eJournals Forum Modernes Theater 26/1-2

Forum Modernes Theater
0930-5874
2196-3517
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2011
261-2 Balme

“Politik der Körper, Körper der Politik.”

2011
Jörn Etzold
Maud Meyzaud
“ Politik der Körper, Körper der Politik. ” Laurent Chétouane inszeniert Büchners Danton ’ s Tod Jörn Etzold (Bochum) und Maud Meyzaud (Hagen) Choreographie des Texts Dieser Aufsatz behandelt die zeitgenössische Inszenierung eines kanonischen Theatertexts. Er geht also von einer Grundannahme aus: Die Emanzipation der theatralen Mittel seit den historischen Avantgarden mag zwar die absolute Vorgängigkeit des Dramentextes aufgehoben haben - doch hat sich damit keineswegs die Frage erledigt, welche Rolle der Text und die Sprache für das Theater der Gegenwart spielen und spielen können. Mag man auch in vielen neueren Theaterformen eine Abkehr vom Text erkennen, so lässt sich auf der anderen Seite keineswegs übersehen, dass jener in vielen entscheidenden Arbeiten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine eminent wichtige Rolle spielte, so in den Inszenierungen von Klaus Michael Grüber, Heiner Müller, Robert Wilson oder Dimiter Gotscheff oder in den Filmen von Jean-Marie Straub und Danielle Huillet. Zwar wurde hier auf verschiedene Weise mit den Darstellungskonventionen des 19. Jahrhunderts gebrochen: Es wurde ein Sprechen erprobt, das nicht nach Ausdruck einer Innerlichkeit suchte, sondern die Physis der Sprechenden mit der Physis der Sprache konfrontierte. Dennoch aber blieben diese Arbeiten Arbeit am Text, Arbeit mit dem Text. Sie behandelten den Text nicht bloß als sinnliches Material, sondern schlossen ihn gerade dadurch auf, dass sie etwas anderes in ihm hörbar machten als Figurenrede und dramatische Handlung. In jüngerer Zeit haben vor allem die Inszenierungen von Laurent Chétouane auf besonders intensive Weise mit dem Text gearbeitet. Dies ist vielleicht kein Zufall: Denn ganz so wie Grüber oder Straub ist Chétouane (ein französischer Muttersprachler) mit der französischen Tradition der Deklamation vertraut, mit einem gefügten Sprechen also, dessen Ideale weniger Natürlichkeit und Ausdruck, als vielmehr Eleganz und Formvollendung sind. Zugleich aber ist Chétouane ausgebildeter Ingenieur: Sein Zugriff auf Sprache (und neuerdings auf Tanz) ist derjenige eines Menschen, der gelernt hat, Sachen auseinanderzubauen und wieder zusammenzuschrauben. Gerade als Ingenieur aber fand Chétouane auch seinen Zugang zur deutschen, ihm eigentlich fremden Sprache: Denn es ist ja gerade das Prinzip des Deutschen, dass in ihm die einzelnen Worte zusammengesteckt werden wie Elemente eines Baukastens. Die Konfrontation der französischen Tradition der Deklamation mit der Ingenieurskunst und dem Baukastenprinzip des Deutschen scheint uns recht eigentlich den idiosynkratischen Zugang Chétouanes zu den “ großen ” Texten der klassischen deutschen Moderne zu bezeichnen, zu Goethes Faust, Hölderlins Empedokles und Brechts Fatzer oder auch zu Arbeiten Büchners wie Woyzeck, Lenz und zuletzt Danton ’ s Tod. Dabei ist auffällig, dass diese Inszenierungen schon von Beginn an die Grenze zwischen einem vermeintlich “ konventionellen ” Texttheater und einem oft als “ postdramatisch ” bezeichneten, von Malerei, Tanz, Musik, Videokunst, Kino und Performance Art inspirierten Bühnengeschehen ignoriert haben. Im Fall seiner Inszenierung von Büchners Danton ’ s Tod aber, die im Frühling 2010 im Schauspiel Köln gezeigt wurde, ergibt sich aus diesem Zusammentreffen eine besonders glückliche Konstellation. 1 Forum Modernes Theater, 26 (2011 [2014]), 153 - 167. Gunter Narr Verlag Tübingen Chétouanes Inszenierung stellt Büchners Text nämlich nicht einfach im Sinne einer Theorie des “ Postdramatischen ” auf die Bühne - indem sie also den Text als bloßes Material behandelt, die Physis des Textes mit der Physis der Sprechenden konfrontiert, sein klangliches und rhythmisches Potential zu Gehör bringt. Freilich, sie tut dies auch. Doch indem sie dies tut, schließt sie zugleich eine kulturgeschichtliche Tiefendimension des Textes auf. Gerade weil Chétouane Büchners Text nicht als “ Drama ” inszeniert - die Inszenierung hat viel mehr mit einem Tanzstück gemein als mit traditionellem Sprechtheater und verweist insofern darauf, dass Chétouanes weiterer Weg in die Choreographie führen wird - , geht der Status des Textes über den eines mit den anderen theatralen Mitteln gleichwertigen Materials hinaus. Denn eben durch dieses “ choreographische ” Inszenieren wird es möglich, den Text Büchners auf besondere Weise zu hören, wahrzunehmen und zu verstehen. Denn uns scheint, dass jener Text, obgleich er freilich auch eine dramatische Handlung erzählt - den Fall und den Tod Georges Dantons - , doch viel grundlegender etwas zur Darstellung bringt, was nicht als Handlung gefasst werden kann. Genauer: Büchner unternimmt eine problematische Situierung des Menschen und seiner Physis in einem neuartigen Kosmos, den die Modernität eröffnet hat. In seinem Text sprechen sich Körper aus, die aus jeder Heilsökonomie herausgefallen sind und als solche zugleich Gegenstand einer spezifischen neuen Politik werden. Danton ’ s Tod ist ein Stück, das eine moderne Politik der Körper in Szene setzt. Diese Politik aber formte sich eben in jenen Umbrüchen “ um 1800 ” , die wiederum, auf der “ dramatischen ” Ebene, den “ Inhalt ” oder die “ Fabel ” des Stückes bilden. Damit ist auch gesagt, dass es hier nicht ausreicht, bloß zu konstatieren, dass die Sprache ein theatrales Mittel unter anderen ist, dem, wie dem Licht, dem Raum oder der Musik einzig sinnliche Qualitäten zukommen. Vielmehr bietet die Inszenierung Chétouanes eine Lektüre des Textes an, sie ist intensivste Textarbeit, welche geschichtliche und politische Sinnpotentiale des Textes aufschließt. Es geht also um ein auf doppelte Weise gespanntes Verhältnis zur Form des Dramas, das die Dichotomie zwischen “ dramatisch ” und “ postdramatisch ” nicht vollständig fassen kann. Diese Spannung betrifft sowohl den Text wie auch die Inszenierung. Denn zunächst lässt sich Büchners Text selbst - gegen den Anschein und der gängigen Bezeichnung in philologisch ansonsten einwandfreien Editionen - keineswegs unproblematisch der Gattung des Dramas zuordnen. Vielmehr gehört Danton ’ s Tod neben etwa den Schriften Hölderlins und Kleists eminent zu einer Tradition der Moderne, die vor der “ Krise des Dramas ” und der Theorie des “ postdramatischen ” Theaters einen ambivalenten Austritt aus dem Dramenformat bedeutet. Genauer: Obgleich freilich eine “ dramatische ” Handlung und Figurenrede vorliegen, entspricht der Text nicht den von Peter Szondi für das Drama geforderten Kriterien des Absoluten und des Primären. Er tut dies vor allem deswegen nicht, weil er zu einem nicht unwesentlichen Teil aus Zitaten der geschichtlichen Akteure montiert ist, welche Büchner unter anderem Carl Strahlheims Die Geschichte unserer Zeit und Louis-Adolphe Thiers ’ Histoire de la Révolution Française entnahm. “ Das Drama kennt ” , so Szondi, jedoch “ das Zitat so wenig wie die Variation ” . 