eJournals Italienisch 39/78

Italienisch
0171-4996
2941-0800
Narr Verlag Tübingen
2017
3978 Fesenmeier Föcking Krefeld Ott

Rainer Stillers/Christiane Kruse (Hrsg.): Barocke Bildkulturen. Dialog der Künste in Giovan Battista Marinos «Galeria», Wiesbaden: Harrassowitz 2013, 488 Seiten, € 98,00 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, 48)

2017
Marita Liebermann
109 Buchbesprechungen Rainer Stillers/ Christiane Kruse (Hrsg.): Barocke Bildkulturen. Dialog der Künste in Giovan Battista Marinos «Galeria», Wiesbaden: Harrassowitz 2013, 488 Seiten, € 98,00 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, 48) Marinos Galeria entspricht heutigem Erkenntnisstreben wie kaum ein anderer literarischer Text des Seicento: Nicht nur versammelt die monumentale, 624 Gedichte umfassende Anthologie, 1620 in einer endgültigen (vom Autor gebilligten Fassung) erschienen, üppiges Material für Untersuchungen und Fragestellungen, die vom vielschichtigen Thema der medialen Selbstreferentialität und -reflexion bis hin zu Aspekten des Textverfahrens und Profilierungen rhetorisch-poetologischen Charakters der gegenwärtigen Philologie besonders wichtig sind . 1 Auch und gerade dem mit solchen Forschungstendenzen zusammenhängenden Interesse an Explorationen, die über die Literaturwissenschaft im engeren Sinne hinausweisen und sich kulturwissenschaftlich-interdisziplinären Orientierungen öffnen, bietet das Werk reichhaltige Nahrung Es lässt sich unter den Produkten der ‘scharfsinnigen’ Epoche der argutia und acutezza, dem Jahrhundert der concetti und geistreichen Pointen als eines der fesselndsten und anregendsten beschreiben, erreichen doch das Schillern und der Witz der Lyrik Marinos, der bekanntlich die meraviglia, das Staunen, die Verblüffung des Lesers, zum obersten Ziel jeglichen Dichtens erklärt hat, 2 in der Galeria eine ganz eigene Qualität der Reflexion und Abstraktion: Wie ihr metaphorischer Titel und der ursprünglich dazugehörende Zusatz distinta in pitture e sculture bereits vermitteln und wie sich im Laufe der Textlektüre unter mannigfaltigen Gesichtspunkten bestätigt, präsentiert sich lyrische Rede hier explizit als Ensemble von Bildwerken, wird eine Gedichtsammlung als Kunstausstellung imaginiert, Sprache auf ihr intermediales Potential hin ausgestaltet - und werden dabei Wort- und Bildkunst in ihrer jeweiligen Medialität und damit auch in ihrer sozialen wie anthropologisch-philosophischen Funktion selbst zum (impliziten) Sprechgegenstand Zugespitzt und anachronistisch formuliert, lässt sich der Galeria aufgrund dieses ästhetisch-medialen ’Selbstbewusstseins’ eine immer wieder verblüffende Modernität bescheinigen: Sowohl auf der Ebene etlicher Einzelgedichte wie insbesondere auch hinsichtlich der semantischen Effekte, die aus der Präsentation des Ganzen hervorgehen, zu der einerseits die Evokation einer Ausstellungsarchitektur gehört (die unterschiedlichen ‘Abteilungen’ des Textes wie etwa die Favole, Historie, Ritratti, Capricci in den Pitture lassen die Fiktion unterschiedlicher ‘Säle’ entstehen), andererseits Buchbesprechungen 110 eine demonstrative, durch entsprechende Gedichtüberschriften betonte, Anordnung der Texte nach Themen oder Sujets, der wie dem intermedialen Moment bereits für sich genommen eine Selbstreflexivität innewohnt Es geht also um weit mehr als