eJournals Italienisch 38/76

Italienisch
0171-4996
2941-0800
Narr Verlag Tübingen
2016
3876 Fesenmeier Föcking Krefeld Ott

150 Jahre Italien. Themen, Wege, offene Fragen, hrsg. von Florika Griessner und Adriana Vignazia, unter Mitwirkung von Fausto De Michele. Wien: Praesens Verlag 2014, 413 Seiten, € 40,00

2016
Robert Lukenda
Buchbesprechungen 13 3 150 Jahre Italien. Themen, Wege, offene Fragen , hrsg. von florika griessner und Adriana Vignazia, unter Mitwirkung von fausto De Michele. Wien: Praesens Verlag 2014, 413 Seiten, € 40,00 Während sich andernorts seit den 1990-er Jahren das Interesse am nationalen Selbstfindungsprozess Italiens im Zuge neuer Forschungsansätze wie Noras lieux de mémoire, Hobsbawms und Rangers Traditionserfindungskonzept sowie Andersons Idee der imagined communities nachhaltig belebt hat, fristet die Risorgimento-Forschung im deutschsprachigen Raum nach wie vor eher ein Schattendasein In der jüngeren Vergangenheit sind, zuallererst natürlich in Italien, nicht zuletzt aber auch im angelsächsischen Raum, eine Vielzahl von Studien publiziert worden, die - wie etwa Alberto Mario Bantis Untersuchungen zur patriotischen Kultur der Einigungszeit oder Lucy Rialls Forschungen zum Mythos Garibaldi eindrucksvoll illustrieren - der Risorgimento-Forschung eine neue Ausrichtung gegeben haben . 1 In diesen Studien wird die Genese des italienischen Nationalstaates aus einem Blickwinkel betrachtet, der traditionelle Disziplingrenzen aufbricht und auch dezidiert kultur- und medienwissenschaftliche Perspektiven miteinbezieht Die Fruchtbarkeit dieser Ansätze, die in der Risorgimento-Forschung hierzulande bisher nur wenig Resonanz fanden - für Österreich mag sich diese Situation aufgrund der historischen Verflechtung beider Länder im Prozess der italienischen Nationalstaatsbildung sicherlich etwas anders darstellen - erweist sich u .a dort, wo die Ebenen der imaginierten und der tatsächlichen Realität miteinander verwoben, um etwa das Sinnstiftungspotential romantischer Narrative aus dem historischen Risorgimento-Roman für konkrete revolutionäre Handlungsmuster zu verdeutlichen oder aber die Genese einer Heldenfigur wie Garibaldi als komplexes Zusammenspiel politisch-revolutionärer Strategien, literarischer Fiktionalisierungsmuster und massenmedialer Innovationen sichtbar zu machen Die Gründe für das recht geringe Interesse der Italianistik am Risorgimento und für die spärliche Berücksichtigung der skizzierten Ansätze im deutschsprachigen Raum sind sicher zu vielfältig, um an dieser Stelle ausführlich dargestellt zu werden Zum Teil, so scheint es, dürfte eine Rolle spielen, dass sich die Italianistik hierzulande doch vielfach im Rahmen eines recht eng gefassten Kanons bewegt, der sich auf eine Reihe von Autoren des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit fokussiert und dabei das 19 Jahrhundert mit Ausnahme einiger weniger Literaten (Leopardi, Manzoni, Verga etc .) außen vor lässt Man mag über diese These sicherlich geteilter Meinung sein Jedoch ist kaum von der Hand zu weisen, dass ein weites Feld 2_IH_Italienisch_76.indd 133 23.12.16 09: 52 Buchbesprechungen 13 4 literarischer Quellen aus der Zeit des Ottocento, das maßgeblich zur Entstehung eines Nationalbewusstseins beigetragen und in erheblichem Maße revolutionäres Handeln geprägt hat, hierzulande bisher kaum Berücksichtigung fand Während man, wenn es um den Zusammenhang von Nationalbewusstsein und Literatur geht, zumeist auf eine kleine Anzahl von Autoren (Foscolo, Nievo, auch Manzoni) verweist, lassen sich Studien zum romanzo storico risorgimentale fast an einer Hand abzählen . 