eJournals Italienisch 38/76

Italienisch
0171-4996
2941-0800
Narr Verlag Tübingen
2016
3876 Fesenmeier Föcking Krefeld Ott

Horcynus Orca von Stefano d’Arrigo: Bemerkungen zur Übersetzung ins Deutsche

2016
Moshe Kahn
14 M O S h E K A h N Horcynus Orca von Stefano d’Arrigo: Bemerkungen zur Übersetzung ins Deutsche Auf Einladung des Freien Deutschen Hochstifts in Zusammenarbeit mit der Deutsch- Italienischen Vereinigung e .V . sprach Moshe Kahn am 29 . Juni 2016 im Frankfurter Goethehaus in der Veranstaltungsreihe «Weltliteratur in Übersetzung» über den Roman Horcynus Orca von Stefano d’Arrigo und seine Übersetzung ins Deutsche . Der Roman erschien 1975 im Verlag Mondadori, Mailand, die deutsche Übertragung 2015 im Fischer Verlag, Frankfurt am Main . Der Vortrag wurde ergänzt durch deutsche Passagen aus dem Roman . Es las Bernt Hahn . Wir veröffentlichen eine gekürzte Fassung des Vortrags, in der der Charakter der gesprochenen Sprache weitgehend beibehalten wurde Moshe Kahn wurde 1942 in Deutschland geboren . Studium der Altorientalistik, Philosophie und Rabbinischer Theologie in Deutschland, Italien und Israel . Promotion in Altorientalistik . Regieassistent an der Deutschen Oper am Rhein, Düsseldorf, später in Italien bei Luchino Visconti u .a . Lektor für Hebräisch und Deutsch in Rom und Catania 1973 Gründung einer eigenen Dokumentarfilmproduktion mit Victor von Hagen . 1976 veröffentlichte Moshe Kahn zusammen mit Marcella Bagnasco die erste Übersetzung von Gedichten Paul Celans ins Italienische, seit 1987 zahlreiche Übersetzungen ins Deutsche, aus dem Anglo-Amerikanischen, Französischen und Italienischen, z .B . Stefano Benni, Andrea Camilleri, Oriana Fallaci, Beppe Fenoglio, Mario Fortunato, Israel Horovittz, Luigi Malerba, Dacia Maraini, Martin Page, Primo Levi, Pier Paolo Pasolini, Paul Steinberg und Federico Tozzi . Für die Übersetzung des Horcynus Orca erhielt er 2015 den Deutsch-italienischen Übersetzerpreis und den Jane Scatcherd-Preis . Im selben Jahr erhielt er für sein Lebenswerk den Paul-Celan-Preis Gleich vorab sei gesagt, dass der Roman meiner Meinung nach das Bedeutendste ist, was seit Torquato Tassos Befreites Jerusalem in Italien erschienen ist Damit übergehe ich ganz elegant etwa Manzoni und große Schriftsteller des 20 Jahrhunderts, aber das tue ich auch sehr bewusst und das zeigt, dass ich mich damit an eine Werk gemacht habe, von dem ich immer überzeugt war, dass es nicht verloren gehen sollte Ganz im Gegensatz zu dem, was man erwarten würde, ist dieser Roman in Italien bei seiner Veröffentlichung 1975 ein großer Verkaufserfolg gewesen, aber die meisten, die ich gesprochen habe, haben mir gestanden, dass sie nach 20 Seiten das Buch zugemacht und nie mehr angerührt haben Aber das zeigt wohl eher, in welchen Zeiten wir leben, ziemlich verkommenden Zeiten, was große Literatur angeht und dass wir nicht mehr so ohne weiteres bereit sind, auf die Vergnüglichkeiten seichterer Literatur zu verzichten Und uns leider auch prägen lassen von dieser Art von Literatur Man hat Horcynus Orca bezeichnet als eine moderne Odyssee, die so ganz anders ist als die von James Joyce vorgestellte von Mr Bloom Hier 2_IH_Italienisch_76.indd 14 23.12.16 09: 52 Moshe Kahn Horcynus Orca von Stefano d’Arrigo 15 geht es um die Geschichte eines jungen Matrosen der ehemaligen königlichen Marine Wir befinden uns zu Beginn dieses Romans Anfang Oktober 1943 Der zeitliche Rahmen macht eigentlich schon die historische Situation deutlich Italien hat am 8 September 1943 den Waffenstillstandsvertrag