eJournals Italienisch 38/76

Italienisch
0171-4996
2941-0800
Narr Verlag Tübingen
2016
3876 Fesenmeier Föcking Krefeld Ott

Ué guagliò! Stereotypes Dialektsprechen im Interview und darüber hinaus

2016
Sara Matrisciano
116 Sprachecke Italienisch Die Rubrik «Sprachecke Italienisch» stellt aktuelle Probleme und Tendenzen des Gegenwartsitalienischen vor und befasst sich mit Normierungsschwankungen, grammatischen Unsicherheiten, Neubildungen u .a Dabei sollen möglichst auch Anfragen und Anregungen aus dem Leserkreis aufgegriffen werden, die die Dynamik des Gegenwartsitalienischen als «lingua […] in forte ebollizione» (F Sabatini) präsentieren Verantwortlich für die «Sprachecke Italienisch» ist Prof Dr Edgar Radtke (Universität Heidelberg): edgar .radtke@rose .uni-heidelberg .de Ué guagliò! Stereotypes Dialektsprechen im Interview und darüber hinaus 1 Neapel ist ein linguistischer Sonderfall, da es sich - im Gegensatz zu den meisten anderen italienischen Großstädten 2 - durch eine besonders einflussreiche dialektale Patina auszeichnet Obgleich die Gründe für die ausgeprägte Dialektpersistenz in der Forschung kontrovers diskutiert werden, herrscht Einigkeit darüber, dass einerseits der Dialekt in Neapel äußerst vital ist, das Italienische andererseits aber gleichermaßen die neapolitanische Sprachwirklichkeit prägt . 3 Die Progression der Italophonie hat demnach in Neapel nicht zur Regression der Dialektophonie, sondern zu einer weitverbreiteten Zweisprachigkeit der Stadtgesellschaft (mit unterschiedlichen Kompetenzgraden) geführt (s Bianchi/ Maturi 2006) Das Neapolitanische erlebt aktuell entscheidende Funktionserweiterungen, 4 die sich nicht zuletzt auf dessen neu ausgebildete soziale Bedeutung und die neue Art der Dialektalität zurückführen lassen (s Matrisciano i Dr I, II) «The interviewees think, for instance, that they need to use the dialect to avoid fraud, negative evaluations and exclusion Hence, the Neapolitan dialect is not simply of a diatopic variety, it is also used strategically Agreeing with Johnstone (2010, 389), there is the need to ‘view regional speech not just as an automatic consequence of where a person was born or raised, but as a resource for social action ’ The fact that the dialect is considered important both for ‘successful’ social interaction and everyday identity negotiation forces the speakers whose first language is not Neapolitan to learn the dialect or dialectal features in order to interact ‘successfully’ with their surroundings [ . . .] a new form of dialectality has emerged [ . . .] .» (Matrisciano i Dr I) 2_IH_Italienisch_76.indd 116 23.12.16 09: 52 117 Sara Matrisciano Ué guagliò! 117 Um eine bestimmte, in gewisser Weise strategische Art der Dialektverwendung soll es auch im vorliegenden Beitrag gehen: Die Auswertung der soziolinguistischen Interviews zur Datenerhebung für meine Doktorarbeit 5 zeigte, dass die interviewten Probanden 6 sehr häufig auf formelhaft wirkende Auftaktsequenzen rekurrieren, um den alltäglichen Sprachgebrauch in Neapel zu illustrieren und/ oder Dialektsprecher zu imitieren Die Anrede-, Aufforderungsund/ oder Grußformen guagliò und ué kommen in fast jedem Interview vor; besonders häufig in Kombination als ué guagliò Diese Formeln scheinen eine Signalfunktion zu erfüllen, die von pragmalinguistischer Bedeutung ist Doch was signalisieren die Probanden genau damit? Bevor anhand zweier Beispiele aus den erhobenen Daten illustriert wird, wie die Probanden mit diesen Grußbzw Eröffnungsformeln im Interview ihre Sprachwirklichkeit konstruieren und soziale Bedeutung produzieren, müssen wir kurz auf die Bedeutungen und Funktionen von ué und guagliò eingehen Laut den einschlägigen Wörterbüchern (Zingarelli, Devoto-Oli und Sabatini Coletti) ist ué (in unterschiedlichen graphischen Realisierungen) eine süditalienische Interjektion, die Überraschung im Sinne von «ué, chi si vede» ausdrückt oder zur emphatisch aufgeladenen Anrede, Ermahnung oder Warnung im Sinne von «ué, dico a te» oder «ué, fai attenzione» verwendet wird Laut denselben Wörterbüchern bedeutet guaglione «ragazzo» oder «monello» und wird vor allem in seiner apokopierten Variante guagliò als ‘neapolitanisch’, aber auch allgemeiner als ‘süditalienisch-dialektal’ beschrieben Das Lexem guaglione gilt indes im öffentlichen Bewusstsein besonders wegen der neapolitanischen Musikproduktion als ‘typisch neapolitanisch’ (obgleich es geographisch weiter verbreitet ist und auch die apokopierten Anredeformen in verschiedenen süditalienischen Dialekten zu finden sind) . 7 Doch kommen wir gleich zu unseren Beispielen . 8 Sprecherin A, 40, Avvocata, mittlerer Bildungsgrad; Sprechen im Bus 01 A:  perché NON va bene 02 =tu sopra il pullman ti metti a di* <<überartikuliert, affektiert, ↑ > SCU: si DO: ve POsso SCENdere>? 03 S: ((lacht)) 04 A: <<amüsiert, f, ↓ >   >? 9 05    > . 10 06 <<amüsiert> perché se NO tu ti metti a fa* tutt* st*>, 07 cè poi sei FUOri 08 lo zimBEllo della situazione Der Textauszug zeigt, wie über zwei als Gegensatzpaar konstruierte Sätze (02, 04) eine klare Trennung zwischen In- und Outgroup im Sinne Tajfels 2_IH_Italienisch_76.indd 117 23.12.16 09: 52 Ué guagliò! Sara Matrisciano 118 (1978) erzeugt wird: Der affektierte und letztlich ahnungslose Italiener (02, 08) steht dem sich im Bus richtig zu verhalten wissenden Neapolitaner (05) gegenüber Auffällig ist an diesem Textauszug, dass die dialektale Äußerung stark inszeniert wirkt Es bleibt zu bezweifeln, dass ein Sprecher in Neapel bei einem fremden Busfahrer tatsächlich mit dieser äußerst nähesprachlich markierten Anrede eine Information erfragen würde Doch kontrastiert gerade die Nähesprachlichkeit dieser dialektalen Anredeform mit der italienischen Höflichkeitsform scusi, sodass hier nicht nur mittels der verschiedenen Codes Dialekt und Hochsprache, sondern auch durch eine Registerdifferenzierung innerhalb des Dialektes Distanz (zum Italiener als Persona) geschaffen wird; Nähe (zwischen den Neapolitanern als Personae) wird hier demnach durch eine diaphasisch markierte Variation innerhalb der diatopischen Dimension konstruiert und im Interview klar ersichtlich inszeniert Dies ist bedeutsam für die soziale Konstruktion der neapolitanischen (Sprach-)Wirklichkeit Die Sprecherin zeigt auf diese Weise zwei sozial relevante Gegebenheiten: Erstens, eine soziale Norm (das Sprechen des Neapolitanischen im Alltag) und zweitens, dass man Neapolitaner - oder zumindest ein Sprecher oder eine Sprecherin des Neapolitanischen - sein muss, um diese Norm zu erfüllen Sie betont die Unangemessenheit der Verwendung des Italienischen in einem Bus in Neapel; durch die Parodie eines imaginierten Italienischsprechers (mit der Überakzentuiertheit und der hohen Stimme), den amüsierten Unterton in der folgenden Sequenz und das Lachen der Interviewerin (03) wird der Italiener als Persona - zumindest in einer solchen Situation - ins Lächerliche gezogen Dabei stellt sich die Frage, wieso das Italienische - und damit ‘der Italiener’ - in einem neapolitanischen Bus so lächerlich wäre Die Antwort auf diese Frage gibt uns die Sprecherin in den Zeilen 06-08 Das Italienische klingt offensichtlich einerseits lächerlich, weil es affektiert wirkt (06) und damit eine für den neapolitanischen Stadtraum als äußerst negativ bewertete soziale Distanz schafft Andererseits ist es komisch, da der Italiener aus (sprachlichen) Handlungen ausgeschlossen ist (07), weil er diese nicht versteht und dadurch Situationskomik erzeugt (08) Simpel ausgedrückt wird der Italiener