eJournals Forum Modernes Theater 24/1

Forum Modernes Theater
0930-5874
2196-3517
Narr Verlag Tübingen
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2009
241 Balme

Friedemann Kreuder, Sabine Sörgel (Hg.): Theater seit den 1990er Jahren. Der europäische Autorenboom im kulturpolitischen Kontext. Mainzer Forschung zu Drama und Theater. 18. Tübingen: Francke Verlag, 2008, 291 Seiten

2009
Josef Bairlein
Rezensionen Friedemann Kreuder, Sabine Sörgel (Hg.): Theater seit den 1990er Jahren. Der europäische Autorenboom im kulturpolitischen Kontext. Mainzer Forschung zu Drama und Theater. 18. Tübingen: Francke Verlag, 2008, 291 Seiten “Die Rückkehr des Autors an die Bühnen Europas” thematisierte das 2007 an der Universität Mainz veranstaltete Symposium, dessen Beiträge nun unter dem Titel Theater seit den 1990er Jahren von Friedemann Kreuder und Sabine Sörgel herausgegeben wurden. Der ‘Autor’ ist dabei in den Untertitel gewandert, der verspricht, den “Autorenboom im kulturpolitischen Kontext” zu beleuchten. Die Suche nach dem Dramatiker, nach seiner Bedeutung im Theater der Gegenwart und seinen kulturpolitischen Voraussetzungen verwebt die Beiträge des Bandes miteinander. Der Raum, in dem sie den Autor ansiedeln und sichtbar machen, ist groß und öffnet sich zu einem Panorama dramatischen Schaffens der letzten 20 Jahre. Einsetzend mit dem britischen In-Yer-Face-Theater der 1990er Jahre und seinen Autoren - allen voran Mark Ravenhill und Sarah Kane - führt der Band nach Schottland und Nordamerika, bevor er sich dem europäischen Festland, dem deutsch- und romanischsprachigen Raum nähert, um schließlich das Theater ehemals kommunistischer Länder (Polen, Russland und mit Peter Hacks den Osten Deutschlands) zu betrachten. Eine weite Reise, auf der dem Leser weitgehend bekannte Gesichter begegnen, Dramatiker, deren Werke die Welle des Autorenbooms in alle Welt spülte. Beispielsweise Sarah Kane. Mit ihrem Werk und Leben beschäftigen sich gleich zwei Beiträge - und das nicht ohne Grund, gilt die britische Autorin doch als Galionsfigur einer neuen Generation von Dramatikern, fließt in die Rezeption ihrer Werke doch beharrlich ihr Leben, Leiden und früher Freitod ein. Dass eine autobiographische Lesart von Phaedra’s Love zu kurz greift, legt Anja Müller-Wood in ihrer detaillierten Analyse der emotionalen Dynamiken des Dramas dar. Währenddessen beschreibt Bernhard Reitz die Verknüpfung von Autorbiografie und dramatischem Werk als Konstituens des In-Yer-Face- Theaters, indem er in der Selbstreferentialität der Werke eine mediale Strategie der Legitimation von Authentizität und Identität festmacht - auch wenn es sich hierbei nach Reitz um eine in Auflösung befindliche, “sterbende Identität” (33) und Personalität handelt. Identitätskonstruktionen, so zeigen es mehrere Beiträge des Bandes, misslingen in der gegenwärtigen Dramatik, wie auch kohärente Handlungsführungen in Auflösung begriffen sind. Hierin sieht Sabine Sörgel denn auch einen Unterschied zwischen dem Realismus des 19. Jahrhunderts und den “Realismus-Variationen der Gegenwart”, in denen die reine Fassade bürgerlicher Identität in Zitaten medialer Rollenklischees augenfällig werde, wobei die leicht konsumierbaren, neorealistischen Dramen zugleich aber auch reproduzierten, was sie zu kritisieren vorgeben (vgl. 119). Überhaupt durchzieht die Frage nach der gesellschaftskritischen Funktion gegenwärtiger Dramatik und dem politischen Engagement ihrer Autoren den Band. Dramatiker melden sich zu Wort. Und mit der Rückkehr zum Wort werden auf den Bühnen auch wieder zentrale politische und gesellschaftlich relevante Fragestellungen verhandelt - so zumindest die Vermutung, die der Blick auf Portugal, Polen oder Russland, wo Frank Göbler auch die Gefahr erneuter Zensur und damit der Abkehr vom Autorentheater sieht (vgl. 276), auch bestätigt. Anneka Esch-van Kan beschreibt in ihrem breiten und systematischen Überblick die Rückkehr des Politischen auf die Bühnen des anglo-amerikanischen Raums, wobei sie die (von Hans-Thies Lehmann getroffene) Unterscheidung von “politischem Theater” und dem “Politischen des Theaters” zu überwinden sucht und auch postdramatisches Theater als politisches ausweist (vgl. 88ff.). Die ineinander greifenden Produktionsprozesse von Dramentext und Inszenierung ermöglichten die Thematisierung tagespolitischen Geschehens (vgl. 