eJournals Italienisch 40/79

Italienisch
0171-4996
2941-0800
Narr Verlag Tübingen
2018
4079 Fesenmeier Föcking Krefeld Ott

Liebeszauber und sakrales Bild. Michelangelos Sonett «I‘ mi son caro»

2018
Christine Ott
75 Biblioteca poetica Liebeszauber und sakrales Bild. Michelangelos Sonett «I‘ mi son caro» I’ mi son caro assai più ch’i’ non soglio; poi che t‘ebbi nel cor più di me vaglio, come pietra ch‘agiuntovi l‘intaglio è più di pregio che‘l suo primo scoglio; Ich bin mir selbst lieber, als ich es gewohnt bin; seit ich dich im Herzen trage, bin ich mehr wert als ich, so wie ein Stein, in den man etwas eingekerbt hat wertvoller ist als der rohe Block; o come scritta, o pinta carta, o foglio più si riguarda d‘ogni straccio o taglio, tal di me fo dapo‘ ch‘i‘ fu bersaglio segnato dal tuo viso, e non mi doglio . oder wie man beschriebenes oder bemaltes Papier mehr vor Rissen oder Schnitten schützt, so ging es mir, seit ich das Ziel wurde, getroffen von deinem Blick, und ich klage nicht Sicur con tale stampa in ogni loco vo, come quel c‘ha incanti o arme seco, ch‘ogni periglio gli fan venir meno . Mit diesem Siegel gehe ich sicher überall hin, wie einer, der einen Zauber oder Waffen hat, die ihm jede Gefahr zunichte machen I‘ vaglio contra l‘acqua e contra‘l foco, col segno tuo rallumino ogni cieco e col mie sputo sano ogni veleno . Ich bin stark gegen das Wasser und das Feuer, mit deinem Zeichen lass ich jeden Blinden sehen und mit meiner Spucke heile ich jedes Gift Michelangelo verfasste dieses Sonett vermutlich vor 1534 und vermutlich für seinen gliebten Freund Tommaso Cavalieri Das lyrische Ich beschreibt einen Glückszustand Seit es das geliebte Du im Herzen trägt, liebt es sich selbst mehr als zuvor Denn nun empfindet es sich selbst als «wertvoller» Die Liebe zum Du ist wie eine Auszeichnung, ein Zeichen, das aus dem zuvor Bedeutungslosen etwas Bedeutsames, Kostbares macht Schließlich ist auch ein bearbeiteter Stein wertvoller als der rohe Felsblock und ein bemaltes oder beschriebenes Blatt mehr wert als das leere Stück Papier Diese Verwandlung ist also mit dem Ich vor sich gegangen, seit es wie eine Zielscheibe von dem «viso» des Du getroffen wurde Das Wort «viso» ist zweideutig Die alte Metapher der Blick-Pfeile, die Michelangelo aufruft, indem er das Ich zum «bersaglio» macht, lädt dazu ein, «viso» als den Blick des Du zu deuten Zugleich ruft das Gedicht jedoch die ebenso alte Vorstellung auf, derzufolge der Liebende das Bild des (oder der) Geliebten in seinem Herzen trägt Das Ich wird so gleichsam zu einem materiellen Zeichenträger für das Bild (oder, im engeren Sinn, für das Antlitz, «viso») des Du Selbst als bloßer Bildträger empfindet es sich selbst nun als etwas Kostbares, Schützenswertes - kommt ihm doch die Aufgabe zu, das Bild des Du, das ihm durch das innamoramento auf- und eingeprägt wurde, zu schützen Beschreiben die Quartette das Liebesglück und das neugewonnene Selbstwertgefühl des Ich, so steigern die Terzette dieses Gefühl zu einer 76 Liebeszauber und sakrales Bild Christine Ott regelrechten Allmachtsphantasie Das aufgeprägte («stampa») Bild des Du gibt dem Ich ein Gefühl absoluter Sicherheit - es fühlt sich wie durch einen Zauber oder durch Waffen geschützt Mit ihm kann es durch Feuer und Wasser gehen, ja, es kann sogar Wunder vollbringen, nämlich Blinden das Augenlicht wiedergeben und mit seiner Spucke Giftwunden heilen Das Selbstbewusstsein des Liebenden erweist sich damit als ein geradezu blasphemisches: Mit seiner Spucke hatte kein Geringerer als Jesus einen Blinden geheilt (Joh 9, 6) Erreicht die gefühlte Macht des Ich damit ihren Höhepunkt, so bedeutet das kolloquiale «sputo» jedoch zugleich einen jähen stilistischen Abfall Giorgio Masi spricht zu Recht von Komik und Selbstironie, die die Liebeseuphorie des Vorangegangenen abschwächen Und doch laden die Schlussverse dazu ein, das gesamte Gedicht noch einmal neu zu lesen Wer ist dieses Du, das dem Ich die Macht verleiht, Blinde zu heilen? Gott? Christus? Wäre das Ich dann am Ende gar kein Mensch, sondern der materielle Träger eines Gotteszeichens? Spricht hier eine Reliquie - vielleicht das Leintuch mit dem Abdruck von Christi Antlitz? Handelt es sich womöglich gar nicht um ein Liebesgedicht, sondern um eine spirituelle Lyrik, die sich nur der herkömmlichen Bilder der Liebesdichtung bedient? Andererseits ist eine bewusste Doppeldeutigkeit, die es möglich macht, in dem Adressaten des Gedicht zugleich einen himmlischen und einen irdischen ‘Herrn‘ zu sehen, typisch für Michelangelos Lyrik Unübersehbar ist jedenfalls, dass sich die Euphorie des Ich einer subjektiven Perspektive verdankt: Es fühlt sich wertvoller als zuvor, wertvoll wie ein Bild, unbesiegbar wie jemand, der über einen Zauber verfügt - was nicht bedeutet, dass es diesen tatsächlich besäße Vielleicht hat der Liebende dies in den Schlussversen - in denen das «come» fehlt - einfach nur vergessen Übersetzung und Kommentar: Christine Ott Bibliographische Angabe Buonarroti, Michelangelo: Rime e lettere, a cura di Antonio Corsaro e Giorgio Masi, Milano: Bompiani/ Rizzoli 2016, S 182 und 978 f .