demnach als affektiert und ignorant dargestellt Doch darum soll es in diesem Beitrag nicht gehen; was stattdessen für die hiesige Fragestellung von Relevanz ist, ist, wie die Sprecherin durch eine de facto wohl unangemessene Sprachverwendung, soziale Angemessenheit illustriert, indem sie die Beziehungen der repräsentierten Personae zueinander und untereinander diskursiv als eng bzw nicht eng konstruiert Die Neapolitaner erscheinen in dieser Konstruktion des Sozialen als miteinander vertraut und gehen untereinander daher freundschaftlich miteinander um, während die Italiener aus dem inneren Kreis ausgeschlossen werden Durch 2_IH_Italienisch_76.indd 118 23.12.16 09: 52 119 Sara Matrisciano Ué guagliò! 119 die Code-Switching-Sequenz (04-05) bestätigt sie nicht nur symbolisch das von ihr Gesagte, sondern demonstriert auch ihre eigenen Dialektkompetenzen Dabei ist es irrelevant, ob es sich um eine ‚wahrscheinliche‘ Äußerung handelt oder nicht Die Sprecherin wählt eine wohl unwahrscheinliche sprachliche Interaktion, aber sie vermittelt damit Informationen, die sie offensichtlich für das Interview als wichtig erachtet: Sie stellt Neapel als Ort dar, in dem Dialekt gesprochen wird und die Dialektsprecher als (Sprach-) Gemeinschaft, in der Nähe eine besondere Rolle im sozialen Miteinander spielt Dazu verwendet sie die sofort als ‘neapolitanisch’ identifizierbare Anredeform guagliò So signalisiert sie der Interviewerin eindeutig ‘ich spreche Neapolitanisch’, wobei die symbolische Signalfunktion wesentlich wichtiger zu sein scheint als die eigentliche Bedeutung oder Verwendungsweise des Dialektwortes Die Sprecherin illustriert, wie der idealtypische Neapolitaner spricht; dafür rekurriert sie auf ein stereotypes Element des Neapolitanischen Noch deutlicher wird diese symbolische Signalfunktion im nächsten Beispiel Sprecherin B, 53, Montecalvario, mittlerer Bildungsgrad; Günstigerer Preis 01 B: io una volta ho preso un aEReo 02 =mi sono fatta portare a capodichino da un taSSIsta 03 =ho preso la il tassi a piazza carità; 04 mi so* messa nella tassi e ha detto signNO: ra, 05 e ho detto SCUsi devo andare a capodichino, 06 dice sigNOra ma facciamo la tariffa: a: a tassametro? 07 o  tariffa: : norMA: le? 08 dissi che che differenza c’È? 09 la tariffa normale so* venti euro 10    , 11 11 . 12 12     13 13 =      , 14 14     <<lachend>   >? 15 15 S: <<lachend> [infatti> 16 B: [hahaha 17 S: <<amüsiert> e infatti l’hai messo a POSto a questo>; 18 ti ha fatto pagare unidici euro 19 B: <<zufrieden> [ho pagato nove euro> 20 S: <<amüsiert> [perché col tassametro io lo faccio spesso so* undici euro>; 21 B: <<amüsiert> vabbè sto parlando di qualche anno fa 22 quindi ho pagato nove euro>; 23 S: però parlando in dia[LEtto 2_IH_Italienisch_76.indd 119 23.12.16 09: 52 Ué guagliò! Sara Matrisciano 120 24 B: [in diaLEtto 25 S: gli hai [fatto capi* 26 B: [        ? 16 27          ? 17 Ähnlich wie im ersten Beispiel werden auch in diesem deutlich eine In- und eine Outgroup konstruiert; diesmal jedoch mit einer anderen Konsequenz: Der Nicht-Dialektsprecher wird hier nicht etwa ins Lächerliche gezogen, sondern übervorteilt Die Code-Switching-Sequenz (10-14) zeigt somit, dass Mitglieder der Ingroup nicht nur Dialektsprecher sind und sich mit den Preisen auskennen, sondern sich auch durch die Dialektverwendung als Teil der neapolitanischen Ingroup zu erkennen geben, weshalb sie vor Übervorteilung geschützt sind . 