mit den Alliierten geschlossen, so dass wir uns hier knapp einen Monat nach diesem Waffenstillstand befinden Es geht um das ewige, aber große Thema der Heimkehr, das Thema vom Leben, das Thema vom Tod, das Thema der Liebe Der Tod ist der Grundton dieses Romans, über den sich dann aber das Leben und die Farbigkeit des Lebens in all seinen Schattierungen entwickelt Es geht zu Beginn des Romans um die «Feminoten» Es handelt sich um ein Matriarchat in der Stadt Bagnara, das damals ein Fischerdorf war, das der Insel Sizilien direkt gegenüberliegt Es verschwindet wahrscheinlich in dieser Zeit, in der so vieles verschwindet, aber es hat sich erhalten immerhin bis in die 70er Jahre hinein, und durch den Einfluss moderner Zeiten wird auch das sich allmählich auflösen, obwohl sich Traditionen im südlichen Kalabrien und in Sizilien sehr viel langsamer auflösen als anderswo in Italien Das hat etwas mit der anderen Struktur der Bevölkerung zu tun, und damit, dass der Süden viel mehr ländlich geprägt ist als die Mitte und der Norden Italiens Die Feminoten hat d’Arrigo so erfunden, «il paese delle femmine», sagt er, ich musste das aber als Landstrich der Feminoten übersetzen, weil auch das Adjektiv von «femmine», feminotisch, italienisch ist und deshalb dachte ich, das mit Feminoten ausreichend deutlich zu machen Es gibt im weiteren Verlauf des Romans natürlich noch einige andere Wörter, die Sie nicht so ohne weiteres verstehen würden, innerhalb des Romans aber werden sie alle im Kontext klar oder sie werden sogar erklärt, durch kurze Appositionen Etwa das Wort «bastardelle», die Bastardellen: die Fischer und die Menschen, die am Meer da unten leben, nennen «bastarde» die Strudel, die besonders gefährlich sind Nun sind die Strömungsverhältnisse an der Straße von Messina besonders kompliziert und gefährlich und bestehen zu einem großen Teil aus Strudeln Es ist so, dass das tyrrhenische Meer alle vier Stunden nach Süden fließt, ins ionische, das ionische nach vier Stunden dann rauf ins tyrrhenische Meer fließt Diese Aufwärts- und Abwärtsbewegung der Meere verursacht die Gefährlichkeit der Strömung Sporn bedeutet hier im Zusammenhang des Romans diese Stelle auf Sizilien, wo die Insel sozusagen wie ein Vogelschnabel rüberreicht aufs Festland Und diese Stelle ist im Roman immer bedeutend, da finden auch nicht nur Klatsch und Tratsch statt, und der Strandaufseher hat da sein Häuschen, sein kubisches Häuschen, sondern da finden später im Roman auch noch Versammlungen der Männer von Charybdis statt Die italienischen Wörter oder Benennungen der geographischen Orte wie Cariddi und Scilla habe ich nicht beibehalten, 2_IH_Italienisch_76.indd 15 23.12.16 09: 52 Horcynus Orca von Stefano d’Arrigo Moshe Kahn 16 sondern durch Charybdis und Skylla ersetzt, weil für den Italiener natürlich mit Cariddi und Scilla sofort auch der mythologische Bezug deutlich wird Für den deutschen Leser wäre das aber nicht deutlich geworden Also habe ich mich entschieden, um eine sozusagen mythologische Tiefenschärfe herzustellen, die deutschen Bezeichnungen zu verwenden für diese geographischen Orte Diese Feminotinnen sind ganz besondere Frauen, sie leben im südlichen Kalabrien und, verdienen sich wie Männer ihren Lebensunterhalt Das heißt, sie sind nach Sizilien gefahren, meistens nachts, auf ihren Booten, über diese sehr komplizierten Stromschnellen und Strömungswirbel hinweg, nach Sizilien, um dort Salz zu holen . . .auf dieses Salz musste eigentlich Steuer bezahlt werden, wenn es rüber verschifft wurde aufs Festland