eJournals Forum Modernes Theater 23/1

Forum Modernes Theater
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Narr Verlag Tübingen
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2008
231 Balme

Alexander Nebrig: Rhetorizität des hohen Stils. Der deutsche Racine in französischer Tradition und romantischer Modernisierung. Münchner Universitätsschriften. Münchner Komparatistische Arbeiten. Herausgegeben von Hendrik Birus und Erika Greber. Band 10. Göttingen: Wallstein 2007, 448 Seiten.

2008
Katharina Keim
72 Rezensionen affektives Kalkül verfügte, welches der Ästhetik des Idealismus und den Regeln von Sublimation und Mäßigung zu wider läuft. Das zweite Kapitel über den Schauspieler behandelt ebenfalls das Affekte-Thema. Dabei setzt Pikulik mit dem Dualismus von Seele und Körper, von Innen und Außen im Rekurs auf die bekannten Überlegungen von Lessing (zu Sainte Albine, 70ff), Engels Ideen zu einer Mimik (72ff) und Goethes Regeln für Schauspieler (76ff) ein. Die sich anbietende Differenzierung von Schauspieler, Rolle (Form), Körper und Verkörperung im Anschluss an seine Diderot-Lektüre (88ff) fällt jedoch bei Pikulik in statische Konzepte der Figur und des Schauspielers zurück. Zwar verweist er mit Recht auf die konstitutive Funktion der Erinnerung für die schauspielerische Darstellung, welche Schiller erkannt habe (92), jedoch arbeitet er die paradoxale Problematik der Schauspielkunst im Sinne Diderots an Schillers Schriften nicht heraus, wenn er konstatiert “Nicht der Affekt soll über den Schauspieler verfügen, sondern der Schauspieler über den Affekt” (92). Wenn Diderot allerdings von der “Komödie des Lebens” spricht, also alltägliches Rollenverhalten einbezieht und schließlich sich selbst als Dialogpartner und zugleich allwissender Autor und als bekennender Sentimentalist in das Paradoxon einbezieht, wie dies etwas Lacoue-Labarthe (2003) und Heeg (2000) hervorgehoben haben, dann kann von einer Verfügungsgewalt (des Schauspielers über den Affekt) nicht die Rede sein. Das letzte Kapitel “Inszenierung” ist dem Produktionsapparat ‘Theater’ gewidmet, welcher uns heute in Form der Regie und Dramaturgie als den maßgeblichen Selektions- und Übersetzungsinstanzen geläufig ist und der den Medienwechsel vom dramatischen Text hin zum Aufführungstext bestimmt. Pikuliks Lektüre des Stoff- und Formbegriffs kann hier überzeugen, wenn er die Bühne als Medium für die Dramatik bestimmt und damit den Vorrang des Dramas vor der Aufführung hinterfragt. Wie er zeigt, stellt sich das Theater nicht nur in den Dienst der Dichtung, sondern fordere umgekehrt “die Anpassung an die Bedingungen der Bühne” (146). Diese Bedingungen verdeutlicht er am Begriff der “Autonomie” und konkret sprachlich an Hand von Schillers historischen Dramen und der Rückkehr zum Versmaß. Pikuliks Begrifflichkeit von Stoff und Form ist gut gewählt, insofern sie Schillers Überlegungen auf dem Stand aktueller Kunst- und Medientheorie zugänglich macht. Der Band bietet daher einen guten und konzisen Einstieg zu Theater- und Kunstkonzeption Schillers. In welcher Weise man die Autonomieästhetik Schillers, seine Anthropologie des Spiels und seine Theaterpraxis weiter erforschen könnte - dies wäre ein weiteres Projekt, dem Pikuliks Studie freilich als willkommenes Arbeitsbuch dienen kann. München W OLF -D IETER E RNST Alexander Nebrig: Rhetorizität des hohen Stils. Der deutsche Racine in französischer Tradition und romantischer Modernisierung. Münchner Universitätsschriften. Münchner Komparatistische Arbeiten. Herausgegeben von Hendrik Birus und Erika Greber. Band 10. Göttingen: Wallstein 2007, 448 Seiten. Nebrig begibt sich in seiner komparatistischen Dissertation zu exemplarischen, zwischen Ende des 17. und zu Beginn des 19. Jh.s. verfassten deutschen Übersetzungen der Dramen Jean Racines auf das von der Theaterwie auch der Literaturwissenschaft bislang weitgehend unerschlossene Gebiet der Dramenübersetzung. Dieses wurde bislang fast nur vom Göttinger SFB Literarische Übersetzung sowie in einer Reihe von Einzelstudien wissenschaftlich bearbeitet. Innerhalb der Übersetzungstheorie kommt Theatertexten bekanntlich eine Sonderstellung zu, stehen sie doch aus heutiger Sicht im Spannungsfeld zwischen den Anforderungen an die Lesbarkeit der gedruckten Ausgabe einerseits und der Spielbzw. Sprechbarkeit auf der Bühne andererseits. Eben diese medial unterschiedliche Wirkungsintention von der “Deklamation zur Lektüre” umreißt der Autor mit dem Terminus der “Rhetorizität” (11), womit nicht allein das Dargestellte sondern gleichzeitig auch die Darstellungsweise deskriptiv erfasst werden soll. Zwar rekurriert Nebrigs Untersuchung überwiegend auf die traditionelle Termino- Forum Modernes Theater, Bd. 23/ 1 (2008), 72-74. Gunter Narr Verlag Tübingen Rezensionen 73 logie der Rhetorikforschung, doch wird diese ergänzt um die Kategorie der Performanz. Fokussiert wird damit der jeweilige intendierte Präsentationsbzw. Rezeptionsmodus als Aufführung bzw. Leseakt, der die Textualität der Übersetzungen in syntaktischer, metrischer und prosodischer Hinsicht determiniert. Eben dieses Verfahren erweist sich sowohl aus literaturwie auch aus theaterwissenschaftlicher Perspektive als äußerst fruchtbar. Ausgangsthese ist, dass für die deutschen Racine-Übersetzungen zwischen dem späten 17. und dem frühen 19. Jh. zwei “Übersetzungswellen” (19) auszumachen sind: In der ersten Phase bewahren die - im Rezeptionskontext einer zumindest intendierten Aufführung verfassten und höchstens in Einzeldrucken publizierten - Übertragungen stets das Versmaß des gereimten Alexandriners. Spätestens 1770 hat die französische klassizistische Tragödie ihren von Gottsched propagierten Vorbildcharakter für die Etablierung einer deutschen Schaubühne jedoch endgültig eingebüßt: Mit ihrer Ablösung durch das Modell der englischen Dramatik, insbesondere Shakespeares, geht ein entscheidender Wandel in der Übersetzungspraxis einher: Vorherrschendes Versmaß der Racine-Übersetzungen ist nun der Blankvers. Doch trotz metrischer Angleichung sieht sich das hohe Trauerspiel französischer Provenienz weitestgehend aus der Theaterpraxis verdrängt; nur höchst selten finden diese Werke jetzt, wie Nebrig akribisch anhand von Aufführungsdokumenten belegt, den Weg auf die Bühne. Im Bewusstsein der deutschen ästhetisch gebildeten Öffentlichkeit bleibt die klassizistische französische Tragödie von nun an durch Lektüre präsent, wozu der sich im 18. Jh. entwickelnde Buchmarkt und die Veränderungen im Schullektürekanon entscheidend beitragen. Neben dieser medialen Determinierung von Übersetzungen im Kontext der (intendierten) Aufführungspraxis oder der Lesekultur wandelt sich im letzten Drittel des 18. Jh.s. überdies das Selbstverständnis von poetischer Übersetzung grundlegend. Diente diese (wie etwa noch die erste deutsche 1766 anonym erschiene Gesamtausgabe von Racines Dramen) der “Vermittlung” des Originals, so nimmt im ausgehenden 18. Jh. die Übersetzung selbst den Stellenwert eines “Originals” ein, versteht sich also als Produkt eines hermeneutischen Prozesses. Sowohl das mediale wie auch das übersetzerische Kriterium sind nach Nebrig als Signum eines kulturhistorischen Wandels der Poetologie, in deren Rahmen Rezeption und Produktion untrennbar miteinander verbunden sind, anzusehen: Während das genus grande bis etwa zur Mitte des 18. Jh.s rhetorisch (und damit medial deklamatorisch) definiert war und mehr oder weniger universale Gültigkeit beanspruchen konnte, zeichnet sich ab der Jahrhundertmitte eine Verschiebung ab: Stilfragen werden nun auf nationaler Ebene diskutiert und zudem sozial relativiert, das rhetorische Verständnis des genus grande weicht einem ästhetischen (88ff). Der Akzent verlagert sich quasi von einer Rhetorik des deklamierten Affekts hin zu einer Ästhetik des literarischen sublimen Effekts, also vom Pathos der sprachlichen Darstellung selbst hin zur (ästhetisch intendierten) pathetischen Wirkung des sprachlich Dargestellten. Damit fundiert Nebrig seine Eingangshypothese, wonach die Analyse poetischer Übersetzungscorpora sowohl Aufschlüsse über die Genese so genannter Nationalliteraturen bzw. -philologien wie auch zur stilgeschichtlichen Entwicklung einer bestimmten literarischen Gattung geben kann (17). Dieser mehrschichtigen Frage des Wandels der Rhetorizität versucht der Autor im zweiten Teil seiner Studie in drei vergleichenden Untersuchungen der jeweils ersten (den gereimten Alexandriner beibehaltenden und die Zäsur berücksichtigenden) und zweiten (in den Blankvers übertragenen) “Übersetzungswelle” nachzugehen: Racines religiösem Drama Athalia in der Übersetzung von Bressand (1694) und Cramer (1786); Iphigenia in den Übersetzungen von Gottsched (1733) und Ayrenhoff (1804) sowie der Phädra von Stüven aus dem Jahre 1749 (den Nebrig hier - im Gegensatz zur bisherigen Forschung, welche die Übertragung einem Anonymus zuschreibt - als Übersetzer belegt) und derjenigen Schillers (1805). Dabei steht der Autor vor dem Dilemma, die für die Deklamation bestimmten Übersetzungen aus der Zeit vor der Mitte des 18. Jh.s. auf Grund der Quellenlage kaum hinsichtlich der actio erfassen zu können. Entsprechend konzentriert er sich auf die dispositio exemplarischer Tiraden und im Bereich der elocutio auf rhetorische Figuren und Syntax. 