eJournals Italienisch 39/78

Italienisch
0171-4996
2941-0800
Narr Verlag Tübingen
2017
3978 Fesenmeier Föcking Krefeld Ott

Dialekt als interlingualer Übersetzungsmodus in der Lyrik?

2017
Peter Kaspar
8 3 Biblioteca poetica Dialekt als interlingualer Übersetzungsmodus in der Lyrik? Grundlegende Möglichkeiten und Grenzen am Beispiel von zwei furlanischen Gedichten Pier Paolo Pasolinis 1 Zur Rolle des Dialekts besonders bei Pasolini Dialekt und Heimat repräsentieren zwei elementare, nachgerade fundamentale Aspekte menschlichen Lebens, welche eine gegenseitig sich bedingende Symbiose einzugehen in der Lage sind Mundart impliziert gleichzeitig die Existenz eines normierten Standards als Referenzpunkt, und je größer der Rang von Regionalsprachen im Bereich eines kodifiziert gültigen Standards ist, desto eher bieten jene die Möglichkeit der Identifikation mit der eigenen Herkunftsregion Italien bzw das italienische Sprachgebiet ist reich an selbstbewussten Dialekten und Regionalsprachen wie beispielsweise dem Furlanischen als rätoromanische Sprache einerseits, andererseits auch ebenso reich an Schriftstellerinnen und Schriftstellern, welche Literatur in Mundart verfassten und sich gleichzeitig programmatisch mit dem Verhältnis von Dialekt und Literatur beschäftigten Ein Beispiel hierfür ist Pier Paolo Pasolini Am 5 .3 .1922 in Bologna als Sohn des aus Ravenna stammenden Carlo Alberto Pasolini und der Friulanerin Susanna Colussi geboren und am 2 .11 .1975 in Ostia ermordet, war er trotz seines von Geburt an lokal unsteten Lebens ein Regionalist Und zwar, wie es Harald Hartung ausdrückt, «nicht nach Herkunft, sondern in seinem Begehren» (Hartung 2010) Seine wahre Heimat sah er stets im Ort seiner Jugend, dem kleinen Städtchen Casarsa in der Provinz Conegliano im Friaul - besser noch: er fühlte sie dort, denn mit Heimat hängt nie ein Ort allein zusammen Was sie ausmacht, ist stets auch das mit ihr verbundene Gefühl bzw das durch sie generierte Gefühl An diesem Punkt setzt auch, so formuliert es Luigi Pirandello 1909 in der Rivista Popolare di Politica, Lettere e Scienze Sociali in seiner so programmatischen wie gelungenen und reflektierten Definition von Mundart, der Unterschied zwischen Heimat- und Standardsprache ein, welcher elementar und fundamental wichtig ist: «Ora, certamente un grandissimo numero di parole di un dato dialetto sono su per giù - tolte le alterazioni fonetiche - quelle stesse della lingua, ma come concetti delle cose, non come particolar sentimento di esse .» (zitiert nach: De Chiara 2009, 107, FN 267; vgl auch Kaspar 2013, 18 f .) Freilich, auf dem Theater ist die Verwendung von Dialekt insoweit leichter möglich, als eine direkte Konfrontation desselben mit dem Publikum stattfindet und die Dialekt als interlingualer Übersetzungsmodus in der Lyrik? Peter Kaspar 8 4 Bühne ergo eine Art Experimentierfeld für ein an das reale Leben angelehnte Spiel bietet Hierzu formulierte Antonio Alessio für die Mundart bei Pirandello: «Per Pirandello il dialetto siciliano costituì, invece, un autentico laboratorio di ricerca e sperimentazione perché favoriva più che non mai l’immediatezza di quel contatto con la vita a cui si sentiva per natura portato» (Alessio 1994, 210) Für den Bereich der Epik brachte der gefeierte Bestsellerautor und bekennende Sizilianer Andrea Camilleri die Reflexionen Pirandellos ähnlich auf den Punkt: «Di una tal cosa