eJournals Forum Modernes Theater 25/1

Forum Modernes Theater
0930-5874
2196-3517
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2010
251 Balme

Dennis Kennedy. The Spectator and the Spectacle. Audiences in Modernity and Postmodernity. Cambridge: Cambridge University Press, 2009, 249 Seiten, ca. 60 €

2010
Peter W. Marx
Rezensionen 109 Wie sich vor allem an diesen Beispielen gezeigt hat, sollte Theatergeschichtsschreibung immer theoriegeleitet vorgehen. Es sind theoretische Vorannahmen, die zu bestimmten methodischen und konzeptuellen Entscheidungen führen und entsprechend zu erläutern sind. Die Anlage einer historiographischen Untersuchung ist daher ohne den Rekurs auf bestimmte Theorien gar nicht möglich (S. 134). Mit dieser Überleitung zur Theorie als nächstem Forschungsfeld wird erneut kenntlich, wie zentral der von Fischer-Lichte maßgeblich in den Vordergrund internationaler Theaterwissenschaftsforschung gerückte Aufführungsbegriff geworden ist und unter anderem eben auch einen neuen Blick auf die zeitgenössischen Methoden der Geschichtsschreibung eröffnet. Auf die notwendige Erweiterung theaterwissenschaftlicher Theoriebildung bezieht Fischer- Lichte sich abschließend im dritten Teil des Bandes, der sich an Studierende in den aufbauenden Masterstudiengängen des Faches richtet. Fischer- Lichtes originelle Wende besteht in diesem Teil vor allem darin, den von ihr jüngst neu postulierten Begriff der “Verflechtung” als Alternative zur umstrittenen Interkulturalitäts- und Hybriditätsforschung der 1990er Jahre vorzustellen. Erstmalig verwirft Fischer-Lichte auf diese Weise herkömmliche Analysemodelle, die den Modernisierungsgedanken als einseitige Verwestlichung internationaler Theaterformen betrachten und weist im Gegenzug darauf hin, dass Modernisierung in jedweder Form und jeder Kultur gleichwertig auftreten kann (S. 174f.). Diese These ist durchaus so provokant, wie man das von ihrer langjährigen Forschung gewohnt ist, doch liefert sie auch hier wieder den entscheidenden Impuls zu bislang ausstehender Forschung auf diesem Gebiet. Erika Fischer-Lichte beweist damit einmal mehr wie sehr ihre singuläre Forscherpersönlichkeit maßgebliche Grundsteine legt, die dem Fach inzwischen zu unentbehrlichen Eckpfeilern geworden sind. Nachkommenden Generationen junger Studierender ist die kritische Lektüre dieser Einführung daher besonders zu empfehlen, da sie im Vergleich zu den bereits existierenden Einführungen die Genealogie der deutschsprachigen Theaterwissenschaft aufzeigt und damit das vorgestellte Primat der Aufführungsanalyse als Kernkompetenz im Kontext deutscher Theatergeschichte überzeugend darlegt. Aberystwyth S ABINE S ÖRGEL Dennis Kennedy. The Spectator and the Spectacle. Audiences in Modernity and Postmodernity. Cambridge: Cambridge University Press, 2009, 249 Seiten, ca. 60 Der Zuschauer gehört zu jenen Konstanten des theaterwissenschaftlichen Diskurses, dessen Anwesenheit (oder Abwesenheit) als factum brutum angenommen wird. Bei näherer Betrachtung aber verkompliziert sich der Sachverhalt sofort: In einem Dickicht von Spekulationen und Verallgemeinerungen, Stereotypen und Mutmaßungen windet sich die Rede vom Zuschauer um die Erkenntnis herum, dass wir eigentlich keine verlässlichen Aussagen über diesen so wichtigen Teil des theatralen Prozesses machen können. Und mit dieser Erkenntnis beginnt Dennis Kennedy seine Überlegungen zu diesem Thema: “A spectator is a corporeal presence but a slippery concept.” (S. 3) Ausgehend von diesem Eingeständnis der Komplexität und Schwierigkeit des Themas unternimmt Kennedy dann eine umfassende tour d’horizon, die das Thema aus den unterschiedlichsten Perspektiven beleuchtet. Das Panorama der Reflexion beginnt im Paris des 19. Jahrhunderts: Es ist die Figur des Regisseurs - als Korrelat zum Autor -, die für Kennedy zum Ausgangspunkt einer Revision des grand récit der Moderne wird: So diskutiert er ausführlich die Nähe der Avantgarde zum kommerziellen, urbanen Unterhaltungstheater, gerade auch dort, wo die Selbstbeschreibung der Künstler in eine andere Richtung deutet. In einer originellen Überblendung parallelisiert Kennedy Gustave Eiffel und seinen Turm mit den Reformprojekten von André Antoine. Doch diese historischen Skizzen bilden keinen Selbstzweck, sondern formen den Ausgangspunkt einer Weiterführung zu einer Theorie und Historiographie der Regie, die nicht in hagiographischer