eJournals Kodikas/Code 33/3-4

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2010
333-4

Einführende Überlegungen: Europäische Semiosphären. Zeichentheoretische Zugänge zur europäischen Gegenwart

2010
Elize Bisanz
Einführende Überlegungen: Europäische Semiosphären. Zeichentheoretische Zugänge zur europäischen Gegenwart Elize Bisanz; Leuphana Universität Lüneburg Während über Jahrzehnte eine wirtschaftliche Vereinigung Europas vorbereitet wurde, scheint es auf der sozio-kulturellen Ebene noch erheblichen Nachholbedarf zu geben. Denn während dieses Europa international versucht, in wirtschafts- und außenpolitischen Fragen als Einheit aufzutreten und zu agieren, dominiert nach Innen stets die Frage, was diese Einheit denn überhaupt darstellen soll und worauf sie basiert. Dabei wird immer wieder auf eine gemeinsame Kultur verwiesen, ohne den kulturellen Zustand genauer zu definieren oder zu durchleuchten. Die Frage nach der kulturellen Identität in der Entwicklung der europäischen Öffentlichkeit weist auf zwei komplexe Begriffe hin, die die Fundamente einer funktionierenden Gemeinschaft bilden: Kultur und Öffentlichkeit. Kultur fungiert als die Quelle und das Produkt der Öffentlichkeit, denn sie verkörpert die Kommunikationsstruktur, den Kommunikationsraum wie auch das Kommunikationsmedium, durch die sich eine Gemeinschaft konstruiert. Zeichentheoretische Modelle der Identitätskonstruktionen öffnen analytische Zugänge zu Kernfiguren komplexer Identitätsstrukturen wie die der europäischen. Symbole, Semiosphäre sowie Intertextualität bilden dabei kategorisierende Einheiten, mit denen die Strukturmerkmale der europäischen Öffentlichkeit erklärt werden können. Europa als eine Sphäre von symbolischen Formen, als eine Semiosphäre zu verstehen, bildet den Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchungen, die jeweils über ein spezifisches Bedeutungssystem Einblicke in die Strukturmerkmale der europäischen Gegenwart ermöglichen, deren Gesamtheit die Grammatik und die Entwicklungslogik der europäischen Gegenwart beschreibt. Die disziplinäre methodische Gemeinsamkeit aller Texte sind somit die semiotisch zeichentheoretischen Hintergründe. Die kulturwissenschaftliche Perspektive der Textreihe bilden zwei zeichentheoretische Positionen; Ernst Cassirer’s Philosophie der symbolischen Formen und Juri Lotman’s Modell der Semiosphäre. Demnach berücksichtigt die Logik der Kulturwissenschaft die innere und äußere Welt, fokussiert auf die Dingwahrnehmung und Ausdruckswahrnehmung, erklärt Naturbegriffe und Kulturbegriffe, diskutiert die Formprobleme und Kausalprobleme und sucht nach Ausgleichen zwischen der menschlichen Individualität und der Universalität der Natur und der Kultur. Dabei bilden die materiellen Objektivationsebenen der kulturellen Logik die symbolischen Formen, eine genuine zeichenwissenschaftliche Kategorie, mit der ein analytischer Zugang zum kulturellen Korpus ermöglicht wird. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 33 (2010) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Elize Bisanz 208 Neben der Kategorie der symbolischen Kodierung bildet Juri Lotman’s Modell der Semiosphäre einen klaren methodischen Rahmen, sowohl Bedeutungsstrukturen wie auch Bedeutungsprozesse als konstitutive Instrumente der europäischen Öffentlichkeit zu erklären. Dabei wird der gesamte semiotische Raum als ein einheitlicher Mechanismus und Organismus betrachtet, in dem zum Beispiel Ökonomie, Kulturpolitik, Medien und Öffentlichkeit untergeordnete Kommunikationssphären bilden und jeweils Einblicke in die innere Logik der europäischen Gegenwart ermöglichen. Die hier ausgewählten Beispiele des ökonomischen Raums in Europa gehen von der Prämisse aus, dass der europäische Wirtschaftsraum gegenwärtig eine tiefgreifende Veränderung erfährt. Während sich die Arbeit im 19. Jahrhundert noch maßgeblich durch Produktion auszeichnete, wird Kommunikation heute zum Motor allen Handelns. Das Kapitel “Kulturelle Kommunikation als ökonomischer Faktor in internationalen Unternehmen” untersucht exemplarisch, welche Rolle Ideen, Wissen und Kommunikation im ökonomischen System spielen und wie dieses im kulturellen System verankert ist. Die empirisch unterstützte Untersuchung zeigt, dass im Kontext der zunehmenden Erweiterung des internationalwirtschaftlichen Agitationsradius Schlagworte wie