eJournals Italienisch 40/80

Italienisch
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Narr Verlag Tübingen
2018
4080 Fesenmeier Föcking Krefeld Ott

"Dolce Maria": Ein Gebetssonett Giovanni Boccaccios

2018
Hinrich Hudde
10 0 Biblioteca poetica «dolce Maria»: Ein Gebetssonett Giovanni Boccaccios Giovanni Boccaccios Gedichte sind wenig beachtet und nur spärlich ins Deutsche übersetzt worden. 1 Eine Ausnahme bilden die Schlusskanzonen der Erzähltage des Decameron. Hier sei ein Gedicht vorgestellt, das letzte dreier Mariengebete in Sonettform. Es steht kurz vor dem Ende des ersten Teils der Rime (Nr. 119 von 126 Gedichten): 4 O Regina degli angioli, o Maria, ch’adorni il ciel con tuoi lieti sembianti e stella in mar dirizzi e naviganti a port’e segno di diritta via, Maria, Königin der Engel Du, des Himmels Zier, die reine Freude schenkt, Du Meeresstern, der alle Schiffe lenkt, geradewegs dem sichren Hafen zu, 8 per la gloria ove sei, Vergine pia, ti prego guardi a’mia miseri pianti; increscati di me: tomi davanti l’insidie di colui che mi travia. bei all dem Ruhm der Jungfrau, Dir gebührt: Ich bitte, nimm Dich meiner Klagen an, erbarme Dich, entferne aus der Bahn die Fallen dessen, der mich irreführt. 11 Io spero in te e ho sempre sperato: vagliami il lungo amore e reverente, il qual ti porto e ho sempre portato. Ich hoffe jetzt und hoffte stets auf Dich: Belohn die Liebe, die ich lang empfand, ich lieb Dich jetzt und immer liebte ich. 14 Dirizza il mio cammin, fammi possente di divenir ancor dal destro lato del tuo Figliuol, fra la beata gente. So mach nun meine Schritte fest und klar; geleit am Ende mich zur rechten Hand des Sohnes unter die erwählte Schar. Boccaccio beginnt, in gebetstypischer Weise, mit einer Anrufung. Auf das einleitende «O» folgt zunächst ein Ehrentitel der Angerufenen, Königin der Engel. Ein zweites «o» führt zum Namen «Maria», der den ersten Reim vorgibt. Diesem präludiert die i-a-Folge in «Regina», dessen «gi» in «angioli» wiederholt wird. Vers 2 nennt den Himmel, den sie schmücke («adorni») und erfreue (mit «lieti sembianti»). Vers 3 nennt einen zweiten Ehrentitel Marias, «stella maris», Meeresstern, an dem sich die Seeleute ausrichten um den rechten Weg zum Hafen zu finden. Die Seefahrtsmetaphorik verwendet Boccaccio gern. 2 Maria als 1 Von August Wilhelm Schlegel an wurden einzelne Gedichte übersetzt, zumeist in Anthologien, beispielsweise Frühe italienische Dichtungen, übertragen und mit dem Urtext herausgegeben von Hans Feist und Leonello Vincenti, München 1922, S. 174 ff. (vier Gedichte und ein von Schlegel übersetztes). Weitere Übersetzer sind verzeichnet in Helga Eßmann und Fritz Paul (Hrsg.), Übersetzte Literatur in deutschsprachigen Anthologien. Eine Bibliographie, 1. Teilband Dichtungen aus aller Welt, Stuttgart: Anton Hiersemann 1977, S. 91. 