eJournals Forum Modernes Theater 24/2

Forum Modernes Theater
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Narr Verlag Tübingen
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2009
242 Balme

Relektüre: Carl Niessen: Handbuch der Theater-Wissenschaft

2009
Christopher Balme
Carl Niessen: Handbuch der Theater-Wissenschaft Christopher Balme (München) Angesichts der immer noch sehr überschaubaren institutionellen Verankerung des Fachs Theaterwissenschaft im deutschsprachigen Raum - es gibt ca. ein Dutzend eigenständiger Institute, die meisten davon mit nur einer oder zwei Professuren - ist die Zahl der Einführungen in das oder Bestandsaufnahmen des Fachs beachtlich. Inzwischen liegen vier Einführungen vor (und eine weitere befindet sich in Vorbereitung), sodass eine Einführung auf drei Institute kommt. Die Studierendenzahlen stehen bekanntlich im umgekehrten Verhältnis zur Zahl der Institute, so dass eine Pluralität an Ansätzen durchaus wünschenswert ist. Abgesehen von nachvollziehbaren verlegerischen Interessen an der Herstellung von Einführungen (Stichwort: Bachelor- Wissen) besteht anscheinend ein großer Bedarf an fachlicher Orientierung, Selbstvergewisserung und -reflexion. Dabei handelt es sich keineswegs um ein neues, der postmodernen Unübersichtlichkeit bzw. Quick-Fix- Ökonomie geschuldetes Phänomen, sondern war früher auch nicht anderes, wie ein kurzer Blick in die lange Gründungszeit des Fachs zeigt. Artur Kutschers Grundriss der Theaterwissenschaft erschien in erster Auflage 1931, während Carl Niessen 1949 den ersten Band seines Handbuchs der Theater-Wissenschaft vorlegte. Schließlich folgte der frisch entnazifizierte Heinz Kindermann 1953 mit seiner Bestandsaufnahme Aufgaben und Grenzen der Theaterwissenschaft (1953). Thema der vorliegenden Relektüre ist der zweite Titel in dieser Genealogie der theaterwissenschaftlichen Anfänge: Niessens Handbuch, das allein aufgrund seines Umfangs und eklektizistischer Materialbasis ein Unikum geblieben ist. 1 Zunächst stellt sich die Frage, warum man dieses Buch neu ‘lesen’ muss, zumal es ob seines Ausmaßes faktisch unlesbar ist. Unlesbar ist es nicht nur aufgrund des fast 2000 Seiten umfassenden Umfangs und seines fragmentarischen Charakters (das Projekt war ursprünglich auf zehn Bände konzipiert! ). Problematisch ist also nicht lediglich die Fülle, sondern und vor allem die Art des Materials und dessen Aufbereitung. Die vorliegenden drei Bände spiegeln die Sammelleidenschaft des Autors wieder, die immerhin der Universität Köln eine der umfangreichsten theatergeschichtlichen Sammlungen Europas vermacht hat. Die folgenden Überlegungen verstehen sich nicht als Plädoyer für eine Neuauflage. Das Handbuch kann ausschließlich als Fall für die Wissenschaftsgeschichte betrachtet werden und in diesem wissenschaftsgeschichtlichen Kontext schlage ich deshalb meine ‘Relektüre’ vor. Meine These lautet, dass das Buch Spuren eines disziplingeschichtlichen Bruchs in den Kunstwissenschaften in Deutschland dokumentiert, der in anderen Fächern viel früher einsetzt. Niessens ‘Fragment’ ist Symptom einer breit angelegten Bewegung, die man als globale und/ oder integrative Kunstwissenschaft bezeichnen könnte. Viel interessanter als das Buch selbst ist dieser unterbrochene Weg, dessen Anfänge eine weitgehend in Vergessenheit geratene Entwicklung darstellen, an die erst in der jüngsten Zeit wieder angeknüpft worden ist. 2 Die ersten beiden Bände des Handbuchs, die insgesamt über 1.000 Seiten Text umfassen, enthalten