eJournals Italienisch 35/70

Italienisch
0171-4996
2941-0800
Narr Verlag Tübingen
2013
3570 Fesenmeier Föcking Krefeld Ott

Astrid Poier-Bernhard: Texte nach Bauplan. Studien zur zeitgenössischen ludisch-methodischen Literatur in Frankreich und Italien. Heidelberg: Winter 2012, 396 Seiten, € 54,00 (= Studia Romanica, 169)

2013
Gerhild Fuchs
117 Buchbesprechungen Astrid Poier-Bernhard: Texte nach Bauplan. Studien zur zeitgenössischen ludisch-methodischen Literatur in Frankreich und Italien. Heidelberg: Winter 2012, 396 Seiten, € 54,00 (= Studia Romanica, 169) Umfassendere, nicht nur auf Einzelautoren bezogene Untersuchungen zur regelgeleiteten Literatur des «Ouvroir de Littérature Potentielle» (kurz: Oulipo) hatten in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft zuletzt vor allem in den 1990er Jahren Konjunktur. 1 Die aus Astrid Poier-Bernhards Habilitationsschrift hervorgegangenen Studien zur zeitgenössischen ludischmethodischen Literatur in Frankreich und Italien füllen daher schon allein hinsichtlich des Desiderats nach einer aktualisierten Bewertung und Bestandsaufnahme dieses literarischen Phänomens eine Forschungslücke. Eine weitere schließen sie durch die Tatsache, dass mit diesen Studien zum ersten Mal eine gesamtromanistisch ausgerichtete Publikation vorliegt, die neben der bislang im Mittelpunkt stehenden französischen auch die - eben gerade seit den 1990er Jahren aufgeblühte - italienische Ausprägung der ludisch-methodischen Literatur mit einbezieht. Die Rezeption von Oulipo in Italien hatte zwar, wie ausgeführt wird, gleich nach der offiziellen Gründung der Gruppe im Jahr 1960 eingesetzt, und zwar insbesondere durch das Wirken des Oulipo-Mitglieds Italo Calvino und die Publikationen der Zeitschrift Il Caffè von Giambattista Vicari; aber erst dreißig Jahre später, im Jahr 1990, erfolgt die Institutionalisierung in Gestalt des «Opificio di Letteratura Potenziale» (kurz: Oplepo), welches seither mit der Abhaltung von Kongressen und der Herausgabe von Sammelbänden eine rege Aktivität entfaltet hat. Der Besprechung solcher von den Mitgliedern selbst initiierten Reflexionen zur eigenen Poetik schenkt Poier-Bernhard ein großes Augenmerk, sowohl für den italienischen Bereich, wo diesbezüglich Namen wie Raffaele Aragona, Domenico d’Oria und Ruggero Campagnoli im Vordergrund stehen, als auch selbstverständlich für den französischen, wo die poetologische Selbstdarstellung und die analytisch-kategorisierende Aufbereitung formaler Einschränkungen oder contraintes hauptsächlich auf Autoren wie Raymond Queneau, Paul Fornel und Hervé Le Tellier zurückgeht. Neue Akzente setzt Poier-Bernhard mit ihrer Studie auch noch in mindestens zweierlei anderer Hinsicht. Bei der Auswahl der untersuchten Literatur verlagert sie das Hauptaugenmerk bewusst weg von oulipotischen Schrift- 2_IH_Italienisch_70.indd 117 30.10.13 09: 25 118 Buchbesprechungen stellern wie Georges Perec, Italo Calvino und Jacques Roubaud, deren - zumeist narrative und zumeist längere - Werke bisher im Fokus der Sekundärliteratur standen, um das Hauptaugenmerk ihrer Untersuchung auf weniger bekannte Namen und zugleich auf die sogenannten ‹kleineren Formen› zu richten, bei deren Besprechung, wie sie moniert, bislang oft so getan wurde, «als genügte eine Einordnung im Hinblick auf das zugrunde