um eine topische Kunstfeier oder um eine Fortführung der sattsam erforschten Paragone-Debatte mit den Mitteln des concettismo, wie sich möglicherweise zunächst annehmen ließe Vielversprechender und der hintergründigen Komplexität des Textes als ungleich adäquater erscheint es, ihn in den Kontext der aktuellen Forschungsdiskussion über Bild-Text-Beziehungen zu stellen, wie es die Herausgeber des hier zu besprechenden Bandes tun, indem sie einen «bildwissenschaftlichen und kulturanthropologischen Zugang» wählen (vgl die «Einführung», S 7) Bekräftigend lässt sich hinzufügen, dass besagte Diskussion nicht nur den (vermeintlichen) Vorzug der Aktualität hat; vielmehr wurde sie unter zentralen Aspekten bereits im Zeitkontext Marinos geführt, insofern sich seine Gedichtsammlung auch als ebenso origineller wie erkenntnisfördernder Beitrag zu jener fundamentalen Neubestimmung des Verhältnisses von Sehen und Sprechen verstehen lässt, die mit und nach Galilei das überkommene Selbst- und Weltverständnis des Menschen revolutioniert hat Angesichts der somit lediglich skizzierten literatur- und kulturgeschichtlichen Bedeutung der Galeria, ist es bedauerlich, dass die noch immer eher wenigen mit ihr befassten Publikationen in der Regel Teilaspekten gelten; eine monographische Auseinandersetzung mit dem Text als Ganzem fehlt Es lässt sich jedoch weiterhin hoffen, dass sich diese Lücke schließen wird; immerhin erfährt Marino inzwischen von der internationalen Italianistik eine angemessene Würdigung, zurückzuführen auch auf die in den letzten Jahrzehnten vorgenommenen Revisionen einschlägiger Negativurteile über den Manierismus oder den Barock (je nachdem, welchem Epochenkonstrukt er zugeschlagen wird) und die dazugehörige Sprachkunst, die als ‘Marinismus’ gleichsam untrennbar mit ihm verbunden ist Als entscheidender Schritt der Marino-Forschung kann deshalb der von Christiane Kruse und Rainer Stillers, der Kunstwissenschaftlerin und des Romanisten, edierte Sammelband charakterisiert werden Beide haben bereits mit einem vorzüglichen Übersetzungsband nebst verschiedenen anderen Beiträgen Gewichtiges für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Galeria geleistet . 3 Die Veröffentlichung stellt sich, nicht weniger als die Tagung, auf die sie zurückgeht, als bislang einzigartige Initiative einer gründlichen und gleichzeitig breit angelegten Lektüre des Werks dar, auf das entsprechend auch alle Beiträge fokussiert sind Dass der lyrische Text deshalb nicht der ausschließliche oder unmittelbare Gegenstand jedes der 15 Aufsätze ist, versteht sich von selbst und zeigt seine literatur- und kulturgeschichtliche Spannweite Als Pioniertat lässt sich der Band aber zum zweiten Buchbesprechungen 111 auch aufgrund seiner Interdisziplinarität charakterisieren, die, soweit zu sehen, in der Beschäftigung mit der Galeria bisher ein Novum geblieben ist: Das im Untertitel figurierende Syntagma Dialog der Künste lässt sich nicht nur als Benennung des Untersuchungsobjekts verstehen, sondern auch als Hinweis auf das Medium, mittels dessen das Thema entfaltet wird, insofern die Beiträger und Beiträgerinnen fachlich jeweils in der Kunstwissenschaft und -geschichte oder in der Romanistik bzw der italienischen Literaturwissenschaft beheimatet sind, für den Leser somit auch die ‘Künste’, die Methoden, Anschauungen