eJournals Italienisch 39/78

Italienisch
0171-4996
2941-0800
Narr Verlag Tübingen
2017
3978 Fesenmeier Föcking Krefeld Ott

Massimo Roscia: Di grammatica non si muore. [Segrate]: Sperling & Kupfer 2016, 238 Seiten, € 15,90

2017
Werner Schäfer
Kurzrezensionen 129 Anichino» (VII 7) einem toskanischen Libertinismus, der Rondino sehr zu liegen scheint Ein Intermezzo ist dem großen Boccaccio-Spezialisten Vittore Branca gewidmet, der definitiv nachweisen konnte, dass die Handschrift des Decamerone mit der Bezeichnung Codex Hamilton 90 in der Berliner Staatsbibliothek tatsächlich ein Autograph Boccaccios ist Riondino evoziert in diesen Versen die Aktualität der siebziger Jahre, vielleicht auch seine Vergangenheit als Bibliothekar in Florenz Es folgt die traurige Novelle von «Tancredi e Gismonda» (IV 1) Dieser Novelle aus dem vierten Tag, in dem unglückliche Liebesgeschichten das Motto sind, wird die überaus populäre Novelle «Il falcone di Federigo» (V 9) aus dem fünften - Liebesgeschichten mit einem Happy End - entgegen gesetzt Nicht ohne eine Intervention des Cantautore im zweiten Teil, der den Falken aus dem Himmel sprechen lässt Dieser ärgert sich über den «stronzo di Certaldo», der so unsensibel mit den Tieren umgehe «La storia di una monaca» (IX 2) ist letzten Endes ein Spiegelbild von «Il monaco della Lunigiana» Vor der Alatiel-Novelle, der letzten des Programms, fügt Riondino in «O se la morte viene» eine Synthese aus den letzten beiden Tagen hinzu, gefolgt von «Un collega geloso», ebenfalls eine Synthese aus der «Introduzione» des vierten Tages und der «Conclusioni» des Decamerone Es sind mit der Ausnahme von «Tancredi e Gismonda» - und vielleicht auch der Novelle von Federigo degli Alberighi - also eher heitere, lebensbejahende Novellen, die Riondino ausgewählt hat, Novellen, die seinem ironischen Blick auf seine Zeitgenossen entsprechen Seine eigenen Synthesen und Einschübe verleihen dem Werk einen Gegenwartsbezug, der alles andere als eine verstaubte Interpretation darstellt Muss ich noch anfügen, dass diese CD für Unterrichtende im Italienischunterricht eine geeignete Gelegenheit bietet, eines der grossen Werke der Weltliteratur den Schülerinnen und Schülern näher zu bringen? Der Zugang zum Decamerone wird dank diesen Canzoni erleichtert, denn gegenüber der stark lateinisch geprägten Prosa haben die Balladen dank Rhythmus und Gesang entschieden einen Vorteil Ruedi Ankli Massimo Roscia: Di grammatica non si muore. [Segrate]: Sperling & Kupfer 2016, 238 Seiten, € 15,90 Weniger wäre mehr gewesen Das gilt für alle Teile dieses Buchs, das gelegentlich unterhaltsam, gelegentlich instruktiv, gelegentlich scharfsinnig, oft aber auch einfach ärgerlich ist Hier feuert ein Journalist, der eine Kurzrezensionen 130 hochempfindliche Antenne und ein scharfes Auge für Sprache hat, ziemlich wahllos Salven ab gegen alles, was ihm nicht passt, gegen Neologismen, Fremdwörter und alles, was vom vermeintlich guten Sprachgebrauch abweicht Diese tour de force durch die italienische ‘Grammatik’ bezieht zwar viel Morphologie und etwas Syntax (ohne diese Begriffe zu verwenden), aber auch Betonung und Rechtschreibung ein - ein etwas saloppes, zumindest sehr weites Verständnis von Grammatik, über das der Autor aber kein Wort verliert Man hätte sich gerne etwas mehr zur Syntax gewünscht, etwa zu dem fortschreitenden Ersatz von che durch cosa als Fragepronomen und zur Passivbildung mit venire und essere Weniger wäre mehr gewesen, das gilt auch für den unterhaltsamsten Teil des Buches, «Parole in libertà», wo authentisches Sprachmaterial verwendet wird, im Gegensatz zu den anderen Teilen des Buches Hier werden Abweichungen von der Sprachnorm präsentiert, Fehler, um es ohne Umschweife zu sagen, die der Autor auf Speisekarten, in Tageszeitungen und in Broschüren gefunden hat Dazu gehören Zuckerstückchen wie «Urbe e Torbi», «Divide e timpera», «l’araba felice», «funghi traforati», die wunderbar logische «colonna verticale», «coreografie al seno», «un’aspirina fosforescente», «piangere sul latte macchiato», «la Rabbia Saudita», «San Torini» und logische Purzelbäume wie «Le fiamme sono state causate da un incendio» oder «Il cadavere presentava evidenti segni di decesso» (S 207-217) Der Leser kann sich hier, da nur die abweichenden, nicht die gemeinten Formen genannt werden, der vergnüglichen Rätselaufgabe stellen, von den zitierten die gemeinten Formen abzuleiten und sich, als Ausländer ohnehin, dabei gelegentlich die Zähne ausbeißen Das Vergnügen wäre aber größer gewesen, wenn diese Formen nicht nach Themen, sondern nach den zugrundeliegenden sprachlichen Phänomenen geordnet worden wären: Es ist wenig instruktiv zu erfahren, ob eine abweichende Form auf einer Speisekarte oder in einer Broschüre stand Interessanter ist es, wie solche Fehler zustande kommen Man hätte zwischen Fällen wie «coreografie al seno», also sog