l’italiano serviva a esprimere il concetto, della stessa il dialetto descriveva il sentimento» (Maltese 2009, zitiert bei Bologna 2009) Aufgrund ihrer zumeist reinen Schriftlichkeit bietet die Epik ein ähnliches Experimentierfeld wie die Dramatik; Lyrik freilich nicht minder Egal ob Mundartlyrik häufig substanz- und reflexionsfrei als Folklore abgetan wird oder nicht, kommt sie dem Rezipienten häufig undurchdringbar und in ihrer jeweiligen Intention abgeschottet daher Und sicherlich: Wo sich in den beiden anderen literarischen Gattungen Zusammenhänge und thematische Interdependenzen durch den Kontext erschließen können, da bleibt der Transport des Gefühls in der Mundart im Bereich der Lyrik häufig im Obskuren, was nicht nur an ihrer regional wie nationallingual begrenzten Verständlichkeit liegt Anders ausgedrückt: Die Codierung von Gefühlen im Dialekt erschwert deren Decodierung bei Vorlage unterschiedlicher Codes von Produzenten und Rezipienten zumal bei Vorlage verdichteter Sprache; zu dieser Barriere und deren potenzieller Überwindung später mehr Hier aber nun zurück zu Pasolini und seiner Dichtung: Betrachtend sein eben angesprochenes Heimatgefühl, nimmt es wahrlich nicht wunder, dass die erste literarische Produktion Pasolinis im Dialekt ebendieser Heimat geschieht Ein Jahr nach Scartafaccio (vgl Dietzel/ Heydenreich 2009, 53) erscheinen im Juli 1942 beim Buchhändler Landi in Bologna in einer Auflage von 300 nummerierten Exemplaren die Poesie a Casarsa des Zwanzigjährigen (vgl Gerosa 2005, 123); sie werden erneut im Mai 1975 in einer Sammlung friulanischer Gedichte unter dem Titel La nuova gioventù publiziert Das Besondere an diesen wenigen Gedichten ist nicht ihre Abfassung in der Mundart an sich, sondern viererlei: 1 Als Grund für die Verwendung von Dialekt als Medium literarischer Produktion ist neben dem Einfluss von Pasolinis Mutter die politische Parteinahme zu nennen (vgl Dogliani 2003, 61), nämlich gegen die von Mussolini sog «malerba dialettale» im Sinne eines patriotischen Regionalismus (vgl a .a .O ., 53 f .) «Il dialetto», um es mit Pasolinis Biographen Massimiliano Valente und Angela Molteni zu sagen, «rappresenta una sorta di opposizione al potere fascista» (Valtente/ Molteni) Peter Kaspar Dialekt als interlingualer Übersetzungsmodus in der Lyrik? 85 2 Die Verbindung aus dem «Zungenschlag des ländlichen Friaul mit Elementen der hermetischen Kunstlyrik» (Hartung 2010), ohne dabei jedoch in einen «postromantisch-epigonalen Sound» (Rakusa 2009) zu verfallen 3 Die von Pasolini selbst postulierte Unübersetzbarkeit, lediglich partielle Übertragbarkeit des Dialekts: «Certi vocaboli […] ho variamente tradotti, ma che, in realtà, restano intraducibili» (Pasolini TP I, 193) Diese Tatsache mag zwar, wie sein erster Rezensent Giancarlo Contini meint, logisch begründet sein, da die Unübersetzbarkeit einen «tipico carattere dialettale» repräsentiere (Contini 1986, 119) Allerdings muss diese Nota Pasolinis genauer betrachtet werden: Wenn er davon spricht, er habe manche Wörter übersetzt, wenngleich sie «intraducibili» seien, verwendet er dazu jeweils dasselbe Verb, nämlich tradurre Dieses jedoch bedeutet gleichermaßen ‚übersetzen‘ wie ‚übertragen‘ und kann in Verbindung mit dem Adverb variamente in oben zitiertem Satz durchaus auf zwei Weisen interpretiert werden Wo nämlich ähnliche, (sinn-) verwandte Wörter möglich erscheinen, wäre also von einer