2 Das Zitat eröffnet den Bezug zu etwas, das außerhalb des Dramas liegt, zu einem vorgängigen politischen und sozialen Geschehen. 3 Und doch wird dieses Geschehen bei Büchner nicht einfach zum Material für eine theatrale Umsetzung. Vielmehr wird den Reden der Revolutionäre eben deswegen die Form eines Theaterstücks gegeben, weil sie selbst theatral waren - und zwar theatral auf eine Weise, die mit dem Begriff des Dramas nicht ausreichend gefasst 154 Jörn Etzold / Maud Meyzaud werden kann. Was Büchner in seinem Danton ’ s Tod aufzeigt, ist weniger das Handeln der Figur Danton, es ist auch kein “ reiner Bezug ” , 4 sondern vielmehr eine Theatralität des Politischen, die wiederum nicht um ihre ureigensten - theatralen - Effekte wissen will. Ihrem Selbstbild nach war die Französische Revolution freilich genau kein Theater, sondern Befreiung einer “ Menschennatur ” , die Jahrhunderte lang unter dem “ Joch des Despotismus ” litt und sich nun durch universell gültige, weil in die Herzen geschriebene Gesetze geltend machen soll. Und doch zeugt sie wie kein anderes historisches Geschehen davon, dass jene moderne Politik, die sich dem nackten Menschen verschreibt, theaterförmig ist. Denn sie findet immer dann statt, wenn ein Redner - sei er Mitglied des Konvents, sei er einfacher Bürger - auf einer Bühne das Wort ergreift - sei es der Konvent, sei es der Jakobinerklub, sei es eine Gasse. Dieses Wort aber wird immer ein zitiertes sein. Nach Karl Marx ’ Der Achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, der fünfzehn Jahre nach Büchners Stück entstand, beschwören die Menschen gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise [. . .] ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen. 5 Büchner schreibt ein Theaterstück, welches diese Theatralität moderner Politik in Szene setzt. Was in dieser mise en abîme indes vor allem gezeigt wird, ist, dass Körper und Sprache sich in der Moderne völlig neu definieren. Denn Büchner interessiert sich in Danton ’ s Tod für die Schreckensherrschaft oder Terreur, das heißt: für jenen Moment der Geschichte, an dem die neue Verfassung, die ein erneuertes, seiner Natur gemäß handelndes Volk “ verfassen ” bzw. umgestalten sollte, nicht in Kraft tritt. Im Quasi-Ausnahmezustand der Terreur erscheinen die Körper der Geschichtsakteure auf zwei sukzessiven Bühnen: zunächst auf der Bühne politischer Rede im römischen Drapé, dann auf jener anderen Bühne, die nicht mehr Bühne sprechender Körper ist: dem Guillotinengerüst. Es scheint ein zwingender Zusammenhang zu bestehen zwischen dem Glauben an eine Politik, die vorrangig durch Worte formt und dabei ununterbrochen Bedeutungsfülle, eindeutige Bedeutung produziert, ja sich als diese Produktion versteht - und dem seriellen Mord, der unter der Jakobinerherrschaft faktisch Kern aller politischer Handlungen geworden ist. Büchners Intuition, so scheint uns, gilt just diesem Zusammenhang zwischen politischer Rede und politischem Mord; die politische Rede im römischen Drapé entfacht ihre Wirkungsmacht, indem sie tötet. Anders formuliert: Wenn der Menschenkörper in dieser modernen Politik, die das Zeitalter der Demokratie in Europa eröffnet, zum Vorschein kommt, dann als dem Tod bereits geweihter Körper oder genauer noch: als ein vom (zitierten) Sprechen dem Tod geweihter Körper. “ Dantons Tod ” , so schrieb einst bereits Peter Szondi, “ heißt das Werk nicht allein, weil es die letzten Tage seines Helden darstellt, sondern weil der Tod [. . .] hier problematisch geworden ist ” . 6 Er hat nämlich in der Moderne ein anderes Gesicht bekommen. Einer berühmten Stelle bei Hegel zufolge ist die französische Revolution jener Moment, an dem ein Tod möglich wird, der “ keinen inneren Umfang und Erfüllung hat; [. . .] der kälteste, platteste Tod, ohne mehr Bedeutung als das Durchhauen eines Kohlhaupts oder ein Schluck Wassers ” . 7 Dieser Tod ist nicht mehr Übergang in die Transzendenz, er ist Gegenstand medizinischer Bestimmung und Instrument politischer Maßnahmen. Noch genauer (wir werden dies im Folgenden ausführen): Der Tod in der Terreur, der Tod, den Büchner in Dan- 155 “ Politik der Körper, Körper der Politik. ” Laurent Chétouane inszeniert Büchners Danton ’ s Tod ton ’ s Tod untersucht, definiert einen Zwischenraum, eine Übergangsphase: Gehört er zum einen noch der souveränen Strafe der alten Ordnung an, so ist er zum anderen schon in vielem der Tod in der Moderne, welcher im Namen des Lebens, der Gesundung, der Revitalisierung, kurz: jener “ Biomacht ” ausgesprochen wird, die Michel Foucault im letzten Kapitel von Der Wille zum Wissen vorstellt. 8 Was also für Büchner die Terreur ausmacht, ist das in ihr zur ultimativen Sichtbarkeit erhobene Scheitern einer spezifischen politischen Praxis der Sprache. Die Terreur versteht Sprache nicht als das, was das politische Band entstehen lässt, einen gemeinsamen Raum schafft, sondern als das, was politisch sortiert und tötet; sie versteht Sprache nicht als ein Geteiltes, sondern als das, was die Körper in taugliche und untaugliche Subjekte (auf )teilt. Eine poetologisch zentrale Formulierung des Stückes bezieht sich ausdrücklich auf die Schreckensherrschaft als jene Herrschaft der Sprache über die Körper: “ Geht einmal euren Phrasen nach ” , lässt Büchner seinen Doppelgänger, den Schriftsteller Louis Sébastien Mercier den Dantonisten zurufen, als sie im Gefängnis über die schiere Anzahl der dem Tod geweihten Körper staunen, “ bis zu dem Punkt wo sie verkörpert werden./ Blickt um euch, das Alles habt ihr gesprochen, es ist eine mimische Übersetzung eurer Worte ” . 9 Die Revolution hatte den Anspruch, den Menschen vom “ Joch der Vergangenheit ” zu befreien. Und doch gelingt es ihr nicht, das Band der Menschen untereinander als Sprache neu zu erfinden, denn dies würde freilich ein Denken von Sprache voraussetzen, das in ihr mehr erkennt als die schiere Bedeutungsmacht. Die Revolutionsrhetorik, jene römische Pose, die Marx dazu veranlasst hat, Geschichte als Theater zu verstehen, rührt her von der Blindheit ihrer Akteure für jene prinzipiellere Gemeinsamkeit zwischen Theater und Politik und speziell demokratischer Politik: Beide setzten die Bühne sprechender Körper voraus, beide setzen sprechende Körper in Szene. Genau diesem Problem aber widmet sich, so unsere Grundannahme, auch Laurent Chétouanes Inszenierung. Und auf diese Weise setzt sie auch den ambivalenten Austritt aus der Dramenform, der in Büchners Stück sichtbar wird, auf szenische Weise um. Denn wenn Büchner - in einem Stücktext mit fünf Akten, der durch Figurenrede und Handlung gekennzeichnet ist - doch keine in sich geschlossene dramatische Handlung darstellt, sondern vielmehr die Politik der Moderne als eine Politik der sprechenden Körper exponiert, dann wird bei Chétouane eben die Bühne zu jenem Ort, an dem gezeigt wird, was geschieht, wenn ein Text - der Text Büchners - auf die Körper trifft, die sich auf ihr aufhalten. Auch hier steht das Verhältnis von Sprache und Körpern auf dem Spiel. “ Man kann sich nicht mit der Sprache im Bühnenraum beschäftigen, ohne den sprechenden Körper zu sehen ” , 10 so Chétouane selbst in einem Interview mit Nikolaus Müller-Schöll. So wird der Text hier nicht allein als “ Material ” eines “ postdramatischen ” Theaterereignisses behandelt; vielmehr schließt gerade die Inszenierung, die die Darstellungskonventionen des Dramatischen immer wieder verlässt, die theoretischen, geschichtlichen und politischen Sinndimensionen des Textes auf: Die Inszenierung führt das Verhältnis von Körpern und Sprache, das in Büchners Text angelegt ist, vor Augen, macht es sichtbar und hörbar. Freilich: nicht nur diese eine Inszenierung. Doch dieser gelingt es auf besondere Weise, weil sie den Text nicht als Darstellung einer Handlung in Figurenrede versteht, sondern ihn choreographiert: weil sie ihn auf Körper treffen lässt, die sich im Raum bewegen, die sitzen, liegen, stehen, atmen, sich dehnen, singen und tanzen - die sich also, kurz gesagt, als Körper wahrnehmbar machen. 