eJournals Italienisch 37/74

Italienisch
0171-4996
2941-0800
Narr Verlag Tübingen
2015
3774 Fesenmeier Föcking Krefeld Ott

Neapolitanisierung mal ganz anders…

2015
Sara Matrisciano
Margherita Maulella
86 Sprachecke italienisch Die Rubrik «Sprachecke Italienisch» stellt aktuelle Probleme und Tendenzen des Gegenwartsitalienischen vor und befasst sich mit Normierungsschwankungen, grammatischen Unsicherheiten, Neubildungen u .a Dabei sollen möglichst auch Anfragen und Anregungen aus dem Leserkreis aufgegriffen werden, die die Dynamik des Gegenwartsitalienischen als «lingua […] in forte ebollizione» (F Sabatini) präsentieren Verantwortlich für die «Sprachecke Italienisch» ist Prof .Dr Edgar Radtke (Universität Heidelberg): edgar .radtke@rose .uni-heidelberg .de Neapolitanisierung mal ganz anders… 1 «Fra le nazioni europee l’Italia gode il privilegio di essere, certamente, il paese più frazionato nei suoi dialetti» (Rohlfs, 1964) Obgleich ein halbes Jahrhundert vergangen ist, seitdem Gerhard Rohlfs dies in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Premio Forte dei Marmi feststellte, erfreuen sich die italienischen Dialekte ungeachtet der Verbreitung des Standarditalienischen bis heute großer Vitalität . 2 Die italienischen Dialekte fallen zudem auch weiterhin - besonders im europäischen Vergleich - durch ihre Vielfalt auf Daher erstaunt das folgende Kuriosum, auf das wir im von der UNESCO veröffentlichten Atlas of the World’s Languages in Danger gestoßen sind: Die italienischen Dialekte sind in großer Gefahr! 3 Die UNESCO pflegt eine Liste der bedrohten Sprachen der Welt, die über einen interaktiven Atlas online einsehbar ist . 4 Die Karten können weltweit oder länderspezifisch aufgerufen werden Für Italien werden in der Suchmaske 31 ‹vom Aussterben bedrohte Sprachen› vorgegeben, die durch verschieden farbige Keile, die auf einen unterschiedlichen ‹Bedrohtheitsgrad› verweisen, gekennzeichnet sind Betrachtet man diese 32 Treffer (Griko in zwei Gebieten), nämlich Alemannic, Algherese Catalan, Alpine Provençal, Arbëresh, Bavarian, Campidanese, Cimbrian, Corsican, Emilian-Romagnol, Faetar, Francoprovençal, Friulian, Gallo-Sicilian, Gallurese, Gardiol, Griko (Calabria), Griko (Salento), Ladin, Ligurian, Logudorese, Lombard, Mòcheno, Molise Croatian, Piedmontese, Resian, Romani, Sassarese, Sicilian, South Italian, Töitschu, Venetan, Yiddish (Europe), fallen bereits die ersten beiden Kritikpunkte am UNESCO-Atlas auf: Es wird keine Unterscheidung zwischen ‹Dialekt› und ‹Sprache› getroffen und sechs Keile, die auf in Italien ‹vom Aussterben bedrohte Sprachen› hinweisen sollen, befinden sich in der Karte nicht auf italienischem Boden (angegeben werden beispielsweise Yiddish (Europe) in Weißrussland und Romani in Rumänien) Es wird demnach nicht ersicht- S ArA M Atri S C i A No / M Argh eritA M AU L e L L A 2_IH_Italienisch_74.indd 86 16.11.15 07: 55 87 Sara Matrisciano / Margherita Maulella Neapolitanisierung mal ganz anders… lich, worauf die Zuordnung der angegebenen ‹Sprachen› zu Italien basiert Auch die Klassifikation der ‹Bedrohtheitsgrade› mutet merkwürdig an So werden die Sprachen bzw Dialekte im UNESCO-Atlas in folgende Kategorien unterteilt, nach denen einzeln oder in Kombination gesucht werden kann: vulnerable, definitely endangered, severely endangered, critically endangered, extinct Diese Zuschreibungen werden wie folgt definiert: - vulnerable: most children speak the language, but it may be restricted to certain domains (e .g ., home) - definitely endangered: children no longer learn the language as mother tongue in the home - severely endangered: language is spoken by grandparents and older generations; while the parent generation may understand it, they do not speak it to children or among themselves - critically endangered: the youngest speakers are grandparents and older, and they speak the language partially and infrequently - extinct: there are no speakers left Die von der UNESCO vorgelegte Skala orientiert sich offensichtlich an der biologisch ausgerichteten Vorstellung der ‹Sprache als Organismus› (vgl Whitney 1875), in der Sprachen wie Tierarten vom Aussterben bedroht sein können Diese Vorstellung ist in der sprachwissenschaftlichen Forschung antiquiert, obgleich sich die entsprechenden Begrifflichkeiten der ‹vitalen› oder ‹toten› Sprache weiterhin halten - allerdings ohne Sprachen als Organismen zu betrachten Über die Sinnhaftigkeit dieser Kriterien ließe sich viel diskutieren, doch beschränken wir uns darauf, deren Abgrenzungen untereinander kritisch zu hinterfragen Mit vulnerable wird hier offensichtlich eine mögliche funktionelle Einschränkung einer Sprache, die noch als Muttersprache erlernt wird, beschrieben Hier stellt sich die Frage, ob eine Funktionsänderung immer als Einschränkung zu verstehen ist oder ob auch ein funktioneller Wandel - wie jede Form von Sprachwandel - nicht eher auf die Vitalität einer Sprache verweist Die zwei darauffolgenden Kriterien (definitely und severely endangered) sorgen für weitere Verwirrung, da deren Trennung voneinander nicht klar ist Offensichtlich ist hier von einem Abbruch der von Gaston Paris in den 1860er Jahren eingeführten Idee der Stafettenkontinuität die Rede, allerdings besteht ein Inklusionsbzw Kausalverhältnis zwischen den beiden Größen: Wenn eine Sprache, die severely endangered ist, nur noch in der ‹Großelterngeneration› als Erstsprache gesprochen wird, während die ‹Elterngeneration› nur noch über eine passive Kompetenz dieser Sprache verfügt und letztere nicht mehr an die ‹Kindergeneration› weitergibt, ist das Ergebnis dann nicht, dass diese die Sprache nicht mehr spricht, wie für definitely endangered 2_IH_Italienisch_74.indd 87 16.11.15 07: 55 8 8 Neapolitanisierung mal ganz anders… Sara Matrisciano / Margherita Maulella angegeben wird? Müsste dementsprechend definitely endangered nicht das einzig mögliche Ergebnis von severely endangered sein? Auch bezüglich der Kategorie critically endangered gibt es einiges anzumerken, es seien hier jedoch nur zwei Fragen gestellt, die auf die Gesamtdarstellung der Skala abzielen: Ist diese Kategorie das Ergebnis der vorangehenden ‹Stufen des Sprachverfalls›? Sind die Kriterien, nach denen eine Sprache als ‹vom Aussterben bedroht› klassifiziert wird, also in zeitlicher Abfolge zu verstehen? Bei näherem Blick auf Italien mit allen Suchkriterien fällt eine durch Keile markierte, sehr merkwürdige Verteilung ‹bedrohter› Dialekte und Sprachen auf, die sich unter Auslassung der alloglotten Sprachinseln wie folgt dartut: Im Norden findet man Piedmontese (definitely endangered), Lombard (definitely endangered), Friulian (definitely endangered), Venetan (vulnerable), Ligurian (definitely endangered) und Emilian-Romagnol (definitely endangered), während für Sardinien Campidanese, Gallurese, Logudorese und Sassarese als definitely endangered verzeichnet werden . 6 Mittelitalien sticht dadurch hervor, dass es ‹keilfrei› ist Hier stellt sich die Frage, wie dort die Sprachlandschaft aussieht und ob dort vitale Dialekte vorzufinden sind, die erwartungsgemäß nicht in einer Karte mit gefährdeten Sprachen aufgeführt werden Es drängt sich zudem die Frage auf, ob durch die Nicht-Aufzählung impliziert wird, dass dort - nur? - die selbstverständlich nicht ‹vom Aussterben bedrohte› Standardsprache gesprochen wird Für Sizilien wird lediglich Sicilian (vulnerable) und für das restliche, gesamte (! ) Gebiet Süditaliens, also südlich des Isoglossenbündels Rom-Ancona, South Italian angegeben South Italian ist als vulnerable markiert Diese Gliederung wirft weitere Fragen