eJournals Forum Modernes Theater 24/2

Forum Modernes Theater
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Narr Verlag Tübingen
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Mit seiner 2007 entstandenen Woyzeck-Inszenierung am Münchner Residenztheater akzentuiert Martin Kušej die Risse und Bruchstellen des Dramenfragments, indem er den Stoff in eine Welt nach der Apokalypse verlegt, in welcher sich Raum und Zeit als undifferenziert und diskontinuierlich zu erkennen geben. So wie der Büchner-Text als Aggregat einer Vielzahl von Stimmen erscheint, zeigt sich auch die Inszenierung von Volksliedern, Märchen, aber auch einer Reihe von kontemporären Fremdtexten durchdrungen. Der vorliegende Aufsatz widmet sich den Konsequenzen, die sich aus einem derart collagierten Textkörper ergeben. Im Rekurs auf postmoderne Zeichentheorien werden auf diese Weise jene Strategien der Inszenierung freigelegt, die vermeintlich festgeschriebene Konstellationen von Sinnbelegungen unterminieren und in ein bewegtes Spiel mit Deutungsstrukturen und Interpretationsebenen münden. Schließlich wird versucht, die exponierten Bewegungslinien des Lese-Akts selbst zu verfolgen und zu reflektieren, um zu der grundlegenden Frage nach den Modi von Rezeption zu gelangen.
2009
242 Balme

Bewegungen durch Splitter – “Wer das lesen könnt”

2009
Tobias Straub
Bewegungen durch Splitter - “Wer das lesen könnt” Martin Kušejs Woyzeck-Inszenierung am Bayerischen Staatsschauspiel 2007 Tobias Staab (München) Mit seiner 2007 entstandenen Woyzeck-Inszenierung am Münchner Residenztheater akzentuiert Martin Kušej die Risse und Bruchstellen des Dramenfragments, indem er den Stoff in eine Welt nach der Apokalypse verlegt, in welcher sich Raum und Zeit als undifferenziert und diskontinuierlich zu erkennen geben. So wie der Büchner-Text als Aggregat einer Vielzahl von Stimmen erscheint, zeigt sich auch die Inszenierung von Volksliedern, Märchen, aber auch einer Reihe von kontemporären Fremdtexten durchdrungen. Der vorliegende Aufsatz widmet sich den Konsequenzen, die sich aus einem derart collagierten Textkörper ergeben. Im Rekurs auf postmoderne Zeichentheorien werden auf diese Weise jene Strategien der Inszenierung freigelegt, die vermeintlich festgeschriebene Konstellationen von Sinnbelegungen unterminieren und in ein bewegtes Spiel mit Deutungsstrukturen und Interpretationsebenen münden. Schließlich wird versucht, die exponierten Bewegungslinien des Lese-Akts selbst zu verfolgen und zu reflektieren, um zu der grundlegenden Frage nach den Modi von Rezeption zu gelangen. Woyzeck - Ein Text in Bewegung Die Not von gestern ist die Tugend von heute: die Fragmentierung eines Vorgangs betont seinen Prozeßcharakter, hindert das Verschwinden der Produktion im Produkt, die Vermarktung, macht das Abbild zum Versuchsfeld, auf dem Publikum koproduzieren kann. Ich glaube nicht, dass eine Geschichte, die ‘Hand und Fuß hat’ (die Fabel im klassischen Sinn), der Wirklichkeit noch beikommt. 1 Es ist, als hallten die Worte Heiner Müllers über die komplette Dauer der Woyzeck-Inszenierung im Residenztheater Münchens durch Bühnen- und Zuschauerraum. Martin Kušejs Interpretation nimmt die spezifische Beschaffenheit des Büchner-Textes in ihre Fragestellungen auf und untersucht diese in einer hoch komplexen Auseinandersetzung mit einem Fragmentbegriff, der über den Rahmen üblicher Konnotationen wie “Überbleibsel, Rest, Spur einer Sache” 2 hinausgeht. Ist das Fragment immer Bruchstück eines ehemals Ganzen oder funktioniert es auch für sich allein? Liegt in Splittern eine eigene Wertigkeit, eine eigene Ästhetik? Wie wäre mit dieser umzugehen? Inwieweit die ungewöhnliche Form des Originaltextes, die sich in einer Fülle von Szenen ohne Aktgliederung präsentiert, eine von Büchner selbst intendierte ist, wird in der Forschung nach wie vor viel diskutiert. Ob die zahlreichen Ortswechsel und die kaum präzisierten Angaben der Zeitlichkeit dem unerwarteten Tod des jungen Dichters in Rechnung zu stellen sind oder ob die inhaltliche Zerrissenheit des titelgebenden Protagonisten auch in einer abgeschlossenen Version des Autors ihre formale Entsprechung gefunden hätte, bleibt Spekulation. 3 Fest steht, dass jeder Umgang mit dem erhaltenen Text die Frage des Arrangements, des dramaturgischen Bauplans, weit intensiver stellt als die Auseinandersetzung mit vielen anderen Stücken, welche mit dem Siegel der Vollendung die Hände des Autors verließen. 4 Aus den vier Entwurfshandschriften Büchners wurde seit der ersten Ausgabe aus dem Jahre 1875 immer wieder versucht eine Fassung zu generie- Forum Modernes Theater, Bd. 24/ 2 (2009), 135-149. Gunter Narr Verlag Tübingen 136 Tobias Staab ren, die sich dem vermeintlichen Willen des verstorbenen Dichters auf ein Maximum anzunähern in der Lage ist. Die fast allen nachträglichen Bearbeitungen zu Grunde liegende heimliche Prämisse, Büchner habe vorgehabt, die verstreuten Szenen zu einer Textform zusammenzufassen, die sich letztlich mehr oder minder an den Vorgaben des klassischen Dramas der geschlossenen Form orientiert, ist eine gewagte Unterstellung, deren fragilen Untergrund man leicht zu verdrängen geneigt sein mag. Als Effekt dieser Debatte (zumindest scheint jeder der Teilnehmer - bewusst oder unbewusst - dies zu bestätigen) zeigt sich ein semiotisches Verständnis, das den Text aus seiner vermeintlichen Verankerung löst und als bewegliches Gefüge begreift. Der Sinn eines Textes soll damit nicht als vom Autor festgeschriebene und mit diesem verwobene Einheit, sondern mit Derridas Theorie der Dekonstruktion als variabler Effekt von Differenzen verstanden werden. An die Stelle von Eindeutigkeit tritt ein dynamischer Prozess von permanent im Wechsel begriffenen Bedeutungskonstitutionen und Blickwinkeln. Der Perspektivismus dieses Denkens besagt, daß es vermeidet, erneut eine Perspektive zu verabsolutieren, daß für das eigene Denken die Begrenztheit seiner Perspektive und ihre Verschiebbarkeit mit in Ansatz gebracht werden 5 . Im Falle des Woyzeck-Fragments zeugt bereits die Inszenierungs- und Editionsgeschichte von einer außerordentlich beweglichen Struktur der Sinnbelegung. Durch das Fehlen einer autorisierten Szenenreihenfolge entstand ein großer Spielraum möglicher Arrangements der Szenenentwürfe Büchners, die eine Vielzahl unterschiedlicher Akzentuierungen des Stoffes zuließen. Versteht man mit Culler die Dekonstruktion eines Diskurses als eine Bewegung, als ein [A]ufzeigen, wie er [der Diskurs] selbst die Philosophie, die er vertritt, bzw. die hierarchischen Gegensätze, auf denen er beruht, unterminiert, indem man die rhetorischen Verfahren nachweist, die die angenommene Basis der Beweisführung, den Schlüsselbegriff oder die Vorraussetzung erst schaffen 6 , so stellt sich die Frage, ob dekonstruktive Prozesse am Woyzeck-Fragment nicht per se schon in noch offensichtlicherem Maße sichtbar werden als bei anderen Texten. Auch eine Bühnen- und Lesefassung in der Edition Thomas Michael Mayers, die seit einigen Jahren die allgemein