beinahe ausschließlich Beispiele aus ethnographischen Quellen. Diese Forum Modernes Theater, Bd. 24/ 2 (2009), 183-189. Gunter Narr Verlag Tübingen Relektüre 184 Relektüre ‘völkerkundliche’ Orientierung steht ganz im Banne fachlicher Querelen, wie Niessen auf der letzen Seite des ersten Bandes unmissverständlich zum Ausdruck bringt: Es steht zu hoffen, daß insbesondere die breite völkerkundliche Untermauerung, welche wir der Theaterwissenschaft geben, so skizzenhaft sie zunächst sein mag, verschiedenen Literaturhistorikern ein Licht aufsteckt, daß man nicht in Nebenstunden der deutschen Literaturgeschichte die universelle Theaterwissenschaft darstellen kann. Zur umfassenden und weltumspannenden Theaterwissenschaft ist die Völkerkunde als Start besser denn die Literaturwissenschaft. (Niessen 1949, 594.) Die der Theaterwissenschaft angebotene “breite völkerkundliche Untermauerung” exemplifiziert Niessen in erster Linie anhand der Darstellung von Tänzen, rituellen Praktiken und jeder Art mimischer Darbietungen. Er breitet eine Sammlung an ethnologischem Material, Zitaten aus seriösen wie populärwissenschaftlichen völkerkundlichen Werken im Zusammenspiel mit europäischen Dramatikern und Dichtern aus, die ebenso überwältigend wie unstrukturiert erscheint. Die ethnologische Orientierung spiegelt sich auch in dem von ihm gesammelten und im Kölner Theatermuseum präsentierten ethnographischen Material. Vor diesem Hintergrund betont Niessen, wie Mechthild Kirsch ausführt, “immer wieder den internationalen Anspruch der Theaterwissenschaft”. 3 Mit den unmittelbaren Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und wohl auch seinen eigenen Annäherungsversuchen an die nationalsozialistischen Machthaber noch in frischer Erinnerung reklamiert Niessen für das Fach nicht weniger als eine völkerverbindende und friedensstiftende Verständigungsfunktion: [D]ie Theaterwissenschaft vermag wie wenige andere Disziplinen Verstehen der anderen Völker zu wecken. Sie vermag deutlich zu machen, wie verwandt der Kern aller Menschen ist, wie sie aus gleichen Sehnsüchten leben, gleichen Kunsttrieben folgen, Schönheit und Menschlichkeit suchen sollten, statt einander zu quälen, Blut zu vergießen und unwiederbringlich zu zerstören, was unantastbares Erbgut aller Lebenswürdigen sein sollte, d.h. der Menschen wahrer Kultur. (Niessen 1949, XXIII) Angesichts solcher hehren, ‘völkerverbindenden’ Zielsetzungen mag es verwundern, dass Niessen das eher unrühmliche Verdienst zukommt, als Vordenker der nationalsozialistischen Thingspielbewegung seinen Platz in der Theatergeschichte gefunden zu haben. 4 Auch wenn man zunächst Niessens problematische ideologische Orientierung beiseite lässt, mutet seine “weltumspannende” theaterwissenschaftliche Perspektive heute etwas befremdlich aufgrund ihrer kulturkomparatistischen Ausrichtung an. Auf einer willkürlich herausgegriffenen Seite von Niessens Handbuch (Niessen 1949, 548) finden wir z.B. im Zusammenhang mit den Begriffen Mimikry und Mimesis Belege aus der römischen Kriegsführung, Grabbes Historienstück Hannibal, Vergleichsbeispiele bei den Thessaliern, den Sioux- und Choktaw-Indianern sowie den Polynesiern (Samoa und Tonga), die schließlich zum Phänomen des travestissement in einem Maskenspiel des französischen Hofs des 18. Jahrhunderts überleiten. Aus diesem beinahe postmodern anmutenden Hang zur gewagten Analogisierung zieht Niessen selbst die Konsequenz und plädiert für eine Erweiterung des theaterwissenschaftlichen