhalb des Modecodes bereits vestimentär semiotisierte Codierungen, die im vermeintlichen Gegensatz zueinander stehen, zusammen treffen. Diese Codierungen werden über die Ebenen des Mediums Mode, die materielle Kleidung, ihre verschiedenen möglichen Formierungen wie Schnitt, Muster, das gesamte Kleidungsstück, die Kollektionen der Industrie oder das selbst zusammengestellten Outfit des Individuums kommuniziert. Beispielhaft wurden Chanels “total-look”, die Sampling betreibenden Jugendlichen, die Designer Kenzo und Westwood sowie die Modehandeln betreibenden Individuen genannt. Innerhalb dieses Codes können auf der Ebene der inhaltlichen Konnotationen innerhalb eines Themengebietes, wie Ethno, Differenzen, wie Nationen, kombiniert und diese darüber hinaus in Kombination mit weiteren Themengebieten wie Zeit “collagiert” werden. Im Sinne des Collage-Prinzips können so entsprechend der materiellen Schichtung der Kultur immer weitere Ebenen “collagiert” werden. Aufgrund des Verständnisses von Kultur als Text und der Dekonstruktion - als der Collage zugrunde liegenden Technik - können die Ebenen als Codierungen erkennbar gemacht werden. Dass diese Codierungen wieder selbst verschiedenartige konnotative Codes aufweisen, die in Opposition zueinander stehen können, ergibt sich aus der Logik des Codes nach Eco und der Struktur der Semiosphäre nach Lotman. Diesen semiotischen Modellen, ist folglich selbst das Collage- Prinzip inhärent. Literatur Adorno, Theodor W. 1970: Ästhetische Theorie. [= Gesammelte Schriften 7] Frankfurt am Main: Suhrkamp. Barnard, Malcom 2002: Fashion as communication. New York: Routledge. Barthes, Roland 1985: Die Sprache der Mode. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Beck, Ulrich & Giddens, Anthony & Lash, Scott 1996: Reflexive Modernisierung. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Beck-Gernsheim, Elisabeth 1998: “Individualisierungstheorie: Veränderungen des Lebenslaufs in der Moderne”. 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Loschek 2007: 162; Chauvel 2005: 285 als auch Bovenschen 1986: 2, 7. 3 In Deutschland vertreten durch Ingrid Loschek (siehe hierzu Loschek 2007). 4 Roland Barthes verwendet in seiner semiologischen Analyse “Die Sprache der Mode” “la Mode” mit großem Anfangsbuchstaben für “die Mode” (engl. “fashion”) im Sinne von Art und Weise, Form und “la mode” mit kleinem Anfangsbuchstaben für “eine Mode” (engl. “fad”) im Sinne von Modeerscheinung (vgl. Barthes 1985: 13). Isabelle Prchlik 468 5 Auf diese Weise läuft man nicht Gefahr den Begriff Mode zu einem Synonym für Veränderung werden zu lassen oder auf ein Beispiel für dauerhaften Wandel und sich aneinanderreihende Modeerscheinungen zu reduzieren. 6 Innovation bedeutet nach Loschek, die an die Innovationstheorie Alois Shumpeters anknüpft, immer Fortschritt (vgl. Loschek 2007: 41, 105). Im Sinne der Kultursemiotik handelt es sich somit bei Innovationen um die Bereicherung des Codes nach Eco beziehungsweise dem Informationszuwachs in der Semiosphäre nach Lotman. 7 Zur gegenseitigen Bedingtheit und Untrennbarkeit von Form und Inhalt sowie dem Sinnlichen und Geistigen bezogen auf symbolische Formen siehe Cassirer 1942: 48 f. 8 Denken ist als eine Tätigkeit - nicht das “Sein” oder das “Wesen der Seele” - immer an Formen gebunden und nur im Symbolischen möglich. Damit sind auch Dinge und kulturelle Zeichensysteme immer nur durch das Denken zu erfassen, so dass die Struktur des Denkens den Zeichen inhärent ist (vgl. Cassirer 1959: 175). 