eJournals Forum Modernes Theater 24/1

Forum Modernes Theater
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Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2009
241 Balme

Der Zuschauer im Bild der Antike

2009
Julia Stenzel
Der Zuschauer im Bild der Antike. Konstruktionen des 19. Jahrhunderts 1 Julia Stenzel (München) “Sind Sie auch Antigonist? ” - so der Rezensent zum Schauspieler. “Nein, Antagonist”, antwortet dieser … 2 Ein Stephen Greenblatt könnte hier nach allen Regeln der Kunst eine exemplarische Geschichte des Zuschauers und des Zuschauens im 19. Jahrhundert entwickeln: Rezensent Ungethuem und Schauspieler Carlos sind Figuren der Komödie Antigone in Berlin, die der Publizist Adolf Glaßbrenner im Jahre 1842 veröffentlichte - bezeichnenderweise unter dem Pseudonym ‘Brennglas’. Und tatsächlich ist es nicht übertrieben zu sagen, dass sich in seinem Stück soziale Energien auf exemplarische Art und Weise bündeln. 3 So entfaltet sich schon in der Exposition ein Wort-Spiel um den Namen der Hauptfigur, das als hintergründiger Kommentar zur kulturell-politischen Situation im zeitgenössischen Berlin gelesen werden kann. Ausgehend von Fehllektüren und Missverständnissen um ‘Antigone’ entspinnt sich ein assoziatives Netz: Sie können mir vielleicht dienen, wie des Trauerspiel ausjesprochen wird. Ich habe mir nämlich nie mit Jriechisch beschäftigt, […] un in meine alten Dage, wo ich mir zur Ruh setzte, […] nich daran dachte, daß es von mir als deutschen Bürjer verlangt wird, daß ich Jriechisch kennen soll, was en Paar Dausend Jahre todt is. Heißt es Antijohne … 4 So formuliert Rentier Buffey 5 umständlich seine Frage gegenüber dem Buchdrucker Feist, der die falsche Betonung harsch korrigiert: “Jo nich! Antigone”. Es entspinnt sich, immer noch als eine Art Vorspiel auf dem Theater, die Debatte um den Sinn und Unsinn von Antike-Inszenierungen. Erst nach knapp 15 Druckseiten beginnt dann die Sophokleische Antigone-Handlung auf der drameninternen Bühne - unterbrochen von zahlreichen Zwischenrufen, Nebendialogen und von Versuchen des Publikums, mit den Figuren zu kommunizieren. Bei Bekundungen von Missfallen und Unverständnis aber bleibt es nicht: So manche Bemerkung lässt sich auch als politischer Kommentar zum Verhältnis von König und Volk, von Herrscher und Gesetz, zur Frage nach der besten Staatsform und nach der Beziehung von Theater und Staat lesen. Neben Antigone, Kreon, Haimon und dem Chor der thebanischen Greise erscheint denn auch der Berliner Kleinbürger Piefke auf der Bühne; bezeichnenderweise nach der zentralen Stichomythie von Kreon und Haimon, in der es bei Sophokles ja auch um Kreons Selbstverständnis als Herrscher geht. Piefke versetzt die hehren Helden in unbekümmert anachronistischer Manier ins 19. Jahrhundert und fasst dabei seine Ansicht über die Relevanz griechischer Dramen für seine Zeitgenossen in deutliche Worte. Die Handlung der antiken Tragödie tritt mehr und mehr in den Hintergrund; in griechischen Versmaßen verwahren sich Chor und Tragöden gegen die Vorwürfe des Publikums, das die Darsteller auspfeift und sie schlussendlich von der Bühne vertreibt. Glaßbrenner bezieht sich mit Antigone in Berlin unzweideutig auf die vielbeachteten Aufführungen der Sophokleischen Antigone 1841 und 1842 in Potsdam und Berlin, Forum Modernes Theater, Bd. 24/ 1 (2009), 3-17. Gunter Narr Verlag Tübingen 4 Julia Stenzel Abb. 1 Skizze des Potsdamer Bühnenbildes. Ausschnitt aus einem Brief von Felix Mendelssohn-Bartholdy an Stadtrat Dr. Wilhelm Demuth, Leipzig, 10.1.1842. Transkription der Beischriften (von oben nach unten): “Die Bühne, worauf die Schauspieler spielen”; “Ein rundes Forum, worauf der Chor steht, der nicht auf die Bühne kommt”; “Das Orchester für die Musici”; “Die Sitze für den König und den Hof”. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Universitätsbibliothek Leipzig (Rep. IX, 16, fol. 10). die auf eine Initiative des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. zurückgingen. Friedrich Wilhelm wollte einen Kontrapunkt setzen zum französischen Klassizismus einerseits, zur Vorherrschaft reiner Unterhaltungsstücke auf den deutschen Bühnen andererseits - und zwar unter anderem mit Aufführungen der attischen Tragödie. 6 Die Antigone-Inszenierung von Ludwig Tieck hatte ihre Premiere am 28. Oktober 1841 im Hoftheater des Neuen Palais in Potsdam. Sie wurde von der zeitgenössischen Kritik kontrovers besprochen und gilt bis heute als Markstein in der Geschichte der Antike- Inszenierung: 7 Denn erstmals wurde hier der Versuch unternommen, ein attisches Drama unter Rückgriff auf aktuelle Forschungen der Altertumswissenschaft aufzuführen. Textuelle Grundlage war die metrische Übersetzung von Johann Christian Donner; maßgeblich für die Bühnengestaltung war die Arbeit von Hans Christian Genelli. 8 Die Schauspielmusik stammte von Felix Mendelssohn-Bartholdy - wie im griechischen Theater wurden die Chorpassagen nicht gesprochen, sondern gesungen, und zwar von einem reinen Männerchor. 9 In den epirrhematischen Szenen stand den gesungenen Chorpassagen die zwar deklamierte, aber instrumental begleitete Schauspielerreplik gegenüber. Als Spitze gegen eine solche Aufführungspraxis und gegen Mendelssohns Musik muss man wohl den Zusatz der Brennglas-Parodie lesen: “Die Aufführung findet ohne Musik statt”. 10 Die Inszenierung des Zuschauens in Glaßbrenners Antigone in Berlin markiert entscheidende Veränderungen der ästhetischen und politischen Funktion von Aufführungen antik-griechischer Stücke. Ausgehend von den Wortspielen um “Antigone” Der Zuschauer im Bild der Antike. Konstruktionen des 19. Jahrhunderts 5 einerseits, von Piefkes Anachronismen und Aktualisierungen andererseits will ich zwei Aspekte eines veränderten Umgehens mit den attischen Dramen verfolgen, die sich in den mittleren Jahren des 19. Jahrhunderts zeigen. Vorderhand scheinen sie auf Ästhetiken vorauszuweisen, die man gemeinhin mit dem Theater der Jahrhundertwende verbindet. Bei genauer Betrachtung wird aber schnell klar, dass eine Teleologisierung der 1840er Jahre hin auf die Theaterreform-Bewegungen vor und um 1900 zu kurz griffe. Die Konvergenzen von Theatertheorie und der Interpretation speziell des attischen Theaters im Kontext philosophischer und staatstheoretischer Modelle einerseits, der zeitgenössischen Bühnenpraxis und deren Rezeption andererseits sind spezifisch für die kulturelle und politische Situation im Deutschland des Vormärz und schon deshalb nicht linear auf die Situation um die Wende zum 20. Jahrhundert hin zu