18 Die zweifache Hervorhebung, aus den Quartieri 19 zu sein (13, 27), impliziert ein subtiles Überlegenheitsgefühl gegenüber Nicht-Neapolitanern oder auch Bewohnern «besserer Viertel» Neapels, die in der Forschung auch mit einer erhöhten, wenn nicht sogar exklusiven Italophonie verknüpft werden (s Marano 2010; De Blasi 2013) Das Überlegenheitsgefühl ist wohl darauf zurückzuführen, dass die Quartieri Spagnoli im öffentlichen Bewusstsein mit folkloristischen Gestalten und besonderen, teilweise stereotypischen, kulturellen Gegebenheiten wie l’arte di arrangiarsi oder tené à cazzimma, aber auch der camorristischen Unterwelt in Verbindung gebracht werden (s Dines 2015: 248; Milano 2014: 40) Zum stereotypen Bild eines Neapolitaners gehört es demnach auch, gewitzt-gewieft zu sein (s dazu Signorelli 2006: 709), was sich im kollektiven Bewusstsein der Städter unter einer folkloristisch aufgeladenen cca nisciun‘ è fess-Mentalität subsumieren lässt (s Matrisciano i Reviewverf .; Niola 2003: 39-40) Diese besondere Schläue gehört zur napoletanità, ein kulturanthropologisch ausgearbeitetes Konzept, das sich als «Summe und Synthese» aller sich auf Neapel und dessen Bewohner beziehenden Stereotype definieren lässt (Signorelli 2009: 15); obgleich die napoletanità ein historisch gewachsenes und medial verbreitetes sowie überhöhtes Kulturprodukt ist, wurde sie von den Städtern als urbane Kollektividentität interiorisiert (s Signorelli 2006, 2009) . 20 Im kollektiven Bewusstsein zeichnet sich der mit napoletanità durchtränkte Städter somit durch seine Raffinesse und seinen Scharfsinn aus Dies schlägt sich im Sprachverhalten der Städter nieder Sprecherin B leistet in dieser Hinsicht einen wichtigen metalinguistischen Kommentar, in dem sie uns verrät, was ihre pragmatische Absicht der Dialektverwendung war (26-27): Durch den Dialektgebrauch habe sie dem Taxifahrer gesagt, ey Junge, was denkst denn Du? (26); entscheidend für das hier diskutierte Sprachverhalten ist, dass auch sie dabei auf die einleitende Anrede ué guagliò rekurriert, um sich als Neapolitanerin zu erkennen zu geben und auf diese Weise auf das 2_IH_Italienisch_76.indd 120 23.12.16 09: 52 121 Sara Matrisciano Ué guagliò! 121 Insiderwissen und die stereotypische Schläue hinweist, die mit der neapolitanischen Herkunft einhergehen und die vonnöten ist, um auf die stereotype Gewieftheit der Neapolitaner reagieren zu können (vgl dazu auch Matrisciano, i Dr II) Des Weiteren zeigt sich die Stereotypizität der Aussage daran, dass die Sprecherin den Taxifahrer im metasprachlichen Kommentar duzt (26-27), während sie das in der tatsächlichen Redewiedergabe - auch im Dialektbereich - nicht tut (05, 14) Die als besonders neapolitanisch inszenierte metasprachliche Äußerung ist somit naturgemäß an niemanden gerichtet, sondern paraphrasiert das, was die Sprecherin durch die Verwendung des Dialektes im Taxi getan hat: Sie hat sich in der sozialen Landschaft Neapels klar positioniert Dies ist insofern relevant, als jede Gesellschaft - und soziale Interaktion - hierarchisch strukturiert ist Spinnen wir diesen Gedanken mit unserem Beispiel weiter, müssen wir uns klar machen, was die Formel ué guagliò hier impliziert Radtke (1997: 110) beschreibt für ué, dass «il tipo ué (anche uè, uèi in provincia) rappresenta la scelta più informale per aprire un dialogo fra persone non conosciute esprimendo una superiorità sociale, spesso generazionale, da parte degli anziani che si rivolgono a minorenni .» (eigene Hervorhebungen) In unserem Beispiel geht es zwar nicht um die diagenerationelle Ebene, aber definitiv um das Aushandeln von Machtkonstellationen Die Verwendung von ué bricht zwar als «scelta più informale» jede Art von Formalität auf; so wird es auch in neapolitanischen Wörterbüchern als Imperativform, die «guarda! », «vedi! » oder «senti! » bedeutet, beschrieben (s z B Salzano 1980: 119) Doch entsteht dadurch eine Kommunikationssituation, in der unsere Sprecherin sich als überlegen inszeniert Die Kombination mit guagliò verstärkt die postulierte Überlegenheit der Sprecherin gegenüber dem