2 Ebenda S. 336 (zu «L’AVE MARIA» s. unten): «solita la metafora della navigazione». Italienisch_80.indb 100 01.03.19 12: 09 101 Hinrich Hudde «dolce Maria»: Ein Gebetssonett Giovanni Boccaccios Wegführerin ist ein gängiger Ikonentyp, Hodogetria genannt. Das Motiv der «diritta via» (V. 4) wird in Vers 12 wieder aufgegriffen: «Dirizza il mio cammin»; «dirizzi» in Vers 3 und «Dirizza» im drittletzten Vers bilden eine erste Spiegelsymmetrie. In Vers 12 folgt auf das Doppel-m in «cammin» sogleich ein weiteres in «fammi». Den Vers umschließen die Konsonantendoppelungen in «Dirizza» und «possente». Der Wegführung durch Maria stellt Vers 8 die teuflische Gefahr gegenüber, das Abbringen vom Weg durch «colui che mi travia.» In Vers 5 verstärkt «gloria» den Reim als Binnenreim. Maria wird als «Vergine pia» apostrophiert, womit die das Gedicht einleitende Anrufungsphase endet; «pia» ist ein traditionelles Marienattribut: «O clemens, o pia, o dulcis virgo Maria» heißt es im liturgischen Hymnus Salve Regina (V. 11). 3 Mit Vers 6 geht das lyrische Ich (bzw. der Beter) von der Anrufung zu Bitten über, Kern auch dieses Gebets: «Ti prego». Er bittet um Erbarmen mit seinen «pianti», die nicht ausgeführt werden, 4 und um Schutz vor Teufelsfallen (V. 7 f.). Im ersten Terzett versichert der Sprecher seine lange bewährte Hoffnung und Liebe. 5 Die reimgebundenen Verse 9 und 11 sind parallel gebaut; «porto» und «portato» klingen an «port», Hafen, in V. 4 an; da Vers 11 der viertletzte ist, liegt hier wiederum Spiegelsymmetrie vor. Im zweiten Terzett folgt auf die bereits angesprochene Bitte um Wegführung die entscheidende Bitte: um Aufnahme in die Schar der Seligen, «la beata gente» (V. 14), platziert zur Rechten des «Figliuol», also des als jung vorgestellten Sohnes der Angesprochenen, der aber zugleich schon als Weltenrichter fungiert. Ein Enjambement verknüpft die beiden letzten Verse, auch schon mit Vers 12. Auch die beiden Schlussverse des Oktetts weisen Enjambement auf. Da das vorausgehende mittlere der drei Mariensonette eine parallelenreiche Vorstufe des behandelten Gedichts darstellt, sei es auszugsweise zitiert und übersetzt: 1 O luce eterna, o stella matutina, (…) O Licht auf ewig, o du Morgenstern (…) … 10 12 volgi gli occhi pietosi allo mio stato, Donna del cielo, e non m’aver a sdegno, per ch’io sia di peccati grave e brutto. Io spero in te e ’n te sempr’ho sperato: prega per me e esser mi fa degno di veder teco il tuo beato frutto. blick voll Erbarmen auf mich Armen nieder, du Himmelsherrin, lass mich nicht allein, mich drückt der hässlich-schweren Sünden Wucht. Ich hoffte stets auf Dich und hoffe wieder: So bitt für mich und lass mich würdig sein zu sehn mit Dir des Leibes selige Frucht. 3 Schlussvers der Hymne aus dem 11. Jahrhundert, s. Gotteslob, katholisches Gebet- und Gesangbuch, Stuttgart 2013, S. 860 (Nr. 6 66-4). 4 Die weltlichen Gedichte der Rime durchziehen auf Liebeserfüllung gerichtete Klagen. 5 Die dritte Kardinaltugend Glaube kommt nicht ausdrücklich vor, dürfte aber in «pia» (V. 5) mitschwingen. Italienisch_80.indb 101 01.03.19 12: 09 102 «dolce Maria»: Ein Gebetssonett Giovanni Boccaccios Hinrich Hudde Die hier weggelassenen Verse 2 bis 8 schrecken den Übersetzer ab durch den gehobenen, komplizierten b-Reim. 6 Der gelungene Eingangsvers 7 weist auch schon zwei o-Apostrophe auf und ist zweigliedrig wie im folgenden Gebetssonett. Schon hier erscheint im dritten Vers die Schifffahrtsmetaphorik: «della nave di Pier timone» (Steuer des Petrusschiffs). Das Jungfräulichkeitsmotiv steht im sechsten Vers («virginal claustro» - in 119 in V. 5); der Anblickbitte «guardi» (Nr. 119, V. 6) entspricht hier der Einsatz des zitierten Sextetts, eines langen Satzgefüges über die Grenze zwischen Oktett und Sextett hinweg: «volgi gli occhi». 