Kultur, Nation, Kommunikation, Sprache, Internationalisierung, Globalisierung, Information, Zeit, Wirtschaftlichkeit und Qualität in den Fokus rücken und einen Perspektivenwechsel erfordern. Am Beispiel des Buchmarktes wird exemplarisch diskutiert, wie Kultur und kulturelle Identität unmittelbare Auswirkungen auf ökonomische Strukturen haben bzw. sie gestalten. Es wird gezeigt, dass es nicht einen europäischen Buchmarkt gibt und geben kann. Da einem gemeinsamen Markt schon durch die unterschiedlichen Sprachen, die u. a. die Vielfalt Europas kennzeichnen, Grenzen gesetzt sind und diese allein durch Übersetzungen überwunden werden können. Vor allem der Vergleich zwischen den Buchmärkten in Ost- und Westeuropa macht erkennbar, wie politische Systeme die Verbreitung von kulturellen Informationen beeinflussen können. Regulative Instrumente des Marktes wie Urheberschaft, Preisgestaltung werden als vergleichbare formierende Elemente der europäischen Öffentlichkeit erklärt. Auch die Entwicklung der europäischen Universitätslandschaft zeigt die Folgen der ökonomisch orientierten Politik in der Bildung und dem Arbeitsmarkt. So untersucht das Kapitel “Zwischen Anpassung und Freiheit - Die Europäische Universität auf dem Weg zur Ökonomisierung” das Verhältnis zwischen Bildungs- und Arbeitsmarktstrukturen anhand dreier Universitätsmodelle: napoleonischer Weg, humboldtsches Modell und englischer Weg. Es wird festgestellt, dass eine gezielte Ökonomisierung nicht unbedingt zu den erwünschten Erfolgen führt, sondern oft Nachteile - nicht nur für die Universitäten, sondern auch für die Volkswirtschaft - zur Folge haben kann. Eine erfolgreiche Ökonomisierung der Europäischen Universität müsste den Unterschied der Eigenlogiken beider Systeme beachten sowie zukunftsstatt gegenwartsbezogen gedacht und gehandelt werden. Eine tiefgreifende, sei es subversive prägende Rolle in der Gestaltung der europäischen Gegenwart spielt die Kulturpolitik der Europäischen Union. Das Kapitel “EU-Kulturpolitik als symbolische Form” beschreibt die EU als eine Semiosphäre mit Subsemiosphären und liest deren Strukturen als symbolische Kodierungen der kulturpolitischen Logik. Kategorien wie das Fremde und Identität spielen dabei eine konstitutive Rolle. Mit Julia Kristeva argumentiert das Kapitel “Das Fremde in Europa. Strukturen kultureller Dynamik in der europäischen Gegenwart”, in dem die Bezeichnung fremd als das Ergebnis dichter Zuschreibungen von Differenz auf Menschen verstanden wird. Auch hier wird das Semiosphäremodell eingesetzt, um einerseits soziale Einheiten einzugrenzen und zugleich die kulturellen Strukturen der europäischen Gegenwart in ihrer Dynamik zu erklären. Einführende Überlegungen 209 Ein weiteres Untersuchungsfeld bilden die Medien, hier exemplarisch die Filmsprache als Kodierung von politischen Strategien gegen totalitäre Systeme. Das Kapitel “Film als Semiosphäre. Der bulgarische Film in Zeiten von Transformationen” analysiert die Rolle des Films als Transformationssprache. Diese ermöglicht Einblicke in die Situation der Menschen in den neuen Lebensumständen; der Film als symbolische Kodierung des kulturellen Austausches exemplifiziert die Grundstrukturen des Sprachlichen, die ein verbindendes Element heterogener Kulturen bildet. Der Beitrag “Mythische Geschichten und politische Symbolik im europäischen Film” zeigt, dass die kulturellen Texte identitätsstiftende Funktion erfüllen können und somit zentral in dieser Konstellation zu verorten sind. Im Zentrum der Untersuchung steht das Konstrukt Mythos und seine Leistung in der modernen Erinnerungskultur. Sie werden als Instrumente verstanden, die dazu dienen, die komplexe Realität von Gegenwart und Zukunft begreif- und deutbar zu machen. Die in Mythen vermittelten (Bild-)Geschichten sind immer auch komplexe Quellen für die Rekonstruktion von Denkbildern. Das Kapitel geht der Frage nach, ob und inwieweit die europäischen Werte im öffentlichen Zeichenraum der populären Medienkultur, wie dem Film, repräsentiert werden. Das Kapitel “Perspektiven medialer Erfahrung in der europäischen Gegenwart” diagnostiziert einen Mangel an gemeinsamen Erfahrungen, die grundlegend für die Bildung eines kollektiven Bewusstseins sind. Die zentrale These, Europa muss erfahren werden, bezieht sich sowohl auf die Erfahrung Europas als auch auf die Erfahrung der EU; dabei zeigt sich, dass, wie jede