lesen. Zwar wird im Zusammenhang meiner Beobachtungen auch die (Selbst-)Konstruktion der Moderne als radikaler Bruch fragwürdig. Eine Relativierung und Differenzierung des Explanandums ‘Moderne’ ergibt sich aber lediglich sekundär aus den Beobachtungen, die an den Relationen von Theatertheorie und Bühnenpraxis bzw. deren Rezeption im Vormärz zu machen sind. Im Zentrum der Überlegungen steht der Zuschauer des 19. Jahrhunderts als Beobachter des theatralen Ereignisses, oder, in der Metaphorik des Titels, “Der Zuschauer im Bild der Antike”: Was bedeutet es, wenn er ‘im Bilde’ ist, informiert ist (oder auch nicht)? Zu den Zuschauern zählen auch Altertums- Wissenschaftler, vor allem aber Theaterkritiker als Zuschauer zweiter Ordnung. Sie setzen zusätzlich den zeitgenössischen Zuschauer ‘ins Bild’, bringen ihn in Beziehung zu ihrem Bild des antiken Theaters und des antiken Publikums. Und wird der Zuschauer in theatralen (Re)Formulierungen der Antike im zweiten Sinne ‘ins Bild gesetzt’, so wird notwendigerweise auch das ‘Im-Bilde-Sein’ im ersten Sinne mitgedacht. Aus der skizzierten Zweiwertigkeit der Metapher vom ‘Bild der Antike’ ergeben sich für die Argumentation zwei Frageperspektiven, die freilich nicht immer scharf voneinander abzugrenzen sind: Zum einen ist zu klären, welche Vorannahmen das Wissen um das antike Theater und damit die Perspektive(n) auf die Antike strukturieren, wie sie der Zuschauer im Theater des 19. Jahrhunderts einnehmen kann und welche Rolle sein (kulturelles und politisches) Selbstverständnis für den Umgang mit der Antike spielt. 11 Dieser Aspekt leitet die Überlegungen im ersten Abschnitt des Artikels, der an Buffeys “Antijohne” ansetzt. Zum anderen ist zu fragen, wie die Funktionen ‘Zuschauer’ und ‘Zuschauen’ in zeitgenössischen Bildern der Antike bestimmt sind. Denn das Wissen um Bau und gesellschaftliche Funktion des griechischen Theaters führt auch dazu, dass der Zuschauer als Planstelle der Theaterarchitektur ins Bild rückt, und zwar auch in Antike-Inszenierungen. Um diesen Komplex dreht sich der zweite Teil des Aufsatzes; hier nehmen die Überlegungen ihren Ausgang am unfreiwilligen Wortspiel des Rezensenten Ungethuem. Ein abschließender dritter Teil unternimmt die Verortung der Potsdam-Berliner Antigone und ihrer Rezeption vor dem Hintergrund gängiger historiographischer Markierungen wie ‘Vormärz’ und ‘Moderne’. In produktiver Absetzung von ‘modernen’ Theaterphänomenen, die den Zuschauer als Akteur einbeziehen und speziell das attische Drama auf ihre Gegenwart hin lesen, sind die ästhetischen und politischen Spezifika des Umgehens mit der Antike in Theaterkonzeptionen des frühen und mittleren 19. Jahrhunderts, vor allem aber Etikettierungen wie ‘Historismus’ und ‘Epigonalität’, in ihrer Aussagekraft und Reichweite neu zu bewerten. 6 Julia Stenzel I. “Antijohne” Mit der Betonung auf der dritten Silbe öffnet sich das diskursive Feld um den Begriff des Epigonen, der auf den bekannten Immermannschen Roman Die Epigonen zurückgeht. 12 So ist es nur noch ein kurzer gedanklicher Schritt zum sprichwörtlichen epigonalen Selbstverständnis des 19. Jahrhunderts, der auch und gerade die Theaterverhältnisse im Vormärz mitbestimmt. Eines sei vorausgeschickt: Die Zuschauer- Figuren in Glaßbrenner-Brennglas’ Parodie verhalten sich zum Bühnengeschehen alles andere als einheitlich. Es äußert sich schroffes Unverständnis: “Ja, ick weeß ooch nich, wie man Eenen mit jeschwollne Beene zum Helden von mehreren Trauerspielen machen kann”, so Buchbinder Feist über König Ödipus. 13 Dagegen steht das Konzept von Bildung als Besitz, geäußert von Rentier Buffey gegenüber seinem Sohn Wilhelm: “Nu paß’ uf, wenn der Vorhang in de Höhe jeht, daß Du Dir mit des Altherthum vertraut machst, damit Du mal en nützlicher Mensch wirst, dummer Junge! Denn jetzt muß der Mensch des Allens wissen, sonst kommt er nicht mehr fort”. 14 Der Schlosser berichtet von seinem Gesellen, der “uf det Amphibientheater, uf de der Jaleere” sitze, “vor sechs Jroschen”. 15 Der Philologe Bos ist in quasireligiöser Begeisterung ob des Schauspiels entbrannt - und nickt doch immer wieder ein. Ein Publizist erhofft sich Stoff für Gelegenheitsgedichte - man wird sich nicht einig. Doch: Sind die Brennglas-Antigonisten, sind gar die Protagonisten der Antike-Rezeption im 19. Jahrhundert notwendigerweise Epigonen? Vor dem Hintergrund der archäologischen Forschungen des 18. Jahrhunderts differenzierte sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine historisch bewusste Altphilologie aus. Paradigmatisch ist die Darstellung der Alterthums-Wissenschaft (1807) von Friedrich Anton Wolf. Forscher wie er vermissen an den Konzepten der älteren Altphilologie nun den Sachbezug und die Integration archäologischer Forschungsergebnisse. Einer bloßen ‘Wortphilologie’ wird in diesem Zusammenhang das ganz neue Konzept einer interdisziplinär verfahrenden ‘Sachphilologie’ gegenübergestellt. Und im Zuge dessen werden auch für Aufführungen neue Konzepte möglich. Ein exponierter Vertreter der neuen Alterthums-Wissenschaft im Sinne von Wolf war Prof. August Böckh, der als wissenschaftlicher Berater auch am Potsdamer Antike-Projekt beteiligt war. Böckh interessierte sich für das Alltagsleben in Athen und für das realhistorische Substrat antiker Kunst und Literatur; so hat er als einer der ersten versucht zu errechnen, was der Bau der Akropolis gekostet haben könnte. 16 So scheint es nur folgerichtig, dass sich die Initiatoren des Potsdamer Antike-Projekts von bisherigen szenischen Konkretisierungen antiker Stücke - auch explizit - abgrenzen; man wirft etwa der Weimarer Inszenierungspraxis die Entfernung der zugrunde liegenden Textversionen vom Original und die allzu großen Zugeständnisse an den Geschmack der Zeit - kurz: Klassizismus - vor. Im (durchaus schon im 19. Jh. als illusorisch erkannten) Idealfall mache die szenische Konkretisierung die Überlieferungsgeschichte ungeschehen und ermögliche eine direkte Begegnung des zeitgenössischen Rezipienten mit dem antiken Werk. Zu dieser Abgrenzungsbewegung in der Inszenierung des so verstandenen Ursprungs des abendländischen Theaters verspricht die Figur des Anfangs einiges an deskriptivem und analytischem Potential: Die Antike wird im 19. Jh. als ‘Urszene’ des Theaters konstruiert. 