Weil sie das aber nicht konnten, und auch nicht wollten, haben sie diesen Verkehr bei Nacht betrieben und dann dieses Salz auf dem Festland verkauft Die Hauptfigur, Andrea Cambria, wandert von Neapel aus nach Süden, und irgendwo im nördlichen Kalabrien hängen sich vier Soldaten des Landheeres an ihn und verfolgen ihn Er will zwar immer allein bleiben, aber sie folgen ihm auf Schritt und Tritt in einiger Entfernung, lassen ihn nicht aus den Augen, bis sie schließlich alle da unten ankommen, von wo sie hoffen, übergesetzt zu werden Dies war schwierig, weil die Alliierten sämtliche Fährschiffe versenkt hatten Verboten war auch die Fischerei mit normalen Fischerbooten, weil darauf möglicherweise schnell Feuergewehre installiert werden konnten Die einzige Möglichkeit, auf die Insel überzusetzen, war mithilfe der Engländer Wie bei der sizilianischen Vesper haben die Engländer beschlossen, diejenigen, die übersetzen wollen, zu prüfen, ob sie Sizilianer sind Sie fragten sie z .B nach dem Wort für Kichererbse auf Sizilianisch, und wenn das nicht überzeugend klang, konnte der Betreffende nicht hinüberfahren, obwohl er schon die Desinfektionsräume durchschritten hatte Das war sozusagen der Ausweis für die Sizilianer, um über die Meerenge gebracht zu werden von den Briten, die mit Landungsbooten diesen Transport übernommen haben, nicht nur von Personen, sondern auch von Gütern zwischen Sizilien und dem Festland In der nächsten Episode machen wir die Bekanntschaft eben dieser drei, bzw vier Soldaten, die sich Andrea Cambria anschließen auf dem Weg in den Süden, nachdem er sie in einem kleinen orangenen Bergamotte-Garten kennengelernt hat, wo sie ihn sozusagen aufgegabelt haben Wie bin ich überhaupt auf den Roman aufmerksam geworden? Ich war befreundet mit einem Mann und dessen Familie in Rom, die einen wunderbaren Landsitz hatten außerhalb Roms am Bracciano-See, und ich war sehr oft dort draußen vor allem in der Jahreszeit, in der Pflanzen aus einem herrlichen Garten eingepflanzt und umgetopft werden mussten und wir fanden uns morgens, es war im Jahre 1975, immer im Gewächshaus Er hatte 2_IH_Italienisch_76.indd 16 23.12.16 09: 52 Moshe Kahn Horcynus Orca von Stefano d’Arrigo 17 gerade diesen Roman gekauft, las abends lange Partien darin, erzählte mir dann darüber und bestand darauf, dass ich diesen Roman unbedingt lesen müsse und mir auch überlegen sollte, ob ich diesen Roman nicht irgendwann mal ins Deutsche übersetzen sollte Das Italienisch, das der Autor verwendet, empfand ich als sehr fremd; es braucht sehr viel mehr, als mal eben ein Überlesen des Textes Was war denn das Eigentümliche an diesem Italienisch? Es war natürlich Italienisch, der Roman ist insgesamt Italienisch geschrieben; viele Kritiker haben gesagt, auch Sizilianisch, aber das ist nicht der Fall Er macht Gebrauch von sizilianischen Wörtern, die er aber so bearbeitet, dass man den Eindruck hat, sie sind italienisch, nur findet man sie in keinem Wörterbuch und man findet sie auch nicht mehr im sizilianischen Wörterbuch, und das macht diesen eigentümlichen Reiz dieser Sprache aus Um das zu verstehen, habe ich aber sehr lange gebraucht Ich bin dann in der zweiten Hälfte der 70er Jahre von Rom aufs Land gezogen, etwa 60 km entfernt, östlich, schon an die ersten Ausläufer der Abruzzen und habe mich dann dort ab 1979 wirklich sehr intensiv mit der Lektüre beschäftigt Der Freund, der mich zuerst auf dieses Buch aufmerksam gemacht hatte, war inzwischen verstorben Ich habe dann ungefähr zwei Jahre gebraucht, um mich durch dieses