89). Forum Modernes Theater, Bd. 24/ 1 (2009), 89-90. Gunter Narr Verlag Tübingen 90 Rezensionen Der Autor des gegenwärtigen Theaters ist ein neuer Autor. Er ist ein Autor, der auf den Bühnen groß wurde, ein Theatermensch, dann erst Literat - ein schreibender Regisseur, ein auftretender Schriftsteller. Jean-Luc Lagarce, Olivier Py oder René Pollesch sind zugleich ihre eigenen Regisseure (siehe hierzu bspw. Stefanie Schmitz, 230). Und Dario Fo betritt, wie Klaus Ley ausarbeitet, agitatorisch “in seiner Doppelfunktion als ‘autore/ attore’” (165) wortwörtlich die Bühne. Dramatische Texte nehmen, so legt Wilfried Floeck dar, eine “hybride Position zwischen Literatur und Theater” (134) ein. Und kritisch macht Gunther Nickel darauf aufmerksam, dass Autoren wie Peter Hacks, die dem Regietheater abgeneigt gegenüberstehen, heute von den Bühnen Europas weitgehend verschwunden sind. Die Rückkehr des Autors muss also relativiert werden, zeichnen die Beiträge doch einen Autor, der die Kluft von Dramentext und Bühnenperformanz, von ecriture dramatique und ecriture scenique, von Autoren- und Regietheater überwindet und mit dem verschwundenen Literaten nur noch wenig gemein hat. Die Reise durch die Theaterlandschaft Europas, Russlands und Nordamerikas ist vielseitig, auch wenn hier nur wenige Impressionen geschildert werden können und viele lesenswerte Aufsätze gänzlich unberücksichtigt bleiben. Der Band stellt mit seinen 16 Beiträgen ein reiches Panorama des “Theaters seit den 1990er Jahren” vor, blickt aber auch weiter zurück in die Theatergeschichte und Kulturpolitik der einzelnen Länder. Nicht zuletzt erhält der Leser einen Überblick über die Förderung neuer Dramatik, wie sie an den zahlreichen Preisen und Wettbewerben ablesbar ist und teilweise auch kontrovers - beispielsweise als Vermarktung serieller Produktion (vgl. Sörgel, 122) - diskutiert wird. Dabei bleibt die Anthologie ihrem Gegenstand treu, und dieser ist in erster Linie die Dramatik, dann erst ihre Autoren. Die Verbindung von dramatischem und theatralem Schaffen wird konstatiert. Die Frage nach der Dynamik dieser Prozesse bleibt aber weitgehend offen, was den Band nicht minder zum Objekt anregender Lektüre macht. München J OSEF B AIRLEIN Christine Felbeck. Erinnerungsspiele. Memoriale Vermittlung des Zweiten Weltkrieges im französischsprachigen Gegenwartsdrama. Mainzer Forschungen zu Drama und Theater; Bd. 38. Tübingen: Francke, 2008, 377 Seiten. Die Erinnerungs- und Gedächtniskultur des Zweiten Weltkrieges ist um die Jahrtausendwende von einer Epochenschwelle geprägt. In der Literatur folgt auf die Zeugnisse Überlebender die Erinnerungsliteratur der Nachgeborenen, die diesen Krieg nur medial vermittelt erfahren können. Die kulturwissenschaftlich orientierte Dissertation Christine Felbecks geht davon aus, dass die “jenseits der Schwelle” (12) schreibende zweite Autorengeneration sich ihrer Erinnerungs- und Vermittlungsproblematik bewusst ist und untersucht die textuellen Strategien memorialer Vermittlung in fünfzehn französischsprachigen Dramen, die alle “die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg als Rückblick handlungsrelevant inszenieren” (22). Felbecks Generationenbegriff orientiert sich dabei an der in der Holocaust- Forschung üblichen Terminologie Karl Mannheims sowie Heinz Budes, wobei hier aber auch der 1939 geborene Dramatiker Jean-Claude Grumberg schon der zweiten Generation (Jahrgänge 1940-1970) zugerechnet wird. Der erste Teil der Studie formuliert den Untersuchungsgegenstand und führt zunächst in den Forschungsstand zur französischsprachigen Gegenwartsdramatik und zu Erinnerung und Gedächtnis ein. Felbecks erfreuliche Untersuchung von bislang noch kaum erforschten französischsprachigen Gegenwartsdramatikern greift aufgrund der spärlichen Forschungsliteratur auch auf parawissenschaftliche Texte zurück (Rezensionen, Internetquellen usw.), wobei die von ihr für die Arbeit durchgeführten Autorenbefragungen, die im Anhang noch einmal abgedruckt sind, “als Ausgangspunkt eigener Hypothesenbildung dienen” (20). Der Gefahr, dass die Stellungnahmen der Autoren (die übrigens weitergehende Informationen für zukünftige Forschungsarbeiten bieten) die Studie zu stark lenken, entgeht Felbeck glücklicherweise dank ihrer kritischen Distanz. Forum Modernes Theater, Bd. 24/ 1 (2009), 90-92. Gunter Narr Verlag Tübingen