9 Siehe hierzu Peirce 2004: 45 10 Siehe zur Semiose Peirce 1983: 64 als auch Whitehead 1928: 9. 11 Nach Lotman 1998. 12 Die Form des Mediums bestimmt immer auch die Kommunikationsform: Kleidung ist durch ihre konkrete Materialität und Bindung an den menschlichen Körper direkt und unmittelbar vor der verbalen Sprache. 13 Zur ästhetischen Funktion siehe Eco 1994: 141, 143. 14 Siehe hierzu Lotman 2000: 12, 147 und Lotman 1998: 238-240 sowie Lotman 1990: 123. 15 Siehe zum Begriff der Explosion nach Lotman folgendes Kapitel. 16 Der Begriff überschneidet sich in weiten Teilen auch mit den Bezeichnungen: Re-Moderne und reflexive Moderne (siehe dazu beispielsweise Beck & Giddens & Lash 1996). Der postmoderne Theoretiker Jean-Francois Lyotard distanziert sich auf Grund des inflationären Gebrauchs des Begriffs von diesem und spricht von der redigierten Moderne (vgl. Behrens 2004: 12f., 18). 17 Siehe hierzu Rhein 2006: 29 und Behrens 2004: 12-28, 75 sowie Beck-Gernsheim 1998: 126 f. als auch Featherstone 1991: 2. 18 Zynische Positionen sehen in der Strukturierung der Welt in Oberflächen keine strukturalistische Tätigkeit, sondern einen Bezugsverlust der Zeichen zur Wirklichkeit. Jean Baudrillard spricht daher von der Auflösung der materiellen Welt hin zu einer virtuellen Wirklichkeit der medialen Simulation in ein Simulacrum. Die Wirklichkeit verschwindet, da alles durch Zeichen ersetzt wurde und es nur noch Kopien der Kopien der Repräsentationen geben kann, die eine simulierte Hyperrealität - beispielsweise die durch das Fernsehen hergestellte simulierte Realität - erschaffen haben, die zwangsläufig selbst in sich zusammenfallen muss (vgl. Behrens 2004: 10, 34 f., 37). 19 Dabei geht es nicht um das Verwerfen diese Postulate, sondern darum, sie in einer Form der Selbstkritik kritisch zu hinterfragen (vgl. Behrens 2004: 9 f.). 20 Siehe hierzu Schulze 2005 und Behrens 2004: 82 f. und Kimminich 2003: xiii sowie Keupp et al. 2001: 163. 21 Die Modelle der Kultursemiotik, wie das Verständnis von Kultur als Zeichensystem oder Text nach Peirce, die Codetheorie Ecos oder Lotmans Begriff des kulturellen Gedächtnisses und der Semiosphäre, lassen es zu, Kultur als Speicher sowie Überlagerung von materiellen Schichten und/ oder heterogenem Raum zu verstehen, in der/ dem Reibungs- und Übersetzungsprozesse, die aus Differenzen resultieren, als Identitätsbildungsprozesse möglich sind. 22 Siehe dazu Schulze 2005 und Kimminich 2003. Auch andere Autoren der Soziologie interpretieren diese Entwicklung ähnlich. Beispielhaft werden hier Simmel, der den Begriff bereits 1890 prägte, sowie Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim, die diesen in den 1980er Jahren wieder ins Zentrum soziologischer Untersuchungen brachten, genannt (vgl. Keupp et al. 2001: 163). 23 Siehe hierzu Kimminich 2003: xxi, xxiii; Lotman 1990: 127, 131 f. 24 Keupp et al. 2001 sehen die Individualisierung zusammen mit der Globalisierung als die zwei grundlegenden Transformationsprozesse, die die Gesellschaft der Postmoderne oder reflexiven Moderne determinieren (vgl. Keupp et al. 2001: 163). In der Soziologie werden die Folgen der Individualisierung von der optimistischen Auslegung - vertreten u. a. von Simmel, Ingelhart und Alborow - als Chancen der Ausbildung einer Patchwork- Identität in dynamischen und hochmobilen sozialen Räumen verstanden; während Theoretiker wie Durkheim, Parsons, Merton und Sennett die Gefahren der sozial desintegrativen Konsequenzen betonen, die zu Auflösung sozialen Zusammenhalts und Orientierungsdefiziten genau wie Bewältigungskrisen des Subjekts führen (vgl. Bonß & Kesselring 2001: 178-181 sowie Keupp 1996: 380 ff.). 