Buch durchzuarbeiten, was für mich keine Besonderheit darstellt, ich habe auch bei Musil zwei Jahre gebraucht, als ich den Mann ohne Eigenschaften zum ersten Mal gelesen habe, bei einigen Romanen Kafkas habe ich mindestens so lange gebraucht, das liegt daran, dass ich immer wieder lese, was ich schon gelesen habe, wenn ich fasziniert bin von bestimmten Seiten oder Kapiteln, um die Sprache und diese Sprachwelt in mich eindringen zu lassen 1981 war ich dann soweit und dachte, als ich das Buch zuklappte, dass ich einen ganz großen Roman der europäischen Literatur in Händen hielt Ich wusste, dass der Autor noch lebte und habe den Mondadori Verlag gebeten, mir eine Begegnung mit ihm zu ermöglichen Als ich im römischen Büro des Verlags auftauchte und mich vorstellte, wurde ich mit großer Ehrfurcht behandelt, und die Sekretärin fragte mich: «Haben Sie diesen Roman wirklich gelesen? », und ich sagte: «Ich stehe hier vor Ihnen, weil ich es getan habe», und sie haben mich beglückwünscht, weil sie sagten, nach 15 oder 20 Seiten hätten sie es aufgeben Sie fanden das faszinierend, dass da ein Ausländer vor ihnen stand, der eine Arbeit verrichtet hatte, die sie nicht imstande waren, zu verrichten Es kam dann zu einer Begegnung zwischen Stefano d’Arrigo und mir, was für mich auch heute noch im Nachhinein sehr bewegend war Er wohnte weit außerhalb des Zentrums, ich hingegen wohnte im unmittelbaren Zentrum von Rom und musste eine lange Autobusfahrt auf mich nehmen um dahin zu gelangen, wo er wohnte Dann klingelte ich an seiner Schelle unten, er machte auf und ich fuhr drei Etagen hoch Und dort 2_IH_Italienisch_76.indd 17 23.12.16 09: 52 Horcynus Orca von Stefano d’Arrigo Moshe Kahn 18 öffnete er mir die Tür und vor mir stand ein sehr viel kleinerer Mann als ich, mit ausgebreiteten Armen und sagte: «Willkommen bei Dir zuhause .» Das fand ich außerordentlich Und von dem Augenblick, als wir uns über den Roman und eine tatsächlich mögliche Übersetzung ins Deutsche unterhalten haben, begann eine wunderbare Freundschaft zwischen ihm und mir, die bis zu seinem Tod 1992 dauerte Er war schon damals sehr krank, er ist 1992 im Alter von 73 Jahren gestorben, und wenn ich denke, das sich jetzt 75 bin, dann können Sie sich vorstellen, wie mich das bewegt Als das Projekt der Übersetzung Gestalt annahm, habe ich Siegfried Unseld, dem langjährigen Verleger des Suhrkamp Verlags, geschrieben und ihm von diesem Roman berichtet, in der Anlage schickte ich ihm ca 50 Seiten aus zwei verschiedenen Teilen des Romans in Übersetzung, um ihm eine Vorstellung zu geben, was dieser Roman ist, wie dieser Roman sich anhören könnte auf Deutsch Er ließ mir durch seinen Cheflektor mitteilen, dass eine Übersetzung für ihn überhaupt nicht in Frage käme, der Autor sei ja völlig unbekannt, auch in Italien habe man nur in der Zeit der Veröffentlichung des Buches über den Autor geschrieben (was stimmte, in den ersten zwei, drei Jahren war er ständig Thema in den Zeitungen), und Unseld hielt es für ein nicht zu kalkulierendes kaufmännisches Risiko, diesen Roman zu übernehmen Der Hanser Verlag hat es ebenfalls abgelehnt, allerdings verlagerte sich da die Argumentation etwas, die damalige Lektorin hat mich wissen lassen: «Hören Sie mal, der Roman ist ja so schlecht besprochen worden, also das muss ich Ihnen ja nicht alles erklären» Und ich habe gesagt, Ich finde es sehr interessant, dass Sie vor allem die schlechten Kritiken in Erinnerung haben, ich dagegen habe nur die positiven Kritiken in Erinnerung von den Leuten, die mich