eJournals Forum Modernes Theater 24/1

Forum Modernes Theater
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2196-3517
Narr Verlag Tübingen
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2009
241 Balme

Gabriele Brandstetter, Bettina Brandl-Risi, Kai van Eikels (Hgg). SchwarmEmotion. Bewegung zwischen Affekt und Masse. Rombach-Wissenschaften. Reihe Scenae. Bd. 3. Freiburg i.Br. u.a.: Rombach, 2007, 335 Seiten.

2009
Katja Schneider
Rezensionen 95 Gabriele Brandstetter, Bettina Brandl-Risi, Kai van Eikels (Hgg). SchwarmEmotion. Bewegung zwischen Affekt und Masse. Rombach-Wissenschaften. Reihe Scenae. Bd. 3. Freiburg i.Br. u.a.: Rombach, 2007, 335 Seiten. Der Begriff des ‘Schwarms’ hat Konjunktur. Aus dem biologischen Bereich wurde er übertragen auf politische, soziale sowie kulturelle Phänomene und hat gute Aussichten, zu einem kulturwissenschaftlichen Paradigma zu werden. Das Phänomen der Selbstorganisation eines dynamischen Kollektivs, die nicht nach hierarchischen, vorhersehbaren Regeln verlaufe und sich zudem einer exakten Bestimmung entziehe, scheint attraktiv für Adaptionen zu sein, gerade auch für Disziplinen, die sich mit Konzepten von ‘Bewegung’ beschäftigen. Der Sonderforschungsbereich Kulturen des Performativen an der FU Berlin legt nun Aufsätze vor, die zwischen 2005 und 2007 zum Thema ‘Bewegung, Rhythmus, Raum’ entstanden sind, organisiert unter dem mehrdeutigen Titel-Kompositum SchwarmEmotion zu Bewegung zwischen Affekt und Masse. Nach einer sechzig Seiten starken, von den Herausgebern und Ulrike Zellmann verfassten Einleitung, in der Fragestellungen des Forschungsvorhabens aufgefächert werden, widmen sich die sechs Beiträge im ersten Teil des Buchs dem Phänomen ‘Schwarm’, die sechs Beiträge im zweiten Teil der ‘(E)Motion’. Gabriele Brandstetter, Initiatorin des Projekts, macht in ihrem Beitrag über Schwarm und Schwärmer. Übertragungen in/ als Choreographie deutlich, worin die Produktivität des Schwarm-Begriffs für die Forschung zu Theater, Tanz und Performance liegt: “Die […] Minimal-Definition von Schwarm- Bewegung formuliert Basis-Regeln der Angleichung und Ausrichtung, die das Verhältnis von Einzelnem und Menge (Schwarm) stets neu als Einheit definieren. Zugleich wird aus dieser Bewegungs-Steuerungs-Anleitung deutlich, dass das Phänomen des Schwarms nicht exakt zu definieren und abzubilden ist. Eben diese Unschärfe und Unvorhersehbarkeit markieren ein entscheidendes Strukturmoment der Performativität von Schwärmen” (69). Die notwendige Unschärfe in der Beschreibung des Phänomens und dessen dynamische, nicht-mimetische, ephemere, emergente Erscheinung (im Rekurs auf Hans Ulrich Gumbrecht, der mit einem kursorischen Text ebenfalls in diesem Band vertreten ist) verbänden den Schwarm mit der theatralen Performance. Gleichzeitig erlaubt der Gegenstand bzw. dessen Zugehörigkeit zum semantischen Feld des ‘Schwärmens’, mithin also der Affekttheorie, ein zentrales Problem der neueren theaterwissenschaftlichen Forschung in den Blick zu nehmen, nämlich die emotionale (movere) und kinästhetische Affiziertheit des Betrachters/ Beobachters/ Teilhabers. Der Beobachter eines Schwarms, so Brandstetter, sei mit diesem “co-emergent” (73). Schwarm und Schwärmen eröffneten eine “Umspringzone zwischen Überblicks-Figur und Ein- Pendeln in eine Kollektiv-Körperbewegung” (91). Erläutert wird dies am Beispiel eines inszenierten dargestellten ‘Schwarms’, dem “Walzer der Schneeflocken” im Ballett Der Nussknacker von 1892, sowie der zeitgenössischen Choreographie Verosimile von Thomas Hauert, in der über den Prozess der Synchronisierung des Gehens der Betrachter “in einer Situation der Übertragung […] im ‘Pendeln’ von außen und nach innen einbezogen ist”. (91) Die Bewegtheit des Betrachters wirkt auf das Ereignis zurück. Kai van Eikels Beitrag Diesseits der Versammlung. Kollektives Handeln in Bewegung: Ligna, “Radioballett” erhellt diese dynamische Übertragungsbeziehung am Beispiel einer Performance der Gruppe Ligna, die im Mai 2002 für eine Viertelstunde auf dem Hamburger Hauptbahnhof ein Radioballett organisierte. Per Radiosendung wurden die Teilnehmer zu