eJournals Forum Modernes Theater 26/1-2

Forum Modernes Theater
0930-5874
2196-3517
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2011
261-2 Balme

Das Theater der Hunderttausend historisieren

2011
Evelyn Annuß
Das Theater der Hunderttausend historisieren Evelyn Annuß (Bochum) Re-enactments haben Konjunktur in der zeitgenössischen Theater-, Performance- und Videokunst - von Marina Abramovic über Omer Fast bis zu Gob Squad, Milo Rau oder Wael Shawky. 1 Dabei offenbaren jene Reinszenierungen, die sich ihrer Lesbarkeit als “ verkörperte Vergegenwärtigungen vergangener Ereignisse ” 2 widersetzen, den Akt der Nachals Entstellung und machen so unseren Begriff von Geschichte reflektierbar. Das gilt auch und gerade für das performative Zitieren chorischer Aufführungen, die sozusagen naturgemäß auf nichtdramatische Darstellungsregister setzen und das Moment ästhetischer Vergemeinschaftung untersuchen. 3 Hier nämlich korrespondiert die reflexive Potenz des Zitierens, die Transposition in der Wiederholung, mit jener der chorischen Darstellung, die den Akt der Figuration im konstitutiven Fehlgehen kollektiven Verkörperns exponiert. Das zeigt sich am Nachleben einer Massenchoreografie aus dem Jahr 1936. Das Hamburger Performancelabel Ligna zitiert sie zunächst in Leipzig (2010) auf der grünen Wiese und später in Hellerau (2012) unter dem Titel Die Unterbrechung noch einmal herbei. 4 Diese Re-performance eröffnet den Ausblick auf die arbiträre Formgeschichte der Chorfigur im Nationalsozialismus. Darin wiederum ist sie einer aktuellen Diskursverschiebung verwandt, die die Tragfähigkeit Forum Modernes Theater, 26 (2011 [2014]), 137 - 152. Gunter Narr Verlag Tübingen Abb. 1: Die Unterbrechung (Ligna, Richard-Wagner-Hain, play! Leipzig Festival 2010, © Marcel Ruge) unserer Vorstellung von einer klar bestimm- und umgrenzbaren ‘ faschistischen Ästhetik ’ 5 als Komplement nationalsozialistischer Gewaltherrschaft aus unterschiedlicher Perspektivik befragt: Untersucht die zeitgenössische kulturhistorische Forschung etwa die Präfiguration von Nazi-Masseninszenierungen in republikanischen Feiern und schenkt der Ästhetik der Zwischenkriegszeit jenseits totalitarismustheoretischer Verkürzungen neue Aufmerksamkeit, so wird zugleich der Topos des Undarstellbaren als Kehrseite nationalsozialistischer Selbstpräsentation revidiert; zudem wird von Seiten der Philosophie dasjenige, was als genuin faschistische “ Ästhetisierung der Politik ” 6 firmiert, einer erneuten Lektüre unterzogen, die das Moment der Anästhetisierung, der Verstellung, des Inszenierungscharakters von moderner Repräsentationspolitik akzentuiert. Vor diesem Hintergrund zielt der folgende, von Lignas Unterbrechung ausgehende Vorschlag darauf, erstens der massentheatralen Inszenierung des Phantasmas ‘ Volksgemeinschaft ’ den Anstrich monolithischer Singularität wie Statik zu nehmen und zweitens auch und gerade im Hinblick auf den Nationalsozialismus für einen reflexiven Begriff von Theaterhistoriografie zu plädieren, der um die eigene Arbitrarität und Nachträglichkeit weiß und damit zugleich die Frage der Rezeptionspraxis aufwirft. 7 1. Nachals Entstellung Lignas ‘ Radioballett ’ 8 Die Unterbrechung ruft die bewegungschorische Arbeit Rudolf von Labans ins Gedächtnis. Neben der Mannheimer Inszenierung Alltag und Fest aus dem Jahr 1929 wird die Massenchoreografie Vom Tauwind und der neuen Freude zitiert, die 1936 ‘ Volkwerdung ’ in getanzter Form repräsentieren soll: Nach einjähriger Probenphase wird Labans Arbeit im Vorfeld der Olympischen Spiele versuchsweise auf der Dietrich-Eckart-Bühne - der heutigen Berliner Waldbühne - aufgeführt. Reichspropagandaminister Joseph Goebbels allerdings lässt dieses von über 1.000 Laien aus 30 Städten getanzte sogenannte Weihespiel nach seinem Besuch der Generalprobe kurzfristig aus dem offiziellen Rahmenprogramm der Olympischen Spiele streichen. 9 Labans Versuch, den Ausdruckstanz den Nazis anzudienen, scheitert also Mitte der 1930er Jahre. So zeugt er bereits vom komplizierten Verhältnis zwischen kollektiven Darstellungsformen und ihrer nationalsozialistischen Instrumentalisierung. Daran erinnert Die Unterbrechung, indem das Re-enactment Vom Tauwind und der neuen Freude mit Alltag und Fest verschränkt. Die Aktion funktioniert als eine audiomedial gesteuerte, flashmobähnliche Nachstellung im öffentlichen Raum. Hierbei bringt die Re-performance durch ein zufällig zusammengewürfeltes Publikum die überlieferten Fotos wieder zum Tanzen und fragt darüber nach den Zäsuren und Kontinuitäten in der Geschichte des Ausdruckstanzes. Unterbrochen von dialogischen Kommentaren, die das Nachgestellte von unterschiedlichen Positionen aus reflektieren, werden über Mp3-Player allen Interessierten, in Teilchöre unterteilt, die jeweiligen Bewegungsanweisungen gegeben. Die von Laban anvisierte chorische Vermittlung von Kollektivität im Medium geteilter Gesten ist in der technisch fortgesetzten Übertragung des Zitierten als fremdbestimmter Akt markiert. Und natürlich ist die gestische ‘ Gleichschaltung ’ der Körper in dieser Konstellation zum Scheitern verurteilt; die Synchronisation der Bewegungen geht - dem Kalkül der Versuchsanordnung entsprechend - fehl. Im Zitat unterläuft das Geschehen den labanschen Einsatz der Körper, der 1936 völkische Vergemeinschaftung vor Augen stellen soll und lässt zugleich nach dem Verhältnis von bewegungschorischer Formation und faschistischer Repräsentation fragen. 138 Evelyn Annuß In der von Ligna entworfenen Re-performance fehlt der szenische Rahmen der Massenchoreografie. Während die technische Vermittlung der Bewegungsanweisungen für Distanz zwischen den Mitspielenden sorgt, wird die Trennung von Darstellenden und Zuschauenden aufgehoben. Damit löst die Aktion auf den ersten Blick das partizipatorische Versprechen der Chorfigur ein, das auch deren volksgemeinschaftlicher Mobilisierung in der ersten Hälfte der 1930er Jahre unterliegt. 