interessieren, das war Pasolini, und das war Primo Levi und das waren einige andere sehr große, George Steiner kam dann später dazu, Andrea Camilleri hat diesen Roman sehr gepriesen und hoch geschätzt und alle, die diesen Roman sehr geschätzt haben, haben sich die schlechten Kritiken damit erklärt, dass es eben mittelmäßige Schriftsteller waren, die über einen Kollegen zu urteilen gehabt hatten, die ihrerseits gerne diesen Roman geschrieben hätten, den sie nicht in der Lage waren zu schreiben So war das ganze Projekt erstmal für Deutschland unmöglich geworden Der Wagenbach Verlag kam nicht in Frage, weil er das Projekt finanziell nicht stemmen konnte, und dann blieb es lange in der Schublade liegen, bis ich 2004 den Schweizer Verleger Egon Ammann traf und die Gelegenheit hatte, über dieses Buch mit ihm zu sprechen Er hat sich das sehr aufmerksam angehört und mich gebeten, doch Geduld zu haben, er würde sich das genau überlegen, er müsse noch einige Auskünfte einholen und er müsse noch dieses und jenes bedenken, kurz und gut: Ich sollte nicht den Mut verlieren, er werde mir in absehbarer Zeit eine Antwort zukommen lassen 2_IH_Italienisch_76.indd 18 23.12.16 09: 52 Moshe Kahn Horcynus Orca von Stefano d’Arrigo 19 Als ich nach vier Monaten noch keine Antwort von ihm hatte, dachte ich, auch dieses Projekt ist stillschweigend untergegangen Aber kaum hatte ich den Gedanken zu Ende gedacht, kam seine Antwort: Er teilte mir mit, wir würden das gemeinsam machen Und das haben wir über die Jahre auch gemacht, bis 2010, als er aus gesundheitlichen Gründen seinen Verlag nicht mehr weiterführen konnte; er hat sich wunderbar auf dieses Abenteuer eingelassen und war sehr neugierig auf jede Teillieferung, die ich ihm habe zukommen lassen, immer mit dem ausdrücklichen Hinweis, dass das nur die erste Version sei, das ganze müsse überarbeitet werden, ich wollte ihn nur wissen lassen, wie es weiter geht und dass es weiter geht 2006 habe ich mit der Arbeit an der Übersetzung begonnen, die 50 Seiten, die ich Siegfried Unseld Anfang der 80er Jahre zugeschickt hatte, wurden noch einmal gründlich überarbeitet, 2012 war die Arbeit schließlich abgeschlossen, in einer ersten Version, und wie das so ist - vor allem bei so umfangreichen Projekten wie diesem - ist am Ende die Sprache der letzten Seite eine andere als die, mit der man begonnen hat So musste dieses ganze Manuskript, das 2240 Seiten umfasste, überarbeitet werden, und das habe ich dann also mehrmals getan, zweimal, bevor ich überhaupt Egon Ammann an meinen Schreibtisch ließ, um mit ihm gemeinsam dann eine endgültige Version zu erarbeiten Nachdem auch diese abgeschlossen war, sagen wir, es war die dritte, war ich immer noch von Skrupeln geplagt und habe noch eine vierte, eine fünfte, eine sechste, schließlich eine neunte Überarbeitung der Übersetzung gemacht Der Verlag wartete, er hatte das ja alles programmiert und kalkuliert, aber ich dachte, ich müsste mich noch an eine zehnte Fassung machen Eines Tages kam Egon Ammann zufällig bei mir vorbei in Berlin, klingelte und fragte, ob ich ihm einen Kaffee machen würde Das habe ich natürlich gerne getan, und er fragte «Woran arbeitest Du denn? » Und ich sagte, «An der zehnten Überarbeitung des Horcynus», und da sagte er zu mir: «Pack jetzt mal Deinen Koffer, nimm ganz wenige Dinge mit, und dann fahr ich Dich in die Psychiatrie .» Das war vielleicht das Signal, dass ich aufhören muss; es kommt nicht selten vor bei Übersetzern, dass sie immer noch nicht zufrieden sind und es geradezu eine Psychose wird, einen