bestimmten Bewegungen aufgefordert, die sie auf dem Bahnhofsgelände ausführten und so in das Alltagsgeschehen intervenierten: “[Das Radioballett] erprobt, welche Wirkungen es haben kann, wenn man sich nur bewegt. Es verwendet die Bewegung als Medium der Übertragung von Impulsen zur Bestimmung und Bewertung von Anwesenheit. Teilnehmende auf der einen Seite, Zuschauer auf der anderen - die Erfahrung, sich jeweils so zu bewegen, wie sie es tun, vermittelt beiden, in welchem Maße sie dort sind, wo sie sind” (108). Forum Modernes Theater, Bd. 24/ 1 (2009), 95-96. Gunter Narr Verlag Tübingen 96 Rezensionen Die Passanten wurden - als Angehörige einer anonymen Masse - mit einer “lokalen Mehrheit von Vernetzten” (111) konfrontiert, einem Schwarm-Phänomen. Van Eikels glückt hier gleichermaßen eine treffende Beschreibung eines Phänomens wie die Anwendung und Problematisierung der zu Grunde gelegten Fragestellung. Das gelingt nicht in allen Beiträgen: So ist etwa Marc Glödes Text Verschlungene Bewegungen und Farben: Filme, Tänze, Farblichtspiel, eine Kurzdarstellung zu Kinetik und Farbe im frühen und im Avantgarde-Film, informativ, passt aber nur oberflächlich zu den spezifischen Aspekten des Schwarm-Konzepts und bringt auch (beispielsweise zum Thema Tanz im Film, zu Loïe Fuller) keine neuen Erkenntnisse. Bettina Brandl-Risi, die dritte Herausgeberin, nimmt einen Ausschnitt aus Thomas Bernhards Gehen zum Anlaß, aus dessen “Übertragungsszenario von äußerer Bewegung auf die Bewegung des Denkens” (302), weiterdrehend, ein Konzept zu Lektüren in Bewegung zu entwickeln. Sie nimmt movere als “ein Bewegen/ Bewegt-Werden ohne Ziel” (303), um, wie ihr Titel formuliert, ein Szenario der Effekte virtuoser Dynamisierungen des Lesens zu entwerfen. Dass “Denken nichts mit Geschwindigkeit zu tun hat”, so wiederholt im Bernhard-Text (301f), damit setzt sie sich nicht auseinander. Die Begeisterung, aus der Sozio-Biologie und anderen Paradigmata neue Horizonte für die eigene Disziplin zu gewinnen, prägen die heterogenen, vielfältigen Beiträge dieses Bandes. Eine Problematisierung leistet Christel Weiler, die ein szenisches Projekt zur Schwarmdynamik leitete und resümiert: “Ist es nicht immer schon eine Projektion von Bildern des Gelingens und reibungslosen Funktionierens, die wir auf Schwärme projizieren? ” Die Beschäftigung mit dem ‘Schwarm’ also als Rückübertragungsphänomen und “letzte Utopie” (156)? Statt die einzelnen Beiträge, die im Bezugsfeld des Forschungsprojekts entstanden sind, vorzustellen, möchte ich - um im Bild zu bleiben - auf deren Movens sowie die konstatierte Begeisterung über das Schwarmphänomen eingehen. Denn wie die Titelformulierung schon anzeigt, liegt in der Spannbreite der komponierten Begriffe von ‘Schwarmmotion’ bis ‘Emotion’ der Hauptfokus auf dem Phänomen der Übertragung, auf dem Zusammendenken von innerer und äußerer Bewegung: ‘E-Motion’. In der Einleitung wird vom “Effekt der Übertragung” (13f, 24 u.ö.) ausgegangen und so Bewegung von der Übertragung her aufgefasst, als ein Wirkendes, das “stets in einer anderen Bewegung” (14) mündet. Anders sei sie nicht zu fassen: “Bewegungen […] lassen sich nur durch Bewegungen beobachten” (15). Eine solcherart performative Auffassung prägt auch die Bemühungen um eine Affekttheorie der Bewegung. Ein perspektivierendes Referat von movere-Diskursen der antiken Rhetorik und des 18. Jahrhunderts, das Shiften zwischen Etymologien und aktuellen Gebrauchsweisen von Begriffen sowie die Berufung u.a. auf Derridas Konzepte zur Metapher oder das psychoanalytische Konzept der Übertragung führen zur methodischen Folgerung, die “mangelnde Konkretisierbarkeit” und Dynamik des movere-Begriffs mache gerade die “zu beschreibenden Phänomene in ihrer Qualität als transformative […] evident” (53). Der Band empfiehlt sich nicht als einführende Lektüre, zumal solch eine Immunisierung nicht automatisch zu befriedigenden Einsichten führt. Aber der Ansatz wie die produktive Auseinandersetzung mit dem ‘Schwarm’-Phänomen regen zur Diskussion an in einem Feld, in dem Theorien des Permormativen mit Konzepten von Bewegung interagieren. München K ATJA S CHNEIDER