Übertragung des Dialekts zu sprechen, wo nichts dergleichen - von Wortwörtlichkeit ganz zu schweigen - möglich erscheint, dann von Unübersetzbarkeit; eine Unterscheidung, die im Folgenden noch eine zentrale Rolle spielen wird 4 Die ganz bewusste Betrachtung des Furlanischen durch Pasolini nicht als Dialekt, sondern als Sprache, was sie ja in ihrer Eigenschaft als rätoromanisches respektive ostladinisches Idiom zweifelsfrei ist: «[Er] war nicht bereit, die eine gegenüber der anderen als partikularen Dialekt abzuwerten» (Dieckmann 2010) Somit benutzte er zwei getrennt voneinander existente Sprachsysteme, dasjenige der Offizialität (Standard) in Opposition zu demjenigen des Gefühls (Dialekt); als Sprachen seiner Literatur stehen beide gleichberechtigt nebeneinander 2 Fragestellungen und Ziele der Überlegungen Pier Paolo Pasolini bringt in seiner Mundartlyrik ein Hermetikum zu Papier, welches im Gewand des Dialekts dem des Furlanischen nicht mächtigen Leser noch undurchdringbarer erscheint als ohnehin es schon allein für einen italienischen Muttersprachler ist, dessen sprachliche Sozialisation nicht in der Region Friuli-Venezia Giulia stattgefunden hat So wünschenswert wie notwendig ist aber die Vermittlung jenes durch die Mundart ausgedrückten und transportierten Gefühls für einen Rezipientenkreis, der weder des Dialekts noch des Standards mächtig ist, sondern außerhalb des Italienischen (in diesem Falle) angesiedelt ist Hier beginnt die so drahtseilaktgleiche wie Dialekt als interlingualer Übersetzungsmodus in der Lyrik? Peter Kaspar 86 verantwortungsvolle Arbeit des Übersetzens Nicht nur weil man gegen Pasolinis Postulat der Unübersetzbarkeit handeln müsste, sondern auch weil man mit der Frage konfrontiert wird, in welche Sprache dialektal-hermetische Lyrik zu überführen wäre; von einer wahrhaften Übersetzung im Sinne der Findung einer sprachlichen Entsprechung, einer Äquivalenz für den Ursprungstext unter Einbezug von Sinn, Stil, Normen und kommunikativer Werte (vgl Gerosa 2005, 124, und Koller 2001, 89 ff .) kann hier noch keine Rede sein Um vorerst einen provisorischen Arbeitsbegriff für die folgenden Überlegungen zu konstruieren, soll daher zunächst von einer interlingualen Translation, wörtlich vom lateinischen Verb transferre (‘überführen’, ‘versetzen’) übernommen und bewusst nicht von der englischsprachigen Entsprechung, eines dialektalen Textes gesprochen werden, um diesen samt Inhalt und Dimension(en) für einen Leserkreis außerhalb des eigentlichen Sprachgebiets, dem die Mundart angehört, erfahrbar und lesbar zu machen Die Frage, die nunmehr im Mittelpunkt stehen soll, ist folgende: Wie ist das Hermetische in diesem Fall einer dialektal-hermetischen Kunstlyrik einem nicht-muttersprachlichen Leser zugänglich zu machen? Kann die Translation eines Dialekts in einen anderen Dialekt helfen, das ursprüngliche Hermetikum in gewisser Weise aufzulösen, kann er also die Sprache des Gefühls, um in der Diktion Pirandellos zu verbleiben, eine fremde parola in eine dem Leser bekannte überführen? Braucht es zur Translation stets die standardisierte lingua, um von ihr aus eine parola zu generieren, oder kann die Überführung einer Mundart in eine andere gelingen? Dass dabei eine literarische Übersetzung im eigentlichen Sinne entsteht, also eine, die sich auch an formal-ästhetischen Merkmalen des Ursprungstextes orientiert (vgl Gerosa 2005, a .a .O .), darf