Bewunderung erstarrt, sondern die Forum Modernes Theater, Bd. 25/ 1 (2010), 109-111. Gunter Narr Verlag Tübingen 110 Rezensionen Geschichte der Regie mit der Geschichte ökonomischer, sozialer und kultureller Modernisierung verwindet. Dass es sich hierbei nicht um ein abgeschlossenes Kapitel der Theaterbzw. Kulturgeschichte handelt, wird deutlich, wenn Kennedy am Ende seiner Ausführungen den Bogen zur gegenwärtigen Theatersituation schlägt und erkennbar werden lässt, wie sehr sich im 19. Jahrhundert genealogische Linien herausbilden, die bis heute noch wirksam sind. Im zweiten Teil “Shakespeare and the Politics of Spectation” kehrt Kennedy zu jenem Feld zurück, das er selbst in großem Maße mitgeprägt hat: Shakespeare auf der Bühne. Nicht ohne Koketterie formuliert er selbstkritisch: “I am not a spectator, I am a museum of Hamlet.” (S. 200) Die Ausführungen, die Kennedy aber in diesem Abschnitt präsentiert, sind alles andere als museumsreif: Gerade weil Shakespeare ein so (scheinbar) unverbrüchlicher Bestandteil der westlichen und mittlerweile der globalen Theaterkultur zu sein scheint, lassen sich an ihm grundsätzliche Frage um das Zuschauen, um die Teilhabe des Publikums am Theaterereignis formulieren. So gelingt es Dennis Kennedy dem Thema ganz neue Aspekte abzugewinnen: Zunächst eröffnet er mit “Shakespeare and the Cold War” einen Blick auf die Theaterkultur nach 1945. Sodann setzt er seine Reise - in immer weiteren Kreisen das Theater fokussierend - in der Gegenwart fort: So ist das neu errichtete Globe in London der Zirkelpunkt einer Reflexion, die um das Verhältnis von ‘Zuschauerschaft’ (“spectatorship”) und Tourismus kreist. Hiervon ausgehend erscheint es nur folgerichtig, dass er sich von der Schaffung eines globalisierten Theaterorts schließlich einer globalisierten Theaterkultur zuwendet. Kennedy erweist sich hier nicht nur einmal mehr als einer der besten Kenner der internationalen Shakespeare-Kultur, er zeigt auch einen Weg für die mögliche weitere Diskussion der Frage eines interkulturellen Publikums auf. In fact the intercultural spectator in the theatre replicates the condition of the global tourist. It is perfectly possible for us as tourists in a foreign clime to remain unaffected by the culture we are visiting; this is the usual hightoned critique of sun-drenched tourism. But it is also possible for tourists to engage the challenges of the foreign, as they see the other now in its own location and are forced to recognize their foreignness to it. […] Whatever else it does, […] intercultural theatre, and especially intercultural Shakespeare, implicates spectators in the anxieties brought by the globalization of cultural identities. (132) Von hier ist es nur ein kleiner Schritt zur Frage nach der Körperlichkeit des Zuschauers, die Kennedy in einem breiten Panorama des Forschungsdiskurses verortet. Hierbei von Shakespeare-Inszenierungen auszugehen erweist sich in doppelter Hinsicht als kluge methodische Entscheidung: Zum einen, weil er so einen globalen Corpus von Inszenierungen zum Vergleich hat, zum anderen, weil sich in der Spannung zwischen einem scheinbar traditionellen Theatermodell (Sprechtheater) und Theoriemodellen, die sich bspw. in der Auseinandersetzung mit der Performance-Kunst gebildet haben, eine komplexe Perspektive entwickeln kann, die gleichermaßen vor Vereinfachungen wie Hypostasierungen gefeit ist. Der dritte und abschließende Teil schließlich - “Subjectivity and the Spectator” - zieht die in den vorhergehenden Abschnitten entworfenen Linien noch weiter: Hier zeigt Kennedy, dass die mit dem Zuschauer verbundenen Fragen keineswegs auf das Theater allein beschränkt sind, sondern vielmehr in allen gesellschaftlichen und kulturellen Bereichen zu finden sind. Es gehört zu den Stärken des Bandes, dass Kennedy seinem Leser vor Augen zu führen versteht, dass das Problem des Zuschauers zwar seinen Ausgangspunkt im Theater nehmen kann, aber dass eine wirklich kulturwissenschaftliche Theorie auch Bereiche wie Fernsehen, Sport und Ritual mit bedenken muss. Die Frage des Zuschauers, den man so lange als selbstverständliche Komponente des Theaters aus dem Blick genommen hat, kehrt in jüngster Zeit wiederholt in die Diskussion zurück. So bilden Kennedys Überlegungen ein Pendant bspw. zu Jacques Rancières Le spectateur émancipé (2008), das ebenfalls die Frage des Zuschauers im Theater diskutiert. Ohne in