auf: Auf welcher empirischen Grundlage fußt die Klassifizierung der als ‹bedroht› eingestuften Dialekte? Was ist mit Bezeichnungen wie Sicilian, Lombard und Piedmontese gemeint: Basisdialekte, Regiolekte, regionale Umgangssprachen, Großraumdialekte oder Koinai? Außerdem stellt sich die Frage, wieso etwa Venetan als vulnerable aufgeführt wird, wo doch in der Forschung gerade Venetien als besonders dialektal und sprachlich konservativ hervorgehoben wird An dieser Stelle könnte man über die bereits angesprochene Frage diskutieren, ob ein Funktionswandel notwendigerweise als funktionelle Einschränkung ‹mit Todesgefahr› für eine Sprache zu interpretieren ist Doch richten wir unseren Blick noch einmal auf die Verteilung und Bezeichnungen der Dialekte Während die Dialektbezeichnungen im Norden an politisch-administrativen Grenzen ausgerichtet sind - ein diskussionswürdiges, aber übliches Vorgehen in der Sprachgeographie - wird für Süditalien eine im wissenschaftlichen Diskurs zumindest unübliche Nomenklatur gewählt: South Italian, angezeigt durch einen weißen Keil in Süditalien, der für das gesamte Gebiet Süditalien steht . 7 Klickt man auf diesen Keil, öffnet sich eine Tabelle, laut derer man in Kampanien, Lukanien, den Abruzzen, im Molise, in Nord- 2_IH_Italienisch_74.indd 88 16.11.15 07: 55 8 9 Sara Matrisciano / Margherita Maulella Neapolitanisierung mal ganz anders… kalabrien sowie Nord- und Zentralapulien, im Südlatium, den Marken und in Umbrien South Italian spricht Doch was ist damit gemeint? Handelt es sich hierbei um einen Dialekt, ist es eine Regionalsprache oder eine süditalienische Koiné? Dient die Nomenklatur als vereinfachender Oberbegriff, ein Passepartoutwort für all die verschiedenen Dialektvarietäten Süditaliens? Was auch immer davon zutreffen mag, South Italian ist laut UNESCO ‹vom Aussterben bedroht› und hat wohl an Funktionsbereichen eingebüßt Dies ist aus sprachwissenschaftlicher Perspektive mehr als merkwürdig, erfreuen sich doch gerade die süditalienischen Dialekte einer (meist) ungebrochenen Vitalität (vgl etwa Grassi et al 8 2007) Des Weiteren findet das Italienische zwar immer häufiger auch in Bereichen Verwendung, die vorher ausschließlich dem Dialekt vorbehalten waren, doch ist gerade in den neuen Medien sowie in Filmen, Musik, Fernsehen, im Marketingbereich, in der Werbung, Gastronomie u .v .m ein Anstieg des Dialektgebrauchs zu verzeichnen . 8 Hier scheint das linguistische Verständnis in Bezug auf Sprachwandelprozesse zu fehlen Aus der Tatsache, dass eine Sprache oder ein Dialekt bestimmte klassische Funktionsbereiche verliert, zu schließen, diese oder dieser sei ‹vom Aussterben bedroht›, ohne die Bereiche zu berücksichtigen, in denen sich diese Sprache oder dieser Dialekt ausbreitet, ist ein linguistischer Fauxpas Außerdem muss hervorgehoben werden, dass die Progression der Italophonie nicht die Regression der Dialektophonie nach sich ziehen muss In vielen Gebieten Süditaliens zeigt sich vielmehr eine Kompetenzerweiterung der Sprecher, die sowohl das Italienische als auch ihren jeweiligen Dialekt oder dialektale Elemente - wenn auch mit ganz unterschiedlichen Funktionen - verwenden Auch an dieser Stelle muss man fragen, ob ein bzw welcher Zusammenhang zwischen Funktionswandel und Vitalität besteht Dies scheint ein grundsätzliches Problem zu sein, das sich im Atlas of the World’s Languages in Danger ergibt, weshalb wir an dieser Stelle lediglich anmerken möchten, dass unseres Erachtens Funktionswandel (wie jede Form von Sprachwandel) als Zeichen für die Vitalität einer Sprache zu verstehen ist, da sich nur tote Sprachen nicht mehr verändern Dialekte bzw Sprachen unterliegen Umbauschüben, die nicht zwangsweise deren ‹Tod› mit sich bringen Zwar wurde der erwartete ‹Dialekttod› auch in der italianistischen