und Ansätze der verschiedenen Fachdisziplinen als in einen Dialog versetzt wahrnehmbar sind Darf vorweggenommen werden, dass sich neben den glänzenden Galeria-Analysen und -Interpretationen, die der Sammelband immer wieder bietet, nicht zuletzt auch jene interdisziplinären ‘Metadialoge’ mit Gewinn und Genuss lesen lassen, so sei an dieser Stelle auch nicht verschwiegen, dass allenfalls ein kleiner Wissensdurst ungestillt bliebe, der allerdings aus der überaus gehaltvollen Darstellung selbst resultiert: Hochinteressant wäre ein Kommentar gewesen, der sich vielleicht in Form eines kürzeren gesonderten Beitrags mit den Schnittmengen, markanten Charakteristika und Divergenzen der unterschiedlichen im Band präsentierten disziplinären Zugänge zu Marinos Werk befasst hätte Anders als bei den meisten interdisziplinären Publikationsprojekten wäre eine solche ‘Metareflexion’ hier mit dem Idealfall zusammengetroffen, dass schließlich doch ein Text, also ein vergleichsweise überschaubarer Gegenstand im Mittelpunkt der Betrachtungen stand; die Gefahr, sich in einem allzu aufwendigen und womöglich nur selbstbezüglichen Methodendiskurs zu verlieren, wäre vielleicht gering gewesen Gut möglich, dass der Wunsch - der, es sei wiederholt, nicht als versteckte Kritik zu verstehen ist, sondern als Beleg einer im hohen Maße anregenden Lektüre - auch mit dem Eindruck zusammenhängt, dass Interdisziplinarität mehr und mehr ein Trend, gewissermaßen ein Wert an sich geworden ist, dem das Untersuchungsobjekt gelegentlich untergeordnet erscheint Gerade weil hinsichtlich der Barocken Bildkulturen und der Galeria das Gegenteil zutrifft, der Gegenstand sich durch die interdisziplinäre Betrachtung vortrefflich beleuchtet zeigt, hätte sich hier möglicherweise eine gute Gelegenheit nutzen lassen können Unabhängig von der Methodenfrage kann der interdisziplinäre Zuschnitt des Bandes insbesondere die romanistische Perspektive um eine Vielzahl fachlich neuer Themen- und Fragestellungen erweitern, insofern die von Kunstwissenschaftlern und Kunstwissenschaftlerinnen verfassten Aufsätze quantitativ überwiegen; zehn an der Zahl, sind sie sogar doppelt so viele wie die literaturwissenschaftlichen Verweist dieses möglicherweise erstaunliche Verhältnis auf die allgemein «große Aufmerksamkeit» der Kunstgeschichte für die Galeria, die Henry Kreazor in seinem Beitrag konstatiert (S 273), so Buchbesprechungen 112 gilt es zu unterstreichen, dass dieses auch andernorts, zum Beispiel durch einen lesenswerten Aufsatz von Victor Stoichita, 4 bekundete Interesse vor allem den eingangs angesprochenen theoretischen, poetologischen und (inter) medialen Problemen gilt, an Marinos Text mithin nicht solche kunsthistorischen Fragen herangetragen werden, die ihn als Quelle zur Rekonstruktion geschichtlicher Faktenlagen erscheinen ließen . 