eJournals Forum Modernes Theater 24/2

Forum Modernes Theater
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Narr Verlag Tübingen
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In diesem Beitrag fasse ich den Danziger Auguststreik von 1980, das ein wichtiges Ereignis auf Polens Weg in die Demokratie darstellt, als eine politische Aufführung auf und werde seine theatrale Dimension fokussieren. Denn etliche der hier von den Streikenden durchgeführten Aktionen wurden bewusst exponiert, um im Akt ihres Vollzugs von den jeweiligen Adressaten wahrgenommen zu werden. Die theatrale Dimension dieses Streiks kann somit als politische Strategie betrachtet werden, die die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei unter Druck setzte und zu Zugeständnissen zwang. In diesem Zusammenhang sind die Begriffe Religion und Nation von wichtiger Bedeutung, da es sich bei diesem Streik um eine politische Aufführung des Religiösen und zugleich des Nationalen handelt, die sehr stark mir dem kulturellen Gedächtnis Polens verknüpft ist.
2009
242 Balme

“Noch ist Polen nicht verloren …”

2009
Berenika Szymanski
“Noch ist Polen nicht verloren …” Der Danziger Auguststreik 1980 als Aufführung des Religiösen und Nationalen Berenika Szymanski (München) In diesem Beitrag fasse ich den Danziger Auguststreik von 1980, das ein wichtiges Ereignis auf Polens Weg in die Demokratie darstellt, als eine politische Aufführung auf und werde seine theatrale Dimension fokussieren. Denn etliche der hier von den Streikenden durchgeführten Aktionen wurden bewusst exponiert, um im Akt ihres Vollzugs von den jeweiligen Adressaten wahrgenommen zu werden. Die theatrale Dimension dieses Streiks kann somit als politische Strategie betrachtet werden, die die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei unter Druck setzte und zu Zugeständnissen zwang. In diesem Zusammenhang sind die Begriffe Religion und Nation von wichtiger Bedeutung, da es sich bei diesem Streik um eine politische Aufführung des Religiösen und zugleich des Nationalen handelt, die sehr stark mir dem kulturellen Gedächtnis Polens verknüpft ist. Stalin zweifelte daran, dass es ihm gelingen könnte, in Polen den Kommunismus einzuführen. Seiner Meinung nach ließe sich eher eine Kuh satteln und reiten 1 als beim polnischen Nachbarn seine kommunistischen Vorstellungen verwirklichen. Trotzdem erreichte er sein Ziel: In den Jahren 1944 bis 1948 zwang er Polen schrittweise ein kommunistisches System sowjetischer Art auf, ohne die Wünsche oder die Interessen des Landes zu berücksichtigen. Die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei hatte dabei die Aufgabe, das kommunistische Gedankengut zu propagieren, die Ideen Stalins und seiner Nachfolger durchzusetzen und die Einhaltung der von der Sowjetunion vorgegebenen Regeln streng zu bewachen. Doch schon bald zeigten sich Risse in der schöngeredeten Fassade: Versprechungen stellten sich als leere Phrasen heraus, Unterdrückung und Machtprivilegien lähmten das Land und auch wirtschaftlich steckte Polen in einer tiefen Krise. Vor allem die Arbeiter waren es, die immer wieder ihren Unmut über die Zustände in Polen zeigten 2 , auch wenn dieser anfangs nicht so sehr gegen das System selbst, sondern vorwiegend gegen die katastrophale wirtschaftliche Situation gerichtet war. Erst mit den Auguststreiks von 1980, die sich von der Küste aus auf ganz Polen ausdehnten, nahmen die Proteste eine politische Dimension an: Am 14. August 1980 traten die Danziger Arbeiter der Leninwerft in Streik. 3 Sie forderten Lohnerhöhungen wegen des drastischen Preisanstiegs für Grundnahrungsmittel sowie die Wiedereinstellung der Kranführerin Anna Walentynowicz, die kurz zuvor entlassen worden war, weil sie sich für bessere Arbeitsbedingungen auf der Werft engagiert hatte und somit dem System unbequem wurde. Aus Solidarität mit der Leninwerft schlossen sich innerhalb weniger Tage immer mehr Betriebe dem Streik an, so dass am 17. August der überbetriebliche Solidaritätsstreik ausgerufen wurde, bei welchem die Streikenden unter der Führung des Elektrikers Lech Wa sa zu den sozialen nun auch politische Forderungen - wie die Gründung von freien und unabhängigen Gewerkschaften - stellten. Das gemeinsame Aufbegehren der Streikenden zwang die Regierung, sich auf Verhandlungen mit dem spontan gegründeten Überbetrieblichen Streikkomitee einzulassen und auf Forderungen einzugehen. Zum ersten Mal in der Geschichte des real Forum Modernes Theater, Bd. 24/ 2 (2009), 123-134. Gunter Narr Verlag Tübingen 124 Berenika Szymanski existierenden Sozialismus wurde hiermit die Verhandlungsfähigkeit opponierender Gruppen anerkannt. Ausgerechnet das alte (wenn auch leicht veränderte) marxistische Motto “Proletarier aller Betriebe, vereinigt euch! ” zwang also die Partei, die stets vorgab, im Namen der Arbeiter zu regieren, sich zum ersten Mal tatsächlich den Forderungen der Proletarier zu stellen und Zugeständnisse zu machen. Als die Streikenden im August 1980 gemeinsam als Handelnde die politische Bühne betraten, setzten sie durch ihren solidarischen