akzeptierte Ausgangsbasis der Aufführungspraxis markiert und mit deren normativer Struktur sich auch diese Arbeit auseinandersetzt, bringt keinen Stillstand in das kontinuierliche Spiel der Bedeutungsproduktion. Der Text bleibt in unablässiger Bewegung, sein Körper entzieht sich einer festen Form. Kušej macht den Umstand, mit einer unsicheren, lückenhaften Zeitlichkeit und einer ungeklärten Handlungsabfolge umgehen zu müssen, formal wie inhaltlich zum Thema seiner Inszenierung. Wenn jedoch scheinbar selbstverständliche Kategorien wie diese in Frage gestellt sind, ist es dann überhaupt zulässig von diesen Parametern ausgehend eine Analyse anzutreten? Was bedeutet es, einen Inszenierungstext zu lesen, der die Struktur seiner Lesbarkeit selbst permanent verschiebt? Anhand einer Untersuchung raumzeitlicher Faktoren der Inszenierung gilt es demnach in einem ersten Schritt herauszufinden, wie mit diesen scheinbar basalen Koordinaten umgegangen wird, um sich in einem weiteren Schritt den Figuren zuzuwenden. Durch das so erörterte Verhältnis des wahrnehmenden Subjekts zu seiner Umwelt wird zu zeigen sein, inwiefern der Inszenierung über die offenkundigen sozialkritischen Tendenzen hinaus daran gelegen ist, Kausalverhältnisse auf ihre konstitutiven Bestandteile hin zu prüfen und damit die elementarsten Kriterien unserer Wahrnehmung zu hinterfragen. Bewegungen durch Splitter - “Wer das lesen könnt” 137 Exposition(en) und Fremdtexte Wie Volker Klotz nachgewiesen hat, handelt es sich bei Woyzeck um alles andere als eine klassische geschlossene Dramenform. 7 Die Idee einer Exposition im herkömmlichen Sinne, welche Handlungsstränge und Problemfelder des Mythos vorab umreißt, wird nicht nur formal durch die verschiedenen (notwendigerweise ungesicherten) Editionen des Dramenfragments, sondern auch inhaltlich gesprengt. Durch die bewegliche, instabile Struktur des Woyzeck steht die Exposition, vor allem die des Protagonisten, im Fokus der Untersuchung. In Ermangelung eines besseren Begriffes soll daher im weiteren Verlauf von einer Figurenexposition - in Abgrenzung zu einer Exposition der Umwelt bzw. der Gesellschaft, die diese umgibt - die Rede sein. Die Figurenexposition gliedert sich in der Inszenierungspraxis in zwei gängige Richtungen, wobei eine im Sinne der Foliohandschrift H1, die andere gemäß der Foliohandschrift H2 (bzw. der Quarthandschrift H4) einleitet und damit über die Figur Woyzeck entweder das Verdikt des sozialen Opfers oder das des Psychotikers verhängt wird. 8 Kušejs Exposition, gerade weil sie keinen der beiden historisch etablierten Wege beschreitet, bestimmt die Lesart von allem, was im weiteren Verlaufe der Inszenierung folgen wird, maßgeblich. Die Neuverortung wird durch die Montage von Fremdtexten erreicht, die - ganz ähnlich wie bereits in Büchners Textfassungen - in die Narration eingreifen. Während Büchner, wie Klotz nachweist, seine Figuren durch Volkslieder, Sprichworte, Märchen und Bibelstellen ein “unbewusstes Verhältnis zur Sprache” 9 artikulieren lässt, operiert Kušej mit Gegenwartsliteratur und Songtexten, die das Geschehen durch ein apokalyptisches Nach-der- Bombe-Szenario in einen Kontext aktueller politischer Probleme rückt. In beiden Fällen geht es darum, einen Ausdruck für das kollektive Unbewusste der jeweiligen Zeit zu finden. Als wichtigste Inspirationsquellen benennt Kušej (in einer an seine Mitarbeiter gerichteten Vorbemerkung der Internen Textfassung) explizit zwei Texte: Auf der einen Seite stehen die literarisch gefärbten Kriegsberichterstattungen Denis Johnsons, auf der anderen Cormac McCarthys tiefdüsterer Endzeit- Roman Die Straße (2006). 10 Vor allem McCarthys Text konditioniert inhaltlich, durch die ihm eigene atmosphärische Kompromisslosigkeit, wie formal, durch sein hochfrequentes Aufkommen innerhalb der Inszenierung, in frappierender Weise die Rezeption des Stückes. McCarthys Text spielt in einer postapokalyptischen Welt, in der ein namenloser Vater mit seinem Sohn durch die Ruinen Nordamerikas wandert. Da Tiere und Pflanzen längst zu einer dahingeschiedenen Vergangenheit gerechnet werden müssen, ist das Los der beiden Protagonisten dadurch bestimmt, jeden Tag aufs Neue in der Asche nach vergessenen Konserven, Kleidung oder anderweitig Verwertbarem zu suchen. Umherziehende, plündernde Horden, die den Mangel an verfügbaren Nahrungsquellen durch Kannibalismus kompensieren, stellen eine permanente wie omnipräsente Bedrohung dar. Auffällig an McCarthys Text ist weniger die Entwicklung von Handlung oder Charakteren als vielmehr die ausdrückliche Exponierung der Absenz einer solchen. Die tägliche Suche nach Brauchbarem wird zum ewigen, ausgehöhlten Ritual einer zeitlosen Gegenwart, in der jede Idee einer Ethik ihres Sinnes beraubt, unbegreiflich und rudimentär erscheinen muss. Es ist diese aus jeglicher rationalen Ordnung gelöste Welt, die Kušej als Folie für seine Interpretation des Woyzeck-Stoffes wählt. Es wird sich zeigen, in welch besonderem Maße die Inszenierung vom Fatalismus, vom dunklen Geiste McCarthys durchdrungen wird. 138 Tobias Staab “Ein dunkles Floß in der Nacht” 11 - Martin Kušejs Exposition einer Welt In seiner Inszenierung akzentuiert Kušej die Bedeutung der szenischen Exposition doppelt, indem er noch vor den ersten gesprochenen Worten ein Setting präsentiert, dessen bloße Raumwirkung bereits markante Signale setzt, die das Erleben alles Weiteren unwiderruflich prägen. Aus diesem Grund soll der Analyse der Figurenexposition eine Untersuchung der Exposition dieser neuen Umwelt vorausgehen und in einem zweiten Schritt gegenüber gestellt werden. Der Zuschauer erfährt, bereits während er seinen Platz einnimmt, den visuellen Eindruck einer tiefen, bis zur Brandschutzmauer nach hinten geöffneten Bühne, die bei geöffnetem Vorhang einen erkenntnisreichen Blick auf die Szenerie der nächsten zwei Stunden freigibt. Er sieht sich konfrontiert mit einer hügeligen Landschaft aus Müllsäcken, deren unterschiedlich nuancierte Blautöne unter dem stumpfen Neonlicht der an langen Ketten herabhängenden Fabriklampen die sterile Atmosphäre anorganischer Kälte bis weit über den Bühnenrand hinaus tragen. Die grauen, mit Schmutz befleckten Wände scheinen wie Überbleibsel eines vergangenen industriellen Zeitalters, während die Gitterstäbe an den Fenstern auf die Grenzen einer Welt, die ihren Bewohnern zum Gefängnis geworden ist, verweisen. Nach diesem ersten kurzen Eindruck erlischt das Licht schlagartig, um den Zuschauer für einige Momente dem Dunkel zu überlassen. Derartige Blacks, filmisch anmutende Schwarzblenden, werden in der Folge die gesamte Inszenierung des Woyzeck-Fragments strukturieren und das Publikum in immer neue Szenen und Figurenkonstellationen werfen. Indem er den Betrachter mit Dunkelheit blendet, greift Kušej unmittelbar physisch an; er reißt die Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum ein, überträgt die Gewalt der Bühnenhandlung auf den Körper des Rezipienten und zwingt diesen, sich immer wieder neu zu verorten und zu orientieren. Das erste dieser Blacks gibt mit seinem Erlöschen zum ersten Mal den Blick auf die Figur Woyzeck frei, der mit einer transparenten Plastiktüte in der rechten Hand seinen starren Blick in den Zuschauerraum geheftet hält. Seine abgetragene Kleidung entzieht sich einer historischen Einordnung und verortet Woyzeck wie alle anderen Figuren in einer zeitlosen Gegenwart. Aus den im Zuschauerraum verteilten Lautsprechern, also einem schwer zu lokalisierenden und damit eher undefinierten Außen, ist das Rauschen eines Gewässers zu vernehmen. Das einzige Geräusch, bis Woyzeck zu sprechen beginnt. Doch schon die ersten Worte stammen nicht aus Büchners Stück. Stattdessen spricht Woyzeck die finalen Sätze von Cormac McCarthys Roman Die Straße. 