25 Siehe Möbius 2000 für eine detaillierte Arbeit am Begriffspaar Collage/ Montage, der das Prinzip in den verschiedensten Bereichen und Gattungen mit den jeweiligen Typen und Verfahrensvariationen - wie beispiels- Das Collage-Prinzip als Strukturmerkmal der gegenwärtigen Mode 469 weise die Montage grafischer oder fotografischer Bestandteile in einem Roman - in seinen zahlreichen und komplexen Unterschieden beleuchtet und sie auch in einen zeitgeschichtlichen Kontext setzt. 26 Kleidung ist bei der Inszenierung von Identität ein Kommunikator unter mehreren. Das Prinzip der Bricolage findet sich als Formierungs-Prinzip beispielsweise auch im Bereich von Körperpraktiken wie Make-Up, Frisur und Tanz (vgl. Hebdige 1998: 400 ff.). 27 Andere Beispiele finden sich aus weiteren Zeichensystemen: Mode und Technik (beispielsweise wird ein Mikrofon in den Kragen integriert), Mode und Kunst (beispielsweise werden Fotoabzüge von Gemälden auf Kleidung gedruckt), Architektur und Mode (Pierre Cardin führte Formen aus der Architektur in die Kleidung ein). Loschek bezeichnet diese Techniken als “crossing” (vgl. Loschek 2007: 127-154; vgl. Black & Garland & Kennett 1983: 170). 28 Vgl. Hebdige 1998: 407. Der Begriff Bricolage wird häufig zusammen mit dem Begriff Pastiche genannt, unter dem die Nachahmung des Stils oder der Idee eines Autors zumeist aus dem musikalischen oder literarischen Bereich verstanden wird (vgl. Barnard 2002: 176; vgl. Duden Fremdwörterbuch 2001: 737). Im Gegensatz zu dem Prinzip der Collage soll bei der Pastiche-Technik keine neue Bedeutung durch Re-kombination entstehen (vgl. Barnard 2002: 175 f.). Das Pastiche-Prinzip, im Sinne von zitieren, kopieren, wiederholen oder wiederbeleben der Geschichte, zeigt sich im stilistischen Bereich der Mode in den sogenannten reinen nostalgischen Retro-Looks. Oftmals wird auch die postmoderne Strategie verkürzend als Revival-Strategie und Zitate-Pop in Anlehnung an die Pop-Art ausgelegt (vgl. Loschek 2007: 123, 154; vgl. Behrens 2004: 61; vgl. Barnard 2002: 177). Hier wird die Kopie, die in der Modetheorie als notwendige Grundlage für den Modemechanismus - die Massenkonfektion kopiert die innovativen Designerstücke - beschrieben wird, im Sinne der Semiotik differenzierter als Codierung verstanden, die sich auf konnotativer Ebene bei Änderung des Kontextes - die Massenkonfektion bearbeitet die Designs der Haute Couture - und den Gebrauch des Subjekts durchaus verändern kann und dann keine reine Kopie mehr darstellt. Weiterhin ist die Kopie oder das Zitat, verstanden als kulturelle Einheiten oder Codierung, das Material für die Collage-Technik. 29 Max Ernst gilt als Vater der Collage-Technik im deutschen Kubismus, Surrealismus und Dadaismus. Er revolutionierte künstlerische Produktionstechniken, entwickelte Verfahren nach diesem Prinzip und schuf mehrfach codierte Werke in den verschiedensten Bereichen wie Malerei und auch Schriftstellerei (Collage- Romane). Darüber hinaus verwob - “collagierte” - er sein dichterisches, bildkünstlerisches und theoretisches Werk mit Hilfe des Mediums der Sprache (vgl. Wix 2009: 19 ff., 49). 30 Auf diese Ebene der Perzeption zu fokussieren war das Ziel der damaligen Avantgarde-Bewegung (vgl. Behrens 2004: 49). Durch die breite Anwendung dieses Prinzips auf viele Lebensbereiche in der “Ästhetisierung des Alltags” wurde u. a. die sogenannte Pop-Kultur erschlossen und die Einteilung zwischen elitärer Hochkultur und trivialer Massenkultur löste sich auf. Die damit verbundene Pluralisierung führte dann im theoretischen Diskurs dieser Zeit auch zur Beachtung und Gleichsetzung aller Segmente der Kultur (vgl. ebd.: 89). 