Forschungsfeldes: So werden wir umgekehrt bemüht sein müssen, der Totalität der Betrachtung wegen, manches zu beachten, was man gemeinhin kaum zum Theater zählt: diese Bemühung reicht von der Theatralisierung des Festlebens wie Einzüge, Trionfi, Turniere und mimisch gefüllte Feuerspektakel bis zur Zirkuspantomime, ganz zu schweigen von den Kleinkünsten des Theaters, Puppen- und Schattenspiel. (1949: 549) Relektüre 185 Aus heutiger Sicht ist diese kultur-, zeit- und kunstübergreifende Kombination unterschiedlichster Quellen und Ausdrucksformen kaum mit dem Fach, wie es heute im deutschsprachigen Raum gelehrt wird, in Verbindung zu bringen. Allerdings macht das letzte Zitat deutlich, dass die Theaterwissenschaft neuerdings an dieses Forschungsprogramm wieder langsam anknüpft. Niessen rückt das Fach nämlich einerseits in die Nähe der in den sechziger Jahren von Richard Schechner geprägten und heute stark ethnologisch ausgerichteten Performance Studies, andererseits definiert er ein Forschungsfeld, das dreißig Jahre später unter dem Begriff ‘Theatralität’ wieder in den Mittelpunkt fachtheoretischer Erörterungen gerät und das Arbeitsfeld der Theaterwissenschaft erheblich erweitert hat. Das heißt, dass die Theaterwissenschaft wieder an die von Niessen propagierte Fachperspektive anschließt, allerdings nicht unmittelbar, sondern erst über den angloamerikanischen Umweg von Performance Studies, New Historicism und Cultural Studies. Warum bedurfte es einer solch lang andauernden Verzögerung? Oder sollte man nicht vielmehr von einer Unterbrechung sprechen? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir wissenschaftsgeschichtliche Ausgrabungen betreiben und uns in die Zeit kurz vor 1900 begeben. Egal wann und wie man die genauen Anfänge der Theaterwissenschaft im deutschsprachigen Raum datiert, lassen sich zwei recht unterschiedliche Ansätze in den ersten drei Dekaden des Jahrhunderts ausmachen: ein ästhetischer und ein kulturwissenschaftlicher, die einerseits durch Max Herrmann und andererseits durch Carl Niessen und Artur Kutscher vertreten wurden. 5 Die Ansätze Herrmanns sind bekannt und setzten sich durch. Zu seinem fachgeschichtlichen Vermächtnis gehört in erster Linie die Bestimmung der Aufführung als ästhetisches Gebilde mit Werkcharakter, vergleichbar dem Kunstwerk der Kunstgeschichte. Hinzu kommen Untersuchungen zu speziellen Unterbereichen des Theaters wie etwa Bühnenbild, Regie, Schauspielkunst und Dramatik. 6 Herrmanns Projekt einer eigenständigen Theaterwissenschaft richtete sich bekanntlich gegen die Philologie. Um das Theater als autonome Kunstform zu begründen, lehnte er sich an eine phänomenologisch und wahrnehmungsbzw. gestaltpsychologisch ausgerichtete Kunstphilosophie an, wie er in seinem in der Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 1931 veröffentlichten und heute im Zeichen des spatial turn viel zitierten Aufsatz “Das theatralische Raumerlebnis” unter Beweis stellt. 7 In ihrer Grundtendenz grenzen alle Arbeiten Herrmanns, seien sie historisch oder theoretisch-ästhetisch ausgerichtet, das Theater und seine Grundelemente von anderen Kunstformen ab, um einen singulären und ‘eurozentrierten’ Forschungsgegenstand von anderen Disziplinen zu demarkieren. In dieser Abgrenzung und Fokussierung auf das abendländische Erbe entspricht Herrmanns Ansatz analogen Entwicklungen in den Kunst- und Musikwissenschaften ab ca. 1930, die ebenfalls zunächst kultur- und kunstübergreifende Ansätze verfolgten, nur um diese um die gleiche Zeit endgültig aufzugeben. Aby Warburgs Ansatz zu einer anthropologischen Kunstgeschichte ist nur das bekannteste Beispiel dieser unterbrochenen (aber heute in Ansätzen wieder aufgenommenen) Traditionslinie. Der zweite und, wissenschaftsgeschichtlich gesehen, unterlegene Ansatz beschritt einen umgekehrten Weg. Anstatt das Theater als ästhetisches Phänomen zu isolieren, interessierte man sich für das, was man heute den theateranthropologischen Grundimpuls nennen könnte. 