17 Und die Tragweite dieser Konstruktion geht über die des 18. Jahrhunderts hinaus: Das Antike-Ideal Winckelmanns in seiner Aufnahme durch die Weimarer Klassik als ästhetisch-ethische Referenz ist ja zunächst noch nicht politisch grundiert, anders als etwa bei Hegel oder - weit konkreter - in den theatertheoretischen Schriften Theodor Rötschers und Eduard Der Zuschauer im Bild der Antike. Konstruktionen des 19. Jahrhunderts 7 Devrients. Gerade die Rezeption des Potsdamer Projekts macht die nationalpolitische Färbung der neuen ‘Urszene Antike’ unübersehbar: Die Attische Polis, repräsentiert durch das attische Drama und seine Bühne, steht paradigmatisch für einen organisch gedachten ‘Staatskörper’, innerhalb dessen der (dramatischen) Kunst eine entscheidende Funktion zukommt: Die der Generierung und Affirmation der Gemeinschaft. Jede Bezugnahme auf die Antike setzt sich auf die eine oder andere Art und Weise mit diesen diskursiven Vorgaben auseinander - so auch die von Tieck und in der Folge die von Adolf Glaßbrenner. 18 Und auch der Rekurs auf dieses Anfangskonstrukt selbst wird emphatisch als Neubeginn beschrieben, als Abkehr von bisherigen Praktiken des Umgehens mit der Antike. Vor dem Hintergrund eines solchen ‘Anfangens am Anfang’ erscheint das deutsche Theater in den mittleren Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts in einem neuen Licht. Der Topos von seinem im negativen Sinne epigonalen Selbstverständnis wird fragwürdig, zementiert er doch das kulturhistorische Verlaufsschema von Beginn, Blütezeit und Verfall. Dieses Schema war schon im 19. Jahrhundert nicht unumstritten und erscheint aus heutiger Perspektive schon gar nicht mehr angemessen. Ein wertfreier Begriff des Epigonalen als ästhetisches Vermögen, wie er in den letzten Jahren vorgeschlagen wurde, 19 kann in der Frage nach der Relation von Figuren des Anfangs bzw. des Anfangens und der Größe ‘Tradition’ weiterhelfen. Epigonen sind ja von der Etymologie her zunächst nicht mehr und nicht weniger als Nachgeborene. Positiv gewendet, impliziert das Nachgeboren-Sein die Möglichkeit einer spezifischen, nämlich bewusst und dynamisch gestalteten Form von kulturellem Gedächtnis. Das unerhört Neue an Tiecks Antigone- Inszenierung war nicht nur für den informierten Altphilologen offensichtlich; auch zeitgenössische Kritiken sprechen eine deutliche Sprache. Wiederholt ist von der ‘Erfindung’ der Antike, der attischen Bühne oder der antiken Musik die Rede: Der Gastgeber der ersten Leipziger Privataufführung berichtet von der positiven Aufnahme durch den konservativen Altphilologen Gottfried Hermann. Hermann stand dem Unternehmen grundsätzlich eher reserviert gegenüber. Nach der Aufführung aber sei er auf Mendelssohn zugegangen mit den Worten: “Sie haben, so zu sagen, griechische musik erfunden”. 20 Für den Historiker Johann Gustav Droysen ist “der Eindruck des Ganzen neuartig und unerwartet genug, um die bekannten Trivialitäten der Kunstkennerei unanwendbar zu machen”. 21 Und Ludwig Tieck resümiert als Spielleiter nach der Dernière in Berlin: Für die große und aufgeregte Teilnahme wurde dies merkwürdige Schauspiel zu selten gegeben, da das ganze Theater bei jeder Aufführung gedrängt angefüllt war. So ist dieser gelungene Versuch als ein Fortschritt unserer Bühnenkunst anzusehen, als eine neue Erfindung. 22 Natürlich muss man bei diesem Resümee von einer gewissen Parteilichkeit ausgehen. Aber interessant ist auch nicht in erster Linie Tiecks Lob seiner eigenen Arbeit, sondern seine Formulierung: Tieck spricht von “Fortschritt” und “Erfindung”, nicht von Kunstwollen und Genie. 23 Das Potsdamer Projekt ist als Versuch einer originalgetreuen Rekonstruktion dessen, was man als die Realität des griechischen Theaters sah, ebenso wie als historistische Wiederbelebung oder Wiedergeburt der Antike, nur unzureichend beschrieben. 24 Das wird schon bei der Betrachtung der Oberfläche des Inszenierungstextes deutlich: Trotz entsprechender Forderungen trugen die Akteure keine Masken, Frauenrollen wurden nicht von Männern, sondern von Frauen gespielt (Auguste Crelinger präsentierte die Antigone). Die Orchestra wurde 8 Julia Stenzel auch von den Figurendarstellern betreten - nach damaligem Forschungsstand wäre das in der Antike ganz und gar unmöglich gewesen. Und auch Mendelssohn verabschiedete das Vorhaben, die griechische Musik nachzuahmen, schon im Vorfeld. Die wissenschaftlichen Vorarbeiten von Philologie und Altertumswissenschaft haben, denkt man die Hintergrund-Metapher der Erfindung weiter, zum Experiment in Potsdam geführt. Wissenschaftliche Grundlagenforschung hat die Erfindung ‘Antike-Inszenierung für das 19. Jahrhundert’ möglich gemacht. Wie gesagt: Das Berliner Antigone-Projekt ist nicht einhellig gelobt worden; das historische Publikum war sich in der Einschätzung des Projekts ebenso uneins wie die Zuschauer in Glaßbrenners Parodie. Und die Kritik geht auch über die (immer wieder gern zitierte) Anmerkung hinaus, dass “der Wächter wie ein Feuerwehrmann aussah”. 25 Tiecks Inszenierung sind mangelnde Werktreue ebenso wie Klassizismus oder Unverständlichkeit für das zeitgenössische Publikum vorgeworfen worden. Man monierte das Fehlen von Masken, die Buntheit der Kostüme, die Vermischung des “scenischen mit dem thymelischen”, 26 sprich: die Tatsache, dass die Orchestra nicht für den Chor reserviert blieb, außerdem die Verwendung einer unzulänglichen Übersetzung. Richard Wagner nannte das Projekt “eine grobe künstlerische Notlüge”. 27 Auch Mendelssohn musste sich Vorwürfe gefallen lassen: Seine Chöre seien “scheußliche Liedertafelmusik”, 28 und der Bacchus-Chor passe “wie ein Walzer zur Predigt”. 29 Wahrscheinlich lässt sich zu jedem dieser willkürlich herausgegriffenen Monita auch eine gegenteilige Einschätzung finden. Und gerade eine kontroverse Besprechung weist ja in der Regel eher als uneingeschränktes Lob auf innovatives Potential hin. Mit der ‘Erfindungs’-Metaphorik deutet sich nicht nur auf der inhaltlichen Ebene eine wesentliche Veränderung an: Auch das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft justiert sich neu. Der Epigone wird zum wissenschaftlich Interessierten und Informierten, der um die Unmöglichkeit von Rekonstruktion weiß und sich daher bewusst für Re-Invention entscheiden kann. Das heißt aber nicht, dass Tieck in seiner Konzeption der Antigone Tieck in jedem Detail mit den - in aktueller Forschung fundierten - Vorschlägen des die Inszenierung betreuenden Fachmanns August Böckh übereinstimmt, sprich: dass allein der aktuelle Stand der Forschung die Interpretation bestimmt. Mitnichten: Tieck konstruiert eine Art prä-christlichen Kalvarienberg, indem er Antigone in Analogie zu Maria Magdalena setzt, die den Leib des Heilands vom Kreuz nimmt und mit Salben pflegt. Dieses Verständnis geht auf eine Interpretation zurück, die seit dem 16. Jahrhundert nachweisbar ist und auf die Tradition der christlichen Relektüre antiker Autoritäten zurückgeht; und dies markiert auch einen wesentlichen Unterschied zum Ideal der Wissenschaftlichkeit, wie es später in naturalistischen Theaterkonzepten formuliert wurde. Sie steht außerdem in diametralem Gegensatz zur - in den 1840er Jahren vieldiskutierten - Hegelschen Interpretation, wonach in der Antigone die Sphären von Staat und Familie kollidierten; bei Tieck gewinnt das Leiden und Sterben der Protagonistin ja den Charakter eines christlichen Martyriums. Antigone steht also moralisch weit über Kreon. 