eJournals Italienisch 38/76

Italienisch
0171-4996
2941-0800
Narr Verlag Tübingen
2016
3876 Fesenmeier Föcking Krefeld Ott

Judith Kasper/Cornelia Wild (Hrsg.): Rom rückwärts. Europäische Übertragungsschicksale, Paderborn: Wilhelm Fink Verlag 2015, 252 Seiten, mit s/w-Abb., € 29,90

2016
Carlo Mathieu
Kurzrezensionen 14 6 Judith Kasper/ Cornelia Wild (hrsg.): Rom rückwärts. Europäische Übertragungsschicksale , Paderborn: Wilhelm fink Verlag 2015, 252 Seiten, mit s/ w-Abb., € 29,90 Wie gestaltet sich das breite Spektrum, das Rom und seine Bedeutungen auf die Texte der Antike und der Moderne projizieren? Welche Figuren und Tropen gehören zu Rom und machen aus der Stadt eine allgegenwärtige Referenz machen in jenem anhaltenden Verfahren der translatio, d .h des Übertragens, Übersetzens und Umarbeitens der Latinität, die das Schicksal Europas und die Geschichte des Abendlandes charakterisiert? Und weiter: Wie ist es möglich, mit Textfiguren und -dynamiken das römische Erbe, seine Latenzen ans Licht zu bringen und zu entziffern, die in wandelbaren Formen stets bereit sind, einen sprachlichen, politischen und kulturellen Effekt in der europäischen Moderne und Postmoderne auszulösen? Diese Fragen bilden den Ausgangspunkt des von Judith Kasper und Cornelia Wild herausgegebenen Bandes Er besteht aus einer kommentierten Anthologie von 35 Textpassagen der Literatur, Philosophie und der europäischen Kultur, die auf Rom rekurrieren Der Band entstand als eine Gemeinschaftsarbeit und ist das Ergebnis hauptsächlich von Zusammenkünften und Debatten der letzten Jahre an der Universität Leipzig im Rahmen des 8 Frankoromanisten-Kongresses sowie zweier Workshops an der Ludwig-Maximilians-Universität München Die chronologische Breite der Texte ist beachtlich und reicht von Ovid und Lucan über Derrida und Kittler, greift dabei etwa Quintilian, Prudentius, Machiavelli, Du Bellay, Gracián, Baudelaire und Curtius auf; auch die Kunst und das Kino sind vertreten (Piranesi, Twombly, Buñuel, Rossellini) Die Essays kommentieren die einzelnen Stellen in verdichteter Form auf fünf bis sechs Seiten DieTextpassagen mit ihren Figuren, ihren Dynamiken und impliziten Strukturen bilden den Kern, von dem aus sich die Analysen entwickeln Das Buch kann somit als ein «philologischer Versuch» angesehen werden, bei dem jeder Aufsatz sich als «eine detaillierte Analyse, die die Theorie in nächste Nähe zu ihren Gegenständen rückt» darstellt, wie es die Herausgeberinnen in der Einleitung deutlich machen (S 15-16) Die Konzeption des Bandes geht von der Annahme aus, dass Rom den Spannungspunkt darstellt, in dem zwei Kräfte zusammenfließen, die aus ihm eine gespaltene, janusköpfige Figur machen; ein Hiatus entsteht: Da ist eine selbstreferentielle Kraft, sozusagen die zentripetale, die Rom eine Form von imperium sein lässt, bezüglich der Macht und dem Herrschaftsanspruch Macht, die zu einer unaufhörlichen reductio ad unum fähig ist, die autoritär das Vermögen darstellt, wiederholungstauglich zu sein, indem sie ihre Übertragung behauptet Aber da ist auch eine Zentrifugalkraft, dazu fähig, Rom und seine Tropen einer subtilen und intensiven Abweichung auszusetzen, die 2_IH_Italienisch_76.indd 146 23.12.16 09: 52 Kurzrezensionen 147 in Umwandlung und Differenz mündet Die Autoren der einzelnen Beiträge machen es sich zur Aufgabe, die Substanz und die Variabilität dieser Kraft zu entschlüsseln: Während des Übertragungsprozesses, den Rom in Erinnerung ruft, werden textuelle Dynamiken aktiviert, die eine breite Skala an Gefühlen, ‘Gegenschlägen’ und Logiken