Text noch einmal und noch einmal vorzunehmen Ich habe dann gedacht: Vielleicht hat er Recht und neun Fassungen sind auch ausreichend Und so ist dann die neunte Version an den Verlag gegangen, und schließlich 2015 im Februar - das fällt genau zusammen mit 40 Jahren Horcynus Orca im Italienischen - ist dann auch die deutsche Übersetzung veröffentlicht worden und hat sehr viel günstige Aufnahme bei der Kritik gefunden und auch bei den Käufern Das Buch ist umfangreich, es eignet sich kaum zur Abendlektüre, denn wenn man im Bett liegt und sich das Ding auf den Bauch stellt, dann stehen da 1229 Gramm Buch, und das merkt der Bauch nach einiger 2_IH_Italienisch_76.indd 19 23.12.16 09: 52 Horcynus Orca von Stefano d’Arrigo Moshe Kahn 20 Zeit Ich weiß, dass auch eine Übersetzung ins Französische entsteht, die Ende des nächsten Jahres vorgelegt wird, ich bin mit den beiden Übersetzern in reger Verbindung, ich weiß auch, dass es eine spanische Übersetzung geben wird, auch da ist ein wunderbarer Lyriker am Werk, und eine englische, amerikanische Übersetzung ist schon in den 80er Jahren unternommen worden, aber sie musste leider abgebrochen werden, der Verlag ist bankrott gegangen auf der Wegstrecke, nicht weil der Übersetzer zu viel Honorar verlangt hat, was ja wohl selten vorkommt, sondern weil er sich mit anderen Sachen völlig verkalkuliert hatte So ist auch dieses amerikanische Projekt in die Tisch-Schublade gewandert, aber ich kenne ihn, denn auch er ist ein Lyriker, der das übersetzt hat, und er wird auch, wenn das dann für den amerikanisch-englischen Markt wieder aufgenommen wird, derjenige sein, der seine alte Übersetzung aufnimmt, überarbeitet und fortführt Als ich Anfang der 80er Jahre den Plan hatte, den Horcynus Orca zu übersetzen, sagte mir der italienische Verleger, es war inzwischen nicht mehr der alte Arnoldo Mondadori, sondern sein Sohn, Leonardo, wenn ich das täte, dann würde er die Übersetzung finanzieren Das habe ich auch Unseld mitgeteilt, aber er hat sich trotzdem nicht dazu entschließen können, den Roman zu übernehmen Es ist absolut ungewöhnlich, dass der Heimatverlag die Übersetzungskosten übernimmt Etwas Ähnliches ist nämlich in den 60er Jahren passiert, als d’Arrigo diesen Roman schrieb Er hatte seit Mitte der 50er Jahre daran gearbeitet, 100 Seiten sind in einer literarischen Zeitschrift erschienen, die von Italo Calvino und Elio Vittorini geleitet wurde, die Zeitschrift hieß Il Menabò, und dadurch wurden die Verleger in Italien auf den Roman aufmerksam Viele haben versucht, ihn dann zu bekommen, aber d’Arrigo hat sich für Arnoldo Mondadori entschieden, der ihm das Angebot machte, ihm bis zur Fertigstellung des Romans ein monatliches Gehalt auszusetzen Der hat natürlich kalkuliert: Jetzt sind schon 600 Seiten entstanden, dann wird das nicht mehr so lange sein, bis wir das endgültige Manuskript haben D’Arrigo hat dann die Fahnen bekommen von den 600 Seiten, die entstanden waren und versicherte dem Verleger, er werde die überarbeiteten Fahnen innerhalb von spätestens vier Wochen zurückschicken können Aus diesen vier Wochen sind dann aber 14 Jahre geworden, für Mondadori war das nicht unbedingt ein tolles Geschäft Aber der Autor hatte zumindest eine Zeit der Ruhe und konnte ohne Sorgen weiter arbeiten Mondadori war im übrigen auch deshalb sehr großzügig mit d’Arrigo, weil er felsenfest davon überzeugt war, dass hier ein ganz außergewöhnlicher Roman entsteht D’Arrigo war immer etwas kränklich, und sein Arzt hatte ihm einen Aufenthalt in Bergluft verordnet, also