Taxifahrer, da dieser nicht unbedingt jünger ist als unsere Sprecherin, aber in Verbindung mit der Anrede guagliò als socialmente inferiore inszeniert wird Die von Radtke beschriebene Funktion auf diagenerationeller Ebene, die ué erfüllen kann, erhält hier somit eine übertragende Bedeutung, die durch guagliò noch gesteigert wird Was allerdings für diese Situation von Relevanz ist, ist, dass «superiorità sociale» hier nicht als schichtenspezifische Differenzierung aufgefasst werden darf, sondern als Ausdruck, in der jeweiligen sozialen Interaktion überlegen zu sein Diese Überlegenheit speist sich bei unserer Sprecherin aus der Tatsache, aus den Quartieri Spagnoli zu sein Letztlich geht es also darum, sich als ‘nicht über den Tisch ziehbar’ darzustellen, weil man nicht nur Neapolitaner, sondern ein dem Stereotyp entsprechender Neapolitaner ist 2_IH_Italienisch_76.indd 121 23.12.16 09: 52 Ué guagliò! Sara Matrisciano 122 In beiden Beispielen geht es somit - wenngleich mit unterschiedlichen Folgen - um die soziale In- oder Exklusion, die über die Dialektverwendung oder dem Ausbleiben dieser vollzogen wird Der Dialekt ist im Sprecherwissen zu einer sowohl integrierenden als auch ausgrenzenden Kulturtechnik geworden Hierzu werden im Interview, aber wohl auch darüber hinaus, stereotypische Formeln verwendet, um den Dialektgebrauch und damit die Zugehörigkeit zur neapolitanischen Ingroup zu signalisieren und symbolisch aufzuladen Diese symbolische Aufladung beinhaltet drei Aspekte: Sowohl ué als auch guagliò gelten als ‘typisch neapolitanisch’; so rekurrieren häufig Komiker wie Alessandro Siani oder Simone Schettino auf diese Formeln, um den ‘napoletano medio’ 21 darzustellen Damit indizieren die Eröffnungsformeln also die neapolitanische Identität des Sprechers und dessen Zugehörigkeit zur städtischen (Sprach-)Gemeinschaft Des Weiteren wird durch die Verwendung dieser - wohl auch im Bewusstsein der Sprecher - stereotypierten Anrede-, Aufforderungsund/ oder Grußformeln auf das oben diskutierte stereotype Bild des Neapolitaners verwiesen Es ist gerade die Stereotypizität dieser Formeln, die den Sprecher an den neapolitanischen Idealtypus des Städters bindet; sie symbolisieren ein kulturell überhöhtes Stereotyp Das Gesagte wirkt folgerichtig besonders neapolitanisch und der Sprecher neapolitanischer als das Neapolitanische selbst Doch gehen die Sprecher durch die Verwendung dieser speziellen Formen noch einen Schritt weiter Radtke (1997: 108) folgend drückt die Form ué eine «vicinanza sociale» aus; guagliò kann in diesem Kontext dieselbe Funktion erfüllen Durch diese nähesprachlich markierten Anrede- oder Eröffnungsformeln wird dementsprechend sämtliche Formalität zwischen den Interaktanten aufgelöst und soziale Nähe produziert Diese ist paradoxerweise gerade im Hinblick auf Machtkonstellationen von Bedeutung Die Sprecher signalisieren nämlich nicht nur ‘neapolitanisch’, sondern - die soziale Nähe ad absurdum führend - ‘genauso neapolitanisch zu sein’, wie das jeweilige Gegenüber Im Sprecherwissen schützt dies vor Übervorteilung und sozialer Ausgrenzung (vgl dazu auch Matrisciano, i Dr I) und kann mit dem stereotypen Bild des listigen und schlauen Neapolitaners (s Signorelli 2009: 17) erklärt werden: Durch die sprachliche Inszenierung von napoletanità zeigen die Sprecher, dass sie dazugehören und somit in einer cca nisciun‘ è fess-Perspektive eben keinesfalls fessi sind - oder guagliò? Sara Matrisciano 2_IH_Italienisch_76.indd 122 23.12.16 09: 52 123 Sara Matrisciano Ué guagliò! 