156 Jörn Etzold / Maud Meyzaud Unsere Fragestellung an Chétouanes Danton ’ s Tod ist also eine doppelte, von der Theaterwissenschaft und der Literaturwissenschaft ausgehende Fragestellung. Sie lautet: Inwiefern wird in dieser Inszenierung die Aktualität Büchners für das Gegenwartstheater und für das gegenwärtige Denken über Sprache, Körper und Politik sichtbar? Und zum zweiten: Inwiefern schließt uns gerade ein zeitgenössisches choreographisches Verfahren wie jenes Chétouanes Büchners Text aufs Neue auf? Im Folgenden möchten wir dieser Spur nachgehen. Dabei wollen wir zunächst durch eine kurze Analyse des Bühnenbilds und der Diktion und Bewegungen der Darsteller auf der Bühne herausstellen, wie Chétouanes Inszenierung Elemente von Büchners Text exponiert, die aus dem vermeintlichen Drama ein Medium der Reflexion über das Theater - über das Erscheinen von sprechenden Körpern auf einer Bühne - machen. Indem Chétouane und sein Bühnenbildner Patrick Koch die Bühnensituation unterstreichen, indem Chétouane die Darsteller auf eine Weise sprechen lässt, die den Zusammenhang zwischen Sprache und Physis ausstellt, ermöglicht er den Zuschauern auch eine Reflexion über diese andere Bühne: den Raum moderner Politik. Anschließend sollte deutlich werden, inwiefern Chétouanes Inszenierung einen epistemologischen Wandel inszeniert, der sich in Danton ’ s Tod vor den Augen der Rezipienten vollzieht: Der Ausgang aus der Monarchie bedeutet eine unerhörte Gottesferne, er lässt die Einsamkeit der ihrer Sterblichkeit bewussten Kreatur auf einmal nackt erscheinen. Dieses Hervortreten der nackten Kreatur aber steht in engem Zusammenhang mit den anderen Umbrüchen “ um 1800 ” in Politik und Ökonomie. Denn letztlich verhandelt Büchners Text demokratietheoretische Probleme, die allesamt gravierende Folgen für das Bild vom Menschenkörper haben. Chétouanes Bühnengeschehen spielt mit einer neuen Politik des Körpers und der Körper, die bestimmte Erwartungen an die Körper ihrer Glieder knüpft, vor allem aber in der Vielheit der Körper nur den einen Staatsbzw. Volkskörper erkennt und diese Gleichung überall sichtbar machen will. 11 Indem der Ort des Körpers in dieser neuen Politik bestimmt wird, welche Büchner als einer der ersten hellsichtig darstellte, soll die Frage gestellt werden, was für Körper auf der Bühne Chétouanes erscheinen. Körper im Bühnenraum Kommen wir zunächst zum Bühnenraum von Patrick Koch. Bereits jener Raum, in dem sich die Körper aufhalten, in dem sie sprechen, gehen, agieren, trägt zu einer Meditation über die Bühne als tertium comparationis zwischen Theater und Politik bei. Der Raum und die unterschiedliche Weise, auf die er durch sprechende Körper besetzt wird, exponiert die Frage, inwiefern auch ein solches Geschichtsgeschehen wie die Französische Revolution eine Bühne braucht und inwiefern der Bühnencharakter der Politik, weit davon entfernt, lediglich Rahmenbedingung zu sein, eigenständige Effekte erzeugt. Wir befinden uns im großen Haus des Kölner Schauspiels. Die Wände der breiten Bühne sind mit gebauschtem weißem Tuch verhangen. Auf dem Bühnenboden wurde bis zum eisernen Vorhang weißer Tanzboden ausgelegt; ausgespart ist die Rampe, die gerundet in den Zuschauerraum hineinragt, dort wurde der schwarze Bretterboden nicht überdeckt. In den Bühnenraum ist ein zum Zuschauerraum hin offenes Viereck aus schwarzem Stoff eingehängt, welches gewissermaßen eine Bühne in der Bühne definiert; der Stoff ist etwa sieben oder acht Meter hoch und er reicht nicht ganz bis zum Boden, etwa ein Meter bleibt frei. Die Darsteller treten auf und ab, indem sie unter dem Stoff hindurch gehen, sich bücken oder sich unter ihm 157 “ Politik der Körper, Körper der Politik. ” Laurent Chétouane inszeniert Büchners Danton ’ s Tod hindurch rollen. Etwa auf der Hälfte dieser Bühne in der Bühne, zwischen der Rampe und der Rückbahn des schwarzen Stoffes, hängt eine Eisenstange, die hoch und runter gefahren werden kann und auf der halblinks eine weiße Leinwand eingehängt ist, die zu Projektionen von Stichen aus der französischen Revolution und von Texten - so des Monologs der Julie vor ihrem Selbstmord - genutzt wird. Vorne rechts steht eine Guillotine. Die Bühnensituation - die Tatsache, dass die Handlungen auf einer Bühne stattfinden - wird durch diese Bühne in der Bühne betont, verdoppelt und reflektiert: Und dies passt zur Situation der Sprechenden in Büchners Stück. Die Figuren Büchners zitieren die Reden der französischen Revolution. Doch bereits jene wurden im Bewusstsein dessen gehalten, auf einer Bühne zu stehen. “ [W]ir stehen immer auf dem Theater, wenn wir auch zuletzt im Ernst erstochen werden ” , 12 sagt Danton bei Büchner. Chétouane und Koch setzen diesen Theatercharakter der geschichtlichen Handlung bereits in der gedoppelten Bühne in Szene; und auch die Kostüme unterstreichen dies: Sie werden anprobiert, getestet, von außen an den Körper gehalten; sie dienen nicht der Charakterisierung einer Rolle, vielmehr unterstreicht das Spiel mit den Kostümen den Inszenierungscharakter des Dargestellten. Das Licht von Jürgen Kaptein ist hell, klar und kühl, oft mit einem Tageslichtfilter leicht blau gefiltert; die Lichtwechsel finden langsam und schleichend statt; nur zwei Lichtwechsel sind wirklich bemerkbar, und beide begleiten den Tod von Frauenfiguren. Das Saallicht wird während des ganzen Stückes nicht gelöscht - und somit wird auch die Zuschauerposition des Zuschauers nicht gelöscht; jener soll sich seiner Situierung im Raum bewusst bleiben und nicht identifikatorisch mit dem Bühnengeschehen verschmelzen. Gerade diese bewusste Unterstreichung der räumlichen Aufteilung in Bühne und Publikum und deren Aufhebbarkeit erzeugt einen Resonanzraum zu einem Problem, das im Stück verhandelt wird. Was ist der Ort des neuen Souveräns - des Volkes? Ist dieses auf Seite des Publikums oder auf der Bühne oder auf beiden Seiten anzusiedeln - und wie? Wenn das Licht im Zuschauerraum nicht gelöscht wird, dann wird damit der aporetische Charakter der Frage unterstrichen, die Büchners Stück in den Raum stellt: Wer kann hier - in dem von der Volkssouveränität errichteten Raum - “ wir ” sagen und unter welchen Bedingungen? 