12 W OYZECK : In den Gewässern gab es einmal Forellen. Man konnte sie in der bernsteingelben Strömung stehen sehen, wo die weißen Ränder ihrer Flossen sanft im Wasser fächelten. Hielt man sie in der Hand, rochen sie nach Moos. Glatt, muskulös, sich windend. Ihr Rücken zeigte wurmlinige Muster, die Karten von der Welt in ihrer Entstehung waren. Karten und Labyrinthe. Von etwas, das sich nicht rückgängig machen ließ. Nicht wieder ins Lot gebracht werden konnte. In den tiefen Bächen und Seen, wo sie lebten, war alles älter als der Mensch und voller Geheimnis. 13 Das Präteritum dieser ersten Sätze akzentuiert bereits die zeitliche Verortung eines Blicks, der Vergangenes rekapituliert. Man weist uns offensichtlich eine künftige Perspektive zu, welche die Harmonie einer funktionierenden Welt nur als weit zurückliegende zu erinnern vermag. Die äußeren Zeichen einer vergessenen Gesellschaft zeigen sich in inhaltslosen Fragmenten, in leeren Hüllen einer vergangenen Zeit. Statt auf soziale Formationen trifft man auf das Bild einzeln versprengter Glie- Bewegungen durch Splitter - “Wer das lesen könnt” 139 der, die nur noch durch halbverweste Überbleibsel eines einstigen Gesellschaftsorganismus zusammengehalten werden. Entgegen der offensichtlich exponierten Bühnenrealität des Settings beschreibt Woyzeck die Ordnung einer vergangenen Welt, in der sämtliche Erscheinungsformen ihren natürlichen Platz hatten. Der Kontrast zwischen Lebendigem und Steril-Totem wird darüber hinaus noch verschärft, indem eine natürliche Analogie alles Organischen in einer unbestimmten Vergangenheit angenommen wird. Die Welt erscheint in Woyzecks Worten als metaphysisch strukturierter Kosmos, als Harmonie alles Lebendigen, in der sich die Ordnung der großen Zusammenhänge auch in den kleinsten Elementen spiegelt (als “Karten” auf dem Rücken der Fische). Offensichtlich ist von einem Raum die Rede, der durch Karten erfahrbar gemacht werden kann und - darauf weist die Apostrophierung der “Labyrinthe” hin - ein Zentrum aufweist, von dem aus die Welt geordnet und strukturiert wird. 14 Diese scheinbar goldene Vergangenheit erscheint allerdings lediglich in der Sprache. Tatsächlich agieren die Figuren aber nur innerhalb der unhintergehbaren Realität der auf der Bühne gezeigten Tatsachen: in einer Welt nach der Zivilisation; in einer Welt des Abfalls. Sie geht nicht über die Ränder der Bühne hinaus. 15 In dieser Bühnenrealität gibt es kein organisierendes Zentrum mehr, von dem eine kollektiv anerkannte Ordnung ausgehen könnte. Wer sich wie der Tambourmajor als Subjekt konstituiert, kann sich nicht dauerhaft auf diese Stellung verlassen. Die Hierarchiestrukturen eines solchen Systems sind nie gefestigt. Das Recht des Stärkeren entscheidet über die lokal und temporär limitierten Machtverhältnisse. Jeder kämpft in jeder Sekunde einzig und allein für sich selbst. Dieses Bild wird in der auf den Prolog folgenden ersten Szene erweitert, in der auch erstmals Büchner-Text gesprochen wird. In der Internen Textfassung bezeichnenderweise mit dem Titel Wirklichkeit versehen, zieht Kušej den Auftritt der Großmutter zeitlich nach vorn. Ihr düsteres “Unmärchen” in H1,14, direkt dem Mord an Marie vorangestellt, erzählt die Geschichte der ausweglosen Sinnsuche eines Kindes, die ohne weiteres mit der Situation des Kindes bei McCarthy in Verbindung gebracht werden kann. Klotz sieht in dem Märchen der Großmutter den Integrationspunkt des Dramas: Hierin kommt das Bedeutungsfazit bündig zur Sprache und stellt das aus vielen Einzelpartikeln sich zusammensetzende besondere Geschehen des Dramas in einen größeren Zusammenhang. Es ist der Fluchtpunkt, in dem die vielerlei Perspektiven des Dramas sich koordinieren. 16 Die Entscheidung, dieses Märchen so weit an den Anfang zu setzen, gibt somit eine ganz bestimmte Lesart vor. Kušej enttarnt auf diese Weise das Sinnversprechen des “gesellschaftlich funktionalisierte[n] Himmel[s]” 17 vorneweg als Illusion, als simplen Jahrmarktstrick, was im weiteren Verlauf vor allem für die Figur des Woyzeck eine Rolle spielt. Die exponierten Themenkomplexe zu Raum und Zeit werden hier bereits um den Ausschluss einer metaphysischen Lösung des Problems erweitert. Indem Kušej jedoch diese Textstelle nach vorn zieht und damit direkt an den (neuen) Prolog anknüpfen lässt, legitimiert er einerseits den großflächigen Einsatz des Fremdtextes von McCarthy 18 , andererseits potenziert er jene atmosphärische Grundstimmung, die bereits im Prolog angelegt wurde. Die Katastrophe steht bereits fest, bevor die Bühnenhandlung überhaupt beginnt. Um diese Verhältnisse einzuführen, nimmt sich Kušej für die Exposition dieser Welt fast vierzig Minuten Zeit, also fast die Hälfte der gesamten Inszenierung. Die wichtigen Figuren werden zwar eingeführt und in Relation zueinander gesetzt, die Handlung der Eifersuchtstragödie steht aber gerade an 140 Tobias Staab ihrem Anfang. Indem er Zeit und Raum als Kategorien der Welterfassung disqualifiziert, entzieht er den Figuren die Möglichkeit, sich in ihrer Umgebung zu orientieren. Die Akteure nehmen keinen Einfluss auf die Welt, sondern sind ihr im Gegenteil völlig ausgeliefert. Sie sind die Produkte dessen, was sie umgibt. Einzig Woyzeck stellt hier zunächst eine Ausnahme dar: Er kämpft gegen nicht weniger als gegen die Welt, die ihn umgibt. “Wer das lesen könnte” - Die Figur Woyzeck Die Aufführungsgeschichte des Stoffes lehrt uns, dass die Wahl des Einstiegs den Blick auf die Figur Woyzeck determiniert. In Frage steht der geistige Gesundheitszustand der Hauptfigur. Für den Regisseur geht es dabei um die Entscheidung zwischen sozialkritischer Eifersuchtstragödie oder der dramatischen Skizze einer psychotischen Dekompensation. Ganz zu Beginn der Inszenierung artikuliert Woyzeck die mythischen Erinnerungen von McCarthys Erzähler, worauf die Prolepse auf die Situation direkt vor seinem Mord folgt. Bei seinem daran anschließenden ersten längeren Dialog mit Marie spricht er mit den zynischen, sozialkritischen Worten Dantons, 19 die eine klare Tendenz zur Lesart einer differenzierten Figur bei klarem Verstande ausweisen. Die spürbare Verbitterung in Woyzecks Vortrag vermittelt zudem auf der Ebene des Schauspiels weder den Eindruck des Hysterischen noch des Katatonen, wodurch jedwede Zeichen vermieden