eJournals Italienisch 38/75

Italienisch
0171-4996
2941-0800
Narr Verlag Tübingen
2016
3875 Fesenmeier Föcking Krefeld Ott

Claudio Magris: Non luogo a procedere. Milano: Garzanti 2015, 362 Seiten, € 20,00

2016
Renate Lunzer
Buchbesprechungen 153 Claudio magris: Non luogo a procedere. milano: Garzanti 2015, 362 Seiten, € 20,00 Für die Erkenntnis, dass das Leben häufig bizarrer und phantastischer ist als jede Fiktion, führt Claudio Magris gerne illustre Zeugen wie Italo Svevo an. Auch er selbst schöpft mit Bedacht aus der Quelle der Wirklichkeit und so kommt es, dass sein neuester, unerhörter Erzähltext ein historischer Roman «und darüber hinaus» geworden ist, ein Produkt von Phantasie und Historiographie. Non luogo a procedere (auf Deutsch: Einstellung des Verfahrens) ist der von hoher ziviler Verantwortung und leidenschaftlicher Teilnahme getragene Versuch, gegen die kollektive Verdrängung anzuschreiben, gegen die omertà, mit der eine Gesellschaft ihre Verbrechen, ihre Mitwisserschaft und die Leiden der Opfer verschweigen wollte. «Wir scheinen wirklich die Stimme der unterdrückten Gerechtigkeit zu hören, nach siebzig Jahren zahlt eine Stadt endlich ihre Schuld», schrieb Corrado Stajano im Corriere. Ein Mitbürger, zur Zeit jener Verbrechen ein kleines Kind, «nun ein großer Schriftsteller geworden, fordert uns auf nicht zu vergessen.» Der Guerillakampf gegen das Vergessen - für Magris seit jeher eine zentrale Aufgabe der Literatur - und gegen das «Übertünchen» des (Schuld-) Bewusstseins macht aber nicht bei einer, bei seiner Stadt, Triest, halt, das weitverzweigte, weltläufige, intrikate Gewebe dieses Erzählens umfasst viele Räume, vom Paraguay der Chamacocos über das Mitteleuropa der Nazis bis zum Afrika der Kolonialherren. Zwei historische Gegebenheiten bilden die Grundelemente dieser kunstvoll verstrebten Konstruktion: das unvollendete Unternehmen eines genialen Besessenen, des mysteriösen triestinischen Waffensammlers und polyglotten Privatgelehrten Diego de Henriquez, ein Kriegsmuseum der besonderen Art zu begründen, das «Universalmuseum des Krieges zur Herbeiführung des Friedens und zur Deaktivierung der Geschichte» (S. 13; Übers. R.L.); andererseits die Schrecken der Risiera di San Sabba, einer aufgelassenen Reismühle an der Peripherie von Triest, die nach dem Waffenstillstand Italiens mit den Alliierten vom September 1943 unter der Leitung des berüchtigten SS-Führers Odilo Globocˇ nik («Aktion Reinhardt») in ein «Polizeihaftlager» umgewandelt wurde. Zehntausende wurden von dort in die Vernichtungslager der Nazis deportiert, dort wurden aber auch viele Tausende von italienischen und jugoslawischen Partisanen, Juden, Widerstandskämpfern und anderen politischen Gefangenen gefoltert, erschossen, erschlagen oder in Gaswagen ermordet. Ab 1944 verbreitete das dort installierte Krematorium seinen pestilenten Gestank über die Hafenstadt. Die Risiera diente auch als Lager für beschlagnahmte und geraubte Wertgegenstände. Beim Rückzug Ende April 1945 sprengten die Nazis zwecks Spurenverwi- 2_IH_Italienisch_75.indd 153 30.06.16 17: 11 Buchbesprechungen 15 4 schung das Krematorium und andere Teile ihrer Mordfabrik. Während der anglo-amerikanischen Verwaltung von Triest, die bis 1954 andauerte, legte sich - unter tätiger Mitwirkung der alliierten Militärregierung - rasch der Mantel des Schweigens über den Ort, wo die «Generalprobe der Hölle» (S. 332) stattgefunden hatte. Allzu viele Kollaborateure, Salò-Faschisten, Denunzianten, willfährige Behördenvertreter und Nutznießer verschiedener Art konnten unter diesem Schutzmantel ungestört weiterleben. Prozesse wurden verhindert, Beweismittel verschwanden, 1954 schafften die Briten beim Abzug Dokumente weg, die bis heute geheim gehalten werden. Erst in den siebziger Jahren gelang es einem mutigen Untersuchungsrichter einen Prozess über die «Operation Risiera» einzuleiten. Er endete jedoch aus vielfältigen Gründen, die