13 Wer bildet den neuen Souverän? Dabei ist bemerkenswert, dass in der Strichfassung von Chétouane und dem Dramaturgen Jan Hein jene Sequenz ausgespart wird, in der die Frage, von welchem Ort aus gesprochen wird, wenn der Volkssouverän sich äußert, auf dem Spiel steht: das Wortgefecht zwischen Robespierre und zwei Bürgern in der zweiten Szene des ersten Aktes. Doch gerade diese Auslassung verweist als solche auf den Wechsel von einer Lesepraxis des Stückes hin zum Erleben der Inszenierung: Man kann die These aufstellen, dass dieses in Aporien mündende Problem deshalb nicht auf der Bühne ausgesprochen wird, weil es bereits in den theatralen Raum eingeschrieben ist. Auf der Bühne befinden sich vier Männer und vier Frauen. Drei der Frauen sind ausgebildete Tänzerinnen und keine Muttersprachlerinnen, sie sind ganz offensichtlich - dies wird durch ihren jeweils starken, je unterschiedlichen Akzent ohne weiteren genderspezifischen “ Kommentar ” dem Publikum zu denken gegeben - jener Welt der Revolutionspolitik fremd. Viel mehr als sie sprechen die Männer; sie sprechen überdies akzentfrei, sind also in der Sprache zunächst scheinbar selbstverständlich daheim. Damit aber soll keinesfalls behauptet werden, dass die männlichen Schauspieler sich in ihre Rolle einfühlten. Zwar können über weite Strecken die Sprechrollen einzelnen Schau- 158 Jörn Etzold / Maud Meyzaud spielern zugeordnet werden (so spricht Devid Striesow über weite Strecken den Text Dantons, Robert Gwisdek jenen Camilles); doch es geht nicht darum, dass die Schauspieler eine Rolle verwahrscheinlichen, sich gar in sie verwandeln, wie es die bürgerliche Schauspieltheorie von Diderot über Martersteig bis Strasberg gefordert hat. Vielmehr artikulieren die Darsteller den Text, das heißt: Der vor-geschriebene, überlieferte Text trifft auf ihre Körper, ihre Stimme, ihren Atem, ihre Artikulationswerkzeuge und wird somit als Text gewissermaßen in den Raum gestellt. Sprechen ist hier vor allem eine Tätigkeit der Körper, welche ihm mehr oder weniger Widerstand entgegen bringen. Diese Körper aber, die hier sprechen, werden selbst gezeigt oder exponiert: nicht als transparente Medien eines inneren Ausdrucks, einer Intensität, die sich auf die Zuschauer übertragen soll, sondern in ihrer spezifischen Konstituiertheit als Körper. Jene Körper auf der Bühne sind die meiste Zeit in Bewegung, auch wenn sie sprechen. Ihr Bewegungsrepertoire besteht zu einem großen Teil aus Lockerungsübungen, in denen die Gelenke bewegt, die Sehnen gedehnt, die Muskeln kurz angespannt und dann wieder gelöst werden. Hände und Füße werden ausgeschüttelt, die Körper werden trainiert, als würden sie sich auf irgendetwas vorbereiten, was nicht eintritt. 14 Viele Tanzbewegungen werden von anderen Gliedmaßen ausgelöst: Ein Arm nimmt den anderen und führt ihn in eine Bewegung; oder ein Darsteller nimmt den Arm eines anderen, der dann die Bewegung fortsetzt. Neben diesen Tanzbewegungen gibt es wenige, isolierte Gesten politischer Rede: So wedeln die Darsteller mit dem Zeigefinger, als von Robespierre die Rede ist, der auf der Tribüne “ fingerte ” , oder sie ballen die erhobene Faust in der Volksszene, die mit Dantons Verurteilung durch das Volk endet. Während diese Gesten leicht lesbar sind und wie gestische Schlagwörter wirken, dienen die meisten Bewegungen einzig dazu, den Körper zu zeigen, seine Organisation und Artikulation, und durch die Bewegung der Körper den Raum zur Darstellung zu bringen, in dem sie sich bewegen. Die Körper werden somit als fragile und vergängliche Einheiten zur Erscheinung gebracht, die sich bewegen können, weil sie Gelenke haben und die sprechen und singen können, weil sie Lungen und Stimmritze besitzen. Eben deshalb aber wird Büchners Text auf besondere Weise hörbar. Denn jener artikuliert eben den Zusammenhang von Sprache und Physis im Kontext einer neuen Politik, der Politik der Moderne, die von den Umbrüchen “ um 1800 ” eröffnet wurde, für die die französische Revolution emblematisch einstehen kann. Jene Revolution erscheint bei Büchner als ein Theater, als ein Zitieren von “ Phrasen ” , wie es heißt - bei Büchner ebenso wie bei Marx - , von Phrasen jedoch, die eine unmittelbare Wirkung auf die Körper haben, die Körper erzeugen, dressieren, formieren und - wenn sie nicht dem neuen Begriff des Lebens entsprechen - töten. Diese Körper, die erzeugt und formiert werden, sind, und dies ist ihnen wesentlich, aus der Heilsgeschichte herausgefallen. Ihre Bedürftigkeit und Gebrechlichkeit, ihre Kreatürlichkeit verweist nicht mehr auf eine umso mächtigere, vollendetere und vollendendere Erlösung. Büchners Körper können ihre Endlichkeit nicht transzendieren. Sie sind bei ihm - überall, in der berühmten Zirkusszene des Woyzeck, im Märchen der Großmutter ebenso wie in der Gefängnisszene von Danton ’ s Tod - die Körper gottverlassener Kreaturen. Darum ergeben sich auf Chétouanes Bühne nur flüchtige Gruppenbildungen, kein Chor, keine tableauxvivants, keine durch die Vielzahl der Körper gewonnenen geometrischen Formen: Meist erscheinen die einzelnen Körper zerstreut und verausgaben sich in zwecklosen Bewegungen, in denen die Einsamkeit der Kreatur durchbricht. Als endliche Körper können sie 159 “ Politik der Körper, Körper der Politik. ” Laurent Chétouane inszeniert Büchners Danton ’ s Tod sich nicht zu einem Kollektivkörper formieren; zu einer höheren Einheit, die ihre jeweilige Endlichkeit transzendierte. Sie bleiben, weil sie endlich sind, irreduzibel viele. Sterben ohne Gnade Diese Körper sind aber nicht einfach nur materiell da. Sie haben eine Geschichte, sie sind historisch entstanden - und Büchners Theatertext behandelt und exponiert genau jenen geschichtlichen Umbruch, an dem sie gebildet werden. Seit den viel diskutieren Umbrüchen “ um 1800 ” bezieht sich auf die Körper eine neue Form der Politik, welche sie nicht mehr als erlösungsbedürftige und der Erlösung fähige Hülle der Seele ansieht - als eine Hülle, die nicht zuletzt gequält werden kann, nur um die Seele zu retten. Denn über die Körper herrscht nicht mehr das Wort des Monarchen als des Stellvertreters Gottes, welches strafen und töten kann. Michel Foucault hat die neue Politik der Körper in Abgrenzung zur souveränen Herrschaft des Monarchen als “ Biomacht ” bezeichnet. Büchners Stück spielt genau in jenem Zwischenraum, in jener epistemologischen Übergangsphase zwischen der alten, souveränen Ordnung und dem neuen Regime der “ Biomacht ” - und Büchners Klarsicht besteht darin, jenen Übergang genau aufgezeichnet zu haben. Der Körper ist zwar noch Gegenstand einer möglichen Todesstrafe: So erbt der Volkssouverän in Büchners Stück - oder präziser: jene Herrschaft des Schreckens, die meint, im Auftrag des Volkes zu handeln - das ultimative, von Foucault prägend formulierte Merkmal des alten Souveräns: “ das Recht über Leben oder Tod ” . 