8 «Donna del cielo» in Vers 10 bringt eine Himmelsnennung wie in Vers 2 im dritten Mariengedicht. Die Ähnlichkeiten gipfeln in den fast identischen Versen 12 (9 im Hauptbeispiel), wobei hier «te» wiederholt wird, bei leichter Wortumstellung. Nur im mittleren Mariensonett stehen die klare Aufforderung an Maria «prega per me» (V. 13) und ein Sündenbekenntnis (V. 11). 9 In beiden Sonetten führt ein Enjambement in den Schlussvers, der sich jeweils auf Christus bezieht, hier als «frutto» umschrieben; 10 «beato» bzw. «beata» ist jeweils das vorletzte Wort. Das erste Sonett des Marientriptychons unterscheidet sich deutlich von den besprochenen folgenden. Es beginnt mit siebenfachem «Non», gefolgt von «né». Verneint aufgezählt werden Idealzüge weiblicher Schönheit. 11 Alle diese konnten den «Re del cielo» (V. 6) nicht zu Maria führen - «ma l’umiltà tua» (V. 9). Die Erwählte wird als «dolce Maria» (V.7) 12 eingeführt und «Madre di grazia» (V. 8) sowie «Madre santa» (V. 12) genannt. Vers 13 beschließt «al tuo beato regno», das Attribut schon hier in vorletzter Position; Schlusswort ist «salire». 13 Schon die beiden vorausgehenden Sonette weisen Gebetscharakter auf: 115 apostrophiert «O Sol», das folgende «O glorioso Re, che’l ciel 6 «Austro», «plaustro», «claustro» und «protoplaustro» (V. 2 f. u. 6 f.). 7 Der «luce»-Anlaut verdoppelt sich in «stella», das t aus «eterna» verdreifacht sich in «stella matutina». 8 Eine solche Bitte um Blickzuwendung schon im Salve Regina (wie n. 4): «oculos ad nos converte»; dort auch schon «spes nostra». 9 Die Selbstdarstellung des sündigen Ich als «brutto» steht im Gegensatz zum Schönheitspreis der Gottesmutter im ersten und dritten Mariensonett. 10 «frutto» steht im Ave Maria wie im Salve Regina: «Et Iesum, benedictum fructum ventris tui» (wie n. 4). 11 Rime Nr. 117, S. 92 f.: «treccia d’oro», «d’occhi vaghezza» (V. 1), «costume real» und «leggiadria» (V. 2), «giovanett’ età» und «melodia» (V. 3), «angelico aspetto» und «bellezza» (V. 4). Das Attribut «angelico» stellt eine Verbindung zur Marienminne her. 12 Reimwort in V. 7 und Titel dieses Aufsatzes. 13 Dasselbe Schlusswort bereits in Rime 97, S. 84, im Sonett über Fiammettas Tod; dort V. 10 f.: «a Dio / in breve era Madonna per salire.» Das an Dante gerichtete Sonett Nr. 102 (Rime, S. 86) endet auf «salita»: Hoffnung des um Fiammetta Trauernden auf Vereinigung im Himmel. Italienisch_80.indb 102 01.03.19 12: 09 103 Hinrich Hudde «dolce Maria»: Ein Gebetssonett Giovanni Boccaccios governi». 