man in Ferruccio Fölkels umfassender Darstellung La Risiera di San Sabba (1979) nachlesen kann, wie ein Schlag ins Wasser. Von den namentlich bekannten Schlächtern und ihren Kommandanten waren viele schon gestorben oder ungreifbar, einzig der Lagerverantwortliche Oberhauser, nun Bierbrauer in München, wurde - in Abwesenheit - zu lebenslanger Haft verurteilt. Niemand von denen, die in der «Operationszone Adriatisches Küstenland» den Schergen zugearbeitet, die, selbst ohne blutige Hände, «während der nationalsozialistischen Besetzung so oft und herzlich blutige Hände geschüttelt hatten» (S. 21 f.), wurde zur Verantwortung gezogen. Die Manipulation des Erinnerungsdiskurses - dies sei hinausgehend über die erzählte Zeit des besprochenen Werks angemerkt - begünstigte auch in den folgenden Jahrzehnten die «funzionari del Male». Die «Einstellung des Verfahrens» überhaupt, «das große Schweigen der Welt über den Schmerz und die Schande» ist (wie auch in Alla cieca von 2005) die zentrale Frage des Buches: der Verzicht auf die Ortung des «üblen Geruchs», den die Geschichte verströmt. Weit davon entfernt, magistra vitae zu sein, manifestiert sie sich als «blind», «zerstörerischer Tumor», «Mistablagerungsstätte», «Blutkruste» und «Elektroschock, der alle wahnsinnig macht». An diesem Punkt gewinnt in der Vorstellung des Autors Diego de Henriquez Raum, jener unbeugsame und peinliche Exzentriker, der fanatisch, bis zum Ruin seiner bürgerlichen Existenz, nicht nur Kriegsgerät aller Art - von der Streitaxt bis zum U-Boot -, sondern auch eine Unzahl kleiner «Tagebücher» mit historischen Zeugnissen verschiedenster Herkunft anhäufte. Darunter die Abschriften von Graffiti und Kritzeleien, aus öffentlichen Toiletten, aber auch von den Wänden der Risiera, wo die Todgeweihten Botschaften (und Namen! ) hinterlassen hatten. Botschaften, die de Henriquez mühsam kopiert hatte, bevor man sie eilig unter Kalktünche verschwinden ließ. Der unbequeme Zeuge einer nicht offiziellen Geschichte von Triest und Umgebung kam 1974 bei einem (gelegten) Brand in seinem Magazin um, wo er, verarmt und heruntergekommen, mitten unter seinen 2_IH_Italienisch_75.indd 154 30.06.16 17: 11 Buchbesprechungen 155 archaischen Dreckschleudern, Panzern, Raketenabschussvorrichtungen und Yataganschwertern hauste und eine eigenartige ars moriendi exerzierte: Er schlief in einem Sarg mit einem Stahlhelm auf dem Kopf und einer Samuraimaske auf dem Gesicht. In der Nacht des Brandes ging auch ein Teil seines Archivs in Flammen auf. Außerdem waren - angeblich - aus dem Tresor verschiedene Dokumente verschwunden, darunter ein brisantes Heft (Hefte? ) mit Kopien der Graffiti von San Sabba sowie kompromittierende Fotos. Soviel zur ‘Realität’. Magris hat die reale Figur des lebenslang von Waffen faszinierten Sammlers, der doch ihren Gebrauch, den Krieg und das Übel aus der Menschheit exorzieren wollte, grandios überschrieben. Die Geschichte von Henriquez‘ tragisch unterbrochenem palingenetischem Traum «Kriegswaffen für den Frieden» wird durch die in sieben Kapiteln artikulierte Geschichte einer gänzlich erfundenen weiblichen Figur kontrapunktisch begleitet und kommentiert, wobei die beiden Hauptstimmen - der mit Lui, manchmal auch Io 1 , nie mit Namen bezeichnete Protagonist-Dux und die Projektantin seines Museums, Luisa-Comes - mit ihren Überlegungen, Erinnerungen, Gedankensprüngen eine überwältigende Vielfalt von komplementären oder gegensätzlichen Nebenstimmen und Motiven generieren, die wiederkehren (die schwarze «Prinzessin» Luisa de Navarrete, der Indio Cˇ erwuiš) oder verschwinden (der «brave Soldat» Schimek) sowie den verschiedensten zeitlichen und räumlichen Dimensionen angehören können. Die beharrliche, oft modulierte Wiederkehr des Hauptthemas sichert die vollendete Durchführung der großen Fuge, die mit der Todesszene des Protagonisten endet, leitmotivisch erfüllt von erstickendem Rauch und apokalyptischen Bildern