Forschung zum regelrechten Leitmotiv (vgl Sobrero 1978), doch ist dieser Ansatz aus soziolinguistischer Perspektive überholt (vgl dazu beispielsweise D’Agostino 2007) Die Dialektlandschaft und Varietätenarchitektur Italiens befinden sich im Wandel (vgl Sobrero 1997) und Sprachdynamiken sind, wie Radtke (1995: 44) treffend mit der aus der Biologie entlehnten Metapher der Anpassungsfähigkeit der Arten beschreibt, immer als Wandlungsprozesse anzusehen Vielleicht wäre es daher sinnvoll, nicht in starren (variationslinguistischen) Kategorien zu denken Warum die UNESCO eine dermaßen pessimistische Sicht 2_IH_Italienisch_74.indd 89 16.11.15 07: 55 9 0 Neapolitanisierung mal ganz anders… Sara Matrisciano / Margherita Maulella Sprachwandeltendenzen gegenüber zeigt, können wir nicht nachvollziehen, weist doch einer der führenden Soziolinguisten Italiens gerade darauf hin, dass «un motto di molti parlanti nell’Italia alle soglie del terzo Millennio sembra essere ‹ora che sappiamo parlare italiano, possiamo anche (ri)parlare dialetto›» (Berruto 2002: 48) Zahlreiche Dialekte Süditaliens haben zudem - trotz Italianisierung - niemals einen Funktionsverlust oder gar Bruch in der mündlichen Alltagskommunikation erfahren und sind heute auch (größtenteils) ihrer Stigmatisierung entbunden . 9 Gemischte Sprachproduktionen sind daher im heutigen Süditalien normal geworden Trifone (2007: 184) formuliert deshalb die Aussage Berrutos prägnant um: «Ora che sappiamo parlare italiano, possiamo anche alternarlo e mescolarlo con un po’ di dialetto» Diese Sprachwandeltendenz bedroht die italienischen Dialekte nicht etwa, vielmehr festigt sie deren Position im italienischen Varietätengefüge Nur ein starrer Blick auf Sprachen und Dialekte als feste Varietäten, die sich auf bestimmte Funktionsbereiche beschränken und kein Ineinandergreifen mit anderen Varietäten erlauben, lässt den Rückschluss zu, South Italian sei vulnerable Völlig abwegig erscheint aber das nächste Kuriosum dieses Atlasses: Als alternative Bezeichnungen für die in den oben aufgezählten Regionen Mittel- (! ) und Süditaliens gesprochene ‹Sprache› South Italian werden Neapolitan und Neapolitan-Calabrese aufgeführt Ebenfalls kurios sind die angegebenen Übersetzungen; während es im Französischen auch italien du sud heißt, werden für das Spanische und das Russische Neapolitanisch-Kalabresisch (napolitano-calabrés und южно-итальянский ) angegeben Bereits die Subsumierung der Varietäten Kampaniens, Lukaniens, der Abruzzen, des Molise, Nordkalabriens, Nord- und Zentralapuliens, des Südlatiums, der Marken und Umbriens unter South Italian trägt die über ein halbes Jahrhundert andauernde dialektologische Forschung und deren Ergebnisse zu Grabe Wieso wird die Dialektvielfalt ausgerechnet auf das Neapolitanische bzw das Neapolitanisch-Kalabresische reduziert? Radtke (1993: 445) weist darauf hin, dass es für die Region Kampanien aufgrund mangelnder dialektologischer Erkenntnisse - also vor der sprachwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Gebiet - üblich war, für alle Dialekte Kampaniens den Begriff Neapolitanisch zu verwenden Doch ist dieser Modus Procedendi aus dialektologischer Perspektive längst überholt Wird dem neapolitanischen Stadtdialekt im besprochenen Atlas eine Sonderstellung zugeschrieben, wie es in vorwissenschaftlicher Zeit üblich war oder handelt es sich hierbei um eine historisch verankerte Nomenklatur, die sich auf das Regno delle Due Sicilie mit Neapel als Hauptstadt bezieht? Doch wieso dann Kalabresisch? Zumindest scheinen unsere Annahmen im öffentlichen Bewusstsein nicht völlig absurd zu sein oder aber diese Zuschreibungen haben sich bereits auf das öffentliche Bewusstsein ausgewirkt Konsultiert man nämlich die 2_IH_Italienisch_74.indd 90 16.11.15 07: 55 91 Sara Matrisciano / Margherita Maulella Neapolitanisierung mal ganz anders… deutsch- und englischsprachigen Wikipedia-Artikel zum Neapolitanischen - so man diese als ‹öffentliches Bewusstsein› klassifizieren kann - fallen folgende Sätze besonders ins Auge: «Das Neapolitanische ist die Mutter der kampanischen Dialekte, die sich von Stadt zu Stadt unterscheiden» und «Neapolitan is the language of much of southern continental Italy, including the city of Naples» . 