31 Der Diskurs der Avantgardisten des Kubismus, Surrealismus und Dadaismus gilt als Auslöser der oben beschriebenen postmodernen Debatte (vgl. Loschek 2007: 223). Dies zeigt auch die Identifikation des Collage- Prinzips als Grundlagen-Prinzip in beiden Bereichen. 32 Die Avantgarde-Künstlerin Sonia Delaunay wandte das Collage-Prinzip anhand der Nebeneinanderstellung von geometrischen Formen (in Schnitt und Muster), Farben und verschiedenen Textilerzeugnissen bereits in den 1920ern gezielt auf Kleidung an. Sie nannte ihre Kleidungsstücke “simultanée” von franz. simultané - gleichzeitig, simultan (vgl. Morano 1986). 33 Siehe dazu auch Loschek & Klose 2007: 252 und Keppler 1995: 396 sowie Vinken 1994a: 59 als auch Black & Garland & Kennett 1983: 163, 167. 34 Dies geschieht auch innerhalb der Mode im Sinne von “Re-Design” (Loschek 2007: 135) bei dem Schnitte, Muster oder Kleidungsstücke, die einen hohen Wiedererkennungswert haben (beispielsweise der Trenchcoat oder das Chanel Tweed-Kostüm) mit etwas anderem kombiniert oder zu einem anderen Kleidungsstück umgewandelt werden (vgl. ebd. 2007: 136 f.). 35 Gaugele bezieht sich auf Daten aus einer Projektstudie zu Mode-, Körper-, und Konsumpraktiken Jugendlicher im Alter zwischen 13 und 21. 36 Das Deutsche Mode-Institut hat in verschiedenen Städten Europas Experten, die Messen besuchen, Streetfashion beobachten und sich in Gremien beraten. Die Mode in Metropolen wie Berlin und Mailand, aber auch in kleineren Städten wie Bielefeld wird beobachtet, denn es geht den Trendforschen darum zu sehen, was die Leute wirklich anziehen. Informationen liefern neben den Passanten auch Kanäle wie Fachzeitschriften oder das Internet (vgl. Müller-Thomkins 2009 o. S.). Isabelle Prchlik 470 37 Vgl. Michalsky 2009: o. S. Hier wird deutlich, dass nicht mehr die Produzenten der Mode im traditionellen Verständnis, wie die Haute Couture, sondern die eine Auswahl treffenden Konsumenten zu den Produzenten der Mode werden. Neben der Demokratisierung der Mode seit den 1960er Jahren, sind heute Websites auf denen User ihre eigenen Looks einstellen können und Fashion-Blogs hochdemokratisierende meinungsbildende Medien der Entscheidung (vgl. Bangert 2010: 55 sowie Hackenberg 2010: 47). So lösen sich die Grenzen zwischen Konsum und Produktion auf und auch die Frage nach der Autorenschaft kann mit der Logik der Auswahl beantwortet werden (vgl. Gaugele 2005: 228 f.). Siehe dazu auch den Bereich der Avantgarde-Kunst der exemplarisch anhand von Duchamps Kunst skizziert wurde. Auf den Begriff des Autors und die damit verbundene Diskussion um “den Tod des Autors” sowie Themen wie Urheber- und Zitatrecht soll hier nicht mehr eingegangen werden. Exemplarisch wird Kortman zitiert: “Man kann heute nichts mehr erschaffen, so argumentieren Remixkünstler mit postmoderner Konsequenz, ohne geschaffenes zu zitieren: um in der digitalen Mediengesellschaft kreativ zu sein, muss man alles Bestehende miteinander kombinieren dürfen.” (Kortman 2009: 41) 38 Siehe dazu Hackenberg 2010: 47; Emig & Spieler 2010: 11; Allstädt 2010: 67 als auch Wickerath 2010: 70. 39 “Sampling ist der universelle Metacode einer postindustriellen Kultur und Ökonomie.” (Feuerstein 2004: 251) Das Collage-Prinzip formiert somit im Sinne Cassirers eine Einheit in der Richtung.