5 Dass umgekehrt die Einbeziehung historischer Zusammenhänge die ästhetische Faktur der Gedichtsammlung erhellen kann, verdeutlichen die Beiträge verschiedentlich Insgesamt sind sie in relativ gleichmäßiger Verteilung drei Gegenstandsbereichen zugeordnet, gefasst unter die Überschriften «I Historische und poetologische Grundlagen» (S 15-201), «II Bildbetrachtung und Bilderleben» (S 203- 305) und «III Dialoge von Texten und Bildern» (S 307-466) Diese Gliederungspunkte umgreifen Fragen, die im Großen und Ganzen auch zu einer monographischen Auseinandersetzung mit der Galeria gehörten, wenngleich, durchaus sinnvollerweise, jeder Beitrag für sich lesbar bleibt, der Sammelband daher aber naturgemäß auch nicht dergestalt aus ‘einem Guss’ ist, dass die verschiedenen Argumentationslinien und Interpretationsansätze miteinander verbunden oder gar harmonisiert wären; es obliegt dem (von den Autorinnen und Autoren mal mehr, mal weniger angeleiteten) Leser, Anschlusspunkte wie Widersprüchlichkeiten in Bezug zu setzen und gegebenenfalls fruchtbar zu machen Kontrovers ist etwa die Handhabung des Ekphrasis-Begriffs, der im Horizont einiger Untersuchungen explizit oder implizit auf den Umgang der Galeria mit imaginären oder realen Kunstwerken angewendet wird oder zumindest anwendbar erscheint (vgl u .a die Lektüren von Giovanna Rizzarelli im ersten Teil oder die Beiträge von Elisabeth Oy-Marra und Henry Keazor im zweiten), im Rahmen anderer Zugänge des Bandes jedoch teils kategorisch für unbrauchbar zur Beschreibung der Spezifizität von Marinos Dichtungen erklärt wird (vgl z .B die Ausführungen von Christine Ott, Teil I, und die dort genannte Studie von Stillers oder den Beitrag von Kruse, 6 Teil II) Etwas weniger hervortretend, aber doch erkennbar ist des Weiteren ein Dissens bezüglich des Paradigmas der varietà und des dazugehörigen Ideals der concetti-Vielfalt, die im Lichte einiger Betrachtungen in der Galeria selbstverständlich und nicht weniger als in anderen Werken Marinos zum Tragen kommen (vgl z .B die Beobachtungen von Barbara Marx, S 50, oder das Fazit von Bodo Guthmüller, S 150, und die dort genannte einschlägige Literatur), während an anderer Stelle konstatiert wird, sie seien in diesem Text gerade nicht verwirklicht (vgl die Analyse von Marc Föcking, u .a S 335, 347 f dessen indirekte Einschätzung der Galeria als monoton sich im Kontext des Bandes geradezu ‘ketzerisch’ ausnimmt) Buchbesprechungen 113 Jenseits von einem ‘richtig’ oder ‘falsch’, welches es bei solchen Problemkomplexen als allzeit gültige Sicherheit ohnehin schwerlich geben wird, zeigen sich hier die strukturellen Vorteile eines multiperspektivischen Sammelbandes gegenüber einer monographischen Auseinandersetzung, die gerade aufgrund ihrer Vorzüge, idealerweise der argumentativen Kohärenz und Konsistenz, auch beim größten Bemühen um Ergebnisoffenheit nie eine vergleichbare Vielfalt der Standpunkte vertreten kann Der Leser, der sich nicht mit der (vielleicht allzu wohlfeilen) Feststellung der Relativität jeder Position begnügen will, kann sich zudem animiert fühlen, die eigene Begriffsverwendung zu überdenken und zu schärfen In jedem Fall bieten Tagungsakten, denen man die Fülle im Laufe des Kongresses immer wieder neu gestellter Fragen und deren lebendige Diskussion auch in der publizierten Form noch anmerkt, mehr Erkenntnisgewinn und eine spannendere Lektüre als nomenklatorisch ‘auf Linie’ gebrachte Konferenzverschriftlichungen Der erste und umfangreichste Teil der Barocken Bildkulturen fragt nach den Konstruktionsprinzipien und dem Kontext der Galeria, indem er die metapoetischen, kunsttheoretischen und poetologischen, Implikate der Gedichtsammlung untersucht wie auch ihr Verhältnis zu Aspekten der Kunstproduktion und -rezeption als soziokultureller Praxis Thematisiert wird dabei zum einen die