10 Zugleich aber lässt sie gerade dadurch den Chor im Sinne einer geschlossenen Kollektivfigur in seine Bestandteile zerfallen. Die Re-performance funktioniert als gestisch vermitteltes undoing der phantasmatischen Figur einer naturwüchsigen, gewissermaßen aus der Landschaft kommenden und sich in einem Rhythmus bewegenden Volksgemeinschaft, als deren Ausdruck Labans 1936er Massenchoreografie bis zu Goebbels ’ Intervention verkauft werden soll. 11 Denn genau dieses undoing im gestischen Zitat exponiert den Charakter kollektiven Gemachtseins der Figur. So ist die Repräsentationsfunktion der Körper im Nachvollzug unterbrochen. Von Ligna wird das Phantasma ‘ Volksgemeinschaft ’ , als deren leibhaftiger Referent der Bewegungschor 1936 erscheinen soll, im auditiv vermittelten Mitspielen als Effekt szenischer Figuration erfahrbar gemacht beziehungsweise für Passantinnen und Passanten als merkwürdige Störung im öffentlichen Abb. 2: Vom Tauwind und der neuen Freude (Probe), Rudolf von Laban, Dietrich-Eckart-Bühne, Berlin 1936, © Theaterwissenschaftliche Sammlung, Universität zu Köln 139 Das Theater der Hunderttausend historisieren Raum zu sehen gegeben. Durch dieses doppelte Unterbrechen gestisch dargestellter Vergemeinschaftung verweist Lignas Laban-Zitat auf die Frage nach der Medialität ebenso wie nach der Formspezifik von Massendarstellungen im Nationalsozialismus und eröffnet die Einsicht in die reflexive Potenz des theatralen Chors. Im Freilufttheater der Nazis hingegen wird der Chor bis zu jenem Jahr, in dem auch Laban scheitert, zunächst imaginiert, als ob der Auftritt der Massen die Ineinssetzung von Kollektivfigur und Publikum in einer geschlossenen Gestalt erlaubte; das gilt nicht nur für bewegungschorische Auftrittsformen, die in der Tradition des Ausdruckstanzes stehen, sondern auch und gerade für sprechchorische Spielarten des Massentheaters, die an die Weimarer ‘ Kampfzeit ’ erinnern. Doch möglicherweise zeugt das frühe Scheitern szenischer Vergemeinschaftung in diesen beiden Varianten nationalsozialistischen Chortheaters von heute aus betrachtet noch von jener Potenz, die Lignas entstellende Nachbearbeitung evoziert. 12 In diesem Sinn gilt es, die Geschichte des nationalsozialistischen Massentheaters einer Revision zu unterziehen. 2. “ Theater der Hunderttausend ” Wer wagt zu bezweifeln, daß es in Deutschland einmal ein Theater der Hunderttausend geben könne, daß einmal kulturelle Schöpfungen aus diesen gärenden Vulkanen herausquellen, die so überwältigend sind, daß sie das ganze Volk in Bann halten, daß sich das große athenische Beispiel bei uns einmal wiederholt, daß das Volk nicht nur zum Kampfe der Wagen, sondern auch zum Kampfe der Gesänge wieder hinpilgert, daß wirklich wieder eine Millionenmasse aufsteht, um diese Kunst zu seinem inneren Gesetz zu machen. 13 Am 8. Mai 1933, einen Monat nach Erlass des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, mit dem die Ausschlusspolitik der Nazis rechtlich abgesichert und ein so genannter ‘ Arierparagraph ’ eingeführt wird, hält Goebbels vor 350 Theaterleuten diese programmatische Rede im Berliner Kaiserhof. 14 Implizit Max Reinhardts Ruf nach einem “ Theater der Fünftausend ” 15 überbietend hat er bereits ein Millionenpublikum im Auge, ohne sich zu formalen Gesichtspunkten näher zu äußern. Das nationalsozialistische Theater der Zukunft wird zunächst einmal als Massenmedium für die ‘ Volksgenossinnen ’ und ‘ Volksgenossen ’ begriffen. Von Ministerialrat Otto Laubinger, Leiter der Abteilung Theater im Reichspropagandaministerium und Präsident des Reichsbundes der Deutschen Freilicht- und Volksschauspiele e. V., in dem alle Open-Air- Bühnen ab Juli 1933 gleichgeschaltet sind 16 , wird dieselbe Rede zwei Monate später entsprechend noch einmal zitiert: Wir Nationalsozialisten werden Volk und Bühne wieder zusammenbringen, wir werden das Theater der Fünfzig- und der Hunderttausend schaffen, wir werden auch den letzten Volksgenossen in den Bann der dramatischen Kunst ziehen und ihn durch sie immer von neuem für die grossen Gegenstände unseres völkischen Lebens begeistern. 17 Bereits 1933 experimentiert man mit ersten Stadionspielen, die als eine Art nationalsozialistisches Aufmarschtheater im Freien funktionieren. Im Januar 1934 träumt Laubinger schließlich exemplarisch von einem Berliner “ Bilderbogen aus der märkischen Geschichte in grossen Massenszenen ” 18 . Der von Laubinger evozierte Bilderbogen soll auf einer “ Kultstätte für den Sonntag ” 19 , einem Platz für mindestens 5.000 Personen, aufgeführt werden. Ziel ist die Popularisierung eines genuin nationalsozialistischen Theaters als Festspiel zum Zweck der Volks-Bildung - und zwar im doppelten Sinn von Unterrichtung und Vergemein- 140 Evelyn Annuß schaftung. Laubinger fordert eine “ Volksschule des Theaters ” : Wir werden nicht ruhen und nicht rasten, bis der Auftrag des Führers, den letzten Volksgenossen auch durch das künstlerische Erlebnis in die Volksgemeinschaft einzugliedern, erfüllt ist. Wir wollen diese geistige Eingliederung bewirken, indem wir gewissermassen die Volksschule des Theaters schaffen, die Theaterform, die in ihrem Inhalt und in ihren Darbietungen auch dem letzten unserer Volksgenossen verständlich ist und die an Orten dargeboten wird, die ihm nicht fremd sind, sondern vertraut und heilig, und zu denen es ihn hinzieht, zu denen er gern kommt, wenn der Ruf an ihn ergeht. 20 Reichsweit soll ein chorisches Paralleltheater im Freien geschaffen werden - an Orten, an denen die Schwellenangst gegenüber dem Guckkastentheater als bürgerlicher Bildungsanstalt noch für “ den letzten Volksgenossen ” , wie es immer wieder heißt, überwindbar wird. 21 Man initiiert ein gigantisches, vom Arbeitsdienst getragenes Programm zum Bau so genannter ‘ Thingstätten ’ , deren Name die rhetorische Brücke zum zeitgenössischen Bild germanischer Vergangenheit ist. Dabei handelt es sich um Amphitheater für bis zu 20.000 Zuschauer, die zugleich für kultische Weihespiele und Aufmärsche genutzt werden und zu denen architekturgeschichtlich auch die von Laban bespielte Dietrich-Eckart-Bühne auf dem Berliner Olympiaareal zählt. Der Weg weist also zunächst Vom Stadionzum Thingspiel, wie es Gustav Goes, Autor des ersten repräsentativen Stadionspiels, das im Nationalsozialismus aufgeführt wird, 1935 rückblickend formuliert. 22 An besonderen Orten und zu besonderen Anlässen sollen ab 1934 im Rahmen völkischer Festspiele die Protagonisten von Berufsschauspielern, die Figur Volk wiederum von Laien verkörpert werden. Man will - und in diesem Zusammenhang ist auch Labans von Ligna zitierter bewegungschorischer Versuch zu sehen - mit Hilfe der Kunst die Heimatals Erlebnisgemeinschaft herstellen. Hierbei setzt die Thingbewegung im Unterschied zu Laban vor allem auf die kollektive Dramatisierung der Figur Volksgemeinschaft. Die politische Funktion der bereits seit Sommer 1933 offiziell so genannten Thingspiele 23 besteht in der performativen Eingliederung breiter, als arisch definierter Bevölkerungsschichten in die Figur Volksgemeinschaft mit Hilfe des Sprechtheaters; “ durch das künstlerische Erlebnis ” , also durch die fiktionale Form, soll in diesem Rahmen vom chorischen Auftritt auf das Publikum ausstrahlend ideologische Bindungsenergie produziert werden. Die mit Hannah Arendt gesprochen ohnehin “ fiktive Welt der Bewegung ” 24 , wird gewissermaßen massentheatral verdoppelt. Nun verabschiedet man sich von dem Programm allen vollmundigen Proklamationen zum Trotz Mitte der 1930er Jahre ebenso wie von Labans getanztem Gemeinschaftskult. Der Thingbegriff wird bereits im Herbst 1935 per Verordnung ad acta gelegt. 