gelegte Textbildungsverfahren, um den Text zu erfassen» (S. 47). Die Absage an eine derartige Vorgangsweise geht Hand in Hand mit der zweiten (hinsichtlich des methodischen Ansatzes zentralen) Neuakzentuierung: Entgegen der in vorausgehenden Studien häufig zu beobachtenden Verwischung eines kategorialen Unterschieds, nämlich zwischen der Textbildungsregel bzw. contrainte selbst und dem darauf beruhenden ludisch-methodischen Text, propagiert die Verfasserin die Notwendigkeit «zwischen oulipotischen Verfahren und oulipotischen Formen zu differenzieren» (S. 44). Methodisch gewinnbringend erscheint dabei auch der Ansatz, bei der Untersuchung der Texte bzw. Formen konsequent danach zu fragen, wie die jeweilige contrainte in den Text integriert ist, wobei zwischen ihrer Thematisierung (also Erwähnung auf der Ebene der Textoberfläche) und ihrer Semantisierung (im Sinne ihrer Verflechtung mit den anderen Textinhalten) differenziert werden kann. Auch die im Titel des Bandes aufscheinende Neubenennung regelgeleiteter Texte als «ludisch-methodische Literatur» wird in diesem Zusammenhang schlüssig argumentiert, besitzen doch all diese Texte sowohl einen ludischen Aspekt als auch eine methodische Dimension, die zugleich aber auseinandergehalten werden müssen, da nicht jeder auf methodischen Regeln basierende Text ein ludisches Erscheinungsbild hat, auch wenn er durch die Anwendung von contraintes sehr wohl immer eine «implizit ludische» Dimension aufweist (S. 46). Um zu einer umfassenden ‹Theorie der contrainte› zu gelangen, wird die Diskussion um diese im Einführungsteil skizzierten Parameter in Teil II des Bandes nochmals aufgegriffen, nun aber durch die Rückbindung auf konkrete Textanalysen (u.a. von Mallarmés berühmtem «Sonnet en yx», einem wichtigen Vorläufertext Oulipos, von Perecs La Disparition, Calvinos Se una notte d’inverno un viaggiatore und Cortázars Rayuela) weitgehend auch empirisch verankert. Vor diesem ausdifferenzierten theoretisch-methodischen Hintergrund situieren sich die in Teil III enthaltenen neun Studien zur «Praxis ludisch-methodischer Literatur», in deren Mittelpunkt (mit Ausnahme des etwas heterogen wirkenden zweiten Kapitels zu diversen Texten der «Oplepiana») jeweils Texte bestimmter Autorinnen und Autoren, zumeist aber auch bestimmte Textbildungsverfahren stehen. So geht es im Kapitel über Stéphane Susana um das Palindrom (i.e. auch von hinten nach vorn zu lesende Wörter oder Wortgruppen), in jenem über Michelle Grangaud um das Anagramm (i.e. die Permutation einer gegebenen Buchstabenfolge), in jenem über Marcel 2_IH_Italienisch_70.indd 118 30.10.13 09: 25 119 Buchbesprechungen Bénabou um das Projekt einer «Aphorismenmaschine» und in jenem über Aldo Spinellis Le Ripartite um das - in anderer Form durch Perec bekannt gemachte - Spiel mit Vokalismus (jeder neunte Buchstabe ist in Spinellis Text ein ‹e›). Oulipistische Experimente zu «Potentialität und Textumfang» werden am Beispiel von Minimaltexten François Le Lionnais’ und Jacques Roubauds sowie von «potentiell unendlichen» Texten Michèle Métails und Bernardo Schiavettas ausgelotet, und Autoren wie Roubaud, Bénabou oder Le Tellier liefern die Textbasis für «ludisch-methodische Rekurse auf Schöpfung und Schöpfungsbericht» nach dem Verfahren «S+7», bei dem alle Substantive eines Textes durch