wohl mit einiger Berechtigung von vornherein bezweifelt werden Notwendig ist jene Translation aber nichtsdestotrotz, um das o .g Ziel zu erreichen Denn wenn Dialekt Gefühl vermittelt, muss gerade Dialektlyrik auch in einen solchen transferiert werden Dem könnte freilich entgegengehalten werden, dass eine interlinguale Translation eines Gefühls schon aufgrund seiner Subjektivität nicht gelingen kann und dass ohne Kenntnis der spezifischen Region, die dieses subjektive Gefühl generiert, ein Nachvollzug ohnehin nurmehr schwerlich möglich ist Dem mag partiell so sein; aber eben nur partiell, denn sonst wäre ja die Übertragung eines Dialekts in einen Standard, gleich welcher nationaler Provenienz, noch weniger möglich oder schlechterdings unmöglich, was aber gerade nicht der Realität entspricht So kann sich die Translation einer Mundart in eine andere dem zugrundeliegenden Gefühl wohl mehr annähern als ein fesselbewehrter Standard Die Frage, wie und von welcher Basis diese Translation geschehen kann und bestenfalls geschehen sollte, wird sich dabei noch als elementar erweisen Peter Kaspar Dialekt als interlingualer Übersetzungsmodus in der Lyrik? 87 Im Falle der furlanischen Gedichte Pasolinis, die hier exemplarisch als Referenzobjekte gelten sollen, wurde von Christian Filips bereits 2009 als Übertragungsmodus ein artifizielles Mittelhochdeutsch generiert, eine Art künstliches Altdeutsch Diese Übertragungen kommen dem Ursprungstext zwar nahe, ersetzen ihn aber nicht ganz und repräsentieren überdies eine gewisse elitäre Künstlichkeit, ist doch jenes artifizielle Altdeutsch nur ausgewählten Leserkreisen zugänglich (vgl Pasolini 2009) Um hier nun Methoden wie gleichermaßen Möglichkeiten der Translation einer Mundart in eine andere auszuloten, zu erproben, sollen zwei kurze Gedichte der Poesie a Casarsa exemplarisch herangezogen werden, nämlich Dedica und Il nini muàrt in ihren 1942 publizierten Versionen 3 Translation von Dialekt 3.1 Der Umgang mit der Mundart als prinzipielle Problemstellung Die Kunst literarischer Übersetzung ist immer, dies steht außerhalb jeden Zweifels, von den immensen Schwierigkeiten überschattet, Äquivalente, Entsprechungen, Stilsimilaritäten zu finden, um den Ursprungstext so wenig wie möglich, aber so weit wie nötig durch den Prozess der Übertragung zu verändern Eine wirkliche 1: 1-Übersetzung wird dabei schlechterdings unmöglich sein, allein der Übergang der einen Standardsprache in eine andere birgt bereits zwangsläufig Veränderungen Betrachten wir hierzu ganz kurz zwei lyrische Beispiele: Für den bekannten ersten Vers aus Annette von Droste-Hülshoffs Ballade Der Knabe im Moor, «O schaurig ist’s übers Moor zu gehn», bietet eine ins Italienische übersetzte Edition die Zeile «Passare la palude, che paura» (Droste 2002, 65), wobei paura als Substantiv zum Adverb schaurig das ursprünglich Intendierte nicht ganz trifft; zu erwarten wäre vielleicht che brivido gewesen oder orribile Die insgesamt sehr gelungene Übersetzung von Pasolinis Gedichten der Jahre 1953 bis 1964 ins Französische schlägt für folgende zweieinhalb Verse aus Le Ceneri di Gramsci, genauer aus dem Pianto della scavatrice, I, vor: […] mi rendono nemiche […] me rendent hostiles le forme del mondo, che fino a ieri ces forms du monde, qui, hier encore, erano la mia ragione d’esistere constituaient ma raison [d’être (Pasolini 2001, 51 f .) Dialekt als interlingualer