15 Doch diese Bestrafung der Bösen erhält eine vollkommen andere Bedeutung, die sich bei Büchner, dem schriftstellerisch tätigen Medizinstudenten, treffend in einem organizistischen und medizinischen Vokabular artikuliert: Stets ist im Stück die Rede von der Guillotine als “ Kur ” , die den Volkskörper von der ihn schwächenden Seuche reinigt. Entsprechend korreliert die Strafe bzw. Tötung nicht mehr mit der Vorstellung von einer möglichen Gnade. Der moderne Körper, dem die Möglichkeit der Gnade für immer entzogen wird, wird vielmehr untersucht, durchleuchtet und seziert; sein Funktionieren wird erforscht, seine Geheimnisse werden ihm entrissen. Er wird zum Gegenstand des wissenschaftlichen Experiments, das Büchner in den Arzt-Szenen des Woyzeck weniger parodiert als vielmehr ins Extrem steigert. Und er wird formiert, trainiert, überwacht, er soll gebessert, erzogen und diszipliniert werden. 16 Jener Körper unterliegt also nicht mehr der souveränen Strafe, sondern der Norm. 17 In Büchners Stück sind es die Jakobiner, die jenen normierenden Diskurs vertreten, es ist vor allem Robespierre: Der formierte und normierte Körper ist in der Sprache des Stückes wie auch in der Sprache der jakobinischen Schriften und Reden selbst der “ tugendhafte ” Körper - während die lüsternen und schweren, tugendlosen Körper der Dantonisten diesem Modell zu widerstehen versuchen. Freilich übersetzt Chétouane die Tugendhaftigkeit in das aktuellere Register der Fitness: Während des ganzen Stückes werden die Körper - unter dem distanzierten Blick der Zuschauer, in kühlem Licht - trainiert, formiert, fit gehalten. Devid Striesow scheint, wenn er mit ausgestreckter Brust wie ein Bulle über die Bühne marschiert, gar nicht zu wissen, wo er in diesem geschlossenen Raum seine Energie loswerden soll. Doch das Training läuft ins Leere, es bleibt bei Dehnungs- und Lockerungsübungen: Diese Körper trainieren letztlich nur noch für ihren Tod. Als Körper, in ihrer Schwere und Trägheit, möchten sie sich dem Training, der Formierung entziehen: “ Wir sollten uns nebeneinander setzen und Ruhe haben ” , 18 sagt Danton, den die Melancholie zu Boden zieht. Tatsächlich sitzen die Dar- 160 Jörn Etzold / Maud Meyzaud steller oft. Doch irgendwann stehen sie, ohne durch eine Intention motiviert zu sein, wieder auf. Unruhig bewegen sie sich, bis ihr Elan wieder ausgebremst wird, in einem geschlossenen Raum, in dem nicht geblieben werden kann, der aber zugleich auch nicht verlassen werden kann, da er der einzige ist. Und eben deswegen beginnen sie immer wieder aufs Neue zu sprechen. Denn die Differenz zwischen Jakobinern und Dantonisten, zwischen moralischem Rigorismus und Hedonismus - die der Jakobinische Apparat zu nutzen weiß - verstellt letztlich den Blick für die gemeinsame Grundlage der historischen Akteure. Auf einer viel elementareren, nämlich ausschließlich physischen Ebene, vor jeder vertretbaren Position über das Verhältnis von Politik und Moral zueinander innerhalb eines bestimmten historisch gegebenen Felds, sind Büchners Körper bereits in einer Zeit angekommen, in der ihnen die Aussicht auf Erlösung abhanden gekommen ist. Danton ’ s Tod handelt nicht zuletzt von der (neuen) Unmöglichkeit zu sterben, d. h. von der Unmöglichkeit, das Sterben mit etwas anderem in Verbindung zu bringen als mit dem Prozess der Fäulnis irdischer Körper auf der einen Seite ( “ Da ist keine Hoffnung im Tod, er ist nur eine einfachere, das Leben eine verwickeltere, organisiertere Fäulnis, das ist der ganze Unterschied! ” 19 ) und jenen medizinischen Verfahren auf der anderen Seite, die das Sterben abwenden, herauszögern, schmerzfrei machen sollen, die es aber auch als „ Kur ” verordnen, wenn die Gesundheit des “ Volkskörpers ” danach verlangt. Die Melancholie des Politischen in Danton ’ s Tod rührt daher, dass unter der Schreckensherrschaft zwischen der Bühne politischer Rede und der Bühne des allgegenwärtigen öffentlichen Sterbens ein zwingender Zusammenhang besteht. Die Guillotine - die bei Chétouane von Anfang an die Szene beherrscht - bekommt eine besondere Rolle für die anbrechende Modernität. Büchner lässt ahnen, inwiefern sie den Status der menschlichen Sterblichkeit mitverändert. Denn allein der mediale Einsatz der Guillotine hat der Französischen Revolution und ihrer Nachwelt einen neuen Zugang zum Menschenkörper ermöglicht, dessen Radikalität von den Geschichtsakteuren in keiner Weise geahnt wurde. Wie Daniel Arasse in seiner wichtigen Studie zur Guillotine gezeigt hat, führte die Guillotine als neues technisches Medium der öffentlichen Hinrichtung zu Folgen, die von ihren eigentlich philanthropisch gesonnenen sukzessiven Erfindern, den französischen Medizinern Antoine Louis und Joseph Ignace Guillotin, nicht antizipiert worden waren: Dadurch, dass der Zeitpunkt, an dem der Tod eintritt, durch die Geschwindigkeit des Fallbeils unkenntlich gemacht wird, wird dem Sterbenden auf dem Guillotinengerüst auf einmal die in der hora mortis zuvor gegebene Möglichkeit der Reue schlechthin entzogen. 20 Damit fällt aber die darauf antwortende Gnade Gottes ebenfalls weg - und überhaupt die Möglichkeit einer Adresse an Gott. Büchner weiß dies sehr wohl, wenn er die wahnsinnig gewordene Ehefrau des gerade hingerichteten Camille Desmoulins zum Guillotinengerüst führt und sie in der Guillotine die Gestalt des höchsten Souveräns - den Tod - erkennen lässt: “ Es ist ein Schnitter, der heißt Tod,/ Hat Gewalt vom höchsten Gott ” . 21 Kulturhistorisch bedeutet die Guillotine, anders als von den Jakobinern behauptet, nicht den Sieg der Tugend über das Laster und sie ist auch nicht lediglich, wie von den Dantonisten angenommen, als Instrument der Vergeltung zu verstehen. Vielmehr eröffnet sie eine Welt der Gottesferne, in der der Tod als alleiniger Souverän über die neuen irdischen Souveräne - die Völker - herrscht und die Kreatur in ihrer Sterblichkeit alleingelassen wird. Diese Gottesferne oder - nach der prägnanten Formulierung des jungen Lukács ’ - 161 “ Politik der Körper, Körper der Politik. ” Laurent Chétouane inszeniert Büchners Danton ’ s Tod “ transzendentale Obdachlosigkeit ” 22 macht für Büchner der Raum der Moderne aus: Er konzipiert diesen Raum auf eine eigentümliche Weise als entleert und dennoch vollgestellt. “ Die Erde ist weit und es sind viel Dinge drauf, warum denn grade das eine? Wer sollte mir ’ s nehmen? Das wäre arg. Was sollten sie auch damit anfangen? ” , 23 fragt Lucile aus Angst um Camille. Doch “ sie ” können ihr dieses eine Ding nehmen, weil es auch nur ein Ding unter anderen in einem homogenen Raum ist. In diesem Raum stehen sehr viele Dinge herum: Der Raum der Moderne ist bei Büchner nicht erfüllt von Sinn, aber er ist auch alles andere als weit und frei. Ständig stößt man sich an irgendetwas, und auch die Entfernungen zu den Sternen schrumpfen, so dass sie, wie im “ Märchen ” der Großmutter in Woyzeck, ganz einfach besucht werden können und sich als “ klei golde Mücke ” herausstellen, “ angesteckt wie d. Neuntödter sie auf die Schlehe steckt ” . 