30 Böckh hingegen interpretiert das Stück in zwei Akademie- Abhandlungen der Jahre 1824 und 1828 als Kampf einander entgegengesetzter Leidenschaften. Während Antigone groß und edel, lediglich des Maßes unkundig sei, sei Kreon hart und tyrannisch. Allerdings plädiert der Philologe in der Diskussion um das Inszenierungskonzept für die Hegelsche Sicht. 31 Die Forschung ist sich nicht ganz einig, inwieweit sich Tieck mit seiner Interpretation durchsetzen konnte. Immerhin wird von intensiven Debatten zwischen Böckh und Tieck berichtet. Und so einige Kritiken, Briefe und Der Zuschauer im Bild der Antike. Konstruktionen des 19. Jahrhunderts 9 Tagebuchaufzeichnungen mutmaßlicher Zuschauer der Potsdamer und der Berliner Aufführungen lassen auf einen spürbaren Einfluss dieser Ideen auf die Konzeption der gesamten Inszenierung schließen. So habe der König von Hannover abfällig geäußert: “Ich gehe nicht hin, solches Zeug sehe ich nicht, ich bin kein Pietist”. 32 Ebenso schwer zu beantworten ist die Frage, welchem der in Frage kommenden Ansätze Friedrich Wilhelm IV. zugeneigt war. Hegels Gegenüberstellung von Staat und Familie mag so gar nicht zu Friedrich Wilhelms patriarchalisch-christlichem Verständnis des Staats als organische Einheit passen. Möglicherweise tendierte der König auch mehr zu Tiecks christlicher Sichtweise, denn zu Böckhs philologisch verantwortlicher Interpretation. Kreon wäre dann das Gegenbild zum guten, christlichen Herrscher. - Freilich fordert eine solche Lesart Kritik am politischen Status quo geradezu heraus, insbesondere im Zusammenhang mit der junghegelianischen Forderung nach einem erneuerten, nämlich verfassten Preußischen Staat. So gewinnt das Berliner Antike-Projekt auch politisch an Brisanz. Und Glaßbrenners Antigone in Berlin ist damit weit mehr, als die Parodie eines weltfremden Projekts verschrobener Philologen: Das Stück exponiert das Potential von Antike-Inszenierungen als Inszenierungen von politisch-ästhetischen Utopien. II. Piefke und der Antigonismus Über die Hintergrundmetapher der Aufführung als kollektives Festereignis formuliert Tieck ein Theaterkonzept, das zunächst fast an theaterreformerische Ideen nach 1900 denken lässt. [D]as Theater und die Bühne war ganz eins, die Zuschauer gehörten zum Theater, die Dekoration waren öffentliche Plätze, bei denen man sich die Zuschauer als von ohngefähr versammelt dachte, der Chor war selbst als die Rolle der Zuschauer eingeführt […] die Zuschauer standen nicht vor dem Gemählde, sondern sie waren selbst ein Theil des Gemähldes. 33 Tieck konstruiert hier das antike Theater, auch ganz konkret-räumlich, als ‘Urszene’ eines Theaters, in dem die Blicke bidirektional sind: Im Theater erblickt die Polis-Gemeinschaft sich selbst. Sicherlich wäre es grob verkürzend, Tieck und seiner Inszenierung deshalb eine bewusst und explizit regierungskritische Haltung zuzuschreiben. Die Zusammenhänge sind weitaus komplexer: Aus Tiecks (zunächst gänzlich unverdächtiger) Auffassung des attischen Theaters im Allgemeinen und der Antigone im Besonderen ergeben sich Wahrnehmungsoptionen, die entsprechende Reaktionen regierungskritischer Kreise provozieren. Tieck stellt Kreon moralisch unter Antigone. Offenbar schlug sich diese Sicht auf die Inszenierung nieder, was ihr die Kritik der staatstreuen Presse, etwa der Berlinischen Zeitung, eintrug: “Kreon hätte von vorneherein wohl noch etwas würdiger und vorteilhafter genommen werden können: er ist durchaus kein Bösewicht, er ist nur starr und kann keinen Widerspruch ertragen”. 34 Die Brisanz, das politische Aktionspotential, das sich aus der von Tieck beschriebenen öffentlichen Dimension des griechischen Theaters ergibt, wird in Potsdam und Berlin nicht exponiert. Aber zeitgenössische Quellen machen durchaus entsprechende Andeutungen. So schreibt der Schriftsteller und Diplomat Karl Anton Varnhagen von Ense in seinem Tagebuch: […] heute grade wird die ‘Antigone’ in Potsdam aufgeführt […], welche die schrecklichen Folgen zeigt, die man herbeiruft, wenn man das Naturgemäße zum Verbrechen macht […] Uebrigens weckt es mir eine Art abergläubischen Schauders, daß eine solche Tragödie am Hofe zur Aufführung gewählt worden, solche Darstellung der harten zum Gesetz erhobenen Willkür und des gräuelvollen Untergangs! 10 Julia Stenzel Varnhagen beklagt an dieser Stelle auch, dass es im Preußen seiner Zeit keine “Rednerbühne, [k]eine freie Presse” gebe. 35 Und ebenso wie Varnhagens Formulierung kann man auch Brennglas’ Parodie als Konkretisierung des Potentials verstehen, das sich aus dem Potsdamer Projekt ergibt und das man durchaus auch als auto-dekonstruktives Potential des Tieckschen Inszenierungskonzepts beschreiben könnte. Wenn ein heutiger Theaterwissenschaftler vom Streben der Reformbewegungen um 1900 schreibt, die das Theater “über den engen Kreis literarischer Kunstübungen hinaus zu einer alle Sinne ansprechenden Lebenserfahrung machen” wollten, 36 so erinnert das zunächst an das Fazit des Haimon- Darstellers Eduard Devrient angesichts der Antigone-Inszenierung von 1841: “Die antike Tragödie war […] aus dem engen Kreise des Bücherstudiums auf den frei zugänglichen Boden der lebendigen Kunstanschauung versetzt”. 37 Der Altertumswissenschaftler Friedrich Förster fügt zum Stichwort der Verlebendigung den Aspekt der Öffentlichkeit hinzu: “Daß ein so edeles Kunstwerk aus der engen Zelle des Gelehrten […] befreit, in das öffentliche Leben tritt, der Theilnahme des Publikums zugänglich gemacht wird, kann nicht erfolglos vorübergehen”. 