in diesem Kontext unerlässliche Schrift Dicerie sacre, eine kunsttheoretische Abhandlung Marinos von 1614, die Victoria von Flemming einem anspruchsvollen close-reading unterzieht («Was ist ein Bild? Marinos Dicerie sacre», S 15-43) und Christine Ott zum Ausgangspunkt einer brillanten Analyse des auch in der Galeria an exponierter Stelle verwendeten Motivs des Pfeils macht («Pfeile ohne Ziel? Worte, Sachen und Bilder bei Giovan Battista Marino», S 107-133) Einbezogen wird mit den Überlegungen und Analysen von Barbara Marx («Sammeln und Schreiben Zur Konstitution der Galeria von Giambattista Marino», S 45-79) und Giovanna Rizzarelli («Descrizione dell’arte e arte della descrizione nelle Lettere e nella Galeria di Giovan Battista Marino», S 81-105) aber auch das Verhältnis zwischen der realen Kunstsammlung Marinos und jener, die er in seiner lyrischen Galerie imaginierte Grundsätzliche Einsichten zur Sprechsituation wie auch zum oben angesprochenen Problem, unter welchen Bedingungen die Galeria als ekphrastisch zu charakterisieren wäre, lassen sich anhand von Bodo Guthmüllers exemplarischen Analysen der Sprechsituationen einer Reihe klug ausgewählter Gedichttexte gewinnen Die den ersten Teil beendenden Darlegungen von Ingo Herklotz («Marino und die Porträtsammlungen des 16 Jahrhunderts, Skizzen zu einer prosopographischrezeptionsgeschichtlichen Untersuchung», S 153-201) können indes gut im Anschluss an eine von Marx gegebene Deskription (S 50 f .) gelesen werden Sie verdienen insofern besondere Beachtung, als sie wertvolle Anhaltspunkte Buchbesprechungen 114 liefern für die Interpretation der Gedichte, die in der Galeria in der ‘Abteilung’ der (ihrerseits wieder mehrfach untergliederten) Ritratti versammelt sind und zum Verständnis der Gesamtanlage des Werks Wesentliches beitragen Denn nicht nur nehmen diese ‘Portraits’ mit 390 Dichtungen den bei weitem größten Raum ein, der einer ‘Abteilung’ in der Galeria überhaupt zugewiesen wird . 7 Auch und vor allem zeigen sie, dass Marino die das Werk strukturprägende Programmatik der varietà mit der Konzeption einer gedichteten Kunstausstellung auf verschiedenen textuellen Aussageebenen verbindet Genau dieser Aspekt der Textstrategie droht aber in dem Sammelband unbeachtet zu bleiben: Stellenweise scheint aus dem Blick zu geraten, dass die Galeria-Gedichte eben nicht alle ikonisch sind in dem Sinne, dass sie sich sämtlich auf reale oder fiktive Kunstwerke als Sprechgegenstand beziehen Im Gegenteil weisen nur etwa ein Viertel der Ritratti direkte oder indirekte Kunstbezüge auf Bei der überwiegenden Mehrheit der Texte dieser vielsagend umfänglichen Gruppe (von Marx als «enorm aufgebläh[t]» bezeichnet, S 51) handelt es sich somit um literarische Portraits in Madrigal- und Sonettform, lyrische Elogen und Invektiven auf historische Personen, aber auch auf mythologische, biblische und literarische Figuren, die verschiedentlich in den Gedichten anderer ‘Abteilungen’ wiederbegegnen Das heißt, hier ist der Bezug auf die Bildkünste entweder architextuell gegeben, durch die Gattungsreferenz auf das ursprünglich als textuelle Beigabe zu bildkünstlerischen Werken konzipierte Epigramm, 8 oder durch die den Text umklammernde und ordnende Galerie-Fiktion geschaffen Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund ist Herklotz’ detailgenaue