24 Die Straßen, Häuser, der Wind oder auch die Bühnenwände befinden sich in keiner anderen ontologischen Ordnung als die Sterne, die Sonne oder (abermals in Woyzeck) die Unterwelt: Alles ist auf eine merkwürdige, indifferente Weise da; es ist berührbar, ohne dass die Berührung irgendwelche Folgen hätte. Der Raum öffnet sich zum Kosmos, aber nicht zu einer Transzendenz; er beherbergt eine große, indifferente Anzahl von Sterblichen. In Chétouanes Inszenierung ist dieser Raum, den Büchners Sprach-Figuren und Sprach-Körper bewohnen, eben derselbe Raum, in dem sich auch die Zuschauer aufhalten. Auf der Bühne wird kein Illusionsraum eröffnet, vielmehr öffnet sich der Raum, in dem sich Darsteller und Zuschauer gemeinsam aufhalten, auf jenen kosmischen und dennoch engen Raum hin: “ Die Himmelsdecke mit ihren Lichtern hatte sich gesenkt, ich stieß daran, ich betastete die Sterne ” , 25 sagt Camille in der letzten Nacht in der Conciergerie, in einer langen und äußerst intensiven Szene der Inszenierung. Und über diesem Raum aber thront die Guillotine als Metonymie des bedeutungslosen Todes. In Chétouanes Inszenierung ist ihre ultimative Herrschaft bereits dadurch markiert, dass das Todesinstrument von Anbeginn leblos und stumm am Bühnengeschehen teilhat. Während die Männer sie nicht berühren, sondern nur die lange Nacht in der Conciergerie über zu ihren Füßen liegen und dort schließlich singen, nehmen die Frauen sie ihn Besitz und spielen auf ihr. Das Fallbeil fällt nur einmal - ganz zum Schluss: Dies ist in Chétouanes Version die einzig denkbare Antwort auf jenes idiosynkratische “ Gegenwort ” “ Es lebe der König! ” , das die wahnsinnig gewordene Ehefrau des Camille Desmoulins ruft. 26 Chétouane lässt diesen Satz von der neuseeländischen Tänzerin Anna Macrae auf Französisch - als markiertes Zitat - aussprechen: “ Vive le roi ” . Und nur dieser Ruf vermag es, das Bühnenelement zu beleben, dessen einmalige Bewegung den Theaterabend abschließt: Das Fallbeil fällt und ersetzt somit nicht nur den “ Namen der Republik ” , auf den sich in Büchners Stück eine Bürgerpatrouille beruft, um anschließend Lucile festzunehmen, sondern auch den traditionellen Fall des Vorhangs. Auf sein Fallen folgt ein Black. Repräsentation versus Zirkulation: Die Physis des Staates und ihre Bühne Die Politik der Körper “ um 1800 ” hat jedoch eine zweite Seite, und sie ist für Büchners Text und Chétouanes Choreographie-Inszenierung ebenfalls von großer Bedeutsamkeit. Denn im gleichen Maße, wie der Körper Gegenstand einer neuen Politik wird, wird auch diese Politik selbst nach dem Bild eines neuen Körpers modelliert. Die theatrale Repräsentation als Politikmodell des Ancien Régime wird abgelöst vom Bild des Staates als Körper, der seine Einheit nach außen wie nach innen durch ein Immunsystem sicher- 162 Jörn Etzold / Maud Meyzaud stellen muss, das Eindringlinge abweist und Parasiten wie innere Feinde bekämpft. Fand zuvor der Staat in der Figur des Königs seine vereinheitlichende, verbindende Repräsentation, so soll er nun selbst zu einem disziplinierten, formierten, tugendhaften Körper werden. Auch der Körper des Staates soll sich, wie jeder einzelne Körper, gegen sein Außen immunisieren - ein Vorgang, der in Büchners Text schon deswegen zum Scheitern verurteilt ist, weil nahezu das gesamte Personal des Stückes (die zwei Anführer der Jakobiner, Robespierre und Saint-Just ausgenommen) an der Syphilis leidet. Indem sie auf die scheiternde Immunisierung des politischen Körpers, auf eine Infektion seines Blutkreislaufs hinweist, kann die Syphilis als Index für die neu entstandene Lage gelten, auf welche die Terreur im weitesten Sinne reagiert. Denn die Allgegenwart der Geschlechtskrankheit im Stück verweist zum einen darauf, dass der Feind längst im Inneren des Körpers ist. Zum anderen geht sie mit der Prostitution einher, die im Zuge der entstehenden, durch die Revolution des Bürgertums beschleunigten kapitalistischen Ökonomie an Ausmaß gewonnen hat und sich diametral zu dem Glücksversprechen verhält, das die politische Emanzipation aller ehemaligen Untertanen bringen soll. “ Syphilis ” , sowie auch “ Prostitution ” , sind also keine bloßen Motive in Büchners Stück. Vielmehr verweisen die Zirkulation von Geschlechtskrankheiten, auf die im Stück stets angespielt wird, und die Teilnahme von Grisetten am Drama metonymisch auf zwei geschichtliche Vorgänge ersten Rangs. 1. Zum einen wird die Französische Revolution, in dem Maße, in dem sie die Macht, die das Bürgertum gesellschaftlich faktisch längst gewonnen hat, politisch “ implementiert ” , die Beschleunigung und Steigerung der kapitalistischen Ökonomie zur Folge haben: Dies weiß Büchner als Kind der Restauration all zu gut. Mit Benjamin gesprochen, kann die Prostitution nun “ in dem Augenblick den Anspruch erheben, als ‘ Arbeit ’ zu gelten, in dem die Arbeit Prostitution wird ” . 27 Das heißt für Benjamin, dass der Warencharakter der Prostituierten - anders als bei der früheren Kurtisane - in den Vordergrund gerät. Diese unverdeckte, derbe Käuflichkeit des weiblichen Körpers kontrastiert nun aufs Heftigste mit der römischen Tugendhaftigkeit, die von der neuen Ordnung proklamiert wird. Dem langen Monolog der Grisette Marion räumt Chétouane viel Platz ein, womit dem Publikum ein inszenatorisches Leseangebot der Neukodierung von Geschlecht in der modernen Politik gemacht wird. Denn wie bereits eingangs erwähnt, sind alle Frauen bei Chétouane Nicht-Muttersprachlerinnen, die durch das Ausbleiben kosmetischer Maßnahmen - etwa der Übung eines akzentfreien Deutsch - zu Figuren einer irreduziblen Fremdheit werden. In der monologischen Sequenz, in der die Grisette Marion Danton von sich fernhält, um ihm von ihrem Leben zu erzählen, kommt diese Besonderheit im Sprechen der neuseeländischen Tänzerin und Choreographin Lisa Densem deutlich zur Geltung. Sie spricht diesen Text sehr langsam, nicht als Ausdruck eines Inneren, sondern als auswendig gelernte, irreduzibel fremd bleibende Sprache, gegen deren harte Konsonanten sich ihre Zunge und ihre Lippen zu sträuben scheinen. Die Verbindung zwischen fremdem Akzent und anzüglichen körperlichen Bewegungen evoziert Berichte vom Straßenstrich im gegenwärtigen Europa, von marginalisierten, staatenlosen Frauen, die aus der Ordnung der bürgerlichen Repräsentation herausfallen, an den ökonomischen Vorgängen aber freilich teilnehmen müssen - und dies in Gestalt der Ware tun. 2. Zum anderen eröffnet die Französische Revolution in der politischen Geschichte die Epoche der Volkssouveränität und damit eine neue Verfasstheit des politischen Körpers, in 163 “ Politik der Körper, Körper der Politik. ” Laurent Chétouane inszeniert Büchners Danton ’ s Tod den nun alle Körper aller Bürger “ aufgehen ” sollen. Während der königliche Leib, wie Ernst Kantorowicz in seiner berühmten Studie The King ’ s Two Bodies gezeigt hat, zugleich empirischer, sterblicher Leib und Body Politic war und durch dieses doppelte Wesen die Funktion innehatte, die Einheit des Gemeinwesens zu figurieren, 28 wird in der Französischen Revolution die Kopplung zwischen der Einheit des Körpers des Volkes und der Vielheit der empirischen Leiber der Bürger zum Problem. Stets und überall müssen die einzelnen Leiber von der Einheit des “ großen Körpers der Bürger ” zeugen. 