123 Anmerkungen 1 Ich möchte mich herzlich bei Till Stellino für die wertvollen Hinweise während des Entstehungsprozesses des vorliegenden Beitrages bedanken 2 In der Regel begünstigt der städtische Raum durch den die Urbanität kennzeichnenden Ausbau der Infrastrukturen, die dafür typischen demographischen Dynamiken sowie die daraus resultierende Heterogenität der Bevölkerungsstruktur die sprachliche Standardisierung (s . Milroy 1987: 190, Grassi et al . 2007: 83; D’Agostino 2007: 60) . Die Dialektregression und die daraus resultierende Ausbildung urbaner oder regionaler Varietäten ist daher auch in italienischen Großstädten eine gängige Sprachwandeltendenz (s . Grassi et al . 2007: 84-85, 245) 3 Stellvertretend für andere: De Blasi 2006, 2012, 2013; Bianchi 2006; Bianchi/ Maturi 2006; Marano 2010, 2011; Milano 2006, 2013, 2014 4 Vgl . Settembre 2006, Di Bernardo 2006, Radtke 1997a, Marano 2010, 2011; Montuori 2006; De Blasi 2013; Bianchi 2006; Bianchi/ Maturi 2006, De Blasi/ Montuori 2006, Matrisciano (i . Dr . I, i . Reviewverf .) 5 Zwischen Februar 2014 und Oktober 2015 habe ich für mein Dissertationsprojekt mit dem Arbeitstitel Wahrnehmungs- und Gebrauchsmuster sprachlicher Variation in der Metropole Neapel während der ethnographischen Feldforschung insgesamt 41 Interviews mit Neapolitanern und Nicht-Neapolitanern im Zentrum von Neapel geführt und sie zur Stadt, zum Dialekt und der Beziehung zwischen Stadt und Dialekt befragt 6 Im vorliegenden Beitrag wird, wenn nicht von konkreten Personen die Rede ist, das generische Maskulinum verwendet; sämtliche Personen- und Gruppenbezeichnungen schließen Männer und Frauen ein 7 Die Befragung von 100 Italienern vorwiegend aus dem Süden Italiens zum Neapolitanischen durch einen geschriebenen Fragebogen ergab, dass viele Befragten als typisch neapolitanisches Wort guaglione nannten 8 Die Transkripte basieren - mit Abweichungen - auf den GAT-Konventionen (s . Selting et al . 1998) . Es handelt sich um ein stark vereinfachtes Basistranskript; darunter verstehe ich, dass beispielsweise auf die Markierung von Pausen verzichtet wurde, da sie nicht relevant für die Interpretation waren; Rezeptions- und Verzögerungssignale wurden an das Italienische angepasst . Die dialektalen Äußerungen wurden zudem im IPA-System transkribiert und in das GAT-Transkript integriert . «S» steht für Sara Matrisciano 9 Junge, wo muss ich hin? 10 Denn hier [sage ich], wo muss ich hin? 11 Ich sagte 12 Hören Sie zu 13 Machen Sie den Taxameter an! 14 Ich wohne hier in den Quartieri 15 Für wen haben Sie mich denn gehalten? 16 Ich habe gesagt: Ey Junge, was hast Du denn gedacht? 17 Ich bin aus den Quartieri, für wen hast Du mich denn gehalten? 18 Diesen Aspekt behandele ich detailliert in meiner Dissertation und in Matrisciano (i Reviewverf ) unter dem Schlagwort sozialer Schutzmechanismus bzw protective technique 19 Die Quartieri Spagnoli sind strenggenommen kein Viertel Neapels, sondern werden besonders aufgrund ihrer Bauweise und Bauzeit als Einheit betrachtet; Montecalvario ist ein Viertel, über das sich die Quartieri erstrecken; es gilt als sozialer Brennpunkt (s . Milano 2014: 41; De Blasi 2002) 20 Diesen Aspekt bespreche ich in aller Ausführlichkeit in meiner Dissertation 2_IH_Italienisch_76.indd 123 23.12.16 09: 52 Ué guagliò! Sara Matrisciano 124 21 Die Sketche von Alessandro Siani zum napoletano medio sind z . B . unter folgendem Link zu sehen https: / / www .youtube .com/ watch? v=HN8gLs92Clw (zuletzt abgerufen am 28 .9 .2016) literaturverzeichnis Bianchi, Patricia (2006): «Il dialetto nella valutazione di studenti napoletani: stereotipi, variazioni, differenze generazionali», in: De Blasi / Marcato 2006, S . 211-218 Bianchi, Patricia / Maturi, Pietro (2006): «Dialetto e lingua negli usi linguistici dei parlanti di Napoli e della Campania», in: De Blasi / Marcato 2006, S . 1-22 D’Agostino, Mari (2007): Sociolinguistica dell’Italia contemporanea . 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