werden, die Anlass zur Annahme eines fragilen Psychotikers geben könnten. Gleichwohl behandelt Marie den Vater ihres Kindes allerdings von Beginn an wie einen Delirierenden (“Erkennst du mich? ”) und akzentuiert damit eine kaum zu überwindende kommunikative Barriere, die das Verhältnis der beiden prägt: Woyzeck ist ihr ein Fremder, dessen Sprache sie nicht spricht, dessen Denken sie nicht versteht. Darüber hinaus liefert der ‘Arztbesuch’ Woyzecks dem Zuschauer wichtige Informationen über die mentale Verfassung des Protagonisten. So scheinen die vom Doctor als Krankheitssymptome interpretierten Erscheinungen Woyzecks nicht den herbeieilenden Wahnsinn, sondern eher dessen intensive Affiziertheit durch seine Umwelt zu illustrieren. Vor allem aber können - die Permanenz des unveränderlichen Bühnenbildes ständig im Blick, die Passagen aus McCarthys Roman nachhallend im Ohr - die Weltuntergangsszenarien Woyzecks (“als ginge die Welt in Feuer auf”) kaum mehr als die Visionen eines Verrückten gedeutet werden. Die vermeintlichen Prophezeiungen erscheinen als Erinnerungen an eine bereits erlebte Apokalypse. Auch die in der Inszenierung später folgende Szene Freies Feld, die in der Inszenierungsgeschichte gerne als Beleg seiner Geisteskrankheit vorgeschoben wird, wird in diesem Sinne verstanden. Die Perspektive Woyzecks liegt in einem Außen, von dem aus er versucht, in zeichenhaft erscheinenden Phänomenen der Natur, wie etwa den Formationen der “Schwämme”, Sinnzusammenhänge zu erkennen. Dass Kušej seinen nackten Woyzeck in exakt jenem Moment, da diese Anstrengungen mit dem bedeutungsschwangeren Satzbruchstück “Wer das lesen könnte! ” 20 quittiert werden, die Arme zur Pose des Gekreuzigten erheben lässt, richtet den Fokus einmal mehr auf die Frage nach einer zentralen Sinnstiftungsinstanz. Offensichtlich handelt es sich bei Woyzeck um den einzigen seiner Art, der daran glaubt, in den Ruinen der Welt noch signifikante Spuren einer symbolischen Ordnung entdecken zu können. Er hat die Hoffnung auf eine Besserung der Zustände noch nicht aufgegeben. Die Fetzen ehemaliger Sinnkonstrukte, deren rudimentäre Struktur von den anderen Figuren ignoriert wird, spielen dabei weniger eine Rolle. Doctor und Hauptmann als Repräsen- Bewegungen durch Splitter - “Wer das lesen könnt” 141 tanten dieser Gesellschaft verkennen die Versatzstücke vergangener Bedeutungszusammenhänge als ganzheitliche Wahrheiten und vereinnahmen sie für ihre privaten Scheinideologien. Woyzeck dagegen versucht in Phänomenen zu lesen, die unmittelbar von einer originären unkontaminierten Natur stammen. Seine Signifikanten hofft er in Exponaten dieser Natur zu finden, welche die Apokalypse überdauert haben. So sucht er in den Mustern auf der Haut von Forellen und in den rätselhaft anmutenden Formationen der Pilze nach Verweisen auf eine übergeordnete Instanz, ein transzendentales Signifikat, das den in Splittern zerfallenen Ideen wieder Sinn einzuhauchen in der Lage wäre. Die Fähigkeit, diese “Hieroglyphen der Natur” 21 richtig deuten zu können, erkennt die Figur als möglichen Schlüssel zu einer Rettung. Derjenige, der die Zeichen zu lesen und zu einer symbolischen Ordnung zu verbinden in der Lage wäre, müsste - in Analogie zu den über die Inszenierung gestreuten Verweisen auf christliche Motive - als erlösender Messias verstanden werden. Doch schließlich bereitet das Liebesverhältnis Woyzecks zu Marie auch in dieser Inszenierung den Boden für die Peripetie der Handlung: An seiner Beziehung zu Marie wird Woyzecks System zerbrechen. In frappierend emotionaler Erregung sucht er (dessen Figur schauspielerisch bis dahin eher durch analytische Distanz definiert wurde) nach Zeichen an ihr, nach Beweisen, die seinen Verdacht bestätigen oder verwerfen sollen. Er will die “Sünde” 22 auf ihrem Körper lesen können, ist aber nicht in der Lage etwas zu erkennen. Hierbei gilt es sich noch einmal vor Augen zu halten, dass es sich bei den Dingen, die Woyzeck bisher als lesbar erschienen, um Phänomene handelt, die sich gegenüber einer geschändeten Erde stets durch eine gewisse, zumindest von ihm selbst empfundene Reinheit auszeichnen: Die Forellen in ihrer Natürlichkeit als Ausdruck einer harmonischen Welt vor der Katastrophe; die Schwämme als zu den wenigen Erscheinungen der Natur gehörend, die scheinbar in der Lage waren das Inferno zu überdauern. Und schließlich Marie, die letzte Jungfrau, die heilige Mutter Christi. 23 War Woyzeck bisher noch überzeugt, als außen stehender Beobachter eine Sonderposition innezuhaben, von der aus sich Welt und Gesellschaft analysieren (und womöglich heilen) lassen, so verliert er mit dem Aufkommen des Zweifels an der Integrität seiner Geliebten jenes Schild, welches ihn bisher davor bewahren konnte, von dieser Welt aufgesogen zu werden. Mit der Reinheit der Mutter verschwindet die letzte Ganzheit, der letzte Wert, den Woyzeck bis hierhin bewahrt zu haben glaubte. Mit dem Verrat zieht sich durch seine heilige Familie (als aus der Vergangenheit gerettetes, eine Zukunft garantierendes Kleinod) ein irreparabler Riss. Another brick in the wall Woyzeck ist ab diesem ersten Zweifel an seiner Lesefähigkeit ein anderer. Ohne die Sicherheit seiner kritischen Distanz verliert er sich zusehends in der zerstörten Welt, die ihn nach und nach aufsaugt. Besonders deutlich wird dies durch sein verändertes Verhalten bei den folgenden Szenen, in denen er sich nicht mehr in einem Außen, sondern zwischen den anderen Figuren, als Teil der Gesellschaft, positioniert. Ob er zusammen mit Andres in das “Volkslied” 24 Kurt Cobains oder als einer der verstreut im Müll Liegenden in die nihilistische Formel “Immer zu” 25 einstimmt - Woyzeck ist dabei, das Bewusstsein der Unterscheidung zwischen sich und seiner Umwelt zu verlieren. Stattdessen beginnt er deren Strukturen zu affirmieren und sich in diese einzugliedern. Mit dem Nirvana- Song Smells Like Teen Spirit dekonstruiert Kušej in diesem Zusammenhang eine gängige Position zur sozialisierenden und damit das dramatische Individuum psychisch stabilisie- 142 Tobias Staab renden Funktion von Volksliedern, die von Klotz vertreten wird: Vermag die Sprache dort Anker zu werfen, so ist der Einsame für einen Augenblick aus seiner Einsamkeit gelöst. Volkslied und Sprichwort leihen seinen Äußerungen Halt und Stütze; denn sie sind aller Besitz. Sie bergen alte Erfahrungen und Weisheiten, nach denen das Unbewusste strebt, sich Bestätigung zu holen. 26 Die Inszenierung etabliert das Volkslied zwar in ähnlicher Form als Brücke zu einem Kollektiv, reflektiert aber zusätzlich die Beschaffenheit der Woyzeck umgebenden Gesellschaft auf zynische Weise. Durch den gemeinsamen Song nähert er sich dabei Andres an, welcher schon im Büchner-Text als charakterarmer, nur kollektives Gedankengut reproduzierender Repräsentant der herrschenden Gesellschaft dargestellt wird. Dass es es sich bei dem Nirvana-Song um die nihilistische Hymne der verlorenen Generation X handelt, deren Selbstverständnis durch “die Erkenntnis des wesentlichen Alleinseins in der Welt” 27 geprägt war, hebt Woyzecks völlige Selbstaufgabe gleichsam auf einer weiteren Ebene emphatisch hervor. 