Übersetzungsmodus in der Lyrik? Peter Kaspar 8 8 Auffällig ist hierbei ist die Modifikation des bestimmten Artikels le zum Demonstrativpronomen ces sowie die Veränderung des Verbs essere zu constituer, was - das muss eingeräumt werden - der französischen Version allerdings adäquater erscheint Die Frage, welche in diesem Zusammenhang als schwierigste und schwerwiegendste zu gelten hat, ist diejenige nach dem Modus des Transferierens von Dialektismen im Ursprungstext oder falls dieser komplett in Mundart verfasst sein sollte Wie kann jener Modus der Überführung aussehen, braucht es einen Standard als Medium und, wenn ja, welchen - diese Fragen werden im Folgenden erörtert und erprobt Den Dialekt komplett quasi zu umschiffen und stattdessen im standardsprachlichen Kontext lediglich den Hinweis auf die Mundartlichkeit des nun Folgenden zu geben, also eine ko-textuelle Annotation, kann in der Lyrik nicht gelingen Allenthalben wäre dies eine Möglichkeit im Bereich der Epik, wie beispielsweise in Giuseppe Tomasi di Lampedusas epochalem Werk Il Gattopardo geschehen Dort schildert an einer Stelle don Ciccio Tumeo seinem Fürsten Don Fabrizio 1 gegenüber, wie er sich beim Plebiszit verhalten habe: «In piedi, parlava in dialetto e gesticolava, pietoso burattino che aveva ridicolmente ragione ‘‘Io, Eccellenza, avevo votato ‘no’ ‘No’, cento volte ‘no’ ’’» (Tomasi di Lampedusa 2005, 97) Dies ist für den Übersetzer dann freilich ein Leichtes: «Er war aufgestanden, redete in seinem Dialekt und gestikulierte, ein kläglicher Hampelmann, der lächerlich recht hatte ‘‘Ich, Exzellenz, ich hab’ Nein gestimmt Nein, hundertmal Nein ’’» (Tomasi di Lampedusa 2011, 146) Nur nebenbei sei erwähnt, dass die Übersetzung des Titels des Romans, Il Gattopardo, bis 2004 mit Der Leopard falsch erfolgte, stellt doch das Substantiv gattopardo die italienische Entsprechung des Serval dar, der Gattung der Pardelkatzen angehörig 3.2 Translationsmöglichkeiten Die nunmehr an zwei Beispielen von furlanischen Gedichten zu erprobenden Möglichkeiten gliedern sich in folgende prinzipiellen Typen, welche die bereits aufgeworfene Frage beinhalten, ob die Translation einer Mundart in eine andere einen Standard als Zwischenstufe benötigt Als Typ I soll die direkte Übertragung des Ursprungsdialekts in einen Zieldialekt bezeichnet werden In vorliegendem Fall steht für den Zieldialekt jeweils ein nordmittelbairischer Verkehrsdialekt Dies liegt allerdings an der mundartlichen Prägung des Verfassers vorliegenden Aufsatzes und der Möglichkeit der Verfügbarkeit potenzieller Übersetzer Prinzipiell kann jeder andere, nicht nur deutsche Dialekt hierfür stehen Typ II stellt die Translation über den dem Ursprungsdialekt zugehörigen Standard als Hilfsinstrument dar, wobei Typ III als dieses Hilfsinstru- Peter Kaspar Dialekt als interlingualer Übersetzungsmodus in der Lyrik? 8 9 ment den Standard der Zielmundart ansieht Theoretisch wäre natürlich die Konstruktion eines Typs IV möglich, welcher dann drei Übertragungsschritte beinhaltete, nämlich vom Ursprungsdialekt über den Ursprungsstandard und den Zielstandard in einen Zieldialekt Diese Möglichkeit wird allerdings verworfen, da eine dreifache Übertragung einerseits unrealistisch ist, andererseits davon auszugehen wäre, dass der Sinn- und Gefühlsgehalt des Ursprungstextes nur mehr partiell erhalten wäre Wenn also unter Punkt 3 dieser Ausführungen verschiedene