und von Anfang an friedlich konzipierten Streik nicht nur die polnische Regierung unter Druck, sondern auch eine Entwicklung in Gang, die nach und nach sowohl Polen als auch andere Satellitenstaaten der Sowjetunion politisch verändern und 1989 in der friedlichen Revolution münden sollte. Doch was zeichnet diesen Streik aus? Was unterscheidet ihn von anderen Arbeitsniederlegungen? Was genau erzeugte die Solidarität unter den Streikenden und gab ihnen die Kraft, trotz vermeintlicher Ausweglosigkeit und aller Gerüchte über eine militärische Intervention der Sowjetunion, an ihren Forderungen festzuhalten? Eine der Antworten hierauf ist in der theatralen Dimension dieses Streiks zu suchen. Politik verfügt über einen theatralen Charakter, denn sie ist auf Aufführungen angewiesen. Sie muss sich, wie Matthias Warstat und Christian Horn betonen, “immer wieder in einem strukturierten Programm von Aktivitäten konkretisieren, das zu einer fest terminierten Zeit an einem bestimmten Ort von einer Gruppe von Akteuren vor einer Gruppe von Zuschauern vorgeführt wird”. 4 Hierbei präsentiert sich eine politisch handelnde Person oder Gruppe ganz bewusst vor den Augen anderer, wobei sie Zeichen produziert, mit diesen Bedeutungen evoziert und Wirkungen intendiert. Diese Aufführungen können somit - je nach politischer Bedürfnislage und historischen Bedingungen - dazu dienen, Wähler zu gewinnen, die Machtposition von Parteien oder von Herrschern zu unterstützen, Missstände in der Politik zu vertuschen, aber auch Identitäten zu stiften und den Zusammenhalt von Bewegungen zu festigen oder Herrscher zu entmachten. 5 Die reale politische Situation ist infolgedessen, wie Doris Kollesch konstatiert, “durch Prozesse der Darstellung, der Inszenierung und der Wahrnehmung [gekennzeichnet], welche aus dem (Kunst-)Theater vertraut sind und aus diesem Grund auch entsprechend beschrieben werden können”. 6 Wer also die Theatralität einer bestimmten politischen Situation fokussiert, der versucht, die Verfahren, Techniken und Strategien herauszukristallisieren, die diese formen und prägen, ohne ihr von vornherein einen pejorativen Charakter zuzusprechen und sie abzuwerten. Vielmehr geht es darum, die ‘Gemachtheit’ der politischen Aufführungen vor ihrem jeweiligen historischen Hintergrund zu analysieren und auf diese Weise Einblick in ihre Funktionsweisen zu gewinnen. In diesem Beitrag fasse ich den Danziger Auguststreik als eine solche politische Aufführung auf und nehme seine theatrale Dimension in den Blick. Denn etliche der hier durchgeführten Aktionen wurden bewusst von den Streikenden exponiert, um im Akt ihres Vollzugs von Zuschauern, den jeweiligen Adressaten, wahrgenommen zu werden und auf diese Weise bestimmte Wirkungen zu erreichen. Die theatrale Dimension dieses Streiks kann somit als politische Strategie begriffen werden, die das Regime in Polen unter Druck setzte und zu Zugeständnissen zwang. Dabei spielen die Termini Religion und Nation eine äußerst wichtige Bedeutung, da es sich bei dem Danziger Auguststreik um eine politische Aufführung des Religiösen und zugleich des Nationalen handelt, die sehr stark mir dem kulturellen Gedächtnis Polens verknüpft ist. Mein Aufsatz ist in zwei Teile gegliedert: Zunächst soll ein Überblick über die histo- “Noch ist Polen nicht verloren …” 125 rische Verflechtung des Nationalen und des Religiösen in Polen gegeben werden, denn erst hierdurch kann die Danziger “Aufführung” verstanden und interpretiert werden. Anschließend wird, nach einer Einführung in den Begriff des kulturellen Gedächtnisses, an Beispielen aufgezeigt, auf welche Weise diese Verflechtung in der theatralen Dimension des Streiks auf der Leninwerft zur Geltung kommt und welchen Zweck sie erfüllt. Polen und der Messianismus Von 1772 bis 1795 wurde Polen drei Mal geteilt und verlor seine Landesteile an Russland, Preußen und Österreich. Auf dem Wiener Kongress von 1814/ 1815 wurde die Dreiteilung bestätigt. Der Verlust staatlicher Souveränität war ein schwerer Schicksalsschlag für die polnische Nation, schärfte ihr Nationalbewusstsein und einte die Menschen im Kampf um die Wiedervereinigung ihrer Rzeczpospolita (res publica). Im Zuge zahlreicher Verbote, welche die Teilungsmächte auferlegten - dazu gehörte z.B. das Verbot, die polnische Sprache und Kultur zu pflegen -, suchte die Mehrheit der Polen nach Möglichkeiten, die Eigenart und Tradition ihrer Nation zu bewahren. Die katholische Kirche bot ihnen dabei einen Zufluchtsort und wurde bald zum Symbol des Kampfes und zum Ort der nationalen Freiheit. 7 Genau in dieser Zeit entwickelte sich die tiefe Verbundenheit der polnischen Nation mit dem Katholizismus, und genau in dieser Zeit geriet der katholische Glauben zu einer patriotisch motivierten Verteidigungshaltung. 