hatte d’Arrigo sich entschlossen, in die Berge in der Provinz von Frosinone zu ziehen Da geht es rauf bis 1000, 1100 Meter Er hat sich in dem Ort Trevi niedergelassen in einem schönen kleinen 2_IH_Italienisch_76.indd 20 23.12.16 09: 52 Moshe Kahn Horcynus Orca von Stefano d’Arrigo 21 Hotel, alles auf Kosten von Mondadori, und das dauerte sechs Jahre Und dann zeigte sich, dass die Bergluft schädlich war und es ging wieder runter in die Stadt Unter allen diesen Widrigkeiten entstand dieser Roman Für die Übersetzung kam es nicht zu dieser wunderbaren Lösung, die Leonardo Mondadori mir angeboten hatte, weil er Mondadori verließ und einen eigenen Verlag gründete, und damit war auch die Möglichkeit einer Finanzierung einer Übersetzung vom Tisch Eine Übersetzung dieser eigenwilligen Sprache von d’Arrigo im landläufigen Sinn war überhaupt nicht möglich, hier musste etwas nachgeschaffen werden Und das habe ich versucht D’Arrigo erzählte mir, dass er in diesem Roman etwa 2000 Neologismen in der italienischen Sprache geschaffen habe Ich habe sicher keine 2000 nachgeschaffen, aber immer da, wo es mir möglich schien, habe ich es getan, allerdings nicht so, dass das irgendwelche erfundenen Worte aus der hoheitsfreien Sprachzone waren, sondern natürlich manchmal nur Zusammenstellungen von Worten Diese Neologismen erklären sich auch alle aus sich selbst, man muss gar nichts Großartiges erkennen Zusätzlich habe ich Rückgriffe auf althochdeutsche und auf gotische Wurzeln gemacht und diese dann in einem ähnlichen Vorgang bearbeitet wie d’Arrigo das gemacht hat mit seinen sizilianischen Sprachwurzeln, um dadurch dem Roman an Stellen, wo es sinnvoll schien, eine bestimmte Färbung zu geben Aber auch diese Rückgriffe auf alte Sprachschichten sind nicht so, dass man sie nicht verstehen könnte Es erklärt sich alles - das war auch das Wesentliche bei d’Arrigo - aus dem Kontext, aus der Sprache selbst Wichtig war für d’Arrigo die Musikalität in seinem Roman, die ich als Übersetzer und die jeder Übersetzer unbedingt nachgestalten musste Natürlich sind unsere Sprachen so unterschiedlich von ihren Strukturen her, dass man das nicht 1: 1 umsetzen kann Aber man kann es 1: 3 umsetzen Ich habe mal gesagt, des Deutschen liebster Vokal ist das ‘e’, und das kann mitunter entsetzlich monoton sein - das galt es beispielsweise auch zu durchbrechen: die e-Ketten im Deutschen Manchmal sind sie nicht zu vermeiden und nicht aufzubrechen, aber da, wo es möglich war durch Synonyme, habe ich es mit großer Leidenschaft getan Den Rhythmus habe ich ebenfalls nachgestaltet und in diesem Zusammenhang war mir Gustav Mahler ganz wichtig Ich habe immer gesagt, wenn man d’Arrigo übersetzen will, dann muss man sich vorstellen, dass ein gewaltiges Orchester eine Mahler-Sinfonie vor offenem Meer spielt Ich kann ihnen nur dieses Bild geben, und das musste sich dann in dem Roman in der Sprache widerspiegeln Es musste so sein, dass man diese gewaltigen Satzketten, die d’Arrigo konstruiert hat, nachgestaltet Manchmal tendieren Übersetzer dazu, sie zu unterbrechen durch Punkte Ich habe versucht, das nicht zu tun, nur vielleicht an zwei Stellen, wo es mir dann zu unübersichtlich zu werden schien, habe ich Punkte gesetzt um den 2_IH_Italienisch_76.indd 21 23.12.16 09: 52 Horcynus Orca von Stefano d’Arrigo Moshe Kahn 22 Leser nicht unnötig in Katastrophen zu jagen Aber ich habe durchweg versucht, die großen Satzketten von d’Arrigo beizubehalten Das Schwierige dabei war, dass es keine italienischen Satzketten sind, keine italienische Syntax