38 Bei genauerer Betrachtung allerdings wird klar, dass das Verhältnis von Öffentlichkeit und Bühne im Vormärz keineswegs das utopische Moment der Moderne einfach vorwegnimmt. Eine der wohl wesentlichsten Differenzen liegt im Charakter der Utopie. Während die Inszenierung der Antike als vormärzliche Utopie auf die Vollendung der Kulturnation Deutschland als politische Nation - also auf die Schaffung einer integralen, organischen Einheit - zielt, geht es den ‘modernen’ Konzepten um die Überschreitung eines Bestehenden (sowohl in ästhetischer, als auch in politischer Hinsicht). Und vor diesem Hintergrund erscheint es nur folgerichtig, dass bei Glaßbrenner ein Potential ausagiert wird, das in Tiecks Konzept des antiken Theaters und seiner Zuschauer nur angelegt ist: Die Brennglas-Antigone konstituiert nicht einfach ein Theater im Theater, sondern eher zwei konkurrierende und interagierende Bühnen. Das Stück lebt von einer Überkreuzung der Blicke und von ihrer inszenierten Bidirektionalität: Die Figuren auf der Bühne verändern sich durch die Perspektiven, die die Zuschauer einnehmen; ganz explizit dann, wenn sie auf Einwürfe und Forderungen des Publikums antworten. Ein Beispiel dafür, wie der Chor sich gegen den Vorwurf des Altertümelns, des ‘Un-deutlichen’ und ‘Un-Deutschen’ verteidigt: Deutsches, griechischer Sprache Vor- und Nachwelt besiegende Schönheit nicht verstehendes Publikum, wir sind gleich des kyllenegeborenen Hermes Jüngstes stillmeckernd menschenwollbeleibtes Schaf schuldlos, Daß erschienen nun sind vor Euch wir. - Denn nicht für der Staatssysteme sprachliches Häkelwort Nicht für der Zeiten kluge Vorgerücktheit, gab der bienensüßberedete Sophokles, Halons Priester, das Wort uns. 39 Das beschriebene Überkreuzen der Blicke kulminiert im Auftritt des “Neujriechen” Piefke. Piefkes Ahnherr ist ein attischer “Jurkenverkäufer”: Eijentlich is er adlig, denn sein Jeschlecht reicht weit runter, er hat ne Unmasse Ahnen, aber er is nich so’n Teekessel, daruf wat zu jeben. Denn wir sind alle nich aus de Wolken jefallen. Irjend en Vater hat jeder Vater un Sohn jehabt, un wer sich auf seine Vorfahren und seine Jeburt beruft, der beweist blos, daß er an sich zu dumm oder zu schlecht is, um sich selber Achtung zu verschaffen. 40 Piefke mischt sich in die Stichomythie Haimons und Kreons - es geht dabei um Herrschafts- und Rechtsfragen, letztlich um die Frage nach der rechten Staatsform. Und er Der Zuschauer im Bild der Antike. Konstruktionen des 19. Jahrhunderts 11 Abb. 2: Antigone in Berlin. Titelkupfer der 2. Aufl., Leipzig 1842. lässt sich von Kreon nicht vertreiben: “Wir sind Berliner: Bange machen jilt nich! ” 41 Der “Neujrieche” tritt immer deutlicher in die Position eines zweiten Chores, eines Mitspielers und Vermittlers auf zwei Bühnen. Er kommentiert den Auftritt des Teiresias und fasst das Ende der Tragödie zusammen. Das einzig Tragische der Antigone sei, dass der Chor am Leben bleibt: “Wie die Tragödie schließt, bleibt uns das höchst unbehagliche Gefühl des Zweifels, was der herrscherlose Chor ferner beginnen […] wird”. 42 Seine Erläuterungen fruchten, oder, in der zu Beginn eingeführten Metaphorik: Dadurch, dass und wie Piefke ins Bild tritt, setzt er das Publikum ins Bild. Als Kreon von Teiresias zur Einsicht gebracht wird und Antigone begnadigen will, bricht das Publikum in Gelächter aus. Der hier inszenierte Zuschauer positioniert sich aktiv und selbstbewusst im Bild der Antike, er gibt sich nicht mit der Einsicht in sein Unverständnis zufrieden. Stattdessen nimmt er sich das Recht zu einem aktualisierenden Verstehen, das nicht mehr dem antiken Stück, sondern seiner Zeit gerecht werden will. Und konsequent anachronistisch zu Ende gelesen, führt die in Potsdam erstmals auf dem Theater der Neuzeit ausprobierte Bühnenform zur Schluss-Szene von Brennglas’ Antigone in Berlin: Kein Vorhang trennt Zuschauerraum und Bühne; auch die klare Markierung von Anfang und Ende der Aufführung ist relativiert. Die Bühne ist leer, ein Forum, ohne Requisiten und Dekoration. Das Titelkupfer für die Druckfassung stellt das unerhört Neue an der Bühnenform überspitzt dar. Die Bühne ist eine Art steinerne Plattform, am äußersten rechten Rand steht der Chor; die einzelnen Choreuten sind nicht individualisiert. Im Vordergrund sind die Zuschauer-Figuren hingegen sehr individuell gezeichnet; Piefke steht auf der Bühne und deutet mit einer einladenden Geste auf den Tragöden (möglicherweise der Darsteller des Kreon). Ohne Kenntnis des Stücks, allein anhand des Bildes, ist nicht zweifelsfrei zu entscheiden, wer Publikum und wer Darsteller ist; am ehesten steht noch der Chor außerhalb. Formal ist Antigone in Berlin also eine gewagte und bewusst anachronistische Interpretation des Sophokleischen Dramas unter Rückgriff auf die Potsdamer ‘Erfindung’. Von ‘modernen’ Formen des Umgehens mit dem attischen Drama unterscheiden sich die Konzepte von Tieck und seinen Zeitgenossen allerdings in wesentlichen Punkten. Bei Tieck verweist das inszenierte attische Drama auf eine spezifische Staatsform und ein historisch kontingentes Verhältnis von Kunst und Politik, das der Zuschauer in Beziehung setzen kann zur ihm zeitgenössischen Situation in Preußen und in Deutschland. Der 12 Julia Stenzel Interpretationshorizont umfasst in jedem Fall eine zu vollendende Staatsutopie, sprich: die Realisierung einer deutschen Nation als kulturelle und politische Einheit (wie sie ja in Athen verwirklicht gewesen sei). Am deutlichsten ist diese quasi-dialektische Erwartung an den Rezeptionsprozess wohl bei dem Theatertheoretiker Theodor Rötscher, der in an Hegel angelehnter Formulierung das (wörtlich-authentisch zu inszenierende) attische Drama auf der Bühne als These mit der gegenwärtigen Situation Preußens als Antithese beschreibt; potentiell ist dann das Theater in letzter Konsequenz die Keimzelle eines neuen Preußens. 43 Entscheidend für die Theaterreformbewegungen um die Wende zum 20. Jahrhundert ist ihre Tendenz zur Retheatralisierung des Theaters. So zielen auch ‘moderne’ Inszenierungen des Attischen Dramas darauf, Raum für ein Kollektiverleben zu schaffen - man denke etwa die Projekte Max Reinhards in Berlin und München. Die Neu-Konstruktion der ‘antiken’ Rezeptionssituation ermöglicht die Neu-Erfindung von Theater als (nun säkulares) kollektives Festereignis. III. Aristophanisches Gelächter Im Konstrukt der attischen Polis überlagert sich die Faszination an kulturellen mit derjenigen an politischen Ursprungserzählungen: In ihr, so die Vorstellung, sei die utopische Einheit von Ästhetik, Ethik und Politik bereits verwirklicht gewesen. Und vor diesem Hintergrund ist eine viel zitierte Passage aus der Besprechung durch Gustav Droysen nicht nur als Apologie der Rekonstruktion lesbar, sondern auch ganz im Gegenteil, als emphatische Betonung ihres innovativen Potentials: Nicht die abgestorbenen Vergangenheiten sollten uns wiederkehren, aber was an ihnen Großes und Unvergängliches, das soll mit dem frischesten und lebendigsten Geist der Gegenwart erfaßt, von ihm durchdrungen zu neuer, unberechenbarer Wirkung in die Wirklichkeit geführt werden; kein Babel toter Trümmerstücke, sondern ein Pantheon der Vergangenheit sei unsere Gegenwart. 