74 Rezensionen Dabei erweisen sich die älteren, das Korsett des Alexandriners wahrenden Übersetzungen in prosodischer wie auch syntaktischer Hinsicht als überraschend adäquat; in den spärlichen zitierten Aufführungsbelegen wird der Höreindruck der Deklamation als erstaunlich prosanah beschrieben. Die hier konstatierte “Vermessung der Rede” (341) kontrastiert mit einer weitgehenden Tilgung der Rhetorik in der dramatischen Rede (im Sinne einer Preisgabe sprachlicher Ordnungsschemata) in den jüngeren Übersetzungen. In letzteren wird damit eine neue, poetologisch für Racine wie auch soziokulturell vor Mitte des 18. Jh.s. kaum relevante Kategorie erschlossen, nämlich die der (primär sprachlich basierten) Psychologisierung der Charaktere. Trotz weitgehender Ausblendung der Schauspielpraxis des 18. Jh.s. mit ihrem Wandel vom deklamatorisch-rhetorischen zum ‘natürlichen’ Schauspielstil gelingt es Nebrig auf äußerst eindrucksvolle Weise, poetologische, mediale und damit verbunden sprachlich-performative Aspekte der Theaterkultur des 18. Jh.s. auf der Basis von Übersetzungsvergleichen zu erschließen und damit nicht nur einen entscheidenden Beitrag zur Rezeptionsgeschichte der französischen Klassik im deutschsprachigen Raum zu leisten, sondern überdies auch den Materialfundus für weitere Forschungen bereit zu stellen: Der dritte Teil der Studie bietet ein wunderbar ausführliches, für Theaterwissenschaftler, Übersetzer und Philologen gleichermaßen hilfreiches Repertoire-Verzeichnis der Racine-Aufführungen im deutschsprachigen Raum bis 1841 sowie eine annotierte Übersetzungsbibliographie bis 1846. München K ATHARINA K EIM Wilfried Floeck, María Francisca Vilches de Frutos (Eds.): Teatro y Sociedad en la España actual. Teoría y práctica del teatro 13. Madrid: Iberoamericana, 2004, 391 Seiten. Dieser Sammelband umfasst 25 Beiträge, die im September 2003 anlässlich des internationalen Symposiums zum Thema Teatro y Sociedad en la España actual in Schloss Rauischholzhausen präsentiert wurden. Damit gliedert er sich in eine ansehnliche Reihe von Titeln ein, die sich in den letzten Jahren aus verschiedenen Blickwinkeln der Frage nach neueren Entwicklungen im spanischen Gegenwartstheater gewidmet haben. Den roten Faden für den vorliegenden Sammelband legen die Herausgeber mit ihrer Ausgangsthese, im aktuellen spanischen Theater zeichne sich inhaltlich die Tendenz zu einem verstärkten politischen und gesellschaftskritischen Engagement ab. Zugleich sei in formaler Hinsicht eine Abkehr von einer naturalistischen Realitätsdarstellung erkennbar sowie eine Hinwendung zu innovativen ästhetischen Experimenten, die sich u.a. in einer Fragmentarisierung der Handlungsstruktur und der Auflösung der traditionellen Protagonistenrolle niederschlügen. Die Herausgeber werten diese Phänomene als Reflex einer neuen gesellschaftlichen Realität und als “nuevas formas de la estética teatral posmoderna” (12), wenngleich - was den Rezensenten nicht überrascht - eine konsensfähige Definition des umstrittenen Begriffs der Postmoderne gar nicht erst in Angriff genommen wird. Die Beiträge stammen von einer internationalen Autorenschaft (mit Vertretern aus Spanien, Deutschland, USA, Frankreich, Großbritannien, der Schweiz und Italien) und gliedern sich thematisch in die drei folgenden Abschnitte: I. Teatro y democracia: Cambios sociopolíticos y gestión cultural. II. Canon autorial y escénico: Lo sociopolítico como elección dramática. III. La renovación de los lenguajes teatrales: Discursos textuales y escénicos. Abschnitt I umfasst zwei Beiträge, die zum einen die negativen Auswirkungen des institutionellen und kulturpolitischen Umfelds auf die Theaterproduktion zu dokumentieren versuchen (M.F. Vilches de Frutos) und zum anderen die Arbeit des halb öffentlichen und halb privaten Madrider Teatro de La Abadía unter der Leitung von José Luis Gómez vorstellen (Antonio B. González). Abschnitt II widmet sich der Analyse von Werken, in denen die sozio-politische Komponente eine herausgehobene Rolle spielt. So untersucht Dieter Ingenschay u.a. am Beispiel der Stücke Forum Modernes Theater, Bd. 23/ 1 (2008), 74-76. Gunter Narr Verlag Tübingen