Translationsversionen des jeweils selben Gedichts erscheinen, so sind sie jeweils das Produkt der Anwendung des jeweiligen Typs Dass diese Ergebnisse diskutabel sind und nicht den Anspruch auf unbedingt gelungene Übertragungen - bei aller Subjektivität - erheben, versteht sich von selbst Die bei Typ II zugrundeliegende standarditalienische Version ist jeweils die von Pasolini selbst vorgeschlagene Die jeweilige Translation nach Typ II stammt vom Verfasser des vorliegenden Aufsatzes, Typ I besorgte ein aus Villach (Kärnten) Stammender, der seinen barischen Dialekt aktiv gebraucht, dessen innerfamiliäre sprachliche Sozialisation aber auf dem Furlanischen basierte; die entstandene Version bietet eine Art Verkehrsbairisch, was im Folgenden aber nicht von Bedeutung ist Bei Typ III erfolgte die Übertragung ins Standarddeutsche von demselben, die Dialektalisierung führte ein weiterer Dialektsprecher durch 4 Konkrete Beispiele aus Pasolinis furlanischem Werk mit Anmerkungen 4.1 Dedica 4 .1 .1 Ursprungstext (Furlanisch) Fontane d’àghe dal mè paîs A non è àghe pi frès-cie che tal mè paîs Fontane di rùstic amor (Pasolini 2003, 167) 4 .1 .2 Italienische Version Fontana d’acqua del mio paese Non c‘è acqua più fresca che nel mio paese Fontana di rustico amore Dialekt als interlingualer Übersetzungsmodus in der Lyrik? Peter Kaspar 9 0 4 .1 .3 Translationen 4 .1 .3 .1 Translation nach Typ I Wuids Wassa aus meina Hoamat Koa frischas Wassa gibt’s ned ols wia vo meina Hoamat A grobe Liab is‘, owa liab is‘ ma 4 .1 .3 .2 Translation nach Typ II Brunna vo mia dahoam Koa frischas Wassa gibt’s ned ois wia vo da Grob is‘, owa r a Liab is‘ 4 .1 .3 .3 Translation nach Typ III Wassa aus am Brunna vo meim Dorf Nirgadwo sunst gibt’s so a frischs wia vo meim Dorf A Brunna is‘, a grobe Liab 4 .1 .4 Anmerkungen Auffallend in den drei durch unterschiedliche Translation entstandenen Texten ist die unterschiedliche Realisierung der affekt- und emotionsgeladenen Situierung des Gedichts in mè paîs, die im zweiten Vers entweder wörtlich wiederholt wird und dadurch die Zugehörigkeit des lyrischen Ich dazu evoziert oder worauf mit dem entsprechenden Lokaladverb referiert wird Der Komparativ in Vers 2 wird in den ersten beiden Typen mit im Bairischen obligatorischer doppelter Verneinung (nicht als Litotes zu sehen) ausgedrückt, lediglich im dritten erfolgt die Konstruktion des Vergleichs mit so a frischs Die im Deutschen zwangsläufig vermeintlich antithetisch angelegten Pole des Groben und der Liebe, wobei das adjektiv rustic eine andere semantische Wurzel haben kann, wird auf unterschiedliche Weisen angegangen respektive aufgelöst 4.2 Il nini muàrt 4 .2 .1 Ursprungstext (Furlanisch) Sère imbarlumìde, tal fossâl ’a crès l’àghe, a’na fèmine plène ’a ciamìne tal ciamp Jo ti ricuàrdi, Narcìs, tu vèvis il color da la sere, quant lis ciampànis Peter Kaspar Dialekt als interlingualer Übersetzungsmodus in der Lyrik? 