Malapropismen, und Fällen wie «San Torini» (die auf die falsche Analyse gesprochener Sprache zurückzuführen sind) und wieder anderen wie «Il cadavere presentava evidenti segni di decesso» unterscheiden und dabei Charakteristika von Sprache zutage fördern können Stattdessen wird nur aufgezählt Die Regeln werden im ganzen Buch durch den Verstoß gegen diese Regeln illustriert, was keine schlechte Idee ist Aber die Fülle der angeführten Fälle ist oft erdrückend: Bei der Polemik gegen apericena (aus aperitivo und cena gebildet) werden 94 auf ähnlichem Muster gebildete Neologismen wie aperipartita ohne Sinn und Verstand aneinandergereiht (S 180) Es hätten gerne 90 weniger sein können Kurzrezensionen 131 Diese unendlichen Listen könnten natürlich einfach diagonal gelesen werden und müssten das Lesevergnügen nicht unbedingt eindämmen Aber es gibt andere Ärgernisse, die nicht so leicht aus dem Weg zu räumen sind, vor allem die der Argumentation zugrunde liegende Einstellung zu Sprache und Sprachwandel Unter dem vergnüglichen Plauderton, mit dem hier über Grammatik parliert wird, verbirgt sich eine oberlehrerhafte Attitüde Und der Herr Lehrer weiß, was gut und böse ist Die Kriterien dafür werden selten aufgedeckt, und wenn, dann erweisen sie sich selten als wasserfest Immer wieder fällt der Herr Lehrer in die Falle des etymologischen Fehlschlusses, demzufolge die ‘richtige’ Bedeutung (oder Funktion) eines Wortes die ist, die es ursprünglich hatte: So dürfe cui auch ‘al quale’ bedeuten, da es vom lateinischen cui komme (dem Dativ von qui) und deshalb per se ‘al quale’ bedeute Das ist natürlich blühender Unsinn Es ist so, als wolle man fordern, dass bunt nur ‘schwarz-weiß’ bedeuten dürfe, weil das seine ursprüngliche Bedeutung war, oder dass silly und selig die gleiche Bedeutung haben müssten, weil sie sie ursprünglich hatten Wenn man das konsequent zu Ende dächte, müsste man Italienisch als eine korrupte Form des Lateinischen abtun Was natürlich nicht getan wird Dass aber solche Bewertungen auf schwachen Füßen stehen, wird immer wieder deutlich So werden für piuttosto che zwei Funktionen als richtig akzeptiert, ‘più che’ und ‘anziché’, eine dritte, ‘oltre che’ wird aber als falsch («è un male») zurückgewiesen (S 192-193) Dafür gibt es natürlich keine Grundlage und kann es auch keine geben Da nützt es auch nichts, wenn der Autor gelegentlich die ‘Logik’ für seine Argumentation in Anspruch nimmt - eine der problematischsten Kriterien für das, was sprachlich akzeptabel ist Und dann wird aus heiterem Himmel doch mal dem Sprachgebrauch, einem viel besseren Kriterium, Raum gegeben, aber nur gelegentlich und sehr willkürlich Bei der Diskussion der Betonung mehrsilbiger Wörter - èdile oder edíle, ístigo oder istígo? - wird oft mit ‘der Regel’ argumentiert, nicht aber im Falle von guàina und guaìna Hier entscheidet sich der Autor «gegen die Regel» für den Sprachgebrauch und damit für die zweite Variante Aber warum gilt das nicht auch für cosmopòlita und cosmopolìta? Hier entscheidet sich der Autor für die zweite Variante Für die erste, die ‘falsche’, wird der verderbliche Einfluss des Englischen verantwortlich gemacht, ein Vorbehalt, der merkwürdig ist in einem Buch, das ständig aus der anglophonen Popkultur zitiert: Jack Nicholson, Bart Simpson, Playstation, Justin Timberlake und Lady Gaga sind präsenter als ihre italienischen Gegenstücke Wie dem auch sei, in allen der 27 diskutierten Fälle von Variation in der Betonung wird eine Entscheidung für oder gegen eine Variante getroffen Die Einstellung zur Sprache ist präskriptiv, nicht deskriptiv Was man vermisst ist die sprachgeschichtlich einleuchtendere Schlussfolgerung: Es handelt sich um synchrone Variation Beide Varianten stehen gleichberechtigt nebeneinander Kurzrezensionen 132 Dass man auch in einem schlechten Buch Gutes finden kann, bestätigt sich auch hier Der Rezensent fühlt sich bereichert durch das Wissen um ein Stück Tschechows mit dem Titel Ausrufezeichen (S 164), eine karitative, aufklärerische Organisation mit dem Namen Semikolon (S 161), den freien Zugang zum DOP (S 56) und die Tatsache, dass Bart Simpson vier Finger hat (S 158) Er fühlt sich auch bereichert durch neu entdeckte Wörter wie faccina, dem Äquivalent zu unserem Emoticon (S 167), nomofobia, dem Wort für die Angst vor einem handylosen Zustand (S 177), oder svapare, dem Verb, das das Konsumieren elektronischer Zigaretten bezeichnet (S 179) Er fühlt sich auch bereichert durch die Diskussion der (scheinbar ‘unlogischen’) Pluralbildung von Substantiven: dialoghi, aber psicologi, baci, aber zii, fuochi, aber manici (S 69-70) sowie durch die Unterscheidung (S 118-119) von ha dovuto und è dovuto (mit syntaktischen Unterschieden) und ha piovuto und è piovuto (unterschiedslos gebraucht) Und er wird die folgende Eselsbrücke in Erinnerung behalten: «Un apostrofo si scrive senza apostrofo» (S 9) . Werner Schäfer