8 Eine wichtige Rolle spielt in diesem Zusammenhang der Messianismus. Die Bezeichnung Messianismus 9 steht für eine eschatologische Glaubensvorstellung, die davon ausgeht, dass mit dem Auftreten des Messias - eines von Gott gesalbten Retters und Erlösers - eine positive Veränderung der gegebenen und als negativ empfundenen Zustände herbeigeführt werden kann. Die älteste Form des Messianismus findet sich im Alten Testament wieder, wo Israel, als das von Gott auserwählte Volk, auf die Ankunft des Messias wartet, der es von Gewalt und Unterdrückung erlösen und in ein Friedensreich führen soll. In der christlichen Glaubensvorstellung dagegen ist mit der Geburt Jesu Christi der Warteprozess bereits abgeschlossen. Der Terminus Messianismus tritt auch außerhalb der Bibel auf, besonders in Zeiten großer Umbrüche und Krisen, in denen er zumeist für politische Zwecke instrumentalisiert wird. In Polen wurde der Begriff vor allem von Freiheitskämpfern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts übernommen und zur polnischen Sache erklärt: Das Leid der polnischen Nation sollte dazu führen, in Europa eine neue Ordnung herzustellen und die Menschheit moralisch-ethisch im Geiste des christlichen Glaubens zu erneuern. 10 Die Niederschlagung des Novemberaufstands von 1830/ 31 gegen Russland wurde zur literarischen Geburtsstunde des polnischen romantischen Messianisums. “Es war”, um mit Heinrich Olschowski zu sprechen, “die Antwort der Romantiker auf die nationale Katastrophe. Umgetrieben von der Frage, wie man der ausweglosen Niederlage einen positiven Sinn abgewinnt, bemühten sie das religiöse Paradigma.” 11 Einen wirkungsvollen Ausdruck findet der Messianismus vor allem im Werk von Adam Mickiewicz (1798-1855). In seinem Drama Ahnenfeier III (Dziady III), das 1832 direkt nach dem gescheiterten Novemberaufstand entstand, sakralisiert Mickiewicz die polnische Nation aufgrund ihrer politischen Unterdrückung und erhebt das Leid Polens ins Heilsgeschichtliche, stellt also das Schicksal seines Landes als Plan Gottes und - in der berühmten Szene der Vision von Pater Piotr - Polen als Christus der Nationen dar. 12 Das Leid und das Unglück des polnischen Volkes erfüllt, so die Aussage dieser Szene, sowohl einen historischen als auch einen 126 Berenika Szymanski eschatologischen Sinn. Der romantische Messianismus in Polen war also nicht nur ein Symptom der politischen Krise des Landes, sondern auch ein Versuch, diese zu überwinden. Durch seine Verbreitung sollte das Selbstverständnis der polnischen Nation gestärkt, Kräfte für einen Kampf um die Souveränität mobilisiert und der katholische Glauben vertieft werden. So wird es verständlich, dass die Mehrheit der Polen auch in den auf die Dreiteilung ihres Landes folgenden nationalen Krisenzeiten Zuflucht im Katholizismus gesucht haben. Sowohl im 2. Weltkrieg als auch und vor allem im Kommunismus nahm die katholische Kirche aufgrund ihrer historischen Rolle als Bewahrerin und Kämpferin für die polnische Nation von Anfang an eine wichtige Stellung ein. 13 Auch im Danziger Auguststreik findet sich eine besondere Verschmelzung von Religion und Nation wieder, die in der Aufführung des zivilgesellschaftlichen Protests deutlich zum Tragen kommt. Manifestation des kulturelles Gedächtnisses als Aufführung Jede Gruppe, die sich als solche konsolidieren will, ist darum bemüht, ihr Selbstbild zu gestalten und mit diesem die eigene Differenz nach außen zu betonen. Hierbei spielen Jan Assmann zufolge Erinnerungen bzw. das kulturelle Gedächtnis 14 eine wichtige Rolle: Unter dem Begriff kulturelles Gedächtnis fassen wir den jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Be stand an Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und -Riten zusammen, in deren ‘Pflege’ sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewusstsein von Einheit und Eigenart stützt. 15 Zumeist zählt allerdings nicht so sehr die faktische Geschichte, die erinnert wird, sondern vor allem die erinnerte Geschichte, die zu symbolischen Figuren und Mythen transformiert wird. Assmann subsumiert sie unter den Begriff Erinnerungsfiguren. 16 Die Erinnerung an die Zeit der Dreiteilung und mit ihr verbunden die Idee des Messianismus wurde im Laufe der Jahrzehnte in Polen zu solchen Erinnerungsfiguren transformiert und immer wieder als Identität sicherndes Wissen und zugleich als politisches Machtmittel benutzt. In Form von zahlreichen Symbolen und literarischen Texten - seien es Lieder, Gedichte oder Dramen - werden sie und mit ihnen die nationalen Erfahrungen aus dem 19. Jahrhundert bewahrt und in Krisenzeiten immer wieder belebt und aktualisiert. Solche Aktualisierungen bzw. Vergegenwärtigungen der Erinnerungen spielen innerhalb des nationalen Gedächtnisses eine wichtige Rolle. Sie stabilisieren die Identität von Gruppen, geben ihnen Orientierung in der Gegenwart und Hoffnung für die Zukunft. Die Vergegenwärtigung des zu Erinnernden hat oftmals Festcharakter und findet durch Kommunikation und Interaktion im Rahmen sozialer Gruppen statt. Sie ist, wie Assmann betont, an den Prozess ihrer Inszenierung gekoppelt: Mit Inszenierung ist hier gemeint, “dass dieses [Identität sichernde] Wissen in der Form einer multimedialen Inszenierung aufgeführt zu werden pflegt, die den sprachlichen Text unablösbar einbettet in Stimme, Körper, Mimik, Gestik, Tanz, Rhythmus und rituelle Handlung”. 