10 Dieser englischsprachige Passus bezieht sich explizit auf den Atlas der UNESCO Nun ja, auf eine sprachliche Neapolitanisierung 11 des Umlandes von Neapel verweist u .a Radtke (1997), doch geht die Neapolitanisierung in den hier besprochenen Sprachkarten unseres Erachtens buchstäblich zu weit Neapolitanisch oder Neapolitanisch-Kalabresisch als Sprache oder Dialekt ganz Süditaliens (mit Ausnahme Siziliens und Südkalabriens) und Teilen Mittelitaliens anzunehmen, entbehrt jeglicher sprachwissenschaftlicher Grundlage Durch diesen Atlas wird ein falsches, laienlinguistisches Wissen verbreitet, das aufgrund der positiven Reputation der UNESCO eine große Ausstrahlungskraft hat Das Beispiel der englischsprachigen Wikipedia-Seite zeigt, wie ernst die UNESCO als Quelle genommen wird In diesem Fall hat sie jedoch ihren öffentlichen Bildungsauftrag verfehlt Daher ist es umso wichtiger zu fragen, warum für den Atlas of the World’s Languages in Danger offensichtlich auf Informationen aus einschlägigen dialektologischen Beiträgen und/ oder das Einholen italianistischer Expertise verzichtet und stattdessen in Kauf genommen wurde, (geo-)linguistisch buchstäblich danebenzuliegen Sara Matrisciano / Margherita Maulella Anmerkungen 1 An dieser Stelle möchten wir uns herzlich bei allen Teilnehmern der diesjährigen Konferenz in Sappada/ Plodn bedanken, da dieser Beitrag nur deshalb zustande kommen konnte, weil die Übersicht der gefährdeten Sprachen, die die UNESCO herausgibt, dort Thema war und für lebhafte Diskussionen sorgte . Besonders die Anmerkungen von Lorenzo Còveri, Nicola De Blasi und Roberto Sottile fungierten als Anstoß für die vorliegende Darstellung . Wir danken außerdem Sandra Hajek und Till Stellino für die wertvollen Kommentare zum vorliegenden Beitrag 2 Stellvertretend für andere: Grassi et al . 2007, D’Agostino 2007, De Mauro 2003 [1963], G . Marcato 2011, Loporcaro 2009, Marcato 2002 3 Der vorliegende Beitrag skizziert lediglich einige Gedanken, die den Ausgangspunkt für einen größer angelegten Artikel bildeten, in dem die Sprachkarten und Einteilungskriterien des Atlas of the World’s Languages in Danger kritisch diskutiert werden, s . Matrisciano et al . (i . Vorb .) 4 Online verfügbar unter: http: / / www unesco org/ languages-atlas/ index php? hl=en&page=atlasmap (zuletzt abgerufen am 23 .9 .2015) 5 Alle in diesem Beitrag aufgeführten Termini und Definitionen sind (wörtlich) der Homepage (vgl . Fußnote 4) entnommen . Von der Übersetzung der Sprach- oder Dialektbezeichnungen wird an dieser Stelle sowie im gesamten Beitrag abgesehen, da die Nomenklaturen für unsere Überlegungen relevant sind 2_IH_Italienisch_74.indd 91 16.11.15 07: 55 92 Neapolitanisierung mal ganz anders… Sara Matrisciano / Margherita Maulella 6 Die punktuelle Verortung der genannten Dialekte (bzw . Sprachen) durch die Keile ist ein grundsätzliches Problem dieser Darstellung, da Dialektgebiete nicht punktuell abgebildet werden können . Auf diese Weise ist nicht ersichtlich, wo diese Dialekte (bzw . Sprachen) zu verorten sind und es stellt sich die Frage, ob die politisch-administrativen Grenzen automatisch auch als Sprachgrenzen fungieren 7 Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass die Keile wohl nur als approximative Zeichen zu verstehen sind . Bei South Italian ist dies besonders deutlich, da die Nahansicht