25 Vor allem aber wird die Darstellung der Figur Volk im Sprechtheater um ihr zentrales Mittel gebracht. Im Vorfeld der Olympischen Sommerspiele 1936 lässt Goebbels nicht nur die labansche Massenchoreografie, sondern zuvor bereits den Einsatz von Sprechchören untersagen. 26 Damit allerdings ist weder die Geschichte des nationalsozialistischen Massentheaters noch seiner chorischen Form zu Ende. Es handelt sich vielmehr um eine Art Scheidungsfall, an dem sich die Notwendigkeit einer Formgeschichte nationalsozialistischer Inszenierungen zeigt. 3. Formwandel Auf den ersten Blick scheint sich Laubingers Vision einer faschistischen Volksschule des Theaters postum - er stirbt im Oktober 1935 141 Das Theater der Hunderttausend historisieren - im Olympiastadion 1937 zu erfüllen. Vor 100.000 Zuschauerinnen und Zuschauern wird ein märkischer Bilderbogen in Massenszenen uraufgeführt: Berlin in sieben Jahrhunderten deutscher Geschichte heißt das bewegungschorische Festspiel mit insgesamt 10.000 Darstellerinnen und Darstellern unter der Regie von Hanns Niedecken-Gebhard, das Goebbels ’ Überbietungsprogramm des reinhardtschen Massentheaters einlöst. 27 Es handelt sich um den Höhepunkt der 700- Jahr-Feier in der damaligen Reichshauptstadt. 28 In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre werden Ortsjubiläen im Gegensatz zu kultischen Weihespielen und auch vielen Festen des nationalsozialistischen Feierkalenders zunehmend populär. Als Regierungssitz und Spielort der vorjährigen Olympischen Sommerspiele kommt der Reichshauptstadt im Jubiläumsjahr zudem zentrale repräsentative Bedeutung zu. Gerade das Finale des postolympischen Berliner Bilderbogens zur 700-Jahrfeier, das weder dramatische Handlung noch Sprechchor kennt und stattdessen die Massenszenen mit der Verlautbarung von Zitaten berühmter Dichter und Denker samt Hitlers Reichsparteitagsreden untermalt, liefert den Ausblick auf das Fortleben des nationalsozialistischen Massentheaters nach dem Ende seiner explizit kultischen Spielformen im Zusammenhang mit Ausdruckstanz und Thingspiel. Während zu Marschmusik die am Festspiel beteiligten Abordnungen des Reichsarbeitsdienstes, aller Gliederungen der NSDAP und der Wehrmacht einrücken und zusammen mit 2.000 Schulkindern schließlich die Spielfläche rahmen, bilden 1.500 weiß gekleidete Mädchen, ihre Körper wie in einer Revue schlagartig krümmend, unter einem aus Flakscheinwerfern erzeugten Lichtdom das Hoheitszeichen des Reichs: ein von Eichenkranz umgebenes Haken- Abb. 3: Berlin in sieben Jahrhunderten (Schlussbild), Hanns Niedecken-Gebhard, Olympiastadion, Berlin 1937, © Theaterwissenschaftliche Sammlung, Universität zu Köln 142 Evelyn Annuß kreuz, darüber ein Adler mit geöffneten Flügeln und nach rechts gewendetem Kopf. 29 Mit einem lebenden Hakenkreuz also endet Berlin in sieben Jahrhunderten deutscher Geschichte. Das neue Deutschland ist diese Schlüsselszene betitelt. Sie gerät zu Niedecken-Gebhards Markenzeichen: 1939 wird sie im Münchner Stadion anlässlich des Festspiels Triumph des Lebens zum Tag der deutschen Kunst von ihm entsprechend erfolgreich recycelt. Sie löst in einer von Laubinger so nicht antizipierten Weise die Forderung nach einer Form des Massentheaters ein, die für alle verständlich ist; zugleich präfiguriert sie die fortschreitende Ornamentalisierung der Massen im Nationalsozialismus, die sich etwa am drehenden Hakenkreuz aus Fackelträgern anlässlich der 1938 zentralisierten Sonnwendfeier im Berliner Olympiastadion zeigt und gemeinhin undatiert in heutige Dokumentationen über den Nationalsozialismus eingeht. Der Auftritt der Figur Volk, Charakteristikum des Thingspiels und der labanschen Massenchoreografie, wird in die bewegungschorische Präsentation eines Herrschaftssymbols verwandelt und damit das Dargestellte von der vermeintlich unmittelbaren Referenz auf seine Träger abgelöst. Von heute aus betrachtet kann das lebendige Hoheitszeichen nicht bloß als ein politisches Symbol gelesen werden. Als stummes Ornament wie eine Art Label von Tausenden in Szene gesetzt, allegorisiert es vielmehr den Wendepunkt einer nationalsozialistischen Ästhetisierung der Massen in der Vorkriegszeit. Zwar gibt es bereits seit der Machtergreifung nicht nur große Aufmärsche, sondern auch kleine Hakenkreuzformationen. Dokumentiert sind beispielsweise Fotos von etwa hundert Polizisten, die schon 1933 während einer Probe für ein Fest im Berliner Sportpalast eine Swastika bilden. In seiner Artifizialität und Monumentalität aber überbietet Niedecken- Gebhards Bewegungschor diese kleineren Ornamente ebenso wie die in seinem Festspiel nur mehr als Rahmen fungierende militaristische Aufmarschpraxis der Parteigliederungen, die Inszenierung sogenannter Marschsäulen. Niedecken-Gebhards durchaus an den bewegungschorischen Experimenten des Ausdruckstanzes geschulte Massenchoreografie 30 setzt hier die noch mit dem Thingspiel verknüpften Vorstellungen vom einfachen Mitmarschieren der organisierten ‘ Volksgenossen ’ zur Demonstration gemeinschaftlicher agency außer Kraft. Entsprechend sind Darstellende und Publikum anders als in den frühen Thingversuchen, in denen das Volk vom Chor zum Teil mit dem Rücken zu den Zuschauern stehend 31 repräsentiert wird und damit als Vermittlungsglied zwischen Szene und Theatron fungiert, wieder klar voneinander getrennt. Im nationalsozialistischen Festspiel Niedecken-Gebhards kommt der ins Monumentalistische gesteigerten Formierung der Körper zum abstrakten Label eine neue Funktion zu: Das ornamentale Spektakel löst die Dramatisierung der Kollektivpersona Volksgemeinschaft ab. Im Rahmen eines profanierten Stadionspiels, das in der Raumfrage scheinbar wieder hinter die Thingversuche zurückgeht und damit erst die Möglichkeit eines Theaters der Hunderttausend schafft, wird der politische Aufmarsch ins ‘ schwergewichtige