ist, sondern die Syntax des Dialekts von Messina Und da habe ich mich natürlich auch lange gefragt, «O Gott, was mache ich denn hier? » Mitunter schien es mir, dass ein Satz in der Luft hing, weil ich das Verb nicht finden konnte, das den Satz zum Abschluss brachte Ich habe mich der Hilfe eines wunderbaren Mannes in Florenz versichert, der aus Messina stammt und Professor an der Universität in Florenz ist, und immer wenn ich Schwierigkeiten dieser Art hatte, habe ich ihn gebeten mir den Satz auf Italienisch aufzuschreiben, damit ich ihn dann anhand dieser Geschichte nachbilden konnte Der Grundduktus bei der Übersetzung dieses Romans ist das Sizilianische Es ist eine Sprache, die aus vielen Spracheinflüssen besteht, aus ältesten Schichten, es gibt noch Wörter der Ureinwohner, der Sikuler im Sizilianischen, und dann kamen die Griechen, und dann kamen die Phönizier, und dann kamen die Römer, und dann kamen die Byzantiner, und dann kamen die Araber, und sie alle haben Einflüsse in der Sprache hinterlassen Und ich dachte mir, um diese merkwürdige Farbe bei d’Arrigo im Deutschen wiederzugeben, muss die Sprache einerseits etwas Archaisches haben und andererseits modern sein Also dieses Gemisch herzustellen aus Sprache war für mich ganz wesentlich Und ich dachte mir dann, dass ich mit daktylischen und jambischen Versmaßen, mit Trochäen, mit Odenversmaßen einen Rhythmus schaffen konnte, der diesem Wunsch und dieser Vorstellung entsprach Ich habe manchmal im Deutschen dann z .B nicht ‘Osten’ oder ‘Westen’ gesagt, sondern ‘Morgen’ und ‘Abend’, wie es bei Adalbert Stifter vorkommt, um das italienische levante - ponente in einer anderen Form zu übersetzen als ‘Osten’ und ‘Westen’, was mir im Zusammenhang des ganzen Klangs und Gefüges der Sprache als zu banal erschienen wäre Ein paar Dinge im Sizilianischen sind auch heute noch für unsere Ohren schrecklich pompös, das Sizilianische selber klingt auch von der Syntax und vom Gebrauch der Verben her eigentlich, als ob man es mit Opern- Texten zu tun hätte, und auch das war irgendwie zu berücksichtigen gegenüber der reinen italienischen Sprache Ich habe versucht, das alles einzubringen in die deutsche Übersetzung und es ist ein schönes Gemisch, ein schöner Sprachpalast entstanden, das glaube ich jedenfalls Als ich von den 2240 Manuskriptseiten vielleicht 2000 fertig hatte, brach bei mir eine Krise aus, und ich habe voller Verzweiflung da gesessen und mich gefragt, wie geht es jetzt weiter, ich weiß nicht wie es weiter geht, der Kopf war leer Richtig leer Und die Faust im Nacken war ja der Verlag, der Termine gesetzt hatte, Abgabefristen und ich selber habe mich auch unter Druck gesetzt Ich habe drei Monate nichts gemacht, die letzten Seiten habe ich nicht mehr schaffen 2_IH_Italienisch_76.indd 22 23.12.16 09: 52 Moshe Kahn Horcynus Orca von Stefano d’Arrigo 23 können, drei Monate lang Und dann habe ich einfach die Koffer gepackt, bin nach Rom gefahren und war dann 14 Tage in Rom mit meinen Freunden, habe nicht über das Problem gesprochen, das mich belastet hat, sondern habe mich einfach der Freude überlassen, wieder mit meinen Freunden zusammen zu sein, und dann bin ich nach Hause gekommen, habe mich hingesetzt und habe gearbeitet, als wäre nie etwas gewesen, und der Schluss ging dann sehr schnell So problemlos, dass ich fast die Befürchtung hatte, ich habe alles falsch gemacht Aber dann habe ich es jemandem zu lesen gegeben, und der sagte, «Nein, nein, es ist alles richtig, mach Dir keine Sorgen .» 2_IH_Italienisch_76.indd 23 23.12.16 09: 52