2 Um so begrüßenswerter sind vor diesem Hintergrund Projekte wie der vorliegende, von Florika Griessner und Adriana Vignazia besorgte Sammelband 150 Jahre Italien, mit dem die Herausgeberinnen das ambitionierte Ziel verfolgen, Diskurse und Disziplinen, die sich mit der italienischen Nationalstaatsbildung befassen, zu einer Bestandsaufnahme aktueller Diskussionen, Problemfelder und Themen zu bündeln Der aus einer Grazer Tagung im Nov 2011 hervorgegangene Band, der seine Aktualität natürlich dem 150 Einheitsjubiläum verdankt, wartet inhaltlich mit einem überaus breiten Spektrum an Perspektiven auf, das wie auf der Rückseite des Buches betont wird, «von historisch-politischen, über ökonomische bis hin zu literatur-, musik- und kunstwissenschaftlichen Auseinandersetzungen» mit dem Thema Risorgimento reicht Sämtliche Artikel wurden dabei ins Deutsche übersetzt, was den Band auch für ein erweitertes interessiertes Publikum zugänglich macht Die zahlreichen Beiträge - so wurden die Tagungsergebnisse in der Druckfassung noch um weitere Artikel ergänzt, um der Komplexität des Themas Rechnung zu tragen und den «bei der Tagung begonnenen Diskurs […] zu vervollständigen» (11) - sind inhaltlich in drei Blöcke gegliedert: So befasst sich der erste mit dem «kulturellen» nationbuilding, dem «performativen Beitrag von Sprache, Literatur, Musik und bildender Kunst», der zweite mit «Widersprüchen und ungelösten Fragen» der Nationalstaatsbildung, während im dritten Teil «Auswirkungen», «Rezeption» (ebd .) und damit die internationale Dimension des Risorgimento unter die Lupe genommen wird Konzeptionell lehnt sich der Band an die These an, wonach «die kulturelle und nationale Identität eine Leitvorstellung weniger Eliten war» (ebd .) und sich das making of moderner Nationalstaaten - von Michael Metzeltin leitlinienhaft als «kulturdiplomatischer Metadiskurs» dargestellt («Die Entstehung der modernen Nationalstaaten Mit besonderer Berücksichtigung Italiens Ein Vorschlag für einen kulturdiplomatischen Metadiskurs», S 27-42) - über Mechanismen der Vergangenheitserfindung und sprachliche Standardisierungsprozesse vollzieht So berechtigt und zutreffend die Grundannahme einer von ‘oben’ konzipierten nationalen ‘Leitkultur’ auch sein mag, so birgt die Fokussierung auf den Beitrag der nationalen Eliten und den ‘kanonischen’ Texten des 2_IH_Italienisch_76.indd 134 23.12.16 09: 52 Buchbesprechungen 135 Risorgimento vielfach die Gefahr, sich thematisch in bereits vorgegebenen Bahnen zu erschöpfen Dabei sind es neben den bekannten Protagonisten wie Verdi oder Foscolo v .a auch die zahlreichen Autoren der ‘zweiten oder dritten Reihe’ wie F .D Guerrazzi, die mit ihren historischen Romanen und revolutionären canti einen erheblichen Beitrag zur Entstehung und Verbreitung eines nationalen Bewusstseins leisten (ein solcher canto war auch die heutige Nationalhymne, Goffredo Mamelis Fratelli d’Italia) Auch sind in den letzten Jahren gerade innerhalb der kulturwissenschaftlich ausgerichteten Risorgimento-Forschung eine Vielzahl an Untersuchungen publiziert worden, die den «Massencharakter» der italienischen Nationalbewegung in den Blick nehmen (s .o .) (Im Übrigen ist die These vom Elitenphänomen bekanntermaßen eine Konstante in der öffentlichen Diskussion über den italienischen Einigungsprozess Sie wäre daher vielleicht noch stärker von der Forschung zu hinterfragen .) Angesichts der Fülle unterschiedlicher Beiträge und der thematischen Heterogenität des Bandes