Zeichen ’ übersetzt. Hier nun wird dem Chor mit der volksgemeinschaftlichen Repräsentationsfunktion auch jenes Reflexionspotenzial entzogen, das sich gerade im Scheitern der Synchronisation von Stimmen und Bewegungen der inszenierten Volksgemeinschaft zeigt. Denn Niedecken-Gebhards Hoheitszeichen reduziert den einzelnen Körper im Bewegungschor auf ein nur mehr optisches Darstellungsmittel. Das Schlussbild offenbart also den Form- und Funktionswechsel jener Massenchöre, die das Bestimmungsmoment der von Laubinger geforderten “ Volksschule des Theaters ” sind. 143 Das Theater der Hunderttausend historisieren Hier aber kommt das nationalsozialistische Freilufttheater bei einer Inszenierungsform an, die jener von Walter Benjamin so genannten “ Ästhetisierung der Politik, welche der Faschismus betreibt ” 32 , im Ansatz bereits vorausgeht. Siegfried Kracauer hat diese Darstellungsform mit Blick auf die Sternbilder in weltweit aufgeführten Stadioninszenierungen in den 1920er Jahren als “ rationale Leerform des Kultes ” 33 bezeichnet. Inwiefern lässt sich dieser Wandel als bestimmte Reaktionsbildung sowohl auf das Formproblem des Chors als auch auf die zeitgenössische massenmediale Entwicklung lesen? 4. Massentheater und -medien In der Frühphase des NS-Theaters dienen die Sprechchöre dazu, Volkes Stimme auch rhetorisch ein Gesicht zu verleihen. Die Vorstellung von der kollektiv ratifizierten Resonanz der protagonistischen Rede in politischen Massenveranstaltungen wird zunächst auf den theatralen Kontext übertragen und so die Hintergrundfigur Volk im fiktionalen Rahmen selbst zum Handlungsträger gemacht. Die Suche nach einer nationalsozialistischen Form des Freilufttheaters ist dabei entsprechend von Beginn an maßgeblich von der medialen Entwicklung und den neuen technischen Verbreitungsmöglichkeiten volksgemeinschaftlicher Propaganda bestimmt. 34 Immerhin geht es um eine Form des Theaters, die - als Massenmedium begriffen - noch ‘ den letzten Volksgenossen ’ eingemeinden soll. Der Sprechchor zielt auf die akustisch vermittelte Einstimmung des Publikums. Wenn nun zwei Jahre später diese tragende Säule der Thingkonzeption über den Haufen geworfen wird, deutet sich darin nicht nur die von Hitler im Rahmen seiner Kulturrede auf dem Reichsparteitag von 1938 formulierte Abkehr vom Kult an. 35 Vielmehr trennt man das Festspiel von der sprechchorischen Darstellung der Volksgemeinschaft. Ab 1936 nämlich bleibt der Sprechchor weitgehend den Reichsparteitagen vorbehalten. Das Theater der Hunderttausend findet hier gewissermaßen beim Nürnberger Appell statt. 36 Dort wird der Sprechchor - mit dem neuen Instrument des Lichtdoms wirkungsästhetisch potenziert - in der Inszenierung des Gelöbnisses einzelner Parteifraktionen eingesetzt. 37 Retrospektiv zeigt sich an dieser Scheidungsgeschichte von Sprechchor und nationalsozialistischem Theater nun möglicherweise, welches Problem, das Reflexionspotenzial des Chors im Rahmen einer offenkundig fiktionalisierten Aufführung mit sich bringt: Über den ausgestellten Fiktionscharakter der Inszenierung nämlich wird das doing Volksgemeinschaft, umso deutlicher, sobald das Publikum bereits politisch eingemeindet ist. So eröffnet in dem Moment, in dem sich nach der ersten Experimentierphase mit der Chorfigur, der Machtbefestitung des Staatsapparats und dem zunehmenden Ritualisieren der Parteiinszenierung die Abkehr vom kultischen Massentheater durchzusetzen scheint, die Entwicklung der damals neuen Medien den Ausblick auf andere, zeitgemäßere Varianten. Der daraus resultierende Formwandel greift letztlich auf Bewährtes zurück. Er befreit die chorische Darstellung vom Kultischen und der Kampfzeitästhetik des Thingspiels. Nicht nur “ Kaders von Hunderttausenden lassen sich von der Vogelperspektive aus am besten erfassen ” 38 , wie Benjamin es mit Blick auf die Reichsparteitage formuliert, sondern auch jenes Ornament der Massen, das der vermeintlich unmittelbaren Referenz auf die Volksfigur nicht mehr bedarf. Das chorische Massentheater verlangt Mitte der 1930er Jahre nach einer Raumlösung, die das Spektakel von allen Seiten in gleicher Weise einsehbar macht: 144 Evelyn Annuß Unsere ‘ Bühne ’ ist nicht erhöht vor dem Zuschauer errichtet, sondern liegt tief unten auf grüner Rasenfläche weit ausgedehnt. Aus der ‘ Vogelperspektive ’ betrachtet der Zuschauer alles Geschehen 39 . Im Programmheft zur Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele beschreibt Niedecken- Gebhard so seine chorische Gesamtgestaltung von Carl Diems Festspiel “ Olympische Jugend ” im Stadion. 1936 skizziert er eine Strukturierung des Blicks, die offenkundig in Anlehnung an die Möglichkeiten des Kinos gedacht ist. 40 Und so findet sich hier bereits eine Massenchoreografie des Olympiazeichens, auf die die späteren ausgetüftelteren stagings des Nazi-Labels zurückgehen. Das lebende Hoheitszeichen samt Lichtdom ist Fortentwicklung der Stadioninszenierung von 1936, die unter anderem die Eröffnungsfeierlichkeiten der Olympischen Spiele bis heute formal bestimmt und auf ein neues Blickregime verweist. Uwe-Karsten Ketelsen weist bereits auf den Stellenwert der zeitgenössischen Massenmedien für Gustav Goes ’ Inszenierungsvorstellung von 1932 hin: Sein Stadionspiel Aufbricht Deutschland! denkt Goes sozusagen als “ Radio und Stummfilm ” 41 in einem, weil hier die Spielenden die von anderswo gesendeten Reden und Gesänge im Stadion nur bewegungschorisch begleiten sollen. Die Bildung des stummen Hoheitszeichens am Ende von Berlin in sieben Jahrhunderten deutscher Geschichte, das 1937 den Aufmarsch der Figur Volksgemeinschaft ins Ornament transponiert, wird nun in verwandt erscheinender Weise durch einen auf der Marathontreppe platzierten Sprecher, der auch aus den Reden des ‘ Führers ’ zitiert, vorbereitet und dann von Marschmusik begleitet. Nachdem man schließlich den Lichtdom aufgeblendet hat, sind Böllerschüsse, die Nationalhymnen und läutende Glocken zu hören. Auch hier also sind Bild und Ton voneinander getrennt. Bei Niedecken-Gebhard allerdings wird diese Trennung der Elemente im Zusammenhang inzwischen veränderter Wahrnehmungsmuster lesbar: 1936 liegt mit der erfolgten Einrichtung von Fernsehstuben, vor allem aber mit der ihr nur wenige Jahre zuvor vorangegangenen Etablierung des Tonfilms und der durch den Sound ermöglichten Rhythmisierung der Bilder ein Paradigmenwechsel szenischen Denkens in der Luft, der eine andere Raumlösung als das Thingtheater impliziert. 