andere Kommunikation, Europa und die EU nur in und durch gemeinsame Medien erfahrbar sein können. Theoretische Grundlage hierzu bilden die philosophischen Ausführungen John Locke und Charles Peirce. Mit dem technischen Medium Internet entdeckt die Europäische Union ein neues Instrument zur Gestaltung und Inszenierung einer europäischen Öffentlichkeit. Das Kapitel “Mediale Inszenierung europäischer Identität. Zur Unzulänglichkeit des Internets als Kommunikationsmedium der Europäischen Union” analysiert das Online-Diskussionsforum “Debate Europe” und wirft einen kritischen Blick auf dieses Medium, verbunden mit der Frage, inwiefern es der Europäischen Union gelingt, durch das digitale Medium eine europäische Identität zu erzeugen und zu fördern. Diese und weitere - im vorliegenden Band untersuchten - Beispiele bekräftigen die semiotische These, dass wie jede Öffentlichkeit auch die europäische durch kollektive Muster symbolhafter Strukturen getragen wird; die symbolischen Kodierungen bilden, jenseits nationaler Grenzen unterschiedliche Bedeutungs- und Strukturierungsebenen und fungieren somit als Zeichenträger eines europäischen kulturelles Bewusstsein. Darüber hinaus haben die Autorinnen und Autoren im Rahmen des Forschungsprojektes “Europas Kapitale” anhand eines Fragebogens, persönlicher Interviews und vor-Ort-Gespräche in den 25 europäischen Hauptstädten, Momentaufnahmen gegenwärtiger europäischer Meinungen dokumentiert. Zu den zentralen Fragen gehören die Fragen nach den europäischen Symbolen und nach den wichtigsten europäischen Persönlichkeiten. Dabei zielte die Frage nach den Symbolen auf eine doppelte semiotische Strukturierungsebene: das Verständnis des Zeichens Symbol und die inhaltliche Kodierungen von symbolischen Bedeutungen. Die Ergebnisse weisen auf unterschiedliche Qualitäts- und Bedeutungshorizonte hin; während die Symbole wie Flagge, Euro, eine indexikalische Relation zeigen, deuten Begriffe wie Verfassung, Hymne, Kunst, Brandenburger Tor sowie Eifelturm auf eine historische Kodierung hin. Interessante Aufschlüsse zum gegenwärtigen europäischen Bewusstsein präsentieren die Antworten zur Frage nach dem wichtigsten Europäer. Die Auswertung zeigt, dass eine große Elize Bisanz 210 Zahl der erwähnten Persönlichkeiten aus dem kulturellen Feld stammen, wodurch die verbindende Bedeutung des kulturellen Erbes verdeutlicht wird und dass zweitens, die erwähnten Persönlichkeiten mehrheitlich Westeuropäer sind, wodurch wiederum die Dominanz westeuropäischer Denkmuster im heutigen Europa bestätigt wird. Insgesamt präsentieren die Beiträge semiotisch-kulturwissenschaftliche Analysen ausgewählter Kommunikationsstrukturen Europas; ihr gemeinsames Ziel bildet die Anwendung geisteswissenschaftlicher Instrumente zur Erklärung und Modellierung der Mentefakte einer europäischen Öffentlichkeit. Übersicht der genannten Europäer David Beckham - Napoléon - Hans Christian Andersen - Marie Curie - Karen Blixen - Jacques Delors - Tony Blair - Platon - Karl Marx - Gérard Dépardieu - Johann Wolfgang von Goethe - Karl der Große - Leonardo Da Vinci - Helmut Kohl - Michel Focault - Gerhard Schröder - Adolf Hitler - Jacques Chirac - Victor Hugo - Albert Einstein - Jan van Riebeeck - Simone de Beauvoir - Pablo Picasso - Immanuel Kant - Ludwig van Beethoven - Valdas Adamkus - Günter Grass - Arvydas Sabonis - Sigmund Freud - Lady Diana - Charles de Gaulle - Charlie Chaplin - Isaac Newton - Wolfgang Amadeus Mozart - Winston Churchill - Sokrates - Thierry Henry - Thomas Mann - Douglas Adams - Romano Prodi - José Luis Rodríguez Zapatero - J. K. Rowling - Hugh Grant - Heidi Klum - Bertha von Suttner - John Lennon - Claude Monet - Luis Figo - Jürgen Habermas - Joan Míro - Bono (U2) - Jean-Paul Sartre - Margaret Thatcher - Papst Johannes Paul II - Christopher Columbus - Robbie Williams - José Barroso - Erasmus von Rotterdam - William Shakespeare - Peter Ustinov - A. Rodriguez - Paulo Coelho - Robert Schuman - Joschka Fischer - Willy Brandt - Michael Ballack - Jean Monnet - Michael Schumacher - Bertholt Brecht - Benedikt XVI - Daniel Cohn-Bendit - Ich - Otto von Bismarck - Friedrich I. Barbarossa - Hermann Hesse - Prinz Charles - Charles Darwin - Konrad Adenauer - Giacomo Casanova - Franz Beckenbauer - Maximilien de Robespierre - Aristoteles - Sokrates - Alexander von Humboldt - Franz Kafka - Wim Duisenberg - Alfred Nobel