17 Hierbei ist die kollektive Partizipation der jeweiligen Gruppe von wichtiger Bedeutung. Erst durch die Zusammenkunft und persönliche Anwesenheit der Gruppenmitglieder entsteht nämlich die Vergegenwärtigung von Erinnerungen und erst hierdurch werden Identität und das Selbstbild der Gruppe verstärkt bzw. nach außen positioniert. Die Vergegenwärtigungen dieses Wissens, die Assmann auch als Manifestationen des kulturellen Gedächtnisses bezeichnet, können “Noch ist Polen nicht verloren …” 127 Abb. 1: Heilige Messe während des Auguststreiks auf dem Gelände der Lenin-Werft in Danzig. (Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Stiftung KARTA) meiner Meinung nach auch im Sinne theatraler Aufführungen begriffen werden. Denn auch diese sind durch ein prozesshaftes Zusammenspiel von Handeln und Wahrnehmen konstituiert, wobei Wirkungen und Bedeutungen generiert werden. Auch sie sind an die gemeinsame Anwesenheit von Akteuren und Zuschauern für eine bestimmte Zeitspanne an einem bestimmten Ort gebunden. Und auch sie haben einen das Alltägliche überschreitenden Charakter. Auch im August 1980 wurde auf der Leninwerft in Danzig ein Ausnahmezustand ausgerufen und das kulturelle Gedächtnis des Landes vergegenwärtigt, indem die Streikenden und ihre Helfer mit Hilfe von Symbolen, Liedern und Theatertexten die Geschichte Polens ins Gedächtnis gerufen, als Bilder aktualisiert und aufgeführt haben. Wie genau wäre diese Aufführung des kulturellen Gedächtnisses Polens zu beschreiben? Politische Aufführung des Religiösen und Nationalen Timothy Garton Ash, der den Streik als Journalist begleitete, bemerkt in seinen Beschreibungen: “Where else but in communist Poland would a strike be launched with Holy Mass […]”. 18 Und damit hat er nicht Unrecht: Am 17. August, dem Tag, an dem der Solidaritätsstreik begann, zelebrierte der Priester Jankowski um neun Uhr früh auf dem Gelände der Werft-Fabrik die Heilige Messe. Diese verfügte über einen theatralen Charakter. So haben die Streikenden einen großen Anhänger zur Bühne umfunktioniert und darauf einen provisorischen Altar errichtet. Im Hintergrund ragte ein großes hölzernes Kreuz auf, das einige Arbeiter spontan am Tag zuvor zum Gedenken an die beim Streik 1970 von Polizei und Militär getöteten Kameraden zusammengezimmert hatten. 19 Die gesamte Messe wurde - trotz eines enormen Wider- 128 Berenika Szymanski stands seitens Parteiangehöriger - über Lautsprecher übertragen, so dass auf dem gesamten Werftgelände und auch über dieses hinaus eine Teilnahme am Gottesdienst möglich war. Diejenigen, die das Bühnengeschehen nicht sehen konnten, konnten es zumindest hören und somit auch an der Messe partizipieren. An diesem Gottesdienst kann eine interessante Akteur-Rezipient-Situation konstatiert werden: Einerseits können der Priester Jankowski und seine Helfer als Akteure bezeichnet werden. Sie standen erhöht auf einer Bühne, zelebrierten die Messe und wurden in ihrer Aktion von den Messeteilnehmern wahrgenommen. Andererseits erhalten die Teilnehmer der Messe, die sich auf dem Werftgelände befanden und durch Mauern und Zäune körperlich von den vor den Toren Stehenden abgetrennt waren, durch ihre aktive Teilnahme an der Messe in Form von Gebet und Gesang nicht nur den Status von Zuschauern, sondern traten ebenfalls als Akteure auf. In ihrer aktiven Partizipation am Gottesdienst nämlich wurden sie von denjenigen wahrgenommen und beobachtet, die in diesen Stunden vor den Toren der Leninwerft standen. Die Wirkung, die von dieser betenden Arbeitermasse auf dem Streikgelände ausging, war immens. So nahmen nicht nur die vor der Fabrik stehenden Angehörigen der Streikenden am Gottesdienst teil, auch zufällig an der Werft vorbeigehende Bewohner Danzigs beschlossen spontan, sich an der Zeremonie zu beteiligen - angelockt und ergriffen vom Gesang und vom Gebet der Masse. Es erscheint mir wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Streikenden erst durch diese erste Messe Zulauf von außerhalb, also von ursprünglich nicht am Streik Beteiligten, bekamen, die von nun an tagtäglich vor den Toren ausharrten und auf diese Weise Solidarität mit den Streikenden bekundeten, kämpften diese doch nicht nur für bessere Arbeitsbedingungen der Werftarbeiter, sondern für die Verbesserung der Lebensbedingungen in Polen insgesamt. Durch das gemeinsame Gebet verschmolzen die sich in und außerhalb des Fabrikgeländes befindenden Menschenmassen und gewannen zunehmend an Mut. Anna Walentynowicz, ein Mitglied des Streikkomitees, fasst es folgendermaßen zusammen: Die beruhigenden Worte der uns gut bekannten und seit Jahren wiederholten Gebete nahmen neue Bedeutungen an. Sie einten uns, gaben uns Kraft. In den konzentrierten Gesichtern der Menschen konnte man mühelos große Ergriffenheit, tiefen Glauben und Hoffnung erkennen. 