14 Reue und Weltabkehr bestimmen diese Gebetssonette wie schon Gedichte davor. Der Übergang zu diesen Gebeten führt zu einer Umwertung von Begriffen der vorausgehenden Liebesdichtung. So werden die Frauen bzw. Mädchen vom ersten Sonett an «angiolette» genannt, 15 was leitmotivisch variiert wird, bis Maria als «Regina degli angioli» in Erscheinung tritt (119, V. 1). Am Schluss des Sonetts 59 bezeichnet «la letizia di beati» 16 noch die stets erhoffte Liebeserfüllung. Der zweite Teil der Rime enthält schließlich ein 51 Dantesche Terzinen umfassendes Gedicht über das Ave Maria - die Verfasserschaft Boccaccios ist freilich ungewiss. Das Gedicht bietet einige der in den Gebetssonetten auftretenden Formeln und Motive. 17 Boccaccio, der 1360 seine Aufnahme in den Klerus erreicht hatte, feiert Maria auch in anderen seiner Werke. 18 In seinen - gewiss späten - Gebetsgedichten bemüht er sich um das Übersteigen der Fiammetta-Minne hin zu Marienverehrung. Boccaccios Marientriptychon hat zwei große literarische Vorbilder und Anregungen: Dante beginnt den letzten Gesang der Commedia mit einem Mariengebet des Heiligen Bernhard (Par. 33, V. 1-39). Maria, als «Vergine» angesprochen (V. 1), wird später «regina» genannt (V. 34). Weitere Motive verbinden Dante und Boccaccios Sonett «O Regina degli angioli». 19 Petrarca beschließt den Canzoniere mit der langen Marienkanzone «Vergine bella» (Nr. 366), die zahlreiche Parallelen zu Boccaccios Sonett «O Regina degli angioli» aufweist. Das gilt generell, aber auch für spezieller wirkende Motive wie das bei Boccaccio zentrale der Wegweisung; der letzte Vers der fünften Kanzonenstrophe lautet «et la mia torta via drizzi a buon fine». 20 Man kann sagen, dass sich Boccaccio weitgehend aus dieser Kan- 14 Rime Nr. 115, S. 92. Hier schon zwei mit «O» einsetzende Sonette hintereinander. 15 Rime Nr. 1, S. 33, V. 4; «angioletta» auch noch im Sonett auf Fiammettas Tod (s. Anm. 15). 16 Ebenda S. 60. 17 Rime Nr. 41, S. 131 ff., Komm. S. 336 ff. - Auch hier Schifffahrtsbilder (V. 9: «guidi la barca mia» und V. 135: «mortal barchetta») und das Wegweisungsmotiv: «la via che drizza» (V. 47) und «che drizzan corso» (V. 77); ferner: «pio» (V. 32) und «speranza» (V. 80). Jesus erscheint als «dolce frutto» (V. 55) und «benedetto frutto» (V. 73); die Seligen singen im «beato ballo» (V. 24). 18 So im Corbaccio und in der 14. Ekloge - s. Brancas Kommentar und seinen Aufsatz (n. 2). 19 So ist die Rede von «amore» (V. 7) und «speranza» (V. 12) sowie «pietate» (V. 19 - vgl. «Vergine pia» im Sonett) und «prieghi» (V. 32 und 39 - vgl. «Ti prego» im Sonett). 20 20 Francesco Petrarca, Canzoniere, hrsg. von Gianfranco Contini, Torino: Einaudi 1966, S. 457, V. 65. Einige Begriffsparallelen seien genannt: Petrarca V. 13 «del ciel regina», «coronata di stelle» (V. 2); «ch’allumi questa vita, et l’altra adorni» (V. 29); «di questo tempestoso mare stella» (V. 67); «vergine dolce et pia» (V. 61); «del tuo caro figlio» (V. 24); «le beate vergini» (V. 15). Petrarcas Schlusswort «pace» (V. 135) beendet Boccaccios Sonett 116, das Gebet an Gottvater («O glorioso Re», Rime, S. 92). Italienisch_80.indb 103 01.03.19 12: 09 10 4 «dolce Maria»: Ein Gebetssonett Giovanni Boccaccios Hinrich Hudde zone speist. Dante und Petrarca stellen Mariengebete an den Schluss ihrer Hauptwerke - bei Boccaccio stehen Gebetssonette an Maria im religiös ausgerichteten Schlußteil seiner Rime, eines beachtenswerten- Nebenwerks. Übersetzung und Kommentar: Hinrich Hudde Italienisch_80.indb 104 01.03.19 12: 09