8 Nicht nur waren die Tänze und theateranalogen Praktiken der ‘Naturvölker’ in diesem Ansatz von zentralem Interesse, sondern die Verflechtung mit anderen Kunstformen eine selbstverständliche Grundannahme. So enthält ein Gründungswerk einer sich formierenden ‘Weltkunstgeschich- 186 Relektüre te’, Ernst Grosses in mehrere Sprachen übersetzte Anfänge der Kunst (1894), ausführliche Kapitel sowohl zum Tanz als auch zur Musik. Grosse, der Kurator der Freiburger Städtischen Sammlungen und Privatdozent für Völkerkunde an der Universität Freiburg war, ging es in erster Linie darum, “primitive Kunst” in eine allgemeine Kunstwissenschaft zu integrieren. Auch wenn (oder vielleicht weil) er vor allem Fachmann für ostasiatische Kunst war, machte er sich für einen ethnologischen Blick auf die Kunst stark: Alle Anderen [soziologischen Disziplinen] haben erkannt, welche mächtige und unentbehrliche Helferin der Kulturwissenschaft in der Ethnologie erwachsen ist; nur die Kunstwissenschaft verschmäht es noch immer, die rohen Erzeugnisse der primitiven Völker, welche die Ethnologie vor ihr ausbreitet, eines Blickes zu würdigen. (18-19) In der Tat bildete die Faszination mit ‘Ursprüngen’ und ‘Anfängen’ einerseits und die Suche nach mythischen und rituellen Grundstrukturen andererseits die Grundlage für eine neue Wissenschaft, die in manchen Ausprägungen kunst-, aber in allen Fällen kulturübergreifend konzipiert war. Wissenschaftsgeschichtlich lassen sich drei Hauptimpulse ausmachen: Neufassung der Antike im Lichte ethnologischer Forschung; die damit verbundene durch die neue Disziplin der vergleichenden Religionswissenschaft beeinflusste Mythenforschung 9 sowie als deutscher Sonderweg die Völkerpsychologie. Scheiterte letztere nach wenigen Jahrzehnten an den eigenen wissenschaftstheoretischen Aporien, blieb das Interesse an einer vergleichenden ethnologisch fundierten Antiken- und Ritualforschung bis in die heutige Zeit virulent. Auch wenn viele Thesen und Grundannahmen der um Jane Ellen Harrison und Gilbert Murray versammelten Forscher der sogenannten Cambridge Ritualists inzwischen widerlegt oder zumindest stark relativiert worden sind, so übt die Vorstellung einer atavistischen und an Stammesriten der Südseeinsulanern orientierten griechischen Ritualkultur auf Forscher und Künstler gleichermaßen eine Faszination aus. Dank der täglich einströmenden neuen ethnographischen Daten über ‘Naturvölker’ gelangte man zur Einsicht, dass man nun neue ‘Quellen’ zur Verfügung habe, mit denen man die Wiege der abendländischen, aber darüber hinaus auch die menschliche Kultur schlechthin besser verstehen konnte. Bereits überholt aber keineswegs verschwunden zu dieser Zeit war der aus dem 18. Jahrhundert stammende entwicklungsgeschichtliche Ansatz, der Kulturen in unterschiedlichen ‘Entwicklungsstadien’ und ‘Stufenleitern’ (Grosse) auf dem Wege zur zivilisatorischen ‘Vollendung’ modellierte. Materielle und zum Teil auch ideologische Grundlage aller drei Strömungen war die vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sich