20 Somit kann in einem weiteren Gedankenschritt konstatiert werden, dass alle an der Messe Beteiligten, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Fabrikgeländes, in ihrer Gesamtheit auch als Akteure fungierten, indem sie gemeinsam als Gruppe offen ihre Frömmigkeit demonstrierten und diese als politisches Statement an die Machthaber und ihre Anhänger richteten, die den Katholizismus in Polen seit Jahrzehnten vergeblich zu bekämpfen versuchten. In dieser Messe wie auch in allen darauf folgenden (von besagtem Sonntag an fand den gesamten Streik über täglich eine Messe statt) wurde ganz bewusst in Form von Gebeten, Fürbitten, Predigten und gemeinsamen Gesängen die Zeit der Dreiteilung ins Gedächtnis gerufen. Vor allem auf drei Lieder möchte ich an dieser Stelle Bezug nehmen: auf das Lied der Schwarzen Madonna, auf Gott, der du Polen und die polnische Nationalhymne, die auch unter dem Titel Mazurek D browskis bekannt ist. Sowohl Gott, der du Polen als auch Mazurek entstanden Ende des 18./ Anfang des 19. Jahrhunderts; beide Lieder konkurrierten 1918, nachdem Polen seine Souveränität wieder erlangt hatte, um den Status der Nationalhymne, bis sich das Letztere durchgesetzt hat. Schon in der ersten Strophe der Nationalhymne, die zum ersten Mal von polnischen Legionen in Italien “Noch ist Polen nicht verloren …” 129 gesungen worden war in der Überzeugung, dass sie Polens Unabhängigkeit wiederherstellen könnten, wenn sie unter der Führung D browskis Napoleon dienten 21 , werden die Gewissheit und die Hoffnung deutlich, dass Polen als Nation trotz aller Widerstände solange existieren wird, solange es Polen gibt, die für ihr Vaterland bereit sind zu kämpfen: Noch ist Polen nicht verloren, solange wir leben. Was uns fremde Macht genommen, holen wir wieder mit dem Säbel. Diese gleiche Hoffnung leitete auch die Streikenden von Danzig: Sie kämpften mit ihren 21 Postulaten, 22 die u.a. die Forderung nach freien und unabhängigen Gewerkschaften, das Recht auf Streik und auf freie Meinungsäußerung beinhalteten, für mehr Rechte und mehr Freiheit im kommunistischen Polen. Und für ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion. Denn gerade in der Diktatur des Regimes sowjetischer Prägung sah die Mehrheit der Polen eine Parallele zur Unterdrückung durch Russland im 19. Jahrhundert. Diesmal sollte der Kampf jedoch nicht mit dem Säbel stattfinden, sondern mittels Verhandlungen; nicht mit dem General Jan Henryk D browskis, sondern mit dem Elektriker Lech Wa sa an der Spitze. Die Hoffnung auf ein freies und unabhängiges Polen wird auch in Gott, der du Polen deutlich. Das Singen dieses religiösen Liedes, das 1862 im russischen Teilungsgebiet sogar verboten war, ist politisch motiviert und ein Ausdruck des Glaubens daran, dass das Schicksal Polens in Gottes Händen liegt und dass Gott “Polen aus der Tyrannen Sklaverei” - wie es in dem Lied heißt - befreien und ihnen das Vaterland zurückgeben werde. Auch das Lied der Schwarzen Madonna bezieht sich auf die überirdische Hilfe und drückt das Vertrauen darauf aus, dass Madonna dem polnischen Volk als Beschützerin zur Seite steht. Genau aus diesem Grund hat König Jan Kazimierz im Jahr 1656 nach dem Sieg gegen die Schweden, der auch als das Wunder von Tschenstochau bekannt ist, sie zur “Regina Poloniae”, zur Königin Polens erklärt. In allen Krisenzeiten suchten gläubige Polen Schutz bei der Schwarzen Madonna von Tschenstochau - besonders zur Zeit der Dreiteilung, wo ganze Menschenmassen, trotz des Verbots der Teilungsmächte, nach Tschenstochau pilgerten. Auch während des Streiks baten die Streikenden um ihre Hilfe, nicht nur indem sie ihr Lied sangen, sondern auch indem sie gemeinsam, auch außerhalb der Gottesdienste, das Mariengebet sprachen. In diesem Zusammenhang sollte hervorgehoben werden, dass auf dem gesamten Werftgelände neben polnischen Fahnen und Blumen in den Nationalfarben auch überall Bilder der Schwarzen Madonna zu sehen waren. Ihr bewusstes Platzieren neben die nationalen Symbole kann als politisches Statement interpretiert werden, dass nicht die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei, sondern die Madonna als die wahre Machthaberin des Staates vom Volk anerkannt werde und dass sich die Streikenden von ihr, nicht aber von der Partei vertreten fühlten. Äußert wichtig erscheint mir der Hinweis, dass die drei gerade genannten Lieder nicht nur während der Gottesdienste gesungen wurden. Sie stellten auch ein Kampfmittel Wa sas dar: Jedes Mal, wenn die Menge vor Unzufriedenheit tobte, wenn die Streikenden nicht mehr an einen Sieg glaubten oder Angst vor einem militärischen Angriff hatten und alles hinzuschmeißen drohten, kletterte Wa sa auf die Bühne - mal auf einen Bagger, mal einen Tisch, mal eine Mauer vor der Fabrikhalle, mal auf einen Elektrokarren - und begann mit Verstärkung eines Sprachrohrs oder Mikrofons eines dieser Lieder zu singen. 