91 ’a sunin di muàrt (Pasolini 2003, 168) 4 .2 .2 Italienische Version Sera luminosa, nel fosso cresce l’acqua, una donna incinta cammina per il campo Io ti ricordo, Narciso, avevi il colore della sera, quando 4 .2 .3 Translationen 4 .2 .3 .1 Translation nach Typ I D’Sunn hat gschiena r an dem Amd, s’Wassa im Grabn steigt o, a schwangas Wei geht aufs Feld I woaß’s no genau, Narcisius, aggrad de Farb hast ghabt, de Farb vo dem Ambd, wia s’Sterbglöckal zum Leitn ogfangt hat 4 .2 .3 .2 Translation nach Typ II Leichtnda Ambd, Ogstieng is as Wassa drunt im Grabn, wia r a schwangane Frau auße ganga is aufs Feld I kenn di no, Narcisius, de Farb vo dem Ambd hast ghabt, wia s’Sterbglöckal gleit’t hat 4 .2 .3 .3 Translation nach Typ III Leichtn duads af d’Nacht, s’Wassa steigt an Grobn drinnad und a schwangas Wei geht auße aufs Feld I woaß di no genau, Narcisius, wias’d grod in dera Farb vo dem Liacht af d’Nacht gleicht’t hast Und na is s’Sterbglöckal ganga Dialekt als interlingualer Übersetzungsmodus in der Lyrik? Peter Kaspar 92 4 .2 .4 Anmerkungen Vor allem anderen als bemerkenswert ist die Übersetzung des le campane/ suonano a morto in allen drei Versionen mit dem dialektnahen Terminus technicus Sterbglöckal, welcher sich offensichtlich sowohl einer breiten Usualität erfreut als auch, gleich unter Anwendung welchen Translationstyps, einen semantischen Rahmen konstituiert, der den Kontext läutender Glocken im Angesicht eines Todesfalls abdeckt Bemerkenswert ist daneben die Übertragung des Verbs ricordare, das in der standarddeutschen Entsprechung erinnern im Dialekt nicht existiert Seinen semantischen Ausdruck findet jenes in kennen bzw wissen, welche auch im mundartlichen Bereich synonym verwendet werden können Ebenso unterschiedlich realisiert wird mit Frau bzw Wei donna, allerdings ohne ihre diachrone Bedeutungsunterscheidung im poetischen Kontext zu tangieren Zuletzt erstaunt aus dialektologischer Perspektive, dass lediglich die Translationsversion nach Typ III den eigentlich mundartlichen Ausdruck af d’Nacht beinhaltet, die beiden anderen allerdings das standardliche am Abend, freilich entsprechend der ostoberdeutschen Aussprache, erscheint 5 Zusammenfassung Abgesehen davon, dass der im zweiten Gedicht erscheinende Eigenname nicht übersetzbar ist, bietet sich im Allgemeinen ein differentes Bild der entstandenen Versionen Als dem Ursprungstext am nächsten erweist sich jeweils die Translation nach Typ I Die beiden anderen Versionen beinhalten weitere Freiheiten, gehen aber keinesfalls so weit von der furlanischen Version weg, dass nicht mehr von einer Translation im hier definierten Sinne die Rede sein könnte Eine eindeutige Entscheidung, welcher Typ letzten Endes gelungener ist, muss dem jeweiligen Leser freilich überlassen bleiben Was allen Versionen jedoch zweifelsohne gemein ist, ist ihre durch sie möglich gewordene, im mindesten Fall teilweise Überführung in einen Dialekt außerhalb des italienischen Sprachraums Betrachtet man die Intention aller Arten der dialektalen Translation des Furlanischen, so wird jedoch deutlich, dass sie jeweils durchaus erfüllt wurde, das zu vermittelnde Gefühl im Gewande einer verdichteten Mundart für einen Rezipientenkreis außerhalb des Furlanischen bzw Italienischen erfahrbar gemacht werden konnte Dass dieser Erfahrbarkeitstransport über die Mundart realisiert wurde, macht gleichzeitig deren Funktion hinsichtlich des Translationsergebnisses deutlich, nämlich die einer Hilfestellung im aus ihr resultierenden Erfahrens- und Rezeptionsprozess Daraus ergibt sich, dass der Dialekt an sich mehr ist als ein bloßes Auxiliarinstrument Mundart soll Peter Kaspar Dialekt als interlingualer Übersetzungsmodus in der Lyrik? 