beschleunigende koloniale Expansion Europas, die bald eine europäische Fahne auf jeden Landstrich hineingepflanzt hat. Das, was heutige Historiker die erste Phase der Globalisierung nennen (die Zeit etwa von 1850-1914) und damit vor allem politische Expansion und einen hohen Grad an ökonomischer Verflechtung meinen, der erst nach 1989 wieder erreicht wurde, wirkte sich auch auf die sich herausbildenden Kunstwissenschaften (Kunstgeschichte, Musik- und Theaterwissenschaft) unmittelbar aus. Hinzu kamen archäologische Funde wie etwa die Höhlen von Altamira und die Entdeckung von immer mehr Höhlenzeichnungen, so dass gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine regelrechte Explosion an Publikationen zu den ‘Anfängen’ und ‘Ursprüngen’ der Kunst und zur Theorie eines homo aestheticus sich breit machte. Im Bereich des Theaters war die Mimustheorie des Altphilologen Hermann Reich von zentraler Bedeutung. In seiner voluminösen Untersuchung Der Mimus: Ein literaturentwicklungsgeschichtlicher Versuch (1903) wird die Genese eines antiliterarischen, Relektüre 187 körperbetont-derben Volkstheaters postuliert. Der Rückgriff auf Reichs zum Teil höchst spekulative Thesen diente in erster Linie wissenschaftstheoretischen Zwecken. Mit Hilfe der Mimusthese eröffnete sich ein Forschungsgebiet, das in keiner Weise von den Philologien beansprucht wurde und vom zeitlichen Horizont her das Interessensgebiet der Altphilologie sogar prädatierte. 10 In jüngster Zeit hat sich Julie Stone Peters mit den ‘Anfängen’ der Theaterwissenschaft um 1900 beschäftigt. Ihr geht es darum, ein weitgehend vergessenes, bis in die Aufklärung zurückreichendes theaterhistoriographisches Projekt, das sie “the larger narrative of global theater history” nennt (Peters 2009: 68), erneut unter die Lupe zu nehmen. Sie weist nach, dass bereits im späten 18. Jahrhundert Theaterhistoriker wie Pietro Napoli Signorelli (Storia critica de’ teatri antichi e moderni (1777-1813) die Reiseberichte über Südseetänze und -pantomimen eines Kapitän Cook in seine ‘kritische Geschichte’ einbezogen: From this perspective, the twentieth-century ritualist idea is merely a late revision of a set of much older ideas about primitive performance produced by the conjunction of modern (imperial, commercial, anthropological) travel and the Enlightenment human sciences. 11 Peters argumentiert, dass das theaterhistoriographische Projekt Bestandteil einer größeren und komplexeren Entwicklung war, die Ethnographie, Reiseberichte, Weltausstellungen (wo das Primitive live studiert werden konnte) und koloniale Expansion zusammenband: To look at all of these is to grant performance studies a much longer prehistory than it is usually given. It is to recognize that theater studies historically had a wider disciplinary lens than we commonly imagine - that it was not, after all, merely a discipline for the measurement of angle wings but was in fact, for most of its modern history, situated in the broader study of human performance. It is to see the origins of the idea of global performance (in the aspirations of eighteenth-century universal theater history, in nineteenthcentury primitive aesthetics, in the World’s Fairs), and the early formation of a set of performance practices that ultimately gave the global mass-culture entertainment industry both its rhetoric and the labor on which it depended. 