aus der Risiera. Seiten, die mit ihrer atemberaubenden Dynamik und visionären Darstellungskunst zum Besten gehören, das Magris geschrieben hat. «Er hatte die Flammen sicher nicht gefürchtet, Schmetterling ohne Angst vor dem Licht, in das er sich stürzt, um im Verbrennen wiedergeboren zu werden» (S. 19), war doch auch sein Museum als «Umkehr» geplant: Stirb - die Säbel, die Bajonette, die Kanonen - und Werde - die Abschaffung des Übels und des Todes. In seinem Definitivem Universal-Lexikon (DUD - Dizionario Universale Definitivo) wäre «Tod» durch «Umkehrer» (invertitore) ersetzt worden. «Den Tod gibt es nicht, erklärte er; er ist nur ein Umkehrer, eine Maschine, die das Leben einfach umstülpt wie einen Handschuh, man muss die Zeit nur umgekehrt laufen lassen und gewinnt alles wieder. Wiedergefundene Zeit, Triumph der Liebe» (S. 18). Flamme und Rauch der Seligen Sehnsucht, Flamme und Rauch der Risiera - Himmel und Hölle: dieses Buch steht im Zeichen von Feuer und Flamme. «Und ich gehe auf die Suche nach diesem Rauch», lässt Magris den Protagonisten sagen, 2_IH_Italienisch_75.indd 155 30.06.16 17: 11 Buchbesprechungen 156 «nach diesen Namen, die man zu Asche gemacht hat. Ich kämpfe nicht gegen das Vergessen, ich kämpfe gegen das Vergessen des Vergessens, gegen die Bewusstlosigkeit, gegen die Schuld vergessen zu haben, willentlich vergessen zu haben, nicht wissen wollen und können, dass es ein Grauen gibt, das man vergessen wollte - sollte? In Triest sehe ich in jeder Straße den Rauch, den man nicht sehen wollte» (S. 321). Feuer ist nicht das Element der sanften Luisa, die den Auftrag hat, das «Museum zur Abschaffung der Kriege» zu planen. Mit gedankenvoller Empathie versucht sie auch die Archive des Toten - Briefe, hingeworfene Notizen, unleserliche fliegende Blätter, Tagebücher - in die Präsentation der Militaria zu integrieren: «Er hat immer alles aufgezeichnet, er machte nichts anderes als Notizen; das einzige, was er machte in seinem ganzen Leben…» (S. 26). Luisa, Tochter einer Triester Jüdin und eines afroamerikanischen Soldaten der TRUST (Trieste United States Troops), hat gelernt, wie man erträglich mit den unerreichbaren Dingen zusammenlebt. Auf ihr lastet nicht nur die Tara der jahrhundertelangen Verfolgung, Unterdrückung und unseligen Verstrickung ihrer Ahnen, sondern auch die vollkommen geglückte Liebe ihrer Eltern: sie weiß im Rückblick auf dieses Paar, «dass das Gelobte Land existiert, es ist hier, man kann drin leben und man kann es doch nicht, du kannst es nicht. Das Land Kanaan, Eden, Madinina, alles wahr, alles möglich, aber nicht für dich» (S. 228). Während die resignierte Humanität dieser schönen «Tochter des Galut und des versklavten Afrika» (S. 267) in ihrer psychologischen Feinzeichnung perfekt gelungen und von einnehmender Lebensnähe ist (Luisa sei die Gestalt des Romans, die er am meisten liebe, sagte Magris in einem Interview), so erscheint das paradigmatische Elternpaar ideologisch konstruiert und die insistierende Phänomenologie der «seligen Insel» (S. 228) ihrer absoluten Liebe überfordert bisweilen den Leser. Was Non luogo a prodecere aber, über den potenten Eingriff in den Erinnerungsdiskurs von Triest und Umgebung (im weitesten Sinn) hinaus, zu einem Meisterwerk macht sind seine sprachlich-stilistischen Qualitäten. Ich erwähnte schon das dichte Gewebe von Leitmotiven, Analogien, Parallelführungen, die zahllose lokale und universale Panoramen aufreißen - von den Schiffbrüchen der Sklavenhändler und dem Untergang des Habsburgers Maximilian, in Mexico «Conquistador troppo nobilmente illuso» (S. 211), bis zum Attentat auf das Monster Heydrich und den Einmarsch von Titos Armee in Triest. Historische Ereignisse und private Erinnerungsfetzen, die durch den «obsessiven» Indikativ Präsens der Erzählzeit und den Einsatz einer «sublime paratassi» (E. Pellegrini) unmittelbares Leben gewinnen. Magris hat nunmehr, in seinem siebenten Jahrzehnt, eine