29 Auch diese Perspektive auf das Revolutionsgeschehen lässt die Grisetten in den Vordergrund rücken: Die von Chétouanes Inszenierung hervorgehobene Intimität zwischen Grisetten und Politikern ist im Angesicht der Aufgabe, einen einheitlichen, integeren, unteilbaren Volkskörper zu errichten, ein Skandalon. Vor dem Hintergrund des rigoristischen Verständnisses von Moral und Öffentlichkeit, das die Jakobiner pflegen, vor allem aber der Erzählung von der politischen und sozialen Emanzipation aller Glieder des Staates, erscheint die Prostitution als strukturelle Schändung. In der intimen Vermischung zwischen den Repräsentanten der neuen politischen Ordnung und den Prostituierten, die Lust entfachen und sanguinische Krankheiten übertragen, treffen gewissermaßen zwei Aspekte des neuen politischen Körpers aufeinander, die in der Übergangsphase, die Büchners Stück zeigt, gerade im Begriff sind, sich auszudifferenzieren, aber bis heute parallel existieren: Es sind einerseits das aus der Monarchie und letztlich der Theologie übernommene Prinzip der Repräsentation, welches unter den Vorzeichen der Volkssouveränität in unauflösbare Aporien gerät, andererseits das Prinzip der Zirkulation, des Austauschs, der Infektion, das einen Körper betrifft, den Geld- und Warenströme wie der Blutkreislauf durchziehen. Dieser Aufteilung entspricht bei Chétouane ein feiner genderspezifischer Unterschied auf der Ebene der Körperhaltungen: Auch wenn die Männer freilich keine Rollen im Sinne des bürgerlichen Theatermodells repräsentieren, sondern einen choreographierten Text sprechen, halten sie doch stärker als die Frauen am republikanischen Körperbild und damit an der problematisch gewordenen Repräsentation fest: Sie nehmen die Bühne vor allem als Podium wahr und posieren auf ihr. Die “ alte Ordnung ” der Repräsentation erscheint somit gewissermaßen als Zitat im choreographierten Bühnengeschehen. Die Frauen aber erschließen viel deutlicher eine Tanzfläche, einen durchlässigen Raum, der im Wesentlichen offen ist und sich durch die Bewegungen, die in ihm ausgeführt werden, erst konstituiert. Die Männer zitieren die Repräsentation, die Frauen aber durchmessen einen Raum der vielen, der in der männlichen Repräsentation längst nicht mehr aufgehen kann, einen Raum des Austauschs, der Teilung, aber auch der potentiellen Ansteckung. Chétouanes Inszenierung macht somit eine Spannung szenisch wahrnehmbar, die viel grundsätzlicherer Art ist als der Streit innerhalb der sogenannten Montagne: Es ist das Auseinanderklaffen zwischen dem republikanischen Bild eines immunen, integeren Staatskörpers und dem Körperbild, das der Lehre der Physiokraten nahesteht, also zwischen der als Aufteilung der Aufgaben bzw. der Arbeit verfassten Repräsentation und der Geld- und Warenströme charakterisierenden Zirkulation. Jene auf der Bühne experimentierte Auseinandersetzung mit den Körpern (jener Konflikt zwischen dem skulpturalen, starren republikanischen Körperbild und der Zirkulation) trifft auf einen Text, der die Körpermetapher für die politische Gemeinschaft selbst explizit problematisiert. So erklärt Dantons Freund Camille Desmoulins in einer frühen Szene: “ Die Staatsform muß ein durchsichtiges Gewand sein, das sich dicht 164 Jörn Etzold / Maud Meyzaud an den Leib des Volkes schmiegt. Jedes Schwellen der Adern, jedes Spannen der Muskeln, jedes Zucken der Sehnen muß sich darin abdrücken ” . 30 Hier werden der physische Körper mit seinen Adern, Muskeln und Sehnen und der politische Körper zusammengeschoben: Auch das Volk bekommt einen Leib, den die Verfassung einkleiden soll. Und während man diesen Text hört, sind Adern, Muskeln und Sehnen von Robert Gwisdek, der ihn spricht, und der Frauen, die sich um ihn bewegen, deutlich sichtbar. Die Problematik der Körpermetapher wird somit zweifach vor Augen geführt: zum einen durch Büchners Text selbst, welcher die hehre Idee der Verfassung in den Dienst des Hedonismus und des Voyeurismus stellt (und den Körper des Souveräns unter der Hand in den Körper einer Grisette verwandelt), und zum anderen dadurch, dass sie auf die konkreten Körper auf der Bühne trifft, die sich ganz offensichtlich nicht zu einem Körper zusammenfügen lassen. Denn während die Dantonistische Staatsverfassung, die die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte parodistisch variiert, ausgerufen wird, erfährt die beschriebene Gemeinschaft eine diskrete choreographische Umsetzung: Durch Bewegungen, die rhythmische Akzente setzen, entsteht zwar eine Gruppengestalt. Doch diese Gestalt bleibt offen, sie bietet keine Bildfläche, keine Konturen und ist vor allem nicht von Dauer. Diese optimistische Version des Zugriffs der Politik auf den physischen Körper bekommt später eine dunkle Wendung. Saint- Just hält vor dem Konvent eine Rede, in der Büchner eine sprachpolitische Apologetik des Schreckens einbaut: In Saint-Justs Metapherlehre der Terreur gleichen die sogenannten journées révolutionnaires der Interpunktion im Grundsatz der Gleichheit. 31 Der Tod soll also buchstäblich die Zwischenräume zwischen den Morphemen füllen. Es scheint uns endlich an der Zeit zu betonen, wie sehr - und gewissermaßen: wie still - Chétouanes Ästhetik einer solchen politischen Instrumentalisierung von Sprache Widerstand leistet. Denn Chétouanes Raum ist zwar keineswegs unendlich und in ihm ist kein Platz für die Parolen der politischen Emanzipation. Doch dieser Raum ist gleichzeitig einer, der sich öffnet - indem die Körper der Darsteller ihn ausprobieren und erschließen, sich flüchtig gruppieren, um wieder auseinanderzugehen, indem der Publikumsraum beleuchtet bleibt, indem vor allem zwischen den Wörtern - zwischen diesen Morphemen, in deren syntaktischer Beziehung Saint-Just den allgegenwärtigen Tod erkennt - Platz für Atem und Denken gelassen wird. Wo bei Saint-Just die Satzzeichen sind, die Todesurteilen entsprechen, da öffnet sich bei Chétouane die Sprache, das Ohr, das Denken, da wird Raum geschaffen. Bei Büchner wird das neue politische Subjekt plötzlich und unvermittelt aus der Heilsökonomie gelöst und so, wie es ist, nackt und als Kreatur, in den Kosmos geworfen: Der Tod des Königs, in dessen Nachhall Danton ’ s Tod spielt, bringt nicht nur eine Verlorenheit im Land oder in der menschlichen Gemeinschaft mit sich, sondern sofort und ohne jede Vermittlung eine Einsamkeit im Kosmos, der eine bemerkenswerte Enge aufweist. Auf der Bühne Chétouanes sieht man gewissermaßen eine vollkommene Immanenz der Sprechsituation, die keinen Konflikt erzählt und kaum eine “ Imagination ” erzeugt, sondern die jenen immanenten Sprechraum merkwürdig ausweitet, ohne dass er jemals seine Enge verlieren würde. Man sieht Körper, die sich nicht zu einem politischen Körper fügen, sondern viele bleiben; man sieht die Vorbereitung auf einen Bühnentod, der keinen Bezug zur Transzendenz mehr hat; man sieht Frauen, die der Ordnung der republikanischen Repräsentation fremd bleiben und tanzen. Und man hört, wie der Text Georg Büchners gesprochen wird. Doch zwischen den Wor- 165 “ Politik der Körper, Körper der Politik. ” Laurent Chétouane inszeniert Büchners Danton ’ s Tod ten, den Gesten, den Bewegungen ist immer ein wenig Luft - in diesen Zwischenräumen wird nicht konstituiert, verfasst oder entschieden, aber durch sie wird überhaupt erst Bewegung, Sprechen, Denken möglich. Etwa zwei Stunden haben sich Darsteller und Zuschauer in diesem gemeinsamen Raum aufgehalten. Wenn das Stück dann vorüber ist, legen die Darsteller keine Rollen ab und kein illusorischer Raum verwandelt sich mit dem Applauslicht in den realen Raum: Vielmehr wurde der Raum der politischen Moderne, in dem alle, Darsteller wie Zuschauer, gemeinsam leben, während dieser zwei Stunden vermessen, ausgesprochen und ein wenig - stets ein wenig - geöffnet. Anmerkungen 1 Wir beziehen uns auf die Aufführung vom 23. 