12 Von Brander Matthews’ The Development of the Drama (1903) über Harrisons Themis (1912) bis hin zu Karl Mantzius’ sechsbändiger History of Theatrical Art in Ancient and Modern Times (1904-09) versuchten alle Forscher Parallelen zwischen einer “zivilisierten” griechischen Antike und der Ritualkultur der ‘Primitiven’ herzustellen: “the wall that stadial aesthetic theory had painstakingly constructed between primitive artifact and civilized art began to crumble”. 13 Damit entsteht ein zeit- und raumumspannendes Forschungsfeld, das bei allen aus heutiger Sicht problematischen Grundannahmen erneute Aufmerksamkeit verdient. Dass sich aber das Fach Theaterwissenschaft letztlich mehr auf die “Messung von Winkelrahmen” konzentrierte und damit eine Richtung einschlug, von der es sich erst in den 1990er Jahren zu erholen begann, gehört zu den folgenschweren fachgeschichtlichen Entwicklungen. Die Perspektive einer globalen Performance Studies avant la lettre, die Peters auftut, bietet letztlich einen Kontext, in dem wir Niessens Handbuch zumindest besser verstehen können, auch wenn wir es nicht unbedingt Erstsemestern als Pflichtlektüre empfehlen müssen. Es ist wohl kein Zufall, dass wir nun erst in der zweiten Phase der Globalisierung, die nach 1989 einsetzt, an das um 1900 entwickelte Potential wieder anschließen. Das bedeutet aber, dass wir die von Niessen angedachte “weltumspannende” und “völkerverbindende” Theaterwissenschaft langsam in unseren Lehrplänen und Forschungsstrategien zu verankern beginnen sollten. 188 Relektüre Es gibt meines Wissens keine einzige Professur der Theaterwissenschaft im deutschsprachigen Raum, die der Denomination nach für außereuropäische Theaterformen zuständig ist. Das bedeutet nicht, dass es keine Kolleginnen und Kollegen gibt, die sich damit in Lehre und Forschung befassen. Wenn man aber die Theaterwissenschaft mit benachbarten Kunstwissenschaften vergleicht, so wird die eurozentristische Grundorientierung deutlich. Für den neuen Lehrstuhl an der Universität Heidelberg in Global Art History (dem dortigen Exzellenzcluster Asia and Europe sei Dank) gibt es wahrlich kein Äquivalent, von den bestehenden und länger etablierten Angeboten in ostasiatischer und islamischer Kunstgeschichte ganz zu schweigen. Allerdings ist das seit 2008 bestehende, von Erika Fischer-Lichte geleitete internationale geisteswissenschaftliche Forschungskolleg ‘Verflechtungen von Theaterkulturen’ vielleicht ein erstes Zeichen, dass sich auf dem Gebiet einer “völkerverbindenden” Theaterwissenschaft etwas tut, auch wenn deutschsprachige Theaterwissenschaftler als Fellows aus nahe liegenden Gründen bislang kaum vertreten sind. Es bleibt daher abzuwarten, ob sich das internationale, hauptsächlich von auswärtigen Fellows getragene Forschungsprogramm in der universitären Lehre hierzulande niederschlagen wird. Wenn wir eine Re-Lektüre von Niessens Handbuch unternehmen, so aus zwei Perspektiven. Das Werk ist symptomatisch für einen wissenschaftsgeschichtlichen Bruch, dessen interdisziplinäre Erforschung zusammen mit der Kunst- und Musikwissenschaft ein Desiderat bleibt. Die andere Perspektive betrifft die Zukunft des Fachs Theaterwissenschaft selbst. Auch wenn Niessen dem Fach heute in methodischer Hinsicht wenig zu bieten hat, ist sein Versuch, kulturelle Diversität zu erfassen, ein Signal, das es verdient, gehört zu werden, ansonsten läuft das Fach im deutschsprachigen Raum Gefahr, den Anschluss an internationale Entwicklungen zu verlieren. Anmerkungen 1 Carl Niessen, Handbuch der Theater-Wissenschaft. 