fällt es schwer, einen vollständigen Überblick über alle Inhalte und Themen zu vermitteln Dass eine Publikation, die sich auf das 150 Staatsjubiläum Italiens bezieht, auch explizit zu den aktuellen Debatten Stellung beziehen muss, die sich um das Problem eines im doppelten Sinne ‘geteilten’ nationalen Geschichtsbildes drehen, zeigt sich besonders im zweiten thematischen Block In diesem Sinne fällt Mario Isnenghi - einem der renommiertesten Vertreter der italienischen Historiographie, der u .a für das Projekt der italienischen luoghi della memoria verantwortlich zeichnet 3 - die Aufgabe zu, den Bogen von der Einigungszeit bis in die Gegenwart des 21 Jahrhunderts zu schlagen In seinem Beitrag, der den pointierten Titel «Eine Geschichte Italiens» trägt, skizziert er Grundzüge der italienischen Geschichtskultur, die bereits im Projekt der luoghi sichtbar geworden sind Zunächst werden die Schwierigkeiten hervorgehoben, angesichts der Vielzahl von «Nebengeschichte[n]» (S 198), «Alternativgesellschaft[en]» (S 202) sowie den bis heute spürbaren ideologischen Gräben, die historisch betrachtet die Gesellschaft durchzogen («liberales» vs «katholisches» Italien, Rechte vs Linke, Eliten vs Massen etc .), zu einer Geschichte Italiens zu gelangen, die allen politischen Lagern und Bevölkerungsteilen gerecht wird Des Weiteren plädiert Isnenghi dafür, zum Verständnis der eigenen Vergangenheit nicht nur die Fakten, sondern verstärkt auch deren «Wahrnehmungen» miteinzubeziehen, womit er letztlich zentrale Mechanismen aufzeigt, die gleichermaßen das politische making of wie auch Auffassungen über die Einigungsgeschichte prägten: die untrennbare Verflechtung von Mythos und Wahrheit Im Grundsatz, so Isnenghi, sei es ohne die Wirkung der Träume und Ideen, der massenmedial erzeugten Wahrnehmungen, kaum schlüssig zu erklären, dass ein kleines Heer mit Garibaldi an der Spitze die bourbonische 2_IH_Italienisch_76.indd 135 23.12.16 09: 52 Buchbesprechungen 136 Armee in Süditalien besiegt Schlussendlich ist es also die «Macht» des Symbolischen, die im Risorgimento den Triumph der Minderheit über die Mehrheit ermöglicht Diese «Dynamiken des Imaginären» (S 206) führen bisweilen jedoch dazu, dass - wie im Faschismus, aber auch in der Berlusconi-Ära geschehen - die Realität Italiens in einem Nebel aus «Fiktion», «Inszenierung» und «Fälschungen» (S 204) verschwindet «Am dargestellten Italien» der «Einzelvisionen und Lokalinteressen, Legismen, Regionalismen», so sein Fazit, «zerbricht heute das reale Italien» (ebd .) Neben dieser hellsichtigen Bestandsaufnahme liegt die Stärke dieses Bandes v .a in seiner Vielzahl von Überblicksdarstellungen, in denen diskursive Leitlinien und Grundzüge des nationalen Einigungsprozesses …präsentiert werden: so bspw die Genese des Konzeptes der Italianità (Gualtiero Boaglio, «Die Entstehung des Begriffs Italianità») oder der Zusammenhang zwischen politischer und sprachlicher Einheit (Francesco Sabatini, «Sprache, Nation und Staat in Italien») Dabei ist durchaus positiv hervorzuheben, dass neben ‘Klassikern’ der Risorgimento-Forschung aus Literatur und Musik (Susanne Knaller, «Politische Briefe: Ugo Foscolos Ultime lettere di Jacopo Ortis»; Christian Springer, «Risorgimento und Musik in Italien am Beispiel Giuseppe Verdis - Mythos und Realität») auch vermeintlich randständige Themen wie alternative, föderale Risorgimento-Ideen (Renate Lunzer, «Die ‘verlorenen Ideen’ des italienischen Risorgimento Zum Werk des Historikers Claus Gatterer») bzw regionale Perspektiven (Piero Violante, «Der