28 Diese Entwicklung findet ihren Höhepunkt in der Testamentszene. Seiner Kleidung entledigt und blutverschmiert, ruft die visuelle Erscheinung des Woyzeck hier ein weiteres Mal Assoziationen an die Ikonographie des christlichen Erlösers (diesmal als Schmerzensmann) auf: Auch Woyzeck wird sich opfern, jedoch ohne ein Heilsversprechen zu geben. Mit den Worten Dantons erkennt er stattdessen nicht nur seine Existenz als eine unter vielen an, sondern er artikuliert auch ein Weltverständnis, mit dem es dem Einzelnen nicht mehr möglich ist, dem gesellschaftlichen Korsett zu entkommen. Er öffnet einen der Müllsäcke und blickt nicht nur ins Innere, sondern auch in die Vergangenheit dieser Welt, die in Plastik verpackt auf ihre Abholung wartet. Der Zuschauer, der bisher parallel zur Hauptfigur durch Strukturieren und Deuten des exponierten Zeichenangebots auf ein schlüssiges Verständnis hoffte, kann vor diesem Hintergrund seine Vermutungen verifizieren: Die schwarze Erde, die aus dem Müllsack auf die Rampe geschüttet wird, erscheint in ihrer Organik als seltsamer Fremdkörper im sterilen Gefängnis der Bühnenwelt; als bedeutungsloses Überbleibsel einer Natur, die bisher entweder als Fischkadaver oder als sprachlich geäußerte Erinnerung auf der Bühne exponiert wurde. Die von Woyzeck einst vermutete Harmonie des Kosmos gründete, wie wir gesehen haben, in einer organischen Vitalität der Natur. Mit der Erkenntnis der sterilisierten Wesenhaftigkeit der Erde jedoch verebbt auch die Lesebewegung, die Verfolgung der Sinnspur, in Unfruchtbarkeit. Woyzeck kann den Dingen keine Bedeutung mehr zuordnen. Aus dem Inneren des Sacks entnimmt er mehrere einstmals für ihn signifikante Objekte, die ihm nun in ihrer bloßen Materialität erscheinen und gleichgültig geworden sind. Für den Zuschauer sind sie einerseits als Repräsentanten einzelner Wertesysteme aus früheren Zeiten (der Gegenwart des Publikums), andererseits als ganz persönliche Erinnerungsstücke Woyzecks erkennbar. Ring, Kreuz, die Kette aus “zwei Herzen”, Bibel und Heiligenbild verbinden sich noch einmal zu eben jener Ebene, die bisher die Plattform einer Hoffnung markierte, nun jedoch - zersetzt in einzelne Splitter - keinen Halt mehr zu gewähren in der Lage ist. Woyzeck selbst liefert mit seinen Erklärungen zu den einzelnen Gegenständen den erneuten Bezug, zurück zur über allem stehenden Idee der Familie. So findet sich im Müllsack neben den Splittern aus Woyzecks persönlichem Wertekosmos eine Akkumulation von Symbolen einstmals kollektiver Sinnsysteme: Gold, Kreuz, Familie, “alles passé” 29 . Mit der Absage an all diese Sinnbzw. Wertordnungen durchtrennt Woyzeck das Band zum Publikum. Er wirft die ihm leer gewordenen Bewegungen durch Splitter - “Wer das lesen könnt” 143 Objekte achtlos beiseite, lacht sogar höhnisch über die Bedeutung, die er ihnen in der Vergangenheit beizumessen bereit war. Die Dinge, die dem Zuschauer vielleicht wertvoll erscheinen mögen, haben in der Realität der Bühne ihren Glanz verloren und weisen nicht mehr über sich hinaus. Hier zeigt sich, dass das Publikum zusammen mit Woyzeck eine Entwicklung durchmachen musste, an deren Ende eine bittere Erkenntnis steht: Alles, was Kraft zum Widerstand spendete, entpuppt sich als Trugbild. So verabschiedet sich schließlich auch Woyzeck als Identifikationsfigur, indem er sich jener Welt hingibt, der er bisher analog zum Zuschauer als externer Beobachter gegenüberstand. Er reibt Gesicht und Körper mit Erde ein und wird damit Teil dieser Welt, Teil des Inhalts der Müllsäcke, Teil des Abfalls. Auch er bedeutet sich selbst nun nichts mehr. Die Bedeutung seiner Identität war genauso an Lebendigkeit geknüpft wie die Funktionalität der signifikanten Muster auf der Körperoberfläche der Forellen. Mit der Gewissheit, dass Marie ein Teil jener autodestruktiven Gesellschaft, jener Meute ist, erstirbt in Woyzeck das Verlangen in den etwaigen Zeichen der Natur die Schrift einer höheren Erkenntnis zu entdecken. Es besteht keine Verbindung mehr zum ‘Atem der alten Welt’. Mit Marie verliert Woyzeck “Sinn und Mitte seines Lebens” 30 , und damit den Antrieb, sich außerhalb seiner Umgebung zu positionieren. Mit den Worten aus einem Brief Büchners an seine Geliebte Wilhelmine Jaeglé tritt auch Woyzeck in die Meute ein: “Ich gewöhne mein Auge ans Blut. Ich bin wie in mir vernichtet, ein einzelnes Gefühl taucht nicht in mir auf. Ich bin ein Automat, die Seele ist mir genommen.” 31 Als Automat kann Woyzeck kein Subjekt mehr sein. Er willigt ein, sein künftiges Tun von jener anonymen destruktiven Macht bestimmen zu lassen, die von den letzten menschlichen Bewohnern der Welt längst Besitz ergriffen hat. Der Kulturwissenschaftler Silvio Vietta bemerkt zu Büchners Brief: Büchner kann die aus den materialistischen Naturwissenschaften stammende Maschinen- und Automatenmetapher zur Kennzeichnung der politischen Wirklichkeit benutzen, weil in beiden die Kategorie der Freiheit und der Selbstbestimmung negiert wird. 32 So entsteht alles, was in der Chronologie der Ereignisse auf der Bühne nun folgt, nicht mehr aus dem freien Willen eines autonom agierenden Individuums. Die anfängliche Affiziertheit Woyzecks durch seine Umwelt, die Klotz in der sprachlichen Figur der “transzendentale[n] Evokation” 33 identifiziert, schlägt nun in einer radikalen Erschütterung der Machtrelationen auf den Protagonisten zurück: Er ertrinkt in seiner Umwelt; das “Subjekt Woyzeck” wird zum Unterworfenen. Der Kreis schließt sich Der zweite Auftritt der Großmutter bildet schließlich nicht nur formal, sondern auch inhaltlich die Klammer für die Inszenierung. Erneut werden die Themenkomplexe des Märchens vom Beginn behandelt, nur weicht nun die lyrische Form des Berichts einer nüchternen Beschreibung der (Bühnen-) Wirklichkeit. Handelte es sich zu Anfang noch um eine nach vorn gezogene Textstelle Büchners, so spricht die Großmutter bei ihrem zweiten Auftritt in den trostlosen Worten McCarthys. Der Nihilismus, der im Märchen zu Beginn noch dunkle Ahnung war, gibt sich in seiner Unausweichlichkeit zu erkennen. So zeugt das entfernte Lachen der Kinder, das aus den Lautsprechern über die verlassene Bühne erklingt, nicht mehr von jener vermeintlichen Hoffnung des Wasserrauschens zu Beginn; genauso wenig wie die absurde Suche nach dem “Bub […] Christian” 34 , dessen Erscheinen als Erlöser von den Figuren erhofft wird, an dessen Existenz im 144 Tobias Staab Zuschauerraum jedoch keiner mehr so recht glauben mag. Der Zuschauer hat bis zu diesem späten Zeitpunkt der Inszenierung zu unterscheiden gelernt: Die radikale Wirklichkeit des visuell Exponierten unterminiert die nur sprachlich formulierten Räume. Als Erinnerungen ausgesprochen und wiederholt, verblassen sie im Angesicht des Immergleichen zusehends, werden immer unwahrscheinlicher. So auch Woyzecks Sohn. Das Fehlen des Kindes ist eine Leerstelle, die sich mit nichts aus dieser Welt füllen