auslösen und die vermögen, aus dem römischen Erbe seine stets latente Alterität und Vielfalt zu gewinnen Die Ruinen Roms der Vergangenheit etwa verwandeln sich nicht in identitätsstiftende Symbole, sondern in «sperrige Reste, […] zerstückelte Signifikanten, die bis zur Unkenntlichkeit verschoben, in neuen Montagen aufscheinen» (S 14) Die Referenz Rom besteht seit der Erzählung seiner Gründung aus einem ungelösten Kräftefeld Mit der Tötung von Remus durch den Zwillingsbruder Romulus stellt sich Rom - wie Gianluca Solla in der Analyse des Abschnitts Vitae parallelae von Plutarch darlegt - als Ort der Dualität und der Trennung dar Diese offenbart auch das Paradoxon seiner rechtlichen Grundlage: Die Macht des Gesetzes entspringt «selbst aus der kruden Gewalt des Mordes: Gesetzgeber und Mörder sind dieselbe Person» (S 23) Gleichermaßen kann der Gründungsmythos auf narrativer Ebene seine Autorität nicht auf eine einzige Version festlegen, sondern zeigt sich, wie Plutarch andeutet, zerstückelt in einer Myriade von Versionen und Variabilitäten entgegengesetzter Stimmen, unter denen man schwer die wahre ausmachen kann Der christlichen Tradition Roms und ihrem Stammvater Augustinus widmet sich Barbara Vinken in ihrer Lektüre: In augustinischer Perspektive wird die Gründungsgeschichte Roms und der Brudermord «zum Urtypus irdischer Geschichte, zur Figur des gesellschaftlichen Körpers: Gespalten-Sein im Gleichen» (S 30) Rom ist daher nicht aeterna, sondern Emblem der Vergänglichkeit alles Irdischen Es handelt sich hierbei um einen Knotenpunkt, der erneut in der Moderne wieder zu finden ist, in anderer Form An Rom denken bedeutet tatsächlich an die Geschichte der Zivilisationen denken, an die Möglichkeit ihrer translatio, ebenso wie an ihre Sterblichkeit, und damit sind Angelpunkte der Gedanken Paul Valérys und im Besonderen der Schrift La crise de l’esprit genannt: Nach Pablo Valdivia Orozco stellt für Valéry die Krise des Geistes auch die Krise der Idee selbst der römischen translatio dar, die als Fähigkeit des Organisierens, Filterns und «Nennens» dessen verstanden wird, das die Möglichkeit des Vererbt-Werdens in sich trägt, die Fähigkeit also, dessen Heterogenität und Individualität zu bewahren Zu vermeiden ist hiernach, dass «die Namen dieser Zivilisation des Geistes zu reinen Worten [absacken]»: Mit der Krise des Geistes, «die hier auch die der römischen translatio ist, wird nicht nur Heterogenität zu Chaos, sondern ebenso jedwedes Material zu einer amorphen Anhäufung» (S 73, 74) 2_IH_Italienisch_76.indd 147 23.12.16 09: 52 Kurzrezensionen 14 8 Auf einer anderen Ebene jedoch, jener der Gefühle nämlich, zeigt Rom eine der dauerhaftesten Wirkungen, die Offenheit dafür, «mit Gefühlsintensitäten und Intimität aufgeladen» zu sein, so Cornelia Klettke in der Analyse einer Textpassage aus Mme de Staëls Corinne ou l’Italie (S 210), oder es offenbart sein Potential, «Imaginarium der Faszination» zu sein (Rudolf Behrens in Bezug auf Madame Gervaisais der Brüder Goncourt, S 215) Es ist besonders die Stadt der Trümmer ihrer Tempel und der Spuren ihrer Auflösung, die den Katalysator der Gedanken und Gefühle darstellt und für den Besucher ein Ort der Erwartung und des Erwachens, wie John T Hamilton in seiner Lektüre einer von Petrarcas Familiares darlegt, ein Bericht seiner Spaziergänge, die er oft mit Giovanni Colonna zwischen den Ruinen der Stadt unternahm: Bei jedem Schritt, so Petrarca, tauchte etwas auf, «was Zunge und Herz erregte» [quod linguam atque animum excitaret] Die Stadt, ein unermessliches Depot von