das in einem Wörterbuch jeweils siebte auf diese folgende Substantiv ersetzt werden. Auf einem Spiel mit der Lexik basiert auch das von Ermanno Cavazzoni entworfene Prinzip des «slittamento proverbiale», bei dem aus den sinntragenden Wörtern eines als «Romanzo Naturale» (RN0) bezeichneten Ausgangstexts Sprichwörter gebildet werden, deren jeweils letztes Lexem in einen neu zu bildenden «romanzo proverbiale» (RP1) eingeht - so dass sich etwa aus dem Titel von Manzonis Promessi sposi über den Umweg der Sprichwörter «I promessi a due consorti, non s’illudan, sono già morti» und «Sposi bagnati, sposi fortunati» als Titel für den «RP1» Morti fortunati ergibt. Wie Poier-Bernhard klarsichtig aufdeckt, betreibt Cavazzoni in Wahrheit jedoch ein ironisch-hintergründiges «Spiel mit der Regel», denn statt das beschriebene Textbildungsverfahren einzuhalten verknüpft er einen bereits zuvor bestehenden Text (Morti fortunati) mittels größtenteils erfundener Sprichwörter nachträglich mit dem Romanbeginn der Promessi sposi. Ein nur vorgebliches Einhalten der Regeln, wenn auch unter ganz anderen Vorzeichen, scheint bis zu einem gewissen Grad auch bei Anne Garréta, mit deren Romanen Sphinx und Pas un jour sich Poier-Bernhard im neunten Analysekapitel befasst, eine Rolle zu spielen. Allerdings ist die Verfasserin hier allzu bemüht, eine Umsetzung methodisch-ludischer Verfahren dennoch nachzuweisen, was sich mit der - in sich ganz und gar stringenten - genderkritischen Auslegung der Romane (als mehrschichtige Unterminierung binärer Prägungen des Geschlechterdiskurses bzw. der Sprache an und für sich) nicht wirklich überzeugend zusammenspannen lässt. Der Qualität der vorliegenden Studie und ihrem hohen Interesse für die - nicht nur romanistische - Literaturwissenschaft tut dieser kleine Einwand jedoch keinerlei Abbruch. Der Verfasserin, die im Übrigen auch selbst methodisch-ludische Literatur verfasst hat (etwa Viel Spaß mit Haas! 2003), gelingt es ausgezeichnet, die meist sehr komplexen, nicht selten auf mathematischen Prinzipien fußenden contraintes mit bewundernswerter Klarheit und Leichtigkeit darzulegen und damit auch das Lustvolle an diesen spezifischen Formen der Textgenerierung erfahrbar zu machen. Vor allem aber kommen bei Poier- Bernhard die oulipotischen Texte selbst zu ihrem Recht, indem sie immer 2_IH_Italienisch_70.indd 119 30.10.13 09: 25 120 Buchbesprechungen wieder vor Augen führt, dass diese nicht nur unter dem formalen und spielerischen Aspekt ergiebig sind, sondern in den meisten Fällen durchaus auch komplexe, anspruchsvolle Literatur repräsentieren. Gerhild Fuchs Anmerkungen 1 Insbesondere in Gestalt der folgenden von Poier-Bernhard angeführten Publikationen: Heiner Boehncke/ Bernd Kuhne: Anstiftung zur Poesie. Oulipo - Theorie und Praxis der Werkstatt für potentielle Literatur, Bremen: Manholt 1993; Hans Hartje/ Jürgen Ritte: Affensprache, Spielmaschinen und allgemeine Regelwerke: ältere, neuere und wiedergefundene Texte aus dem ‹Ouvroir de Littérature Potentielle›/ Oulipo, Berlin: Plasma 1996; oder auch der Artikel von Franz Penzenstadler, «Die Poetik der Gruppe Oulipo und deren literarische Praxis in Georges Perecs La Disparition», in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur CIV/ 2 (1994), S. 163-182. 2_IH_Italienisch_70.indd 120 30.10.13 09: 25