lässt. Mit der Erkenntnis dieser Absenz erlischt die Hoffnung auf einen möglichen Heiland, der sich noch einmal gegenüber der Welt positioniert, sie zu lesen und zu beherrschen versucht und den verlorenen Kampf des Vaters weiterführt. So ist das Ende der Inszenierung erreicht. Statt am Ende einer Entwicklung befindet sich Woyzeck wieder an der Ausgangssituation: Zeitlich unmittelbar nach dem “traurigste[n] und böseste[n] Märchen, das man zu unserer Zeit erzählen kann” 35 , einer ernüchternden Beschreibung der “Wirklichkeit” 36 , und direkt vor dem Mord an seiner Geliebten. Mit der Wiederholung des kurzen Dialogs zwischen Marie und Woyzeck schließt sich die Bewegung der Geschichte zu einem Kreis und negiert damit die Möglichkeit von Entwicklung und Ende gleichermaßen. Selbst der unvermeidliche Tod der beiden Hauptfiguren muss in diesem Sinne weniger als Abschluss denn als unendliche Bewegung einer Wiederholung angesehen werden, in der keine Differenz mehr aufscheint. Eine Welt des ewigen Krieges und der immerwährenden Vernichtung. Kušej zeichnet das dunkle Bild eines unausweichlichen Determinismus, der nicht linear und teleologisch, sondern als Drehbewegung um die eigene Achse funktioniert. Was mit der radikalen Umstellung der einzelnen Szenen schon in den ersten Minuten angedeutet wurde, gibt sich zum Ende des Stückes als bittere Wahrheit zu erkennen. Kušej zeigt, indem er das Ende von McCarthys Roman an den Beginn seiner Bühnenerzählung stellt, dass dieser Kampf schon von vornherein verloren ist. Die komplex verschachtelte Struktur der filmisch montierten und durch eine Vielzahl von Blacks zerschnittenen letzten 24 Minuten der Inszenierung ist das Ergebnis von Woyzecks veränderter Wahrnehmung, dessen ordnend rationaler Blick dem Publikum nur bis zu seiner Automatwerdung zur Seite stand. Mit seiner Eingliederung in das Chaos der postapokalyptischen Welt geht seine ordnende Perspektive auch dem Zuschauer verloren. Woyzeck ist kein externer Beobachter mehr. Stattdessen sind für ihn, wie für die anderen Figuren, Zeit, Raum und Welt aus den Fugen. Die ineinander geschachtelte Struktur dieser Schlussszenen, die zeitlich keiner linearen Chronologie mehr folgen, nimmt dabei auf einer anderen Ebene Bezug auf den Anfangsmonolog Woyzecks, in welchem dieser sich noch mit den Worten von McCarthys Erzähler an die Ordnung einer gesunden Vergangenheit zurückerinnerte. Die zu Anfang beschriebenen Analogien von Mikro- und Makrokosmos finden im Szenenarrangement insofern ihren Ausdruck, als sowohl in der Gesamtinszenierung als auch im zeitlich gebrochenen Szenenkomplex am Ende der Inszenierung der Schluss vorgezogen und an den Anfang gesetzt ist. Aufs Ganze betrachtet sehen wir uns zu Beginn der Inszenierung mit den letzten Worten aus Die Straße, wenig später mit der Situation der Protagonisten kurz vor dem Mord konfrontiert. Im Finale wird der eigentliche Mord zeitlich übersprungen und eine Szene mit dem blutverschmierten Woyzeck der Tat vorangestellt. Dadurch wächst der benannte Determinismus zu einem zynischen Kommentar des Prologs, indem er sich die dort exponierte Harmonie des Kosmos aneignet und invertiert. Nicht mehr die Idee des Lebens, sondern jene einer unentrinnbaren Destruktion wird nun als ein das Kleine wie das Große durchdringendes Prinzip entlarvt. Statt der göttlich garantierten Ordnung der Vergangenheit findet sich in Bewegungen durch Splitter - “Wer das lesen könnt” 145 der dezentrierten Gegenwart nur noch ein ubiquitär waltendes Chaos. Zeit funktioniert nicht mehr chronologisch, Raum ist nicht mehr differenzierbar. Wir befinden uns wieder an jenem Anfang, der das Ende vorwegnahm. Raschen Filmschnitten gleich verändert sich die Örtlichkeit, während doch alles gleich bleibt. Durch parallele Figurenkonstellationen und semantische Kohäsionen werden die örtlich und zeitlich durcheinander gewürfelten Szenen miteinander verknüpft und verwachsen durch analoge Bildeindrücke mit dem Beginn der Inszenierung. Die Wiederholung des Anfangs lässt auf einen Kreislauf schließen, der sich unendlich weiter denken lässt: als ewige Wiederholung des Gleichen, als hoffnungsloser Fatalismus, der vor allem deshalb so dunkel anmutet, weil keine Perspektive einer möglichen Veränderung zugelassen wird. Die Erde wird sich weiter drehen, nur eben “spurlos und unvermerkt” 37 , dem Prinzip der Wiederholung unterworfen, und ohne Chance auf Entwicklung. Die Welt, die “nicht wieder ins Lot gebracht werden” 38 kann, ist nun für alle Figuren unumstößliche Realität. Kušej betont explizit den Charakter des Fragments, indem er die verschiedenen Ebenen der Inszenierung von einer solchen Struktur durchdringen lässt. Die rudimentären Bruchstücke ehemaliger Sinnsysteme haften all den Figuren auf verschiedene Weise an. Die Ideologien von einst erscheinen entwurzelt, unzusammenhängend und fragmentiert, die Fundamente denkbarer Sinnkonstrukte finden auf dem Boden der neuen Realität keinen Halt mehr. Während alle Figuren außer Woyzeck jedoch dazu in der Lage sind, die leere Struktur ihrer automatisierten Gesten (ob es sich nun um Zeichen des Faschismus, den Fortschrittsglauben der Wissenschaft oder die Überlegungen zur Moral handelt) einfach zu ignorieren, ist der Protagonist maßgeblich daran interessiert eine Möglichkeit zu finden, Kohärenz zu stiften. Er versucht die Einzelteile wieder zu einem funktionierenden Ganzen zusammen zu fügen, indem er nach Hinweisen, Zeichen, versteckten Codes sucht. Eine Bewegung, die ihn auf eine Ebene mit dem Zuschauer stellt. Dieser sieht sich bei der Inszenierung Kušejs auch in formaler Hinsicht einem Fragment gegenüber. Die Blacks betonen dabei emphatisch, dass es sich bei den einzelnen Szenen selbst nur um Bruchstücke einer dramatischen Narration handelt, die der Autor Büchner nie in eine feststehende Ordnung brachte oder bringen wollte. Der Zuschauer ist dabei wie Woyzeck einer Lesebewegung - oder besser: einer Suchbewegung - ausgesetzt. Beide sehen sich einer Welt aus Splittern gegenüber und sind bestrebt, diese nach den Maßgaben ihrer Weltanschauung, also nach jenen der Rationalität, als ordnendes Subjekt zu strukturieren. Die Schwierigkeit besteht jedoch darin, dass dem Streben, aus dem sich selbst permanent dekonstruierenden Aggregat der Splitter eine kohärente Einheit zu schaffen, ein Widerspruch zugrunde liegt. Der Versuch an sich widerstreitet dem offenen Wesen des Fragments, welches gerade durch seine Bruchstellen in einem stetigen Werden begriffen ist und sich nicht auf eine feste Form begrenzen lässt. Kušej weist in aller Deutlichkeit darauf hin, dass die Mechanismen des Rationalen in einem solchen Fall nicht greifen, dass hier nicht im Sinne einer linearen Zeitlichkeit, sondern nach einem Prinzip unzähliger Diskontinuitäten gearbeitet werden muss. Entsprechend darf sich der Zuschauer fragen, inwieweit diese ausgestellte Zukunft überhaupt als solche funktionieren kann, wenn die von Woyzeck formulierte Vorstellung einer Vergangenheit womöglich nur auf einer kausalen Konstruktion von Chronologie fußt, die letztlich als “rhetorische Operation” 39 entlarvt werden kann. Und weiter: Ist Geschichte an sich nicht stets subjektrelative Fiktion? Müssen nicht Kausalkonstruktionen jeglicher Art auf diese Weise hinterfragt werden, da sie sich immer auf fragmentierte Ereignisse beziehen, die künst- 146 Tobias Staab lich in ein logisches Einheits-Verhältnis gesetzt werden? Wir gelangen also wieder zur anfangs gestellten Frage nach Linearität und Chronologie, die sich notwendigerweise auf den größeren philosophischen Rahmen verschieben muss, wie aus der Internen Textfassung hervorgeht: “[W]ir sind an der wichtigen Frage über das Verhältnis des Subjekts zum Objekt.” 