Fragmenten historischer Ereignisse, welche die Vorstellung des Besuchers anregen, wird zum «Palimpsest, während der Reisende zum Leser wird» (S 205) Der Palimpsest Rom erscheint wie von loci übersäht, welche die Form von echten und eigentlichen Zitaten annehmen: Sie können wieder verwendet, zu neuem Leben erweckt und in der Gegenwart ‘interpoliert’ werden Dies ist etwas, das auch in den Essais von Montaigne anklingt, wo natürlich die Demarkationslinie zwischen den Alten und Modernen einem Abgrund gleicht: Der moderne Autor - laut Helmut Pfeiffer in seiner Lektüre der De trois bonnes femmes (35 Kapitel des 2 Buches) - ist zuständig für «die dispositio des alten Materials, ‘sowie man mit Blei andere Metalle verlötet’, während die inventio in der Wirklichkeit der alten Geschichte liegt» (S 151) Rom mit seinen Ereignissen und den Persönlichkeiten, die sich in der literarischen und geschichtlichen Überlieferung kreuzen, scheint selbst eine Trope zu sein, eine Wendung, wenn nicht eine wahre Denkfigur, die immer wieder zurückkehrt und sich wieder stellt, um die Behauptung von Michèle Lowrie aus seinem Kommentar eines Passus aus Bellum civile von Lucan, der Caesar und Scaeva in den Blick nimmt, anzuführen Sigmund Freud hat in einem Abschnitt von Das Unbehagen in der Kultur einen Vergleich angedeutet, den er sodann in der Schwebe ließ, zwischen Rom und der Struktur der Psyche, vor allem deren Gedächtnisapparat: Er geht von der «phantastischen Annahme» aus, dass Rom kein bewohnter Ort, sondern ein «psychisches Wesen» ist, in dem jegliche historische Schichtungen seiner Entwicklungsphasen, von den antiken bis zu den jüngsten, gleichzeitig in einer hypothetischen transparenten Überlappung sichtbar werden, etwa so: «auf dem Pantheonplatze fänden wir nicht nur das heutige Pantheon, wie es uns von Hadrian hinterlassen wurde, sondern auf 2_IH_Italienisch_76.indd 148 23.12.16 09: 52 Kurzrezensionen 14 9 demselben Grund auch den ursprünglichen Bau des M Agrippa [ . . .] Und dabei brauchte es vielleicht nur eine Änderung der Blickrichtung [ . . .], um den einen oder den anderen Anblick hervorzurufen» (S 235) In diesem unterbrochenen Versuch Freuds, der quasi an einen Aufschub erinnert (kurz danach wird er als unvorstellbar und absurd kennzeichnet) und den Judith Kasper untersucht, kommt ein Konflikt zwischen Zivilisation und Triebanspruch, zwischen «civitas (Roma) und Affekt (Amor)» (S 241) zum Tragen - dieser führt auch zum Anagramm des Stadtnamens, das in seiner langen klassischen Tradition von Cornelia Wild in Bezug auf einen Text von Saussure analysiert wird Neben diesem Konflikt bleibt jedoch gleichwohl ein zweiter Hinweis Freuds bestehen, nämlich jener auf die von Rom selbst gegebene Möglichkeit, es anhand einer «Änderung der Blickrichtung» zu sehen, seine ‘Disposition’, nicht nur gesehen, sondern auch gelesen zu werden wie ein Text, der mehrfache Einschreibungen enthält Hierin liegt auch des zentrale Anliegen der Herausgeberinnen Der Band weist viele weitere Wege, die Rom und seine Referenzen kreuzen, an dieser Stelle konnte nur ein Teil davon skizziert werden Ein gewisser Grad an Heterogenität unter den einzelnen methodischen Ansätzen der Analysen ist als Möglichkeit zu sehen, die Vielfalt der Referenz Rom entzifferbar zu machen Der Gewinn des Bandes misst sich gerade in der Gemeinschaftlichkeit des Unternehmens, in der erschöpfenden Spannweite der Vielzahl an Arbeiten, die auf diese Weise eine ‘weitwinklige’ Perspektive auf das römische Erbe liefern Carlo Mathieu 2_IH_Italienisch_76.indd 149 23.12.16 09: 52