42 Diese Umbruchphase bringt auch und gerade die Einsicht in die propagandistischen Möglichkeiten ornamentaler Masseninszenierungen mit sich, die ‘ das Volk ’ gewissermaßen von der Bühne vertreiben. Kracauer liest die Reichsparteitage bereits als Aftereffekte filmischer Massendarstellungen. 43 In der Tat finden sich geometrisch angeordnete Figurengruppen und crowd scenes aus der Vogelperspektive schon in den 1920er Jahren - etwa in Fritz Langs Nibelungen (1924) oder Sergej Eisensteins Oktober (1927). Schließlich werden sie von den nationalsozialistischen Auftragsarbeiten Leni Riefenstahls zitiert, deren spezifischer Einsatz es ist, bestehende innovative Perspektivführungen technisch aufgerüstet zu perfektionieren und in den so genannten Dokumentarfilm einzuspeisen. Darüber hinaus aber entsteht in Hollywood zu Beginn der 1930er Jahre ein neues Genre: die Filmrevue. Sie hält nicht einfach die Broadwayspektakel auf Zelluloid fest, sondern experimentiert mit Aufnahmetechniken, die den Wandel szenischen Denkens maßgeblich mitbestimmen, die crowd scenes aus einem neuen Blickwinkel zeigen und sie entsprechend ins labelartige Ornament übertragen. Dieser neue Blickwinkel hallt in Niedecken- Gebhards zitierten Überlegungen und den ab 1936 von ihm orchestrierten Inszenierungen nach. “ In its cynical belief that it offered people what they wanted, Nazi mass culture emulated and replicated American patterns of 145 Das Theater der Hunderttausend historisieren recognition ” 44 , befindet bereits Eric Rentschler in The Ministry of Illusion (1996). Das gilt auch und gerade für die Filmrevue. Es sind weniger die von Fritz Lang vogelperspektivisch inszenierten Nibelungen, die Kracauer als Vorlage für die Reichsparteitage interpretiert, als die Top shots Busby Berkeleys von bis dahin aus diesem Winkel nicht gesehenen lebenden Ornamenten, die einen Paradigmenwechsel in der Betrachtung der theatral inszenierten Massen einläuten. Am Beispiel der von Berkeley choreografierten Revueszene Shanghai Lil aus dem Backstage- Film Footlight Parade von 1933 wird die Schnittstelle zur politisch-propagandistischen Inszenierung am sinnfälligsten: Darin formieren sich die direkt von oben aufgenommenen Tanzenden zunächst zu einem Adler, in diesem Fall dem Hoheitszeichen der USA; schließlich bilden sie aus von den einzelnen hochgehaltenen Puzzleteilen das Gesicht Präsident Roosevelts. Nicht zuletzt dank derartiger Top shots, so möchte ich vorschlagen, rückt der Ausblick auf die Möglichkeiten eines spektakulären Branding auch im nationalsozialistischen Massentheater an die Stelle der permanenten Reinszenierung der Volksfigur. Es ließe sich mithin behaupten, dass die Revuefilme Hollywoods unbeabsichtigt auch zum Formwandel des nationalsozialistischen Massentheaters und schließlich der Parteiinszenierungen beitragen. 45 Gerade Niedecken-Gebhards Arbeit mag von dieser Reperspektivierung des musikalisch begleiteten Massenornaments geprägt sein: Da er schon in den 1920er Jahren mit Bewegungschören arbeitet und sich mit seinen am Ausdruckstanz orientierten Choreografien von Händeloratorien einen Namen Abb. 4: Shanghai Lil, Busby Berkeley, Szenenfoto aus Footlight Parade, 1933 146 Evelyn Annuß macht, hat gerade Niedecken-Gebhard ein gesteigertes Interesse an Tanzszenen. Von 1931 bis 1933, in jener Zeit also, in der die Filmrevue mit dem Broadway zu konkurrieren beginnt, ist er an der New Yorker Metropolitan Opera als Regisseur tätig. Nach der Machtergreifung nimmt er im Unterschied zu vielen seiner Kollegen den umgekehrten Weg über den Atlantik, engagiert sich zunächst als Regisseur eines Laienspiels in der Provinz, um dann seine Karriere als Thingspielleiter zu starten. Nachdem seine geplante Modell-Inszenierung von Euringers Deutsche Passion 1933 zum Fiasko gerät, weil der Heidelberger Thingplatz nicht rechtzeitig fertig gestellt werden kann, konzentriert sich Niedecken-Gebhard nicht länger auf sprechchorische Inszenierungsformen, sondern auf das, was er schon in den 1920er Jahren seinen ‘ tänzerischen Stil ’ 46 nennt. Dieser wird nun sportlich modernisiert und zur bewegungschorischen Formierung der Massen jenseits ihrer kultischen Kostümierung eingesetzt. Damit trifft Niedecken-Gebhard schließlich den Nerv der Zeit. 47 Neben weiterhin stattfindenden, auch nach 1936 offenkundig ausdruckstänzerisch beeinflussten Aufführungen von Händel- Oratorien inszeniert er nun Stadionspiele, deren räumliche Bedingungen dank der von allen Seiten einsehbaren Spielfläche anders als das Thing mit dem neuen Blickwinkel des Revuefilms korrespondieren. So trägt Niedecken-Gebhard maßgeblich zum Formwandel des nationalsozialistischen Massentheaters bei. Diese von ihm geprägte Variante des Freilufttheaters vor dem Zweiten Weltkrieg lebt im Gegensatz zum Thingspiel unter veränderten politischen Vorzeichen nach 1945 fort - nicht nur in den Eröffnungsfeiern der Olympischen Spiele. In den 1950er Jahren legt Niedecken-Gebhard einen wortlautlich weitgehend mit 1937 identischen, nur kleineren und ideologisch modifizierten Entwurf für ein Festspiel anlässlich des Kölner Stadtjubiläums vor. Das Schlussbild, das Kölner Wappen, soll nun von 350 Schulkindern gebildet werden. 48 Am Beispiel Niedecken-Gebhards wird das nationalsozialistische Massentheater nach dem Thing als Vorreiter moderner Marketingstrategien lesbar - freilich jener Wirkmacht entkleidet, die ihnen das NS-Regime und auch dessen Rezeption oftmals zuschreibt. 49 5. Historisierung An den Arbeiten Labans und Niedecken- Gebhards zeigt sich, dass es der differenzierenden Historisierung zeitgenössischer kollektiver Darstellungsformen bedarf; von heute aus gilt es, den Ausblick auf den Formwandel und das je spezifische Vorwie Fortleben der Chorfigur zu schärfen, den die von den Nazis bereits in Anspruch genommene Marke ‘ faschistische Ästhetik ’ geradezu verstellt. Nun institutionalisiert sich die deutsche Theaterwissenschaft nach ihrer Begründung durch den im Kontext des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums 1933 entlassenen Max Herrmann als eigenständiges Fach überregional erst im Nationalsozialismus. 