zeigt, dass sich der Keil in einem eher unbesiedeltem Gebiet befindet (bei Terzo di Mezzo I, mitten im Gebirge) . Grundsätzlich ist es problematisch, Dialektareale punktuell (z . B . durch Keile) anzugeben . Vgl . dazu Fußnote 6 8 Stellvertretend für andere: Bianchi/ Maturi 2006, D’Agostino 2007, De Blasi 2006, di Bernardo 2006, Grimaldi 2005, 2006, Settembre 2006, Scholz 1998, Stellino 2010, 2012, Stomeo 2007, Trifone 2007, Trifone/ Picchiorri 2007 . Auch in den jugendsprachlichen Varietäten beispielsweise ist ein Anstieg des Dialektgebrauchs bzw . der dialektalen Elemente zu beobachten (vgl . z . B . Marcato 2002: 47-52) 9 Stellino (2010: 97) zeichnet die Entwicklung nach, wie es zu einer Dialektstigmatisierung kam, die in Italien lange zu einer Diglossiesituation führte . Im Zuge der Italianisierung wurde die (reine) Dialektophonie mit Antiquiertheit, Bildungsferne und mangelnder Standardbeherrschung assoziiert und der Dialekt in (semi-)formellen Kommunikationssituationen gesellschaftlich geächtet . Stellino (ebd .) führt weiter aus, dass die Dialekte erst nach und nach wieder an Prestige gewannen und darüber hinaus als zu erhaltendes Kulturgut, in manchen Fällen sogar als «Quelle von Stolz», angesehen wurden 10 Wikipedia leitet diese reduktionistische Nomenklatur (ohne Angabe einer bestimmten Quelle) tatsächlich historisch ab, indem ausgeführt wird: «It [Neapolitan] is named not after the city, but after the Kingdom of Naples, which once covered most of this area and of which Naples was the capital» 11 Radtke (1997) versteht darunter die Ausbreitung typisch stadtneapolitanischer Elemente auf die Dialekte der umliegenden Gebiete Literaturangaben Berruto, Gaetano (2002): «Parlare dialetto in Italia alle soglie del Duemila», in: La parola al testo, hrsg . v . Gian Luigi Beccaria . 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Padua: Unipress, S . 411-16 2_IH_Italienisch_74.indd 92 16.11.15 07: 55 93 Sara Matrisciano / Margherita Maulella Neapolitanisierung mal ganz anders… Grimaldi, Mirko (2006): «Il dialetto sopravvive in rete… e in rap», in: Italienisch Zeitschrift für italienische Sprache und Literatur (56), S . 84-94 Grassi, Corrado/ Sobrero, Alberto/ Telmon, Tullio ( 8 2007): Fondamenti di dialettologia italiana . Roma: Laterza Loporcaro, Michele (2009): Profilo linguistico dei dialetti italiani . Rom: Laterza Marcato, Carla (2002): Dialetto, dialetti e italiano . Bologna: il Mulino Marcato, Gianna (2011): Guida allo studio dei dialetti . Padua: Cleup Matrisciano, Sara/ Maulella, Margherita/ Wolny, Matthias (i . Vorb .): «Die italienische Sprachlandschaft im Atlas of the World’s Languages in Danger - Überlegungen, Anmerkungen, und Kritik» (Arbeitstitel) Radtke, Edgar (1997): I dialetti della Campania . Roma: Il Calamo Radtke, Edgar (1995): «Il problema della regressione dialettale», in: Dialetti e lingue nazionali (Lecce, 28-30 ottobre 1993), hrsg . v . Maria Teresa Romanello und Immacolata Tempesta, Roma: Bulzoni, S . 43-54 Radtke, Edgar (1993): «Zur Klassifizierung der kampanischen Mundarten», in: Verhandlungen des Internationalen Dialektologenkongresses Bamberg 1990, hrsg . v . Wolfgang Viereck . Stuttgart: Steiner, S . 444-457 Scholz, Arno (1998): Neo-standard e variazione diafasica nella canzone italiana degli anni Novanta . Frankfurt: Lang Settembre, Maria (2006): «Dialetto napoletano in rete», in: Lo spazio del dialetto in città, hrsg . v . Nicola De Blasi und Carla Marcato . Neapel: Liguori, S . 65-73 Sobrero, Alberto A . (1997): «Varietà in tumulto nel repertorio linguistico italiano», in: Standardisierung und Destandardisierung europäischer Nationalsprachen, hrsg v . Klaus J . Mattheier und Edgar Radtke, Frankfurt: Lang, S . 41-59 Sobrero, Alberto A . 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