93 daher hier als Modus translocandi, wahlweise Translokationsmodus bezeichnet werden, um seine Funktion detaillierter, nuancierter zu verdeutlichen - Das verwendete Gerundium bezieht sich auf einen lateinischen Neologismus, den als Verb translocare zumindest das Wörterbuch von Haas aufführt (vgl Haas 1804, 277), da es ‚in einen anderen Ort versetzen‘ bedeutet, was wiederum eine bessere Beschreibung liefert als transferre Da es sich um einen Modus translocandi in einen anderen Nationaldialekt handelt, wird letztlich der Begriff eines interlingualen Modus translocandi generiert Dass dieser Modus keine Übersetzung im eigentlichen bzw wortwörtlichen Sinne liefern kann, versteht sich von selbst und kann nie sein Anspruch sein Übersetzen ist, wie es Dorothea Dieckmann ausdrückt, immer eine Art Dienst am Ursprungstext (vgl Dieckmann 2009), und diesen Dienst vermag Dialekt zu schaffen, indem er, wie im vorliegenden Fall des Furlanischen, eine fundamentale Muttersprache entsprechend transloziert und erfahrbar macht Im Konkreten bedeutet dies bei Pier Paolo Pasolini, der schon als Zwanzigjähriger im Friaul bzw in Casarsa seine ideelle stabilitas loci gefunden hatte, eine Translokation jener stabilitas; und im Allgemeinen für den Dialekt als Translokationsmodus, gleich welcher sprachlicher Provenienz, die Konstituierung einer gewissen stabilitas linguae respektive stabilitas verbi Übersetzung und Kommentar: Peter Kaspar Anmerkung 1 Das Italienische, um Standesunterschiede zu betonen, unterscheidet zwischen den Schreibweisen Don für hohe Adlige und den Klerus und don für Herren im Allgemeinen (vgl . Tomasi di Lampedusa 2011, 377) Literaturangaben Monographien und Primärtexte De Chiara 2009 = De Chiara, Mariafilomena: La ruta de la mascara: el teatro de Luigi Pirandello y Samuel Beckett . Barcelona (Diss .) Droste 2002 = von Droste-Hülshoff, Annette: La casa nella brughiera (Poesie 1840-1846). Introduzione, traduzione e note di Giorgio Cusatelli 3 . Aufl . Milano Kaspar 2013 = Kaspar, Peter: Emerenz Meier und der Dialekt . Dokumentation eines wandelbaren Verhältnisses im zeitgenössischen Kontext . Regensburg (Diss ., e-publishing) Koller 2002 = Koller, Werner: Einführung in die Übersetzungswissenschaft . 2 . Aufl Wiebelsheim Pasolini 2001 = Pasolini, Pier Paolo: Poésies 1953-1964 . Édition bilingue . Traduction de José Guidi . Paris Pasolini 2003 = Pasolini, Pier Paolo: Tutte le poesie I . A cura e con uno scritto di Walter Siti . Saggio introduttivo di Fernando Bandini . Cronologia a cura di Nico Naldini . Milano Dialekt als interlingualer Übersetzungsmodus in der Lyrik? Peter Kaspar 9 4 Pasolini 2009 = Pasolini, Pier Paolo: Dunckler Enthusiasmo . Friulanische Gedichte Übersetzt von Christian Filips . Schupfart Tomasi di Lampedusa 2005 = Tomasi di Lampedusa, Giuseppe: Il Gattopardo 4 . Aufl ., Milano Tomasi di Lampedusa 2011 = Tomasi di Lampedusa, Giuseppe: Der Gattopardo . Aus dem Italienischen neu übersetzt und mit einem Glossar von Giò Waeckerlin Induni . München Valente/ Molteni = Valente, Massimiliano/ Molteni, Angela: Pier-Paollo-Pasolini.-La-vita . Publiziert auf: http: / / www .pierpaolopasolini .eu/ vita01 .htm (letzter Zugriff: 11 .05 .2016) Artikel und Aufsätze Alessio 1994 = Alessio, Antonio: «Luigi-Pirandello.-Tutto-il-teatro-in-dialetto . A cura di Sarah Zappulla Muscarà . Milano: Bompiani 1993 . 2 Voll ., 269, 335 pp», in: Rivista di Studi Italiani, no 1, Giugno 1994, 210-211 Bologna 2009 = Bologna, Anna: «Sizilianisches in den Romanen von Andrea Camilleri», in: Zibaldone . 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