3 Bände. Teil I Daseinsrecht und Methode, Ursprung und Wert der dramatischen Kunst (1949). Teil II Ursprung des asiatischen und griechischen Dramas aus dem Toten- und Ahnenkult (1953). Teil III Drama, Mimus und Tänze in Asien (1958), Emsdetten: Lechte, 1949-1958. 2 An dieser Stelle muss ich anmerken, dass ich nicht der erste bin, der einer erneuten Beschäftigung mit Niessens Handbuch das Wort redet. Lutz Ellrich hat jüngst eine exzellente “ethnologische Relektüre” vorgelegt. Ihm verdanke ich manche Anregung, auch wenn mein Ansatz ein anderer ist. Vgl. Lutz Ellrich, “Carl Niessens Handbuch der Theater-Wissenschaft: Versuch einer ethnologischen Relektüre”, in: Maske und Kothurn 55: 1-2 (2009), S. 175-192. 3 Mechthild Kirsch, “Die Anfänge der Theaterwissenschaft in Köln: Carl Niessen und die ‘totale Theaterwissenschaft’”, in: Max Herrmann und die Anfänge der deutschsprachigen Theaterwissenschaft. Hg. v. Gesellschaft für Theatergeschichte e.V. Ausstellungsführer der Universitätsbibliothek der FU Berlin, 1992, S. 32. 4 Von Niessen stammt der Begriff ‘Thingspiel’; an der Implementierung war er allerdings nicht beteiligt. Zu Niessens ‘komplizierter’ und konfliktträchtiger Beziehung zum NS- Regime, vgl. Gerd Simons Dokumentation http: / / homepages.uni-tuebingen.de/ gerd. simon/ ChrNiessen.pdf 5 Zu diesem ‘Streit’ vgl. das Vorwort zur Neuauflage von Artur Kutschers Grundriß der Theaterwissenschaft, München: Kurt Desch, 2 1949, o.S.; Kutscher reklamiert hier für sich gegen Max Herrmann das Verdienst, den Begriff ‘Theaterwissenschaft’ erfunden zu haben. 6 Vgl. neben Herrmanns eigenen Publikationen das Verzeichnis der von Herrmann betreuten Dissertationen, in: Stefan Corssen, Max Herr- Relektüre 189 mann und die Anfänge der Theaterwissenschaft, Tübingen: Niemeyer, 1998, 177-183. 7 Max Herrmann, “Das theatralische Raumerlebnis”, in: Vierter Kongreß für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. Beilage zur Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 25 (1931), Band II, S. 152-163. Vgl. hier Herrmanns Hinweis auf seinen Berliner Kollegen, den Psychologen Kurt Lewin. 8 Die Theateranthropologie nimmt verschiedene Formen an. Dabei muss man zwischen einer im weitesten Sinne ethnologischen Ausrichtung und dem Ansatz etwa eines Eugenio Barba, der sich von der Ethnologie abgrenzt, unterscheiden. Für Barba ist weniger die kulturelle Differenz als vielmehr die Ebene des Prä-Expressiven von Interesse. Darunter versteht er diejenigen Körpertechniken, die noch keine kulturelle Semantisierung und damit Spezifizierung erfahren haben. Ihn interessieren daher physiologische Faktoren wie Gewicht, Balance, Position der Wirbelsäule, die Richtung der Augen usw., die dazu beitragen, prä-expressive ‘Spannungen’ und damit eine andersartige Qualität von Energie zu erzeugen, die man auch als Präsenz bezeichnen könnte. 9 Grundlegend waren Andrew Lang: Myth, Ritual, and Religion (1887) und natürlich J.G. Frazer’s Golden Bough (1890ff.). 10 Zum Einfluss von Reich auf die deutsche Theaterwissenschaft vgl. meinen Aufsatz, “‘verwandt der Kern aller Menschen’: Zur Annäherung von Theaterwissenschaft und Kulturanthropologie”, in: Bettina Schmidt / Mark Münzel (Hg.), Ethnologie und Inszenierung: Ansätze zur Theaterethnologie, (Curupier. 5.) Marburg: Curupira 1998, S. 19-44, sowie Ellrich, 2009, S. 178-79. 11 Julie Stone Peters, “Drama, Primitive Ritual, Ethnographic Spectacle: Genealogies of World Performance (ca. 1890-1910)”, Modern Language Quarterly 70.1 (2009), S. 67-96, hier S. 69. 12 Peters 2009, S. 69. 13 Peters 2009, S. 74.