Untersuchung weiterführend, verdeutlicht sie doch, dass und wie die Galeria nicht allein eine vielfach verzweigte gattungsübergreifende literarische Tradition aufgreift (die von der antiken Kunstbeschreibung und ihrem herausragendem Vertreter Philostrat über die enkomiastischen und auf Kunstwerke bezogenen Epigramme der Anthologia Planudea, die lateinische und italienische Epigrammatik des Cinquecento bis zu den Elogia Paolo Giovios reicht), 9 sondern auch das zeitgenössische Medium der Porträtgalerie aufruft und transformiert - ohne dazu Kunstwerke thematisieren zu müssen Der zweite thematische Komplex des Bandes geht unter verschiedenen Aspekten der Frage nach, welche Wirkungen Marino der Kunst zuschreibt Es ist vollkommen schlüssig, dass dabei der Verlebendigungs-Topos im Mittelpunkt steht, in dem sich ein elementarer Bestandteil abendländischen Kunstverständnisses konzentriert, wie es sich von der antiken Kunstliteratur bis hin zur Theorie der Renaissance und des Seicento mitteilt Wichtig scheint nun aber vor allem, dass alle vier Autoren und Autorinnen dieses Teils - Frank Fehrenbach («‘Tra vivo e spento’ Marinos lebendige Bilder“, S 203-222), Christiane Kruse («Psychologie einer Bildbetrachtung Imagina- Buchbesprechungen 115 tion, Affekt und die Rolle der Kunst in Sopra il ritratto della sua Donna», S 223-250), Elisabeth Oy-Marra («‘Immobile riman per meraviglia’ Staunen als idealtypische Betrachterreaktion in den Bildgedichten Giovan Battista Marinos zu Tizians hl Sebastian», S 251-271) und Henry Keazor («‘[ . . .] quella miracolosa mano’ Zu zwei Madrigalen Marinos auf Ludovico Carracci», S 273-305) - nicht nur eindrucksvoll vorführen, wie variantenreich die Galeria den Topos in Szene setzt, sondern auch in je eigener Weise davon überzeugen können, dass die sich noch immer hartnäckig haltenden Urteile über die Substanzfreiheit solch konzeptistischer Variationskunst zumindest revistionsbedürftig, wenn nicht haltlos sind Wenn etwa im Falle eines Gedichts die Präsenz der dargestellten Geliebten als so plastisch imaginiert wird, dass die Glut des Betrachters das Porträt in Brand steckt, geht es eben nicht bloß um diesen ‘Knalleffekt’, sondern können unter zentralen Aspekten Momente der psychologischen Lehre avant la lettre von Juan Luis Vives sichtbar werden (vgl die Lektüre von Kruse) Bei anderen Gedichten werden schlüssig Interpretationen mit Hilfe traditioneller Konzepten der Naturphilosophie entfaltet (vgl den Beitrag von Fehrenbach) Ebenso wird hier wie an anderen Stellen des Bandes klar, dass der zum Repertoire des Lebendigkeitstopos gehörende stupor und die meraviglia als Wirkungen nicht Selbstzweck sind, sondern deren Evokation eine Reflexion ihrer eigenen medialen Bedingtheiten mitumfasst (so die Untersuchung Oy-Marra) bzw den Leser anregt, seine Reaktion zu reflektieren (vgl die Ausführungen von Henry Keazor) Sind in Teil II ästhetische Programme und Werke einzelner Künstler (Tizian, Rubens, Carracci) thematisiert worden, auf deren Arbeiten Marinos Gedichte Bezug nehmen, so wird im dritten Teil des Bandes das Stichwort Dialog zum einen hinsichtlich des Potentials der Wechselwirkungen zwischen Marinos Kunstrezeption bzw auch der zeitgenössischen bildkünstlerischen Produktion überhaupt und seinen Texten ausgelotet Zum anderen wird die Frage nach dem Austausch