23 Die Menge beruhigte sich schlagartig, schaute zu Wa sa hoch, stand auf und sang mit ihm. Durch dieses gemeinsame Singen wurden die Streikenden einerseits an den Zweck ihres Streiks und ihre selbst auferlegte patriotische Verpflichtung erinnert, 130 Berenika Szymanski Abb. 2: Lech Wa sa bei einer seiner Ansprachen am geschmückten Tor Nr. 2 während des Streiks. (Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Stiftung KARTA) andererseits wurden sie durch diese Art der Manifestation des kulturellen Gedächtnisses in ihrer Gruppenzugehörigkeit gestärkt und nach außen, d.h. ihren politischen Gegnern bzw. Verhandlungspartnern gegenüber, positioniert. Kirche und Glaube waren im kommunistischen Polen zwar nicht gesetzlich verboten, doch den Machthabern mit ihrer offiziellen Propaganda des Atheismus ein Dorn im Auge. Das Abhalten einer Messe ausgerechnet auf der Leninwerft, einem Prestigeobjekt des polnischen Kommunismus, empfanden überzeugte Parteimitglieder als Provokation. Für die Streikenden war es jedoch mehr als das: Zum einen war es ein öffentlicher Ausdruck ihres Willens nicht mehr als Objekt des Regimes behandelt, sondern als ein zum Handeln fähiges und das gesellschaftliche Leben mitgestaltendes Subjekt wahrgenommen zu werden - wie Wa sa in seinen Memoiren konstatiert: “Wir haben die Kirche aus dem Museum herausgeholt, in das die Propaganda sie hatte verbannen wollen. Wir haben auf diese Weise gezeigt, daß dies unser Polen ist, daß wir nicht nur Mieter, sondern Miteigentümer sind”. 24 Zum anderen stärkte es die Gruppenzugehörigkeit und die Identität der Streikenden auf eine besondere Weise, wie ein Arbeiter bestätigt: Outdoor masses, especially the first one, made an indelible impression upon us. They were experiences which no Shakespeare and no Goethe could produce by his magic. Why? I dare say it was so because even the finest theatrical performances lack that supernatural power which emanates from the wooden cross. An atheist would probably snarl at this statement, but there were no atheists among us, and the experience was genuine. […] For the onlookers the cross was merely a relic two thousand years old and nothing more. For us, strikers, it was something much more because of our (unconscious) identification with Christ. We were ready to take the cross upon our own shoulders, the cross in the form of the “Noch ist Polen nicht verloren …” 131 caterpillar tracks of the tanks, if it came to an assault on us […]. 25 Die Messe wird hier mit der Aufführung eines Werkes von Shakespeare bzw. Goethe verglichen. Mit dem Ergebnis, dass die Wirkung, die von dem Gottesdienst und von dem im Hintergrund aufgestellten Kreuz ausging - so die Aussage des Streikenden - jede Theateraufführung eines noch so bedeutenden Dramatikers übertraf. Das einfache Kreuz vermittelte den Zuschauern nicht nur ein einzigartiges Erlebnis von Zusammengehörigkeit, sondern bot ihnen auch, ganz im messianischen Sinne, eine Identifikation mit Jesus Christus, was gerade an den beiden letzten Sätzen des Zitierten erkennbar wird: Hier werden ganz deutlich die Bereitschaft und der Entschluss der Streikenden ausgedrückt, das Kreuz, das in diesem Fall für die aktuellen Sorgen und Nöte des Landes steht, auf die eigene Schulter zu nehmen und zu tragen. Es steht für die bewusste Entscheidung, für ihr Vaterland zu handeln, so wie es Generationen vor ihnen bereits getan hatten. Das Kruzifix wurde zu einem der wichtigsten Symbole des Streikes überhaupt und tauchte nicht nur während der Messe auf. Auf den Toren der Fabrik sowie an den Wänden in den Verhandlungssälen haben die Streikenden das Kreuz ganz bewusst platziert, einerseits aus dem Bedürfnis nach der Ermutigung heraus, die ihnen dieses Symbol vermittelte. Andererseits erhielt es, Jan Kubik zufolge, neben der allgemeinen Bedeutung als Symbol für das Christentum folgende drei Konnotationen, die an die nationalen Erfahrungen und Erinnerungen anknüpfen: “First, it was a sign of defiance toward the Communistic regime and the authorities; second, it was a metaphor of national martyrdom; and third, it was a symbol of Poland as a messiah of nations”. 26 Die drei von Kubik konstatierten Bedeutungen des Kreuzes charakterisieren auch das Gefühl und das Selbstverständnis der Streikenden als Kämpfer für das Wohl der polnischen Nation ganz im messianischen Sinne. Dieses Empfinden wurde durch einen Auftritt der Schauspieler aus dem Danziger Theater Wybrze e verstärkt. Diese haben, neben Ausschnitten aus romantischen Werken von Juliusz S owacki (1809-1849) und Cyprian Norwid (1821-1883), auch ausgewählte Passagen aus der Ahnenfeier III - dem eingangs bereits erwähnten Träger des messianischen Gedankens schlechthin - für die Streikenden rezitiert. Norman Davies stellt die Bedeutung solcher kulturellen Initiativen für die polnischen Arbeiter heraus: In den demokratischen Gesellschaften des Westens, wo die meisten Freiheiten die meiste Zeit geachtet werden, sehen Arbeiter wenig Veranlassung, bei ihren Gewerkschaften auf kulturelle Kost zu drängen, da jede Familie das Kulturgeschehen nach eigenem Gutdünken wahrnehmen oder auch ignorieren kann. In der kommunistischen Welt, wo die gesamte Kultur der offiziellen Propaganda dienstbar zu sein hatte, hatten die Arbeiter jedoch andere Bedürfnisse. Sie waren erregt und begeistert, wenn ihnen eine Theateraufführung oder eine inoffizielle Dichterlesung mit dem Versprechen angekündigt wurde, von der verbotenen Frucht der Doppeldeutigkeiten und mehrdeutigen Bildern kosten zu dürfen. 