40 Es geht um nicht weniger als die Wahrnehmung selbst und mit welchen Mitteln das Rauschen unzähliger, unzusammenhängender Reize auf ein vermeintliches Verstehen hin strukturiert wird. Sämtliche thematischen Komplexe des Büchner-Textes - ob es nun um die Frage nach Wirklichkeit und Wahnsinn oder um sozial determinierte Ethikbegriffe geht - müssen sich dieser zentralen Fragestellung Kušejs unterordnen. Um den Blick des Zuschauers unmittelbar zu dirigieren und zugleich zu dezentrieren, führt er seinen Woyzeck von Anfang an als Rationalisten ein. Er benötigt eine Figur, die dem Selbstverständnis des Zuschauers verwandt ist, die über ähnliche Werkzeuge des Zugriffs auf Welt verfügt. Mit dieser Strategie gelingt es ihm, den Zuschauer selbst auf den Weg Woyzecks zu schicken. Am Ende des Versuchs, sich diese Welt anzueignen, sie rational zu erfassen und zu durchdringen, ihre Zeichen zu lesen und über sie zu herrschen, steht die Erkenntnis des Scheiterns. Damit kreist die Inszenierung um ein Moment, das bereits Büchners Woyzeck eingeschrieben ist: In der Verweigerung, sich dem Publikum ohne weiteres hinzugeben, präsentiert sich der Text (sowohl was die Ebene des Dramas als auch was die der Inszenierung betrifft) in seiner Bewegtheit, seinem offenen Wesen. Dekonstruktion heißt, den Texten in ihren Bedeutungen soweit nachzuspüren (und dass hier der Begriff der Spur anklingt, kann diesen Umstand zusätzlich sprachlich plausibilisieren), dass offensichtlich wird, dass jeder Begriff, den ein Text einsetzt und bestimmt, seine eigene Bestimmung wieder unterläuft, dass jeder Begriff auf andere Begriffe verweist, die seine Bedeutung selbst relativieren oder gar suspendieren können 41 Somit kann die Suche nach der Spur als zentraler Impuls der Inszenierung begriffen werden, die durch die Akzentuierung des fragmentarischen Charakters noch auf einer weiteren Ebene manifest wird: Wenn Texte als “Spiel aufeinander verweisender Signifikanten” 42 angesehen werden müssen, deren Bedeutungen durch kontextuelle Verschiebungen permanent performativ neu konstituiert werden können, so bildet diese Erkenntnis ganz und gar das Herz dieser Inszenierung. Die formalen Erkenntnisse der Theorie der Dekonstruktion infizieren durch Kušejs Bühnenadaption auch den Inhalt, was die ohnehin schon verschlungenen Bewegungslinien der Bedeutungszuweisungen zu einem noch komplexeren Spiel reizt. Nicht genug, dass durch die Montage von Texten und das Neuarrangement der einzelnen Szenen solche Verschiebungen provoziert werden; vielmehr überträgt Kušej das subversive Spiel auf das Denken des Zuschauers selbst. Dieser erkennt einerseits in Woyzeck seine eigenen Mechanismen der Bedeutungskonstitution, muss diese als unhinterfragte Konditionen seines Denkens in der Konsequenz allerdings genauso wie jene der Figur von Grund auf reflektieren. Der rationalistische Zugriff auf die Welt wird als Inszenierung, als performative Konstruktion entlarvt, die Welt als raumzeitliches Ganzes erst hervorbringt. Infrage steht somit nichts Geringeres als das abendländische Subjekt in seiner Struktur als Ankerpunkt von Weltwahrnehmung und dessen Umgang mit den scheinbar unhintergehbaren Entitäten einer kollektiv vereinbarten Wirklichkeit. Mit der Bearbeitung des Stoffes zu diskontinuierlichen Handlungsfetzen in einer scheinbar grenzenlosen Wüste aus Müllsäcken verschiebt Kušej den Stoff auf ein reduktionistisches Level, welches die - als selbstverständlich angenommenen - Kategorien unserer Bewegungen durch Splitter - “Wer das lesen könnt” 147 Wahrnehmung unterläuft und den Zuschauer dazu zwingt, deren elementarste Operationsbedingungen von Grund auf zu hinterfragen. Womöglich ist gerade dies ein Grund für die drastische Wirkung einer Inszenierung, die selten mehr als zwei Vorhänge Applaus erntet und die Zuschauer in aller Regel schweigend in deren ‘Realität’ zurück entlässt. Anmerkungen 1 Heiner Müller: “Ein Brief”, in: Ders.: Theater- Arbeit, Berlin 1975, S. 125. 2 Michael Braun: Hörreste, Sehreste. Das Literarische Fragment bei Büchner, Kafka, Benn und Celan. Köln [etc.] 2002, S. 29. 3 Vgl. Braun 2002, S. 48-51. 4 Vgl. Henri Poschmann (Hg.): Georg Büchner, Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zwei Bänden, Bd. I, Frankfurt/ Main 2006, S. 675-714. Wenn sich im Folgenden auf Poschmanns Ausgabe bezogen wird, markiert die hinten anstehende römische Ziffer in Klammern die Bezugnahme auf den entsprechenden Band. Zur Problematik der Texteditionen vgl. außerdem: Dedners Nachwort, in: Georg Büchner: Woyzeck. Studienausgabe. Stuttgart 1999, S. 175-210, sowie Braun 2002, S. 95-107. 5 Heinz Kimmerle: Jacques Derrida zur Einführung. Hamburg 2000, S. 48. 6 Jonathan Culler: Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie. Reinbek 1999, S. 96. 7 Zum Begriff des offenen und geschlossenen Dramas vgl. Volker Klotz, Geschlossene und offene Form im Drama, München 1968. Da Klotz den Begriff des offenen Dramas weniger zu prägen als in Abgrenzung zur geschlossenen Form zu definieren in der Lage ist, wäre es sinnvoller, von einer nicht-geschlossenen Form zu sprechen. Wenn im folgenden jedoch direkt auf Klotz (und dessen Terminologie) Bezug genommen wird, soll des besseren Verständnisses wegen trotzdem vom Drama der offenen Form die Rede sein. 8 Diese Arbeit orientiert sich mit Dedners Ausgabe (Büchner 1999) an der allgemein anerkannten Einteilung in H1-4, bei der - im Unterschied zu Poschmanns Einteilung (Poschmann 2006 (I)) - das Quartblatt als H3 bezeichnet wird. 9 Klotz 1968, p. 225. 10 Vgl. Cormac McCarthy, Die Straße, Reinbek 2007 und Denis Johnson, In der Hölle. Blicke in den Abgrund der Welt, Reinbek 2006. 11 Ein dunkles Floß in der Nacht ist der Titel internen (lediglich für die Mitarbeiter des Stückes bestimmten) Textfassung, die Kušej als Arbeitsgrundlage benutzte. Wird sich im Folgenden auf diese Fassung bezogen, wird von ihr lediglich als Interne Textfassung die Rede sein. 12 Vgl. McCarthy 2007, S. 253. 13 Interne Textfassung, Stand: 08.06.2007, Prolog. Da die Interne Textfassung nicht in einer festgelegten Formatierung besteht und daher in den verschiedenen vorliegenden Textdateien (gleichen Inhalts) voneinander abweichende Seitenzahlen aufweist, wird diese im weiteren Verlauf mit den Nummern der entsprechenden Szene zitiert. Zwei Szenen, im Folgenden in Berufung auf die Interne Textfassung als Prolog und Wirklichkeit betitelt, sind dabei der Szenennummer 1 vorgelagert. 