44 Das Glaßbrennersche Stück als exemplarisches Rezeptionszeugnis stellt das Potsdamer Projekt als Paradigma für eine Konvergenz von philosophisch grundierter Theaterhistoriographie und -theorie einerseits, zeitgenössischer Bühnenpraxis andererseits geradezu aus. Diese Konvergenz macht eine trennscharfe Unterscheidung von ästhetischen und politischen Konzepten ‘der’ Antike ganz unmöglich. Unter der scherzhaft-parodistischen Oberfläche der Antigone in Berlin liegt die Inszenierung eines politischen Erkenntnisprozesses, den Piefke wenn nicht ermöglicht, so doch öffentlich macht. Und auch Glaßbrenner ist eine Art Piefke: auf einen analogen Erkenntnisprozess bei seinen Zuschauern zielt auch er. - Feodor Wehl schreibt 1865 in der Leipziger Gartenlaube: Der Berliner Witz war bis dahin nur ein Gassenjunge gewesen, ein Element, das auf allen Brunnenschwengeln, Treppengeländern und Fenstersimsen saß, mit den Beinen schlenkerte und schnoddrige Redensarten machte, aber von niemand recht beachtet wurde, ausgenommen von denen, welchen er seine Schabernacke spielte. Adolf Glaßbrenner erlöste ihn aus dieser etwas unbequemen Situation, um ihn in eine epochemachende Stellung zu bringen […] Berliner Witz, du bist kein bloßer dummer Junge, sagte er zu ihm, du bist das Genie Berlins, der souveräne Geist der Bevölkerung. Wenn du deiner selbst bewußt wirst, so kannst du es zu etwas bringen […]. Du mußt dich nur gewöhnen, deine Blicke höher und über die sogenannten Kellerhälse der Häuser hinaus zu richten. Du mußt dich um Gott und die Welt, zuletzt auch ein wenig um die Politik und Geschichte bekümmern. Der Zuschauer im Bild der Antike. Konstruktionen des 19. Jahrhunderts 13 In der Rückschau gewinnt auch der zunächst unvermittelt und beliebig wirkende Schluss von Glaßbrenners Antigone in Berlin einen politisch brisanten Sinn: Als Piefke schlussendlich allein auf der leeren Bühne zurückbleibt, singt er “während der Vorhang fällt, sehr gemüthlich von der Bühne herab”: Sie sollen ihn, sie sollen ihn, sie sollen ihn nicht haben, den freien deutschen, deutschen freien Rhein! 45 Und diese Verse sind natürlich als Parteinahme für eine selbstbewusste, zeitgenössische Kunst und Kultur im deutschen Sprachraum gegenüber jeder Form von politischem und kulturellem Konservatismus und - auch ästhetischer - Reaktion zu lesen. Letztlich verstehen Piefke und einige der erzählten Zuschauerfiguren Antigone als Stück über das Scheitern von Friedrich Wilhelms Utopie einer Verschmelzung von Volks- und Herrscherwillen. 46 Und gerade im Kontext der Bemerkungen des bereits genannten Theatertheoretikers Theodor Rötscher zum Chor und seiner Funktion erscheint Glaßbrenners textuelle Re-Inszenierung und Doppelung des Chores politisch besonders brisant: Bei Rötscher ist der Chor als Gegenüber des Publikums ein affirmatives Element. Entsprechend seiner organologischen Staatsmetaphorik realisiert sich in jedem einzelnen Choreuten eine übergeordnete Staatsidee, eine demokratische Debatte innerhalb des Chores ist entsprechend überflüssig. 47 Indem bei Glaßbrenner das Publikum, gleichsam als ein anderer, ein neuzeitlicher Chor, aktiv und durchaus kontrovers zum Bühnengeschehen Stellung bezieht, konstruiert Antigone in Berlin vor der Negativfolie der attischen Gesellschaft (repräsentiert durch den Antigone-Chor) eine demokratische, deutsche Gesellschaft. Ganz anders als in autonomieästhetischen Poetiken in der Nachfolge der Weimarer Klassik liegt bei Glaßbrenner die Aufgabe des Dichters im Beobachten seiner Zeit: “Das Poetische liegt im Wirklichen, man muß nur das Wirkliche nach allen Seiten hin verstehen”, 48 so ein Tagebucheintrag von 1836. Und so scheint es nur folgerichtig, wenn Glaßbrenner in seiner Parodie gewissermaßen eine funktionale Analogie zur Alten Komödie herstellt. Auch bei Aristophanes entsteht mit der Bezugnahme auf das diskursive Feld der Tragödie politisches Aktionspotential. 49 Vor diesem Hintergrund lässt sich die Metapher der zwei Bühnen weiter konkretisieren: Einerseits parodiert Antigone in Berlin die Potsdamer Antigone. Andererseits lässt das Stück eine Bezugnahme auf die diskursive Praxis der attischen Komödie erkennen: Auch bei Aristophanes und, so könnte man mutmaßen, bei seinen zeitgenössischen Dichter-Kollegen, treten oftmals Figuren einer Tragödie oder gar ihre Autoren auf, werden in den sozialen und politischen Kontext der gesellschaftlichen Wirklichkeit gestellt und fungieren so als Katalysatoren für gesellschaftliche Konflikte. Wie unter einem Brennglas werden diese gesellschaftlichen Konflikte nicht nur deutlicher sichtbar, sie werden - zunächst nur im Medium des Poetischen - zur Austragung gebracht. Und Glaßbrenner geht in gewisser Weise über Aristophanes hinaus: Nicht die Autoren, sondern die Zuschauer stehen auf der Bühne; sie werden zu ‘Antigonisten’, indem sie in Dialog treten zu den Figuren der Tragödie. Theater werden wieder zu den von Tieck beschworenen “öffentliche[n] Plätze[n], bei denen man sich die Zuschauer als von ohngefähr versammelt dachte”. 50 Als Beobachter zweiter Ordnung tritt dann der Zuschauer auf die Bühne; Antigone in Berlin ist nicht mehr als Rekonstruktion, sondern als Reformulierung der antiken Antigone zu lesen, die ihre Zeitgebundenheit nicht nur billigend in Kauf nimmt, sondern sie aktiv ‘in die scene setzt’. 14 Julia Stenzel Anmerkungen 1 Dieser Aufsatz ist die überarbeite und erweiterte Form eines Vortrags, den ich im Rahmen der Jahrestagung der Gesellschaft für Theaterwissenschaft in Amsterdam am 24. Oktober 2008 gehalten habe. 2 Ad. Brennglas (i.e. Adolf Glaßbrenner): Antigone in Berlin. Frei nach Sophokles, 2. Auflage, Leipzig. 1843 (Berlin wie es ist - und trinkt, H. 23, 1842), S. 7. 3 Antigone in Berlin erschien zuerst in Glaßbrenners Periodikum Berlin wie es ist - und trinkt. Die Zuschauer-Figuren, ihre soziale Herkunft, ihr Bildungsstand und ihre Marotten waren dem regelmäßigen Leser des Journals wohlbekannt. Auch die Zuordnung des Pseudonyms dürfte keine große Schwierigkeit gewesen sein. Zu Glaßbrenners Auseinandersetzung mit der politischen und sozialen Situation im Berlin der Vormärz-Zeit s. Fritz Wahrenburg, “Stadterfahrung im Genrewechsel: Glaßbrenners Berlin-Schilderungen”, in Vormärz und Klassik: Vormärz-Studien I (1999), S. 277-300 sowie Patricia K. Calkins, Wo das Pulver liegt. Biedermeier Berlin as Reflected in Adolf Glassbrenner’s Berliner Don Quixotte. New York u.a. 1998. 