50 Diese Prägung trägt möglicherweise mit dazu bei, dass sie in weiten Teilen lange Zeit jenem dem 19. Jahrhundert entstammenden Historismus verpflichtet bleibt, den maßgebliche Fraktionen im Nationalsozialismus volksgemeinschaftlich propagieren. Dass sich jedoch auch ein anderer Begriff von Geschichte denken lässt, führt Benjamin als Zeitgenosse in Reaktion auf den Mythos von der Ewigkeit nationalsozialistischer Herrschaft bereits vor. In seinem letzten, im Exil entstandenen Text Über den Begriff der Geschichte stellt er dem vermeintlich unvergänglichen “ Bild der Vergangenheit ” 51 , das der Historismus zeichnet, einen Begriff von Geschichte entgegen, der diese als von der Gegenwart aus zitierte begreift. Wenn man Benjamins Absage an 147 Das Theater der Hunderttausend historisieren die Rekonstruktionsversprechen historistischer Forschung folgt, ist Theatergeschichtsschreibung nicht ohne Selbstverständigung über den eigenen Standort in angemessener Weise zu denken. Die Einsicht, dass wir die Vergangenheit aus der Gegenwart heraus - aus dem Zusammenspiel von Archivlage, heutigen Wahrnehmungsmodi, entsprechender Forschungsperspektive und Form der Darstellung - neu erfinden, wäre Benjamin Rechnung tragend gerade im Umgang mit dem von der NS-Propaganda als Volksschule begriffenen ‘ Theater der Hunderttausend ’ ins Gedächtnis zu rufen. Einen Anstoß hierzu gibt das eingangs genannte Re-enactment von Ligna, das durch die Verwendung neuer Medien hindurch den Ausblick auf das Reflexionspotenzial des Chores und die Möglichkeit eines nachträglichen undoing der volksgemeinschaftlichen Figur eröffnet. So geraten Aktionen wie Die Unterbrechung, die mit Benjamin korrespondierend Nachstellung als Entstellung begreifen, zu einer Art historiografischer pre-school for critical performance studies. Anmerkungen 1 Vgl. Roselt, Jens/ Otto, Ulf, Hg. Theater als Zeitmaschine. Zur performativen Praxis des Reenactments. Theater- und kulturwissenschaftliche Perspektive. Bielefeld, 2012. Siehe bereits Arns, Inke/ Horn, Gabriele, Hg. History Will Repeat Itself. Strategien des Reenactment in der zeitgenössischen (Medien-) Kunst und Performance. Berlin, 2007; Lüdeken, Sven, Hg. Life, once more. Forms of Reenactment in Contemporary Art. Rotterdam, 2005. 2 Fischer-Lichte, Erika. “ Die Wiederholung als Ereignis. Reenactment als Aneignung von Geschichte. ” Roselt/ Otto 2012, 13 - 52, hier S. 13; zum Reflexionspotenzial von Re-performances siehe in anderem Zusammenhang S. 49. 3 Vgl. hierzu auch Annuß, Evelyn. “ Public Movement. ” Maske & Kothurn 1 (2012): 31 - 46. 4 Auf der grünen Wiese wird es zunächst im Rahmen des von Patrick Primavesi organisierten play Leipzig Festivals 2010, dann für Hellerau 2012 neu adaptiert. Zu Ligna siehe auch Frahm, Ole/ Michaelsen, Torsten. “ Hört die anderen Wellen! Zur Verräumlichung der Stimme im Radio. ” Radio-Kultur und Hör- Kunst. Zwischen Avantgarde und Popularkultur 1923 - 2001. Hg. Andreas Stuhlmann, Würzburg, 2001. 39 - 61; “ LIGNA in conversation with Sandra Nöth. The Collective That Isn ’ t One. ” Emerging Bodies. The Performance of Worldmaking in Dance and Choreography. Hg. Gabriele Klein/ Sandra Nöth, Bielefeld, 2011, 61 - 72. 5 Zur Begriffskritik vgl. bereits das Standardwerk von Reichel, Peter. Der schöne Schein des Dritten Reiches. Faszination und Gewalt des Faschismus. Frankfurt a. M., 1993, 365. 6 Walter Benjamin. “ Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. ” (Erste und Dritte Fassung) Gesammelte Schriften. Bd. I.2 (Abhandlungen). Frankfurt a. M., 1991, 431 - 508, hier S. 467, 507. Zur kritischen Lektüre der benjaminschen Ästhetisierungsthese und ihres Nachlebens vgl. Rebentisch, Juliane. Die Kunst der Freiheit. Frankfurt a. M., 2012, 342 - 374. Zur Ästhetik der Zwischenkriegszeit vgl. Rossol, Nadine. Performing the Nation in Interwar Germany. Sports, Spectacle and Political Symbolism, 1926 - 1936. Basingstoke, 2010; Krammer, Stefan [et al.], Hg. Staat in Unordnung? Geschlechterperspektiven auf Deutschland und Österreich zwischen den Weltkriegen. Bielefeld, 2011. Zur Historisierung des Undarstellbarkeitstopos vgl. Buchenhorst, Ralph. Das Element des Nachlebens. Zum Argument der Undarstellbarkeit der Shoah in Philosophie, Kulturtheorie und Kunst. München, 2011; Didi-Huberman, Georges. Bilder trotz allem. München, 2007. 7 Dieser Vorschlag reiht sich ein in die gegenwärtige Diskussion um theater- und tanzhistoriografische Reperspektivierungen. Zur Theatergeschichtsschreibung vgl. etwa Hulfeld, Stephan. Theatergeschichtsschreibung 148 Evelyn Annuß als kulturelle Praxis. Wie Wissen über Theater entsteht. Zürich, 2007; Hulfeld, Stefan [et al.], Hg. Theaterhistoriographie. Kontinuitäten und Brüche in Theorie und Praxis. Tübingen, 2007; Lazardzig, Jan/ Tkaczyk, Victoria. Theaterhistoriografie. Eine Einführung. Tübingen/ Basel, 2012. Zur Tanzhistoriografie siehe die entsprechenden Themenhefte von Ästhetik und Kommunikation 146 (2009) und Forum Modernes Theater 1 (2008), hierin etwa Klein, Gabriele. “ Inventur der Tanzmoderne. Geschichtstheoretische Überlegungen zur tanzwissenschaftlichen Forschung. ” Forum Modernes Theater 1 (2008): 5 - 12; Thurner, Christina/ Wehren, Julia, Hg. Original und Revival. Geschichts- Schreibung im Tanz. Zürich, 2010. 8 So der Titel jener Aktion, mit der Ligna zunächst bekannt geworden ist und der in Hellerau wieder aufgegriffen wird. Zum Radioballett vgl. Eikels, Kai van. “ This Side of the Gathering. The Movement of Acting Collectively: Ligna ’ s Radioballet. ” Performance Research 13. 1 (2008): 85 - 98; “ Diesseits der Versammlung. Kollektives Handeln in Bewegung: Ligna, Radioballett. ” SCHWAR- MEMOTION. Bewegung zwischen Affekt und Masse. Hg. Gabriele Brandstetter [et al.], Freiburg i. Breisgau [etc.], 2007, 101 - 124. 9 Vgl. Müller, Hedwig/ Stöckemann, Patricia. “ . . .jeder Mensch ist ein Tänzer. ” Ausdruckstanz in Deutschland zwischen 1900 und 1945. Gießen, 1993, 164 - 167. Siehe auch Dörr, Evelyn. Rudolf Laban. Das choreographische Theater. Norderstedt, 2004, 448 - 468. Dies im Unterschied zu Hardt, Yvonne. Politische Körper. Ausdruckstanz, Choreographien des Protests und die Arbeiterkulturbewegung in der Weimarer Republik. Münster, 2004, 255. Zur Nationalisierung des Bewegungschors in den 1930er Jahren vgl. Baxmann, Inge. Mythos: Gemeinschaft. Körper- und Tanzkulturen in der Moderne. München, 2000. Hier v. a. S. 238 - 252. 10 Zur Kritik dieses gegenwärtig nicht zuletzt in vielen Re-enactments fortlebenden Partizipationsversprechens siehe im Anschluss an Theodor W. Adornos Ästhetische Theorie (Frankfurt a. M. 1973) Düttmann, Alexander García. Teilnahme. Bewusstsein des Scheins. Konstanz, 2011. Siehe auch Diedrich Diederichsens Polemik wider den “ Fetischismus der Lebendigkeit ” in Eigenblutdoping. Selbstverwertung, Künstlerromantik, Partizipation. Köln, 2008. V. a. S. 256 - 279, hier S. 279. 