14 Zum Begriff des Labyrinths vgl. Hermann Kern, Labyrinthe. Erscheinungsformen und Deutungen. 5000 Jahre Gegenwart eines Urbilds, München 1983. 15 Diese Beobachtung einer differenzlosen Welt wird beispielsweise in der clownesken Szene 7 manifest, in der Woyzeck zusammen mit Andres völlig unsystematisch (und ohne etwaige Ergebnisse zu notieren) den Bühnenraum vermisst. In dieselbe Richtung deutet der Umstand, dass sich das Bühnenbild trotz inhaltlich verordneter Ortswechsel nie ändert, was etwa besonders im chronologisch völlig neu arrangierten Schluss deutlich wird (vgl. Interne Textfassung 08.06.2007, Szene 19-23), wenn durch Blacks getrennte Szenen, deren jeweilige Örtlichkeiten aufeinander Bezug nehmen, keine Konsequenzen auf den tatsächlich ausgestellten Raum haben (der See müsste sich einmal in der linken hinteren Ecke des Bühnenraums, in der Szene darauf direkt in der Mitte befinden etc.). 16 Klotz 1968, S. 114. 148 Tobias Staab 17 Martina Kitzbichler, Aufbegehren der Natur. Das Schicksal der vergesellschafteten Seele in Georg Büchners Werk, Opladen 1993, S. 147. 18 Die Wirksamkeit des Märchens auf inhaltlicher sowie formaler Ebene zeigt sich in der Relation zu den McCarthys Text abschließenden poetischen Ausführungen über eine vergangene Welt, welche Kušej an den Anfang seiner Inszenierung setzt. Die inhaltlichen Kohärenzen dieser beiden Texte, die sich in der Inszenierung noch über eine weitere Achse in einer zweiten Rede der Großmutter spiegeln, verdeutlichen nicht nur den immer wieder erkannten Effekt einer unendlichen Wiederholung, sondern sorgen zudem für eine feste und durch Büchner selbst abgesicherte Grundlage einer Technik der Eingliederung von externen Texten in die Inszenierung. 19 Vgl. Poschmann 2006 (I), S. 47f. In diesem Kontext erscheint gerade die Situation in Dantons Tod, aus welcher jene Zeilen enthoben und in Woyzecks Mund gelegt wurden, nicht uninteressant. Dantons zur Schau getragene Indifferenz gegenüber den ihn umgebenden Missständen lassen Schlüsse auf das sensible Gemüt eines wachen Geistes zu, welcher seinen Zynismus als Schild, einzig aus Gründen des Selbstschutzes vor sich trägt. Danton (Woyzeck), das wird bereits in diesen wenigen Worten deutlich, erkennt klar und deutlich die Problematik seiner politischen Wirklichkeit und durchschaut zudem seine Mitmenschen, welchen allerdings im Gegenzug das Vermögen fehlt, auf seine Sicht der Dinge einzugehen. 20 Ebd. 21 Kitzbichler 1993, S. 148. 22 Interne Textfassung 08.06.2007, Szene 11. 23 Interne Textfassung 08.06.2007, Szene 24. Der Verweis auf die Heilige Familie des christlichen Glaubens gründet auf dem beweglichen Spiel zahlreicher Zeichen und Verweise, sowohl innerhalb des Büchner-Textes, als auch der Inszenierung Kušejs, welches im Rahmen letzterer gerade im Hinblick auf die Figurenkonstellation der Woyzeck-Familie eine entscheidende Verdichtung erfährt. So erscheint es kaum verwunderlich, dass mit dem Verlust der unbefleckten Mutter auch der künftige Sohn Christian abhanden geht (vgl. Ikumi Waragai, Analogien zur Bibel im Werk Büchners. Religiöse Sprache als sozialkritisches Instrument. In: Frankfurt/ Main 1996). 24 Klotz 1968, S. 203. Setzt man den hohen Bekanntheitsgrad und Wiedererkennungswert der Popsongs Smells Like Teen Spirit (Nirvana) und Another Brick In The Wall (Pink Floyd) beim Publikum voraus, so kann eine funktionale Entsprechung zum Volkslied aus Büchners Zeit erkannt werden. Der Charakter des Popsongs als Kollektivgut und die sich dadurch auch inhaltlich ergebenden Konsequenzen für die Selbstwahrnehmung der Figuren als Teil eines solchen Kollektivs wird in dem von Andres an anderer Stelle vorgetragenen Pink Floyd-Stück noch einmal unterstrichen (“All in all you’re just another brick in the wall”). Zur Funktion des Liedes im Drama vgl. Klotz 1968, S. 203-213. 25 Interne Textfassung 08.06.2007, Szene 13. 26 Klotz 1968, S. 201. 27 Douglas Coupland, Generation X. Geschichten für eine immer schneller werdende Kultur, Berlin [etc.] 1994. Der Roman Couplands beschreibt in einer weiteren Analogie zur Inszenierung das Zeitverständnis der desillusionierten Generation X als ein “(s)ich einreden, daß die einzige Zeit, die es wert war zu leben, die Vergangenheit war” (Coupland 1994, S. 63). 28 Über den Text des Songs hinaus muss die Assoziation zur Geschichte Kurt Cobains, dem Sänger der Band, beachtet werden, welcher sich nach Jahren der Heroinsucht im April 2004 unter obskuren Umständen das Leben nahm. Er wurde zur Ikone einer sich selbst als verloren empfindenden Jugend; sein Selbstmord erschien vielen als logische Konsequenz seiner Gedichte und Songtexte sowie seiner posthum veröffentlichten Tagebücher. Zum Leben Kurt Cobains vgl. Dave Thompson, Nirvana. Das schnelle Leben des Kurt Cobain, München 1994 und Kurt Cobain, Tagebücher, Frankfurt/ Main 2002. 29 Interne Textfassung 08.06.2007, Szene 4. 30 Braun 2002, S. 118. 31 Poschmann (II) 1999, S. 378. 32 Silvio Vietta, Neuzeitliche Rationalität und moderne literarische Sprachkritik, München 1981, S. 105. Bewegungen durch Splitter - “Wer das lesen könnt” 149 33 Klotz 1968, S. 182: “[D]ie Sprachfigur lebt ganz aus dem faszinierten Ich, das nicht urteilt, sondern beschwört. Das Faszinierende ist jedoch so übermächtig, daß es das Ich nicht nur zum Objekt macht, sondern noch darüber hinaus die Individualität dieses Ich eingehen läßt in die Gemeinsamkeit aller, die in diesem Moment dem Walten der Natur ausgesetzt sind”. 34 Interne Textfassung 08.06.2007, Szene 24. Zur Namensanalogie Christus/ Christian im Woyzeck vgl. Waragai 1996, S. 120. Die Tatsache, dass Woyzeck das Kind mit Namen anspricht, deutet auf die Eingliederung der Figur in die Gruppe derer hin, die an der Hoffnung festhalten, das Kind (welches in der Inszenierung zu keinem Zeitpunkt auftaucht und in diesem Sinne wohl als leeres Phantasma einer nicht zu erfüllenden Sehnsucht nach einer Sinn stiftenden Instanz identifiziert werden kann) müsse der Erlöser sein. 35 Interne Textfassung 08.06.2007, Vorbemerkung. Der Verweis auf “unsere Zeit” erscheint ein weiteres Mal signifikant für das Bestreben einer notwendigen Verknüpfung der auf der Bühne dargestellten ‘Zukunft’ mit einer vermeintlichen Gegenwart der Zuschauer. 36 Die Szene, in der die Großmutter das Märchen aus dem Büchner-Text erzählt (direkt nach dem Prolog und vor Szene 1), wird in der Internen Textfassung als Wirklichkeit betitelt. 37 Interne Textfassung 08.06.2007, Szene 18. 38 Interne Textfassung, Stand: 08.06.2007, Prolog. 39 Culler 1999, S. 96. Culler bezieht sich in diesem Zusammenhang auf eine Überlegung Nietzsches, die die scheinbar gegebene Phänomenalität von Ursache und Wirkung als nachträglich angebrachte Konstruktion erkennt. 40 Interne Textfassung 08.06.2007, Szene 16. 41 Oliver Jahraus, Literaturtheorie. Theoretische und methodische Grundlagen der Literaturwissenschaft, Tübingen 2004, S. 326. 42 Jacques Derrida, Grammatologie, Frankfurt/ Main 1983, S. 17.