zwischen den Künsten an den Bereich der Intertextualität herangetragen Während Valeska von Rosen in vielerlei Hinsicht reizvolle Parallelen zwischen Caravaggio und Marino reflektiert, den beiden hinsichtlich ihrer Poetiken und Wirkungen, auch auf Künstlerbzw Dichterkollegen, gewissermaßen ‘emblematischen’ Figuren der Epoche («Caravaggio, Marino und ihre ‘wahren Regeln’ Zum Dialog der Malerei und Literatur um 1600», S 307-333), nimmt Ulrich Heinen anhand der Gedichte Marinos über zwei Gemälde von Rubens eine Frage in den Blick, die zur Reflexion des oben erwähnten Problems der Ekphrasis Grundlegendes beitragen kann: Er diskutiert, ob und wie die Texte hier «das Sehen, Verstehen, Erleben und Genießen des Bildes erschließen», um auf diese Weise auch eventuelle Struktur- und Wirkungsanalogien zwischen Marinos Dichtung und Buchbesprechungen 116 Rubens Malerei zu ermitteln («‘Concettismo’ und Bild-Erleben bei Marino und Rubens Eine medienhistorische Analyse», S 349-398, hier S 350) Dem Dialog zwischen Texten widmen sich Marc Föcking («Bildstörung Probleme des Ikonischen geistlicher Lyrik in Marinos La Galeria und La Lira», S 335-348) und Christian Rivoletti («Sulla presenza di Ariosto e di altri modelli letterari e figurativi nella Galeria di Giovan Battista Marino»): Einerseits wird anhand einer konzisen und unter verschiedenen Aspekten zum Nachdenken anregenden Zusammenschau von geistlichen Gedichten der Lira und Galeria gezeigt, wie Marino sich gewissermaßen selbst zitiert und, wenn man will, variiert (Föcking), insofern die Dichtungen zu gleichen oder ähnlichen Sujets einander jeweils entgegengesetzte Wirkungsstrategien verfolgen und somit auch das eigene poetologische Profil der ‘ikonischen’ Galeria akzentuieren Andererseits werden deren intertextuelle Bezugnahmen in Ariosts Orlando Furioso, einem der meistgedruckten und populärsten Texte der Renaissance, untersucht (Rivoletti), der durch die Dichtungen wiederum fortgeschrieben und neu ‘visualisiert’ wird Am Finale des Bandes skizziert Ulrich Pfisterer in einem ebenso originellen wie argumentativ konsistenten Zugang exemplarisch die Themen und Strategien von in der Galeria versteckten Selbstporträts ihres Autors, die anschließend den Anlass zu einer, sowohl für die Galeria-Philologie wie auch kunsthistorisch, interessanten Bestandsaufnahme der tatsächlich existierenden Marino-Portaits bilden («Iconologia Mariniana: Marinos Selbst- und Fremdbilder», S 433-466) Die synoptischen Einblicke in die Themenstellungen und Zugangsweisen, die der Sammelband vereint, mögen das oben Gesagte unterstreichen: Die Barocken Bildkulturen dürfen in keiner romanistisch und/ oder kunstwissenschaftlich ausgerichteten Bibliothek fehlen . Marita Liebermann Anmerkungen 1 Auf Entsprechendes verweisen schon allein die Themen des vergangenen und des kommenden Italianistentages Serialität - Reihen, Fortsetzungen, Folgen (Halle 2016) bzw . Norm und Hybridität (Mainz 2018) 2 Im vielzitierten Vers «È del poeta il fin la meraviglia» der Fischiata XXXIII in der Murtoleide . Vgl . Giambattista Marino, La Murtoleide (Spira, appresso Henrico Starckio, 1629), in: Sonia Schilardi, La Murtoleide del Marino, Satira di un poeta ‘goffo’ Premessa di Martino Capucci . In appendice La Murtoleide (Spira, appresso Henrico Starckio, 1629), Lecce: Argo 2007 (Biblioteca Barocca, 6), S . 