11 Vgl. als Gegenmodell Ulrike Hass ’ Lesart des antiken Chors als Figur des Schon-Da, die die Frage nach der Gattungszugehörigkeit im nicht-genealogischen Sinn stellt ( “ Woher kommt der Chor ” , Maske und Kothurn 1 (2012): 13 - 30, hier S. 19 - 20). 12 Zur entsprechenden politischen Bestimmung des Unterbrechens vgl. Lehmann, Hans- Thies. DAS POLITISCHE SCHREIBEN. Essays zu Theatertexten. Berlin, 2002, 11 - 21. Implizit greift diese Bestimmung auf die Gedankenfigur des Zitats als Unterbrechung in der benjaminschen Lesart des epischen Theaters zurück; vgl. Benjamin, Walter. “ Was ist das epische Theater (2). ” Gesammelte Schriften. Bd. II.2 (Aufsätze, Essays, Vorträge), a. a. O., 532 - 539, hier S. 534. 13 Göbbels (sic), Josef. “ Aus der Rede an die deutschen Theaterleiter. ” Das moderne völkische Drama. Grundsätzliches und Proben. Bearbeitet von Konrad Lindemann. Würzburg, 1934, 34 - 51, hier S. 50. Vollständig abgedruckt in der Festnummer des Theater- Tageblatts: Der Weg zum deutschen Nationaltheater vom 10. Juni 1933 anlässlich des fünfjährigen Bestehens, 50 - 54, hier S. 54. 14 Vgl. “ Die Intendanten bei Dr. Goebbels. Politische Voraussetzungen des Deutschen Nationaltheaters. ” Theater-Tageblatt 10. Mai 1933, 1 - 2. In einer anschließenden Rede erklärt der Preussische Ministerpräsident Göring, dass er das Gesetz über das Berufsbeamtentum auf staatliche und kommunale Theater beziehen wird. Bereits am 4. März meldet das Theater-Tageblatt ein erstes Theaterverbot gegen die kommunistische “ Truppe 1931 ” auf Grundlage der Ende Februar erlassenen “ Verordnung zum Schutze von Volk und Staat ” (Theater-Tageblatt vom 4. März 1933, 2). Am Tag von Goebbels ’ Rede wird das Theater-Tageblatt gleichgeschaltet (Theater-Tageblatt vom 8. Mai 1933, 1). Zum Wortlaut des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 149 Das Theater der Hunderttausend historisieren siehe http: / / www.documentarchiv.de/ ns/ beamtenges.html (12. Oktober 2012). 15 Reinhardt, Max. “ Das Theater der Fünftausend. ” [1911] Ich bin nichts als ein Theatermann. Briefe, Reden, Aufsätze, Interviews, Gespräche, Auszüge aus Regiebüchern. Hg. Hugo Fetting, Berlin, 1989, 446 - 447. 16 Zur Gleichschaltungsgeschichte des Freilichtspiels vgl. Dultz, Michael. “ Der Aufbau der nationalsozialistischen Thingspielorganisation 1933/ 34. ” Massenspiele. NS-Thingspiel, Arbeiterweihespiel und olympisches Zeremoniell. Hg. Henning Eichberg [et al.], Stuttgart, 1977, 203 - 212; Rischbieter, Henning. “ NS-Theaterpolitik als Prozeß. ” Theater im “ Dritten Reich ” , Theaterpolitik - Spielplanstruktur - NS-Dramatik. Hg. ders. Seelze-Velber, 2000. 34 - 41; Stommer, Rainer. Die inszenierte Volksgemeinschaft. Die “ Thing-Bewegung ” im Dritten Reich. Marburg, 1985, 23 - 48. 17 Laubinger, Otto. “ Deutsche Freilichtbühnen. ” Rede zur Eröffnung der Ausstellung “ Deutsche Freilichtbühnen ” in Köln am 7. Juli 1933. Theater-Tageblatt 1218/ 19 vom 7. Juli 1933, 3 - 5. Wiederabdruck in Theater von A-Z. Handbuch des deutschen Theaterwesens. Herausgegeben von den Schriftleitern des Theatertageblatts. Archiv-Ausgabe, Berlin, 1934, Xid1, Bl. 1 - 8, hier Bl. 2. 18 “ Deutsche Festspiele 1934. Otto Laubingers Programmrede. ” Theater-Tageblatt 1347/ 48 vom 25. Januar 1934, 1 - 8, hier S. 8. Wiederabdruck in Theater von A-Z. 1934, XId2, Bl. 1 - 23, hier Bl. 23. 19 Ebd. 20 Ebd. 21 Zum Freilufttheater im Nationalsozialismus vgl. neben den genannten Standardwerken von Eichberg [et al.] 1977, Rischbieter 2000, und Stommer 1985, etwa Dücker, Burckhard. “ Das Thingspiel - eine nationalsozialistische Literaturform zwischen Theatralität und Ritualität. ” Nichts als die Schönheit. Ästhetischer Konservatismus um 1900. Hg. Jan Andres, Frankfurt a. M., 2007, 242 - 289; Fischer- Lichte, Erika. Theatre, Sacrifice, Ritual. Exploring Forms of Political Theatre. London, 2005, 122 - 158; Fischer-Lichte, Erika. “ Tod und Wiedergeburt - Zur Verklärung der Volksgemeinschaft in Thingspielen und nationalsozialistischen Feiern. ” Körper im Nationalsozialismus. Hg. Paula Diehl, München, 2006, 191 - 210; Strobl, Gerwin. The Swastika and the Stage. German Theatre and Society, 1933 - 1945. Cambridge, 2007, 65 - 88. 22 Vgl. Goes, Gustav. “ Vom Stadionzum Thingspiel. ” Bausteine zum deutschen Nationaltheater 3. 1935, 141 - 144. 23 Zur Begriffsprägung durch den Kölner Theaterwissenschaftler Carl Niessen vgl. u. a. Dultz 1977. 214, und Dücker 2007. 251 - 257. 24 So Arendt, Hannah. Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. München/ Zürich, 1986, 571. 25 Zur Verordnung vom 23. Oktober 1935 vgl. Lurz, Meinhold. Die Heidelberger Thingstätte. Die Thingbewegung im Dritten Reich: Kunst als Mittel politischer Propaganda. Heidelberg, 1975, 40. 26 Vgl. Goebbels ’ Verordnung in Das Deutsche Volksspiel. Blätter für Jugendspiel, Brauchtum und Sprechchor, Volkstanz, Fest- und Freizeitgestaltung. 1936, 220; zur Rolle des Sprechchorverbots siehe bereits Annuß, Evelyn. “ Inszenierungen des Kollektivsubjekts im Thingspiel. ” Theater und Subjektkonstitution. Theatrale Praktiken zwischen Affirmation und Subversion. Hg. Friedemann Kreuder [et al.], Bielefeld, 2012, 507 - 517. 27 Vgl. den Nachlass Hanns Niedecken-Gebhards, Theaterwissenschaftliche Sammlung, Universität zu Köln, Box 3; siehe hierzu auch Helmich, Bernhard. Händel-Fest und “ Spiel der 10.000 ” . Der Regisseur Hanns Niedecken-Gebhard. Frankfurt a. M., 1989, 213 - 217. 28 Vgl. die als Katalog zum 775. Geburtstag Berlins konzipierte Veröffentlichung von Krijn Thijs, die allerdings die Bedeutung von Niedecken-Gebhards Inszenierung unterschätzt und von Oberbürgermeister Julius Lippert organisierte 700-Jahrfeier nur als lokale Veranstaltung liest (Thijs, Krijn. Party, Pomp und Propaganda. Die Berliner Stadtjubiläen 1937 und 1987. Berlin, 2012, 15 - 41, hier v. a. S. 18). Zur 700-Jahrfeier siehe bereits Thijs, Krijn. Drei Geschichten. 150 Evelyn Annuß Berlin, 2007, 71 - 93; zur Rolle Berlins vgl. S. 83. 29 Vgl. Hitlers Verordnung über die Gestaltung des Hoheitszeichens des Reichs vom 7. März 1936, veröffentlicht im Reichsgesetz I am 11. März 1936, S. 145; Wiederabdruck in Sösemann, Bernd. Propaganda. Medien und Öffentlichkeit in der NS-Diktatur. Stuttgart, 2011. 386 (Dok. 323); http: / / www.documentarchiv.de/ ns/ 1936/ hoheitszeichen-reichgestalt_vo.html (12. Oktober 2012). 