27 In Danzig stieß dieser Auftritt der Schauspieler auf großen Zuspruch und nährte das messianische Empfinden der streikenden Masse. Maciej Prus, der Regisseur und Dramaturg der Lesung, erinnert sich: “In dem Saal, in dem wir auftreten mussten, herrschte ein ständiges Geklapper von Schreibmaschinen und Fernschreibern. Doch während der ‘Vision des Paters Piotr’ wurde alles still. Die Leute weinten ungeniert … Man bat uns um Zugaben”. 28 Mickiewiczs Pater Piotr sieht in seiner Vision das polnische Volk leiden, wie Jesus Christus gelitten hat. Seine Peiniger sind die drei Länder, auf die Polen aufgeteilt ist. Die Anklage lautet: Die polnische Nation hat sich dem Zaren nicht untergeordnet und muss sterben. Der Gallier sieht keine Schuld Polens, 132 Berenika Szymanski wie auch Pontius Pilatus zunächst keinen Grund für die Verurteilung Jesu sah, doch er beugt sich der schreienden Masse, gibt Polen zur Kreuzigung frei und begnadigt den Verbrecher Barabbas. Am Kreuz ruft Polen: “Herr, Herr, warum hast du mich verlassen? ”, ebenso wie der biblische Jesus um die neunte Stunde rief. Zu seinen Füßen weinte Maria, um Polen dagegen weint in Mickiewiczs Drama die Freiheit. Der Sohn Gottes starb am Kreuz, doch er erstand vom Tode auf und wurde gen Himmel erhoben und von einer weißen Wolke bedeckt. Im christlichen Glauben wird dies als die Erfüllung der Mission Christi gedeutet. Auch Polen steigt nach seiner Kreuzigung in einem weißen Gewand zum Himmel hinauf und bedeckt mit ihm die ganze Erde. P IOTR Und ich hör vom Himmel Stimmen, die wie Donner hallen: Er, der Walter aller Freiheit auf der Erde, ist sichtbar allen! […] Hoch erhoben über jedem König, jedem Erdensohne; Auf drei Kronen steht er, selber ohne Krone […]. 29 Das polnische Volk darf also auf seine Freiheit hoffen. Auch die Streikenden von Danzig nahmen sich der Aufgabe an, ein Stück Freiheit im kommunistischen Polen zu erkämpfen. Als Ausdruck ihres messianischen Empfindens ist somit auch ein theatraler Akt zu verstehen, der an die gerade beschriebene Szene aus der Ahnenfeier III anknüpft und direkt im Anschluss an die erste Messe stattgefunden hat: Einige Arbeiter, darunter auch Lech Wa sa 30 , haben symbolisch das große hölzerne, am Vortag gezimmerte Kreuz auf ihre Schulter genommen und es gemeinsam - von einer Prozession begleitet - an den Ort getragen, an dem später ein Denkmal für die 1970 Verstorbenen stehen würde. Der Priester Jankowski weihte dieses Kreuz und die um ihn Versammelten. Im Anschluss daran sangen alle wie selbstverständlich die Nationalhymne und legten Blumen und brennende Kerzen am Kreuz nieder. Später befestigte ein unbekannter Streikender an dem Kreuz ein Bild der Schwarzen Madonna und ein Stück Papier, auf dem ein von Mickiewicz ins Polnische übersetze Zitat aus Byrons The Giaour gekritzelt war: For Freedom’s battle once begun, Bequeath’d by bleeding sire to sun, Though baffled oft is ever won. 31 Das Wort bleeding wurde allerdings ausgelassen, als Zeichen dafür, dass der hiesige Kampf anders als der von 1970 ohne Blutvergießen zu Ende gebracht werden sollte. Theatrales Verhalten als Möglichkeit politischer Äußerung, gar als politische Strategie, ist in Polen nicht erst mit den Auguststreiks festzuhalten. Bereits in der barocken Adelskultur des Sarmatismus lässt sich ein hoher Grad an Theatralität im konventionalisierten und ritualisierten Lebensstil des polnischen Adels (Szlachta) erkennen, mit dem sich dieser Normen setzende Teil der Bevölkerung selbst definierte und vorführte. 32 Auch in der Zeit der Dreiteilung können theatrale Verhaltensmuster ausgemacht werden, die während zahlreicher patriotischer Manifestationen praktiziert wurden. So berichtet ein Augenzeuge, dass während des Massakers auf dem Warschauer Schlossplatz am 8. April 1861 eine Gruppe von Menschen vor der Figur der Mutter Gottes kniend beharrlich religiöse Lieder sang, während um sie herum und auch auf sie geschossen wurde. 33 Vor Beginn des Aufstandes 1863/ 64 sollen selbst polnische Soldaten sich zu Manifestationen versammelt und u.a. Verse von Mickiewicz rezitiert haben. Diese zwei in der Zeit der Dreiteilung beobachteten Möglichkeiten das kulturelle Gedächtnis in einem politischen Kontext zu vergegenwärtigen, finden sich 1980 auf der Leninwerft in Danzig wieder. Denn gerade durch die Aufführung nationaler Lieder und Literatur wurde an den Augusttagen Protest ausgeübt. Die Manifestation “Noch ist Polen nicht verloren …” 133 des kulturellen Gedächtnisses hat es den Streikenden ermöglicht, nicht nur ihre Identität als Gruppe und somit ihre Zusammengehörigkeit zu stärken, sondern auch, sich nach außen - dem Regime und seinen Anhängern gegenüber - zu positionieren. Das Wiederaufleben des messianischen Gedankens der Romantiker und das gezielte Zur- Schau-Stellen der historischen Parallelen zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert drückte ganz besonders die oppositionelle Haltung der Streikenden aus sowie ihren Willen, als handlungsfähige Subjekte anerkannt zu werden. Denn an diesen Tagen waren sie davon überzeugt, dass Polen noch nicht verloren ist, solange sie leben; und das sollten alle sehen, vor allem aber die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei. Anmerkungen 1 Vgl. Rudolf Jaworski [et al.], Eine kleine Geschichte Polens, Frankfurt/ Main 2000, S. 334. 