Gips und das Fragment Zur Einigung Italiens») Berücksichtigung fanden Zudem wartet der Band auch mit einigen interessanten thematischen «Seitenblicken» und Vertiefungen auf - so z .B zur Rolle von bis dato oftmals wenig beachteter, jedoch in hohem Maße bewusstseinsbildender und -reflektierender Medien und Gattungen wie Essayistik und Memorialistik (Albert Göschl, «Essay und Risorgimento - Die Bewertung nationaler Einheit in der literarischen Essayistik bis zum Ersten Weltkrieg) zu wirtschaftlichen Aspekten der Einigungszeit (Fiorenza Fischer, «Die Einigung Italiens Wirtschaftliche Aspekte: Neue Perspektiven in der Geschichtsforschung») sowie zum Liebesroman in Deutschland (Laura Auteri, «Die deutsche Nation in den Liebesromanen zwischen Reichsgründung und Erstem Weltkrieg»; wobei hier jedoch ein klarer Italienbezug, zumindest eine in Ansätzen komparatistische deutsch-italienische Perspektive, die in Maria Chiara Mocalis Beitrag über Ludmilla Assing, «Freiheit, Demokratie und Risorgimento bei Ludmilla Assing» aufscheint, vermisst wird) Auch einige Artikel, in denen stereotype Wahrnehmungen des Risorgimento z .T revidiert werden (s Maria Rosa di Simone, «Österreichisches Recht und Patriotismus im Risorgimento») sowie einige Kontextualisierungen des Risorgimento - etwa zur Rezeption der Risorgimento-Kultur in Ungarn (Ilona Fried, «Die Rezeption 2_IH_Italienisch_76.indd 136 23.12.16 09: 52 Buchbesprechungen 137 der italienischen Kultur des 19 Jh in Ungarn») oder zum Thema Zionismus und das dritte Rom (Roberta Ascarelli, «‘Am Vorabend des Schabbats der Geschichte’: Der Zionismus und das dritte Rom») - sind in diesem Zusammenhang erwähnenswert Eine Randnotiz: Da im Vorwort des Bandes eigens die Rolle der Übersetzerinnen des Grazer Instituts für Theoretische und Angewandte Translationswissenschaft für das Zustandekommen des Bandes hervorgehoben wurde, hätte man (trotz bzw gerade angesichts der Vielzahl unterschiedlicher Zugänge) diesen Aspekt vielleicht auch inhaltlich zum Thema machen können - z .B mit einem Artikel, der die Bedeutung von Übersetzungen für die Genese eines nationalen Bewusstseins in den Blick nimmt (Kurz scheint dieser Aspekt in Adriana Vignazias Artikel zur Zeitschrift L’Esule auf - «Literatur und Unabhängigkeit in der Pariser Zeitschrift L’Esule/ L’Exile») Mit Blick auf die zukünftige Erforschung der italienischen Nationalstaatsbildung und ihrer Nachwirkungen dürfte Isnenghis Plädoyer für eine verstärkte Hinwendung zu den Prozessen und Mechanismen des Imaginären einen vielversprechenden Weg weisen und hoffentlich auch Gehör finden Publikationen wie der vorliegende Band, dem man angesichts der kontroversen Debatten zum Einheitsjubiläum in Italien vielleicht noch etwas mehr Aktualitätsbezug gewünscht hätte, dürften hierfür eine solide thematische Ausgangsbasis darstellen . Robert Lukenda Anmerkungen 1 Vgl . Banti, Alberto Mario, La nazione del Risorgimento, Torino: Einaudi 2000; Banti, Alberto Mario/ Ginsborg, Paul (Hrsg .), Il Risorgimento, Storia d’Italia, [=Annali 22], Torino: Einaudi 2007; Riall, Lucy, Garibaldi . Invention of a Hero, New Haven/ London: Yale U . P . 2007 2 Hierzu etwa Ihring, Peter: Die beweinte Nation: Melodramatik und Patriotismus im «romanzo storico risorgimentale», Tübingen: Niemeyer 1999; Wolfzettel, Friedrich / Ihring, Peter (Hrsg .), Erzählte Nationalgeschichte: Der historische Roman im italienischen Risorgimento, Tübingen: Narr 1993 3 Isnenghi, Mario, I luoghi della memoria, Roma-Bari: Laterza 1996-1997 2_IH_Italienisch_76.indd 137 23.12.16 09: 52