4 Brennglas, Antigone in Berlin, S. 7. 5 Der ehemalige Kneipenbesitzer Rentier Buffey ist eine der zentralen Figuren in Glaßbrenners Werk. Vgl. Volkmar Steiner, Adolf Glaßbrenners Rentier Buffey. Zur Typologie des Kleinbürgers im Vormärz. Frankfurt a. Main 1983. 6 Vgl. etwa Susanne Boetius, Die Wiedergeburt der griechischen Tragödie auf der Bühne des 19. Jahrhunderts: Bühnenfassungen mit Schauspielmusik, Tübingen 2005, bes. S. 11-25 und 49-61; Hellmut Flashar, Mendelssohn und die griechische Tragödie. Bühnenmusik im Kontext von Politik, Kultur und Bildung. Stuttgart/ Leipzig 2001, S. 12-15. 7 Ich verwende für das Geschehen in Potsdam bewusst den voraussetzungsreichen Begriff ‘Inszenierung’. In meiner Begriffsverwendung ist die Hypothese mitformuliert, dass schon in den Antike-Projekten der 1840er Jahre - freilich in deutlich anderer historischer Konkretisierung - Aspekte zu beschreiben seien, die in der Forschung gemeinhin für Bühnen- und Theaterkonzeptionen der Jahrhundertwende stehen. 8 Hans Christian Genelli, Das Theater zu Athen, Berlin/ Leipzig 1818. Vgl. Susanne Boetius, Die Wiedergeburt der griechischen Tragödie sowie Hellmut Flashar, Inszenierung der Antike. Das griechische Drama auf der Bühne der Neuzeit 1585-1990, München 1991. Die Monographie von Mara Nottelmann-Feil, Ludwig Tiecks Rezeption der Antike. Literarische Kritik und Reflexion griechischer und römischer Dichtung im theoretischen und poetischen Werk Tiecks, Frankfurt 1996, ist bei Quellenangaben unzuverlässig und methodisch unterbestimmt. Zur Wahrnehmung im europäischen Ausland s. Edith Hall/ Fiona Macintosh, “Antigone with Consequences”, in: dies., Greek Tragedy and the British Theatre, 1660-1914, Oxford 2005, S. 316-349. Zur Bühnenmusik s. Hellmut Flashar, Mendelssohn und die griechische Tragödie und Jason Geary, “Reinventing the Past: Mendelssohn’s Antigone and the Creation of an Ancient Greek Musical Language”, in: Journal of Musicology, Bd. 23, Nr. 2 (2006), S. 187-226. 9 Auch Zeitgenossen Mendelssohns versuchten sich an Schauspielmusik zu griechischen Tragödien. Vgl. Gesine Schröder, “Bellermanns Kompositionen zur Antigone”, in Petra Stuber: Schauspiel/ Musik im 19. Jahrhundert, Hildesheim (im Erscheinen); Susanne Boetius, Die Wiedergeburt der griechischen Tragödie; Hellmut Flashar, Mendelssohn und die griechische Tragödie. 10 Brennglas, Antigone in Berlin, S. 3. 11 Vgl. dazu die grundlegende Studie von Jörg Wiesel, Zwischen König und Konstitution. Der Körper der Monarchie vor dem Gesetz des. Theaters, Wien 2001. 12 Der Roman gestaltet “den Segen und Unsegen des Nachgeborenseyns. Unsre Zeit, die sich auf den Schultern der Mühe und des Fleißes unsrer Altvordern erhebt, krankt an einem gewißen geistigen Überfluße. Die Erbschaft ihres Erwerbes liegt zu leichtem Antritte uns bereit; in diesem Sinne sind wir Epigonen. Daraus ist ein ganz eigenthümliches Siechthum entstanden, welches durch alle Verhältniße hindurch darzustellen, die Aufgabe meiner Arbeit ist.” (Karl Leberecht Immermann, Briefe. Textkritische und kommentierte Aus- Der Zuschauer im Bild der Antike. Konstruktionen des 19. Jahrhunderts 15 gabe in drei Bänden, hg. v. Peter Hasubeck. München 1978-1987. Bd. 1, S. 836; Brief an Ferdinand Immermann vom 24. 03. 1830). 13 Brennglas, Antigone in Berlin, S. 18. 14 Brennglas, Antigone in Berlin, S. 8. 15 Brennglas, Antigone in Berlin, S. 16. 16 Die Antithese ‘Wort-‘ vs. ‘Sachphilologie’ simplifiziert freilich; im Hintergrund steht die Frage, ob die Sprache (des griechischen Textes) die Sache (die Epoche Alterthum) schon einschließe (Wortphilologie), oder ob die Sprache eine Sache neben anderen sei (Sachphilologie; Unterscheidung nach Flashar, Mendelssohn und die griechische Tragödie, S. 36f.). Vgl. E. Vogt, “Der Methodenstreit zwischen Hermann und Boeckh”, in: Hellmut Flashar, Philologie und Hermeneutik im 19. Jahrhundert, Göttingen 1979, S. 103-121; G. M. Most, “One hundred years of fractioness: disciplining polemics in 19-century German classical scholarship”, in: TAPA 127 (1997), S. 349-361. 17 Vgl. zu Konzepten des Ursprungs und ihre Bedeutung für die europäische Antike-Rezeption etwa Nina Mindt, “Begegnungen mit ‘der Antike’. Zum Umgang mit Rezeptionsformen”, in: Gymnasium 114 (2007), S. 461-474. Theo Girshausen, Ursprungszeiten des Theaters. Das Theater der Antike, Berlin 1999. 18 Vgl. zur Umwertung der ästhetischen Vorgaben des 18. Jahrhunderts Esther Sophia Sünderhauf, Griechensehnsucht und Kulturkritik. Die deutsche Rezeption von Winckelmanns Antikenideal 1840-1945, Berlin 2004; Volker Riedel, Antikerezeption in der deutschen Literatur vom Renaissance-Humanismus bis zur Gegenwart, Stuttgart u.a. 2000, Clemens Pornschlegel, Der literarische Souverän. Zur politischen Funktion der deutschen Dichtung bei Goethe, Heidegger, Kafka und im George-Kreis, Freiburg 1994. Speziell zum Antiken Theater vgl. Jörg Wiesel, Zwischen König und Konstitution, S. 141-154; ders., “Zum Verhältnis von Theater und Staat im Vormärz”, in Vormärz-Jahrbuch 2001, S. 25-41. Nicht zu verwechseln ist die Konstruktion der Antike als politische Urszene mit der einer Antike des Mythos, wie sie sich bei Bachofen oder bei Friedrich Nietzsche finden lässt. Das religiöse Moment der Antike-Rezeption bei Johann Gustav Droysen, das sich auch in den Anmerkungen des Historikers zum Potsdamer Projekt niederschlägt, spielt, wie angedeutet, auch für Tieck eine Rolle; allerdings sind die Implikation des Potsdamer Projekts dezidiert politisch. 19 So bei Matthias Kamann, Epigonalität als ästhetisches Vermögen, Stuttgart 1994. Vgl. auch Burkhard Meyer-Sickendiek, Die Ästhetik der Epigonalität. Theorie und Praxis wiederholenden Schreibens im 19. Jahrhundert: Immermann - Keller - Stifter - Nietzsche, Tübingen/ Basel 2001. Meyer-Sickendiek gibt einen aktuellen Überblick zu Forschungssituation (S. 49-59) und Begriffsgeschichte (S. 62-93). 20 Johann Paul von Falkenstein, “Einige Randbemerkungen zu H. Köchlys ‘Gottfried Hermann’”, in: Neue Jahrbücher für Philologie und Pädagogik 113 (1876), zit. n. Hermann F. Weiss, “Unbekannte Zeugnisse zu den Leipziger Aufführungen von Felix Mendelssohn Bartholdys Bühnenmusik zur Antigone in den Jahren 1841 und 1842” in: Die Musikforschung 51 (1998), S. 50-97, hier S. 56. 