30 In der Forschungsliteratur wird immer wieder fälschlicherweise Niedecken-Gebhard als Schüler Labans dargestellt. Zutreffend allerdings ist, dass Niedecken-Gebhards Arbeit maßgeblich vom Ausdruckstanz beeinflusst ist, wie sich bereits an seinen bewegungschorischen Inszenierungen von Händels Oratorien in den 1920er Jahren und der Zusammenarbeit mit dem 1933 im Gegensatz zu Niedecken und Laban emigrierten Choreografen Kurt Jooss nachzeichnen lässt; vgl. zuletzt Jahrmärker, Manuela. “ Händel- Renaissance - Händel-Renaissancen. ” Das Händel-Handbuch. Hg. Arnold Jacobshagen/ Panja Mücke, hrsg.v. Hans Joachim Marx, Bd. 2 (Händels Opern, Teilbd. 1), Laaber, 2009, 408 - 422, hier S. 412. Zu Kurt Jooss vgl. Hardt 2004, 172 - 201. 31 Vgl. Ketelsen, Uwe-Karsten. “ Theater - Hörspiel - Thingspiel. Versuch eines medialen crossing over im Theater der frühen dreißiger Jahre. ” Literatur intermedial. Paradigmenwechsel zwischen 1918 und 1968. Hg. Wolf Gerhard Schmidt/ Thorsten Valk, Berlin/ New York, 2009, 247 - 266. 32 Benjamin 1991, 469. 33 Kracauer, Siegfried. “ Das Ornament der Masse [1927]. ” Das Ornament der Masse. Hg. ders. Frankfurt a. M., 1977, 50 - 63, hier S. 61. 34 Vgl. Döhl, Reinhard. Das Hörspiel zur NS- Zeit. Darmstadt, 1992, 51 - 54; und Ketelsen 2009. 35 Vgl. auch die kommentierte Fassung in Domarus, Max. Hitler. Reden und Proklamationen 1932 - 1945. Bd. 1 (Triumph), Halbbd. 2 (1935 - 1938), Wiesbaden, 1973, 892 - 894. 36 Vgl. v. a. den Auftritt des Reichsarbeitsdienstes während des 1938er Parteitags: Kerrl, Hans, Hg. Reichstagung in Nürnberg 1938. Der Parteitag Großdeutschland. Bearbeitet von Kurt Maßmann, Berlin, 1939, 94 - 95. Zur Entwicklung der Reichspartteitagsregie siehe auch Markus Urban, Die Konsensfabrik. Funktion und Wahrnehmung der Reichsparteitage 1933 - 1941. Göttingen, 2007. Zur These von der Präfiguration der späteren Nürnberger Inszenierungen durch das Thingspiel siehe auch Hiß, Guido. Synthetische Visionen. Theater als Gesamtkunstwerk von 1800 bis 2000. München, 2005, 164. 37 Das zeugt von seinem liturgischen Erbe, das seine nationalsozialistische Verwendung vom agitatorischen Einsatz der kommunistischen Sprechchorbewegung unterscheidet. Dies im Unterschied etwa zu Eichberg, Henning. “ Thing-, Fest- und Weihespiele im Nationalsozialismus, Arbeiterkultur und Olympismus. Zur Geschichte des politischen Verhaltens in der Epoche des Faschismus. ” Eichberg 1977, 19 - 180. Zur Kritik seiner totalitarismustheoretisch bestimmten These von der Strukturähnlichkeit nationalsozialistischer und proletarischer Massenspiele siehe bereits Warstat, Matthias. Theatrale Gemeinschaften. Zur Festkultur der Arbeiterbewegung 1918 - 33. Tübingen/ Basel, 2005, 380 - 381. 38 Benjamin 1991, 469. 39 Niedecken-Gebhard, Hanns. “ Die Gesamtgestaltung des Festspiels Olympische Jugend. ” Olympische Jugend. Festspiel zur Aufführung im Olympia-Stadion am Eröffnungstage der XI. Olympischen Spiele in Berlin. (Programmheft), Berlin, 1936, 31 - 32, hier S. 31. 40 Zur Rolle der Medien im Kontext der Olympischen Spiele vgl. Eckhardt, Franck. “ Olympia im Zeichen der Propaganda. Wie das NS- Regime 1936 die ersten Medienspiele inszenierte. ” Medien im Nationalsozialismus. Hg. Bernd Heidenreich/ Sönke Neitzel, Paderborn, 2010, 234 - 251. 41 Ketelsen 2009. 263. 42 Zur Infragestellung bestimmter Darstellungsregister mit dem Umbruch zum Tonfilm vgl. Steiner, Ines. “ The voice behind the curtain. Zur Inszenierung der Stimme in Singin ’ in the Rain. ” Medien/ Stimmen. Hg. 151 Das Theater der Hunderttausend historisieren Cornelia Epping-Jäger/ Erika Linz, Köln, 2003, 176 - 208, hier S. 178. 43 Zum Zitat von Fritz Langs Nibelungen vgl. Kracauer, Siegfried. “ Nationales Epos. ” Von Caligari bis Hitler. Hg. ders., Hamburg, 1958. 264 - 287, hier S. 287. Siehe daran anknüpfend die auf den deutschen Film verkürzte Studie von Bartetzko, Dieter. Illusionen in Stein. Stimmungsarchitektur im deutschen Faschismus. Ihre Vorgeschichte in Theater- und Filmbauten. Reinbek bei Hamburg, 1985; zu Fritz Lang S. 243 - 272. 44 Rentschler, Eric. The Ministry of Illusion. Nazi Cinema and its Afterlife. Cambridge (USA), 1996, 22. 45 Vgl. aus etwas anderer Perspektive bereits Witte, Karsten. “ Gehemmte Schaulust. Momente des deutschen Revuefilms. ” Wir tanzen um die Welt. Deutsche Revuefilme 1933 - 1945. Hg. Helga Belach, München, 1979, 7 - 52. 46 Vgl. Niedecken-Gebhard, Hanns. “ Der Tanz und die Bühne. ” Jahrbuch des Preussischen Theaters. Leipzig, 1925, 41 - 43, hier S. 43. 47 Der Formwandel kann auch als Zugeständnis des NS-Regimes an das Unterhaltungsbedürfnis des Publikums gelesen werden; vgl. im allgemeinen Zusammenhang die entsprechende These von Bussemer, Thymian. Propaganda und Populärkultur. Konstruierte Erlebniswelten im Nationalsozialismus. Wiesbaden, 2000, 79. 48 Siehe den Nachlass Niedecken Gebhards in der Kölner Theaterwissenschaftlichen Sammlung, Box 6. Dass diese Inszenierung nicht zustande kommt, ist offenkundig weniger Niedecken-Gebhards Vergangenheit als seiner fehlenden Vernetzung in Köln geschuldet; vgl. bereits Kirschner, Thomas. “ Ein Thingspiel zum Stadtjubiläum? Die Wurzeln des Kölner Jubiläumsfestspiels 1950. ” Köln in den 50er Jahren. Zwischen Tradition und Modernisierung. Hg. Jost Dülffer, Köln, 2001, 251 - 260. 49 Zum Statuswandel von Propaganda in hochmodernen Gesellschaften und der praxeologischen Revision der Persuasionsforschung vgl. Bussemer, Thymian. Propaganda. Konzepte und Theorien. Mit einem Vorwort von Peter Glotz. Wiesbaden, 2005, 392 - 404. 50 Vgl. Hausmann, Frank-Rutger. “ Theaterwissenschaft. ” Die Geisteswissenschaften im “ Dritten Reich ” . Hg. ders., Frankfurt a. M., 2011, 646 - 656, hier S. 648. Der Historismuskritik war vor dem Hintergrund des nationalsozialistischen Erbes der deutschen Theaterwissenschaft auch Ulrike Hass ’ bislang unpublizierter Vortrag Historismus und Gegenwartsfisxierung in der deutschsprachigen Theaterwissenschaft des 20. Jahrhunderts gewidmet, den sie im Rahmen des Symposions NSals Mediengeschichte am 1. Februar 2012 in Bochum gehalten hat. Zur Geschichte der Theaterwissenschaft siehe außerdem Englhart, Andreas. “ Theaterwissenschaft. ” Kulturwissenschaften und Nationalsozialismus. Hg. Jürgen Elvert/ Jürgen Nielsen-Sikora, Stuttgart, 2008, 863 - 898; Hulfeld, Stefan/ Peter, Birgit, Hg. Theater/ Wissenschaft im 20. Jahrhundert. Wien, 2009. (= Maske & Kothurn 1 - 2 (2009).) 51 Benjamin, Walter. “ Über den Begriff der Geschichte. ” Gesammelte Schriften. Bd. I.2 (Abhandlungen). Frankfurt a. M., 1991, 691 - 704, hier S. 702. 152 Evelyn Annuß