107-155, hier S . 127 3 Vgl . u .a . Rainer Stillers, «Mythologische Poetik in der Dichtung Giovan Battista Marinos», in: Siegfried Jüttner (Hrsg .), Mythos und Text, Kolloquium zu Ehren von Ludwig Schrader am 11. März 1992 an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Frankfurt a .M ./ Berlin/ Bern: Peter Lang 1997, S . 1-18; ders ., «Bilder einer Ausstellung . Buchbesprechungen 117 Kunstwahrnehmung in Giovan Battista Marinos Galeria», in: Bodo Guthmüller/ Berndt Hamm/ Andreas Tönnesmann (Hrsg .), Künstler und Literat. Schrift- und Buchkultur in der europäischen Renaissance, Wiesbaden: Harassowitz 2006 (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung, 24), S . 231-251; Giambattista Marino, La Galeria Zweisprachige Auswahl (Ital .-Dt .), ausgew . und übers . von Christiane Kruse und Rainer Stillers unter Mitarbeit von Christine Ott, Mainz: Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung 2009, verwiesen sei besonders auch auf das hier zu findende instruktive Nachwort (S . 387-419); Rainer Stillers, «Doppelbilder . Metapher und Einbildungskraft in der Lyrik Giambattista Marinos (1569-1625)», in: Dominik Brabant/ Marita Liebermann (Hrsg .), Barock. Epoche - ästhetisches Konzept - Denkform, Würzburg: Königshausen & Neumann 2017, S . 85-104 4 Vgl . Victor I . Stoichita, «Die schöne Helena und ihre Doppelgängerin in der Galeria des Cavalier Marino», in: Hannah Baader [u .a .] (Hrsg .), Im Agon der Künste. Paragonales Denken, ästhetische Praxis und die Diversität der Sinne, München: Fink 2007, S . 357-376 5 Ein solcher Zugang wurde trotz des anderes verheißenden Titels versucht im Beitrag von Gerald Ackerman, «Gian Battista Marino’s Contribution to Seicento Art Theory», in: The Art Bulletin (1961), S . 326-336 6 Vgl . bereits Kruse/ Stillers, «Nachwort» (wie Anm . 3), S . 405 f ., 408 7 Zur Verdeutlichung mögen zwei Beispiele aus den Pitture (ihrerseits die Sculture zahlenmäßig um ein Vielfaches überwiegenden) genügen: Die den Auftakt bildenden (und nicht weiter unterteilten) Favole, Bezugnahmen auf Historiengemälde mit mythologischen und volkssprachlich-literarischen Protagonisten, umfassen 83 Dichtungen, die darauf folgenden (gleichfalls nicht weiter unterteilten) Historie, Rekurse auf Historiengemälde mit biblischen Protagonisten, belaufen sich auf 57 Einzeldichtungen 8 Vgl . hierzu Ulrich Schulz-Buschhaus, Das Madrigal. Zur Stilgeschichte der italienischen Lyrik zwischen Renaissance und Barock, Bad Homburg v .d .H ./ Berlin/ Zürich: Gehlen 1969 (Ars poetica . Texte und Studien zur Dichtungslehre und Dichtkunst Studien, 7), S . 227, und im Anschluss Bernhard Huß, «Wenn Dichter Dichter porträtieren . Die literarischen Vergilbilder von Luigi Groto und Giovan Battista Marino», in: Angela Fabris/ Willi Jung (Hrsg .): Charakterbilder. Zur Poetik des literarischen Porträts Festschrift für Helmut Meter . Göttingen: V&R unipress/ Bonn University Press 2012 (Deutschland und Frankreich im wissenschaftlichen Dialog . Le dialogue scientifique franco-allemand, 2), S . 179-196, hier S . 182, 191 f 9 Zu den romanistisch eingehend belegten Hypotexten der Galeria vgl . neben Schulz- Buschhaus und Huß (wie Anm . 8) u .a . Ottavio Besomi, «Fra i ritratti del Giovio e del Marino . Schede per la Galeria», in: Lettere italiane 40 (1998), S . 510-521 .