05. 2010 sowie auf einen Videomitschnitt der Premiere vom 15. 01. 2010, für den wir dem Schauspiel Köln herzlich danken. 2 Szondi, Peter. “ Theorie des modernen Dramas 1880 - 1950. ” Schriften 1. Frankfurt, 2006. 9 - 148: 18. 3 Zu Büchners Poetik des Zitats vgl. Niehoff, Reiner. Die Herrschaft des Textes. Zitattechnik als Sprachkritik in Georg Büchners Drama “ Danton ’ s Tod ” unter Berücksichtigung der “ Letzten Tage der Menschheit ” von Karl Kraus. Tübingen, 1991. Campe, Rüdiger. “ Johann Franz Woyzeck. Der Fall im Drama. ” Unzurechnungsfähigkeiten. Diskursivierungen unfreier Bewußtseinszustände seit dem 18. Jahrhundert. Ed. Michael Niehaus [et. al.]. Frankfurt, 1998. 209 - 236. Campe, Rüdiger. “‘ Es lebe der König! ’ - ‘ Im Namen der Republik ’ Poetik des Sprechakts. ” Rhetorik. Figur und Performanz. Ed. Jürgen Fohrmann. Stuttgart, 2004. 557 - 581. Müller-Sievers, Helmut. Desorientierung. Anatomie und Dichtung bei Georg Büchner. Göttingen, 2003. 4 Szondi 2006. 17. 5 Marx, Karl. “ Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. ” Werke 8. Berlin, 1960. 111 - 207: 115. 6 Szondi, Peter. “ Versuch über das Tragische. ” Schriften 1. Frankfurt, 2006. 149 - 260: 260. 7 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. Phänomenologie des Geistes. Werke 3. Frankfurt, 2001. 436. Druckfehler korrigiert. 8 Foucault, Michel. Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. Frankfurt, 1983. 159 - 190. 9 Büchner, Georg. “ Danton ’ s Tod. ” Dichtungen. Ed. Henri Poschmann. München, 2006. 11 - 90: 62. 10 Laurent Chétouane im Dialog mit Nikolaus Müller-Schöll: “ Die Suche nach dem Körper und das Drama der Präsenz. ” Zwischenspiele. Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume in Theater, Tanz und Performance. Ed. Stefan Tigges [et al.]. Bielefeld, 2010. 437 - 455: 449. 11 Zu diesem Problem vgl. Meyzaud, Maud. Die stumme Souveränität. Volk und Revolution bei Georg Büchner und Jules Michelet. Paderborn, 2012. 12 Büchner 2006. 40. 13 Mit diesem Problem hat sich Clemens Pornschlegel in einem Aufsatz auseinandergesetzt, der die von Büchner exponierte Logik der Volkssouveränität - jene Logik einer Konstitution, die immer zugleich Dekonstitution wäre, - erläutert: Pornschlegels terminologischer Vorschlag bezieht sich erklärtermaßen auf die staatsrechtliche Theorie des “ pouvoir constituant ” und auf das “ Paradoxon des gesetzlosen bzw. referenzlosen Gesetzes ‘ im Namen des Volkes ’” , das Büchners Danton ’ s Tod in I, 2 theatral ausbeutet. Pornschlegel, Clemens. “ Das Drama des Souffleurs. Zur Dekonstitution des Volkes in den Texten Georg Büchners ” . Poststrukturalismus, Ed. Gerhard Neumann. Stuttgart, 1997. 557 - 574. 14 “ Laurent Chétouanes Theater kann man in seinen besten Momenten beim Denken zuschauen. [. . .] Der Regie-Ingenieur bleibt fasziniert von Konstruktionen, Proportionen, Ab- und Ausmessungen. Bereit sein ist alles. Aber das aus Schauspielern und Tänzerinnen bestehende Ensemble scheint sich diesmal nicht sicher zu sein, wofür. Befangen wie in Selbstüberprüfung, strecken sie die Arme wie Wegweiser aus, tasten, schlackern sich aus, 166 Jörn Etzold / Maud Meyzaud greifen nach dem Nächsten, kuscheln sich aneinander, ohne eine rechte Position zu finden. ” Wilink, Andreas. “ Der, den das Morden ekelt. ” Nachtkritik. 16. Jan. 2010 (10. Jun. 2011) ‘ http: / / www.nachtkritik.de/ index.php? option=com_content&task=view&id=3788 ’ . 15 Foucault 1983. 161. 16 Foucault, Michel. Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt, 2001. 17 Vgl. Horn, Eva. “ Der nackte Leib des Volkes. Volkskörper, Gesetz und Leben in Georg Büchners Danton ’ s Tod. ” in: Bilder und Gemeinschaften. Ed. Beate Fricke [et. al.]. München, 2011, sowie auch das jüngst erschienene Büchner-Handbuch, in dem ein Beitrag von Armin Schäfer den Zusammenhang zwischen “ Biopolitik ” und naturwissenschaftlicher Position bei Büchner erläutert - wobei dieser Zusammenhang nicht an Danton ’ s Tod gezeigt wird, sondern überwiegend an Woyzeck. Schäfer, Armin. “ Biopolitik ” . Büchner Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Ed. Roland Borgards [et. al.]. Stuttgart, 2009. 176 - 181. 18 Büchner 2006. 39. 19 Büchner 2006. 73. 20 Vgl. Arasse, Daniel. Die Guillotine. Die Macht der Maschine und das Schauspiel der Gerechtigkeit. Reinbek bei Hamburg, 1988. 52 - 57 ( “ Das sterbende Haupt ” ). 21 Büchner 2006. 89. 22 Lukács, Georg. Die Theorie des Romans. Neuwied, 1965. 35. 23 Büchner 2006. 46. 24 Büchner 2006. 185. 25 Büchner 2006. 80. 26 Durch das zitierte Bekenntnis zum König, das “ im Namen der Republik ” (so die Replik der Soldaten, die Chétouane gestrichen hat) mit dem Tode geahndet wird, gibt sich Lucile selbst den Tod, nachdem ihr erster Versuch, die Welt mit einem Schrei zum Stehen zu bringen, gescheitert ist. Zum “ Gegenwort ” s. Celan, Paul. Der Meridian. Frankfurt, 1999. 27 Benjamin, Walter. Das Passagenwerk. In: ders., Gesammelte Schriften V,1. Frankfurt, 1982. 439. 28 Kantorowicz, Ernst. Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters. München, 1990. 29 Zu dieser vom Abbé Sieyès geprägten Metapher, vgl. de Baecque, Antoine. Le corps de l ’ histoire. Métaphores et politique (1770 - 1800). Paris, 1993. 30 Büchner 2006. 15. 31 “ Wir schließen schnell und einfach: da Alle unter gleichen Verhältnisse geschaffen werden, so sind Alle gleich, die Unterschiede abgerechnet, welche die Natur selbst gemacht hat. Es darf daher jeder Vorzüge und darf daher Keiner Vorrechte haben, weder ein Einzelner, noch eine geringere oder größere Klasse von Individuen. Jedes Glied dieses in der Wirklichkeit angewandten Satzes hat seine Menschen getötet. Der 14. Juli, der 10. August, der 31. Mai sind seine Interpunktionszeichen ” (Büchner 2006. 55). Mit den Daten des 14. Juli, des 10. August und des 31. Mai spielt Büchner auf große insurrektionelle Bewegungen an (den Sturm auf die Bastille, den Sturm auf die Tuilerien und die Festnahme der Girondins). 167 “ Politik der Körper, Körper der Politik. ” Laurent Chétouane inszeniert Büchners Danton ’ s Tod