21 Johann Gustav Droysen, “Die Aufführung der Antigone des Sophokles in Berlin”, in: ders., Kleine Schriften zur Alten Geschichte, 2. Bd., Berlin 1894, S. 146-152, hier S. 146f. (Wiederabdruck der Besprechung vom 25.04.1842, ersch. in: Berliner Nachrichten von Staats- und Gelehrtensachen). 22 Ludwig Tieck, “‘Antigone’, von Sophokles” in, ders.: Kritische Schriften. Zum ersten Male gesammelt und mit einer Vorrede herausgegeben, IV. Band, Leipzig 1852, S. 371-373, hier S. 373. 23 Vgl. zu Konzepten von Autorschaft zwischen Romantik und Vormärz Jochen Strobel, “Nach der Autonomieästhetik. Zu Reaktion romantischer Autoren auf Veränderungen des Literatursystems in der Zeit des Vormärz” in: Romantik und Vormärz: Vormärz-Studien X, S. 433-459. 24 So etwa auch im Titel der Monographie von Susanne Boetius. Zu Metaphern der Antike- Rezeption vgl. Mindt, “Begegnungen mit ‘der Antike’”. 25 Besprechung von Droysen, Kleine Schriften zur Alten Geschichte Bd. 2, S. 146-152, hier S. 152; zit. z.B. bei Flashar, Inszenierung der Antike, 16 Julia Stenzel S. 73, bei Fischer-Lichte, “Berliner Antikenprojekte”, S. 102 und bei Nottelmann-Feil, Ludwig Tiecks Antike-Rezeption, S. 225. 26 Arnold Boeckh, Ernst Heinrich Toelken, Friedrich Förster, Über die Antigone des Sophokles und ihre Darstellung auf dem königl. Schloßtheater im Neuen Palais bei Sanssouci, Berlin 1942. Der Band versteht sich als eine grundlegende Stellungnahme der Berliner Altphilologie, Philosophie und Archäologie. Boeckh ist für die philologischen Aspekte zuständig, während Toelken die Fragen der bühnentechnischen Umsetzung aus archäologischer Sicht behandelt. Der Hegel-Schüler Förster gibt eine (durchaus affirmative) Interpretation des Stücks im Horizont der gegenwärtigen politischen Situation in Preußen. Bei kleineren kritischen Anmerkungen wird die Inszenierung insgesamt positiv beurteilt. 27 Richard Wagner, “Das Schauspiel und das Wesen der dramatischen Dichtkunst”, in: ders., Gesammelte Schriften und Dichtungen, Bd. IV, Leipzig 1872, S. 3-128, hier S. 37. 28 Julius von Werther, Erinnerungen und Erfahrungen eines alten Hoftheater-Intendanten, Stuttgart 1911, S. 95. 29 Friedrich Hebbel, Werke, hg. v. Gerhard Fricke, Werner Keller und Karl Pörnbacher, Frankfurt a. Main 1966; Bd. IV, S. 651, Tagebucheintrag Nr. 3093 [31. 03. 1844]. 30 Vgl. Boetius, Die Wiedergeburt der griechischen Tragödie, S. 18-27, bes. S. 24f; 260f. Tiecks Interpretation ist nicht originär; die Vorstellung von Sophokles’ christlichem Weltbild findet sich schon bei August Wilhelm Schlegel und bei Goethe; vgl. Boetius, Die Wiedergeburt der griechischen Tragödie, S. 18f. Die Analogie ‘Antigone - mater dolorosa’ wurde von Robert Garnier (Antigone où la Piété) 1580 erstmals formuliert; vgl Nottelmann-Feil, Tiecks Rezeption der Antike, S. 220. 31 Vgl. dazu Boetius, Die Wiedergeburt der griechischen Tragödie, S. 260f.; Nottelmann-Feil, Tiecks Rezeption der Antike; S. 228. 32 Karl Anton Varnhagen von Ense, Tagebücher, Bd. II, S. 68 (3.5.1842). 33 Henry Lüdeke, Das Buch über Shakespeare. Handschriftliche Aufzeichnungen von Ludwig Tieck. Aus seinem Nachlaß herausgegeben. Halle 1920, S. 300f. 34 Berlinische Zeitung, 30.10.1841. 35 Varnhagen, Tagebücher, Bd. I, S. 359f. (18.10.1841). 36 Patrick Primavesi, “Schluß mit dem Gottesgericht? Theaterarbeit zwischen Ritual, Tragödie und Performance”, in: Richard Faber / Volkhard Krech (Hg.), Kunst und Religion im 20. Jahrhundert, Würzburg 2001, S. 157-186, hier S. 159. 37 Eduard Devrient, Geschichte der Schauspielkunst, Bd. V, Leipzig 1874, S. 157. Ähnlich auch Droysen, “Die Aufführung der Antigone des Sophokles in Berlin”, in: ders., Kleine Schriften zur Alten Geschichte, Bd. 2, S. 146- 152, hier S. 146. 38 Friedrich Förster, “Vorwort”, in: Boeckh, Toelken, Förster, Über die Antigone des Sophokles. 39 Brennglas, Antigone in Berlin, S. 27. 40 Brennglas, Antigone in Berlin, S. 42. Piefke hat in Athen bei Komödienaufführungen ‘saure Jurken’ verkauft; da man in Deutschland als Komödienschreiber alles sagen dürfe, sei er hierher gekommen, um sein Geschäft auszuweiten. Da die deutschen Komödienschreiber aber selbst nur Saure Gurken auf die Bühne bringen, läuft das Geschäft schleppend an. Der Ausdruck ‘Sauregurkenzeit’ wurde schon im 19. Jh. bildhaft verwendet für eine Zeit des politischen Stillstands. Man kann die Passage als Anspielung auf biedermeierliche Gemütlichkeit lesen; s. Lutz Röhrich, Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, 2 Bd., Berlin 1994, Bd. 1, S. 599. 41 Brennglas, Antigone in Berlin, S. 45. 42 Brennglas, Antigone in Berlin, S. 48. 43 Vgl. Wiesel, Zwischen König und Konstitution, bes. Kap III; ders., “Zum Verhältnis von Theater und Staat im Vormärz”. 44 Droysen, “Die Aufführung der Antigone des Sophokles in Berlin”, in: ders., Kleine Schriften zur Alten Geschichte, Bd.2, S. 146-152, hier S. 148. Erika Fischer-Lichte zitiert diese Passage um ihre These von der Potsdamer Antigone als “Totenbeschwörung” zu stützen (“Berliner Antikenprojekte”, in: dies., Theater im Prozeß der Zivilisation, Tübingen u.a. 2000, S. 99-122, hier S. 100). M.E. bedeutet das eine problematische Verkürzung, ist es Droysen doch gerade nicht um Rekonstruktion zu tun. Ganz im Der Zuschauer im Bild der Antike. Konstruktionen des 19. Jahrhunderts 17 Gegenteil vergleicht er die Neu-Entdeckung der Antike im 19. Jahrhundert mit der Shakespeareomanie des Sturm und Drang: “Und fürwahr, schon zeigen sich da und dort die Frühlingsboten einer neuen Zeit, schon keimt es und beginnt es zu grünen; ein fruchtbarer Regen noch, und das alte, fahle Wintergras ist vom frischen Grün überholt”, so schließt Droysen seine Besprechung der Antigone (S. 152). 45 Brennglas, Antigone in Berlin, S. 56. 46 Auf diesen Aspekt kann ich hier nicht näher eingehen; er wird demnächst im Rahmen des Bayern excellent-Projekts Reformulierung der Antike (Leitung: Prof. Dr. Christopher Balme; Teilprojekt Dr. Julia Stenzel) weiterverfolgt. 47 Vgl. Wiesel, “Zum Verhältnis von Theater und Staat im Vormärz”, in Vormärz-Jahrbuch 2001, S. 25-41, bes. 28-39 48 Aphorismus aus Glaßbrenners Tagebuch [1836], zit. n. Heinz Gebhardt: Glaßbrenners Berlinisch, Berlin 1933, S. 116. 49 Man denke etwa an den Dichterwettstreit in den Fröschen des Aristophanes. Vgl. Martin Holtermann, Der deutsche Aristophanes: Die Rezeption eines politischen Dichters im 19. Jahrhundert, Göttingen 2004. Glaßbrenner hat zudem unter dem Titel Kaspar, der Mensch (1850) eine Parodie auf Goethes Faust verfasst; das Stück ist bezeichnenderweise auch formal an die Alte Komödie angenähert. 50 Henry Lüdeke, Das Buch über Shakespeare, S. 300.