2 An dieser Stelle sei besonders auf die Unruhen von 1956, 1970 und 1976 verwiesen. 3 Siehe detaillierte Informationen zum Streikverlauf in Hartmut Kühn, Das Jahrzehnt der Solidarno . Die politische Geschichte Polens 1980-1990, Berlin 1999, S. 15-70. 4 Christian Horn und Matthias Warstat: “Politik als Aufführung. Zur Performativität politischer Ereignisse”, in: Erika Fischer Lichte [et al.] (Hg.), Performativität und Ereignis. Tübingen/ Basel 2003, S. 395-417, S. 395. 5 Vgl. Horn/ Warstat 2003, S. 395. 6 Doris Kolesch: “Politik als Theater: Plädoyer für ein ungeliebtes Paar”, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. 42 (2008), S. 35-40, 36. 7 Vgl. hierzu Jerzy Holzer, Polen und Europa. Land, Geschichte, Identität, Bonn 2007, S. 132, sowie Geri Nasarski, Noch ist Polen nicht verloren. Die Tragödie einer stolzen Nation, Wien [etc.] 1982, S. 110. 8 Der Katholizismus wurde in Polen mit der Taufe von Herzog Mieszko I. im Jahr 966 eingeführt, existierte jedoch lange Zeit neben anderen Glaubensvorstellungen. Seit den Kriegen im 17. Jahrhundert begann der katholische Glauben zunehmend eine identitätsstiftende Wirkung auszuüben. Eine wichtige Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Verteidigung des Klosters bei Jasna Góra (Heller Berg) 1655 gegen die Schweden, die einerseits den Kult um die Schwarze Madonna auslöste und andererseits die Überzeugung verbreitete, dass die Mutter Gottes als Beschützerin dem polnischen Volk zur Seite stehe. Die Verbindung des katholischen Glaubens mit nationalen Gefühlen wird jedoch erst in der Zeit der Dreiteilungen voll ausgeprägt. 9 Vgl. hierzu Stanis aw Pieróg: “Mesjanizm” [Messianismus], in: Józef Bachórz und Alina Kowalczykowa (Hg.), S ownik literatury polskiej XIX wieku. [Begriffswörterbuch der Polnischen Literatur im XIX. Jahrhundert], Wroc aw 1991, S. 536-540. 10 Vgl. Maria Janion und Maria migrodzka, Romantyzm i historia [Romantik und Geschichte], Warszawa 1978, S. 57-78. 11 Heinrich Olschowsky, “Sarmatismus, Messianismus, Exil, Freiheit - typisch polnisch? ”, in: Andreas Lawaty und Hubert Or owski (Hg.), Deutsche und Polen. Geschichte - Kultur - Politik, München 2003, S. 279-288, bes. S. 280. 12 Der Vergleich der polnischen Nation mit Jesus Christus wird von Mickiewicz auch in Ksi gi narodu i pielgrzymstwa polskiego [Bücher der polnischen Nation und der polnischen Pilgerschaft] aus dem Jahr 1832 ausformuliert. 13 Vgl. Nasarski 1982, S. 115. 14 Jan Assamann: Das kulturelle Gedächtnis. München 2002, S. 36-56. Hierauf beziehe ich mich auch im Folgenden. 15 Jan Assmann: “Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität”, in: Jan Assman und Tonio Hölscher (Hg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt/ Main 1988, S. 15. 16 Assmann 2002, S. 52. 17 Assmann 2002, S. 56. 18 Timothy Garton Ash, The Polish Revolution, New Haven/ London 2002, S. 49. 19 Am 14. Dezember 1970 kam es in den Küstenstädten Danzig, Stettin, Gdingen und Elbling zu spontanen Arbeiterstreiks und Demonstrationen aufgrund von starken Preiserhöhungen für Grundnahrungsmittel. Die 134 Berenika Szymanski Streikenden forderten die Regierung vergeblich auf, mit ihnen in Verhandlungen zu treten. Am 17. Dezember eskalierten die Proteste und es kam zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen den Protestierenden und den gegen sie eingesetzten Armee- und Milizeinheiten, in deren Verlauf sehr viele Menschen ums Leben kamen. 20 Anna Walentynowicz, Cie przysz o ci [Schatten der Zukunft], Gda sk 1993, S. 84; hier zitiert in meiner Übersetzung. 21 Vgl. hierzu Norman Davies, Im Herzen Europas. Geschichte Polens, München 2002, S. 147. 22 Die gesamten 21 Postulate sind nachzulesen u.a. bei Kühn 1999, S. 29-31. 23 “Ein Streik - das ist die Masse, die ganz verschieden reagiert. Auch ich hatte kein Drehbuch, aber ich hatte ein Gespür für die Masse. Ich weiß immer, wenn ich in einer großen Menschenansammlung bin, was die Leute wollen. Ich spüre das ganz einfach instinktiv.” Aus: Lech Wa sa: Ein Weg der Hoffnung: Autobiographie. Wien 1987, S. 170. 24 Wa sa 1987, S. 205. 25 Zitiert nach Jan Kubik, The Power of Symbols against the Symbols of Power: the Rise of Solidarity and the Fall of State Socialism in Poland, Pennsylvania 1994, S. 189. 26 Kubik 1994, S. 189. 27 Davies 2002, S. 344. 28 Zit. nach Davies 2002, S. 346. 29 Zit. aus der Übersetzung von Walter Schamschula; Mickiewicz, Adam: Die Ahnenfeier. Ein Poem, Köln 1991, S. 301f. 30 Wa sa 1987, S. 176. 31 Vgl. hierzu Ash 2002, S. 49. 32 Vgl. Brigitte Schultze: “Die Erschaffung des Menschen aus Rollen. Zur metatheatralen Ausstellung der Rolle im polnischen Drama der 1920er-1960er Jahre.”, in: Christopher Balme [etc.] (Hg.): Theater als Paradigma der Moderne? Positionen zwischen historischer Avantgarde und Medienzeitalter. Tübingen/ Basel 2003, S. 216-242, bes. S. 216. 33 Vgl. Janion/ migrodzka 1978, S. 546.