Macht und Präzi- 2_IH_Italienisch_75.indd 156 30.06.16 17: 11 Buchbesprechungen 157 sion der Sprache, eine souveräne Herrschaft über sein schon immer kostbares Handwerkszeug erreicht, die man - ohne jede Übertreibung - als überwältigend bezeichnen muss. Alles ist visible speech, sinnliche Anschaulichkeit, mit einer Unbefangenheit und Geschicklichkeit sondergleichen bewegt er sich zwischen direkten und indirekten Redeformen, zwischen seinem königlichen Italienisch und den bunten, der Polyphonie seiner Gestalten angepassten Varietäten und Registern: Triestiner Dialekt, Deutsch, Englisch, Kroatisch, Kreolisch, ja sogar die Grammatik paraguyanischer Indios wird, wie deren Götterwelt, sinnfällig in diesem Buch. Wie alle Texte des Autors zeugt auch Non luogo a procedere von seiner enzyklopädischen Ader: «Früher hatte ich nicht bemerkt, wie barock Magris eigentlich ist», schrieb ein anonymer Leser nicht ohne Grund. Man lese etwa das Kapitel «Cactus marcescens Hitler» (S. 125 ff.): in den Delirien des berühmten Botanikers und Anthropologen Vojteˇ ch Fricˇ , den mitten unter seinen vertrockneten Kakteen der Tetanus aufzehrt, vermischen sich die fleischfressenden Dämonen aus aller Herren Länder, Anerto, Tobüc´-Kimtë, Mengele und Heydrich, während die tschechischen Partisanen in der Krypta der Heiligen Cyrill und Method in Prag ersäuft werden - ein Untergangsszenario, das einen Gryphius erblassen ließe. Von Gryphius oder Lohenstein trennt Magris allerdings die Ironie des Spätgeborenen: «Gott sei Dank, dass Hus schon verbrannt ist, jetzt würde ihm Ärgeres blühen» denkt der sterbende Fricˇ , während SS und Gestapo in Prag wüten (S. 129). «Zehn Tage genügen, um das Imperium des Zaren zu stürzen und die Sowjet-Union entstehen zu lassen, aber nicht um eine Ischias-Attacke zu kurieren» heißt es an anderer Stelle (S. 241). Beeindruckendes Beispiel einer «scrittura notturna» mit all ihren düsteren Farben und giftsüßen Gerüchen, schneidender Sarkasmus ohne Rücksicht auf political correctness ist das Kapitel 37 (S. 208 ff.): die Feier von Hitlers Geburtstag in Miramare am 20. April 1945. Das Glas heben nicht nur der Oberste Kommissar des Adriatischen Küstenlands, Gauleiter Friedrich Rainer, und Generalleutnant Globocˇ nik, der Herr der Risiera, sondern auch Präfekt Coceani, Podestà Pagnini, hohe Vertreter der Triester Industrie und der Republik von Salò, der Krasnow-Kosaken, der serbischen Cˇ etniks, der kroatischen Ustaša und der slowenischen Domobranzen - «das neue Europa der Völker» (S. 215). Abwesend anwesend unter dem ausgestopften Doppeladler der Erbauer des weißen Schlosses, Maximilian, «nobile uomo e ridicolo imperatore» (S. 212), gefallen unter den Kugeln von Queretaro. Ein Bacchanal im Wetterleuchten der Götterdämmerung, Ströme von Champagner, noch ein Brindisi, Prosit, Heil Hitler. Ströme von Angstschweiß und anderen Körperflüssigkeiten, eiliger Eros, dem Thanatos auf den Fersen ist, Ejaculatio praecox unter dem Gingko biloba in Maximilians Park, letzte 2_IH_Italienisch_75.indd 157 30.06.16 17: 11 Buchbesprechungen 15 8 Salbung für Todeskandidaten. Zehn Tage später: Rainer und Globocˇ nik sind geflüchtet, die Collotti-Bande foltert bis zuletzt, Titos Neunte Armee und die Zweite Neuseeländische Division marschieren um die Wette nach Triest. Bald werden dort die Kugeln pfeifen, Er aber, de Henriquez, wird unerschrocken umhergehen… Gespräche mit den einen und mit den anderen suchen, aufschreiben, was er sieht, was geschieht. Beschriebene Blätter…Geschoßsplitter jener in Stücke gegangenen Geschichte, durch die er spaziert wie ein flâneur» (S. 241). Renate Lunzer 1 «Er» plädiert für Redimensionierung des Ich: «Aber vor allem der Krieg, eine ernste Angelegenheit, soll so wenig wie möglich mit dem Ich zu tun haben, denn es ist renitent und anmaßend bei der Einberufung, und auf dem Schlachtfeld dann fahnenflüchtig», S. 24. 2_IH_Italienisch_75.indd 158 30.06.16 17: 11