die Falle einer naiven, empirisch-positivistischen Zuschauerforschung zu gehen, zeigen beide Bände die vielschichtige Dimension einer notwendigen Er- Rezensionen 111 weiterung der gegenwärtigen Forschungsdiskussion auf. Kennedys Buch verzichtet dabei auf den Versuch einer geschlossenen Theoriebildung, nicht aus Mangel an Systematik, sondern um die Komplexität der Thematik und der es berührenden Themenfelder voll ausschöpfen zu können. So entsteht ein Buch, in dem nicht zufällig immer wieder auch der Autor als Autor und als Zuschauer aus Passion und Profession sichtbar wird und das eine Fülle bietet, aus der reich zu schöpfen ist. Bern P ETER W. M ARX Karsten Lichau, Viktoria Tkaczyk, Rebecca Wolf (Hrsg.): Resonanz. Potentiale einer akustischen Figur. München: Wilhelm Fink, 2009, 375 Seiten, mit CD-ROM, 60,00 . Dass sich mit “Resonanz” nicht allein die Übertragung von Wellenfrequenzen, sondern ganz unterschiedliche Phänomene in den Natur- und Geisteswissenschaften bezeichnen lassen, ist angesichts der alltagssprachlichen Beliebtheit dieser Metapher wenig überraschend. Bemerkenswert ist vielmehr, welche historischen und methodologischen Bezüge die Figur im Stande ist, aufzuzeigen, und welche Verknüpfungen sie zwischen Kunst und Wissenschaft, zwischen akustischen Phänomenen und technischen Erfindungen, zwischen Ästhetik und Neuroästhetik herzustellen vermag. Der Sammelband, der aus der Abschlusskonferenz des Graduiertenkollegs Körperinszenierungen an der FU Berlin hervorgegangen ist und sich dieser Komplexität annimmt, hat sich zwei Ziele gesetzt: Zum einen geht es darum, dem viel beschworenen iconic turn und der Tradition des Okolarzentrismus eine akustische Figur entgegenzusetzen und auf ihr Potential hinzuweisen; zum anderen versucht der Band, die durch den New Historicism angeregte Debatte um Kulturals Resonanzräume aufzugreifen und zu vertiefen. So ist es auch Stephen Greenblatt selbst, der mit dem vorangestellten Beitrag “Resonanz und Staunen revisited” eine Aktualisierung des gleichnamigen Essays von 1990 vornimmt und exemplarisch das methodische Potential der akustischen Figur für die Literaturgeschichte aufzeigt. Die übrigen 20 Beiträge gliedern sich in drei Abschnitte: 1. Resonanz: Musiktheoretische Positionen 2. Die akustische Figur als Wissensfigur 3. Resonanz, Materialität, Performativität. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für die gewinnbringende Ambiguität des Resonanzbegriffs liefern die Herausgeber in ihrer Einleitung mit dem berühmten Orson Welles-Hörspiel The War of the Worlds. Der Legende nach versetzte die zweiminütige Sequenz des Radio-Hörspiels, die sich der Leser als Audiodatei auf der dem Buch beiliegenden CD-ROM anhören kann, bei seiner Ursendung 1938 tausende Zuhörer in Panik, da die vermeintliche Live-Reportage über den Angriff Außerirdischer unvermittelt abbricht. Ob das Radio, dessen technische Erfindung auf der Resonanz elektromagnetischer Wellen beruht, allerdings tatsächlich durch den inszenierten Resonanzabbruch zum Auslöser einer “Resonanzkatastrophe” wurde, ist laut Einschätzung der Autoren mehr als fraglich, da die Legende überhaupt erst durch die Resonanz in den Medien, der Massenpsychologie und Militärgeschichte gebildet wurde. Dass die zeitgleiche Entstehung des Radios in Deutschland und den Vereinigten Staaten hinsichtlich der Ausschöpfung seines Resonanzpotentials ganz unterschiedliche Entwicklungen und Stimmpolitiken zur Folge hatte, zeigt auch der Beitrag von Wolfgang Hagen. Über die Erfindung des Radios hinaus stellt ein Gespräch mit der Kuratorin Brigitte Felderer Bezüge zur Kulturgeschichte der Stimme als Medium her. Unter anderem wird von der Sprechmaschine Wolfgang von Kempelens aus dem späten 18. Jahrhundert berichtet, deren rekonstruierte Stimme sich ebenfalls auf der CD des Buches wiederfindet. Auf welche Weise Resonanz als akustisches und technisches Phänomen im Verlauf der Geschichte immer wieder zugleich metaphorisch in Anspruch genommen wurde, zeigen mehrere wissenschaftshistorische Aufsätze der Anthologie. So legt Wolfgang Scherer dar, wie das Clavichord einen entscheidenden Beitrag für die Popularität der Resonanzmetapher im 18. und frühen 19. Jahrhundert leistete, sodass sich nicht nur Theorien der Empfindsamkeit, sondern auch anatomische und pädagogische Theorien (Herder) auf Forum Modernes Theater, Bd. 25/ 1 (2010), 111-112. Gunter Narr Verlag Tübingen