eJournals Forum Modernes Theater 30/1-2

Forum Modernes Theater
0930-5874
2196-3517
Narr Verlag Tübingen
10.2357/FMTh-2015-0016
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2019
301-2 Balme

Christoph Nix. Theater_Macht_Politk. Zur Situation des deutschsprachigen Theaters im 21. Jahrhundert (Reihe Recherchen 126). Berlin: Verlag Theater der Zeit 2016, 230 Seiten.

2019
Daniele Daude
gen stellt, zu denen diejenigen nicht ausgebildeter, nicht trainierter oder eben älterer Tänzer*innen gehören. Den Abschluss des Kapitels bilden Tamotsu Watanabes in die Metapher der Blume gekleidete Ausführungen über die Schönheit, mentale Stärke und Präzision des Ausdrucks, die im klassischen japanischen Tanz erst das hohe Alter zum Erblühen bringen. Rubriziert unter der Überschrift „ Alternative danceability: dis/ ability and Euro-American performance “ geben die folgenden Texte den altersbedingten Andersbegabungen eine zusätzliche Wendung und markieren dabei die diskursive Nähe zu den Disability Studies. Der alte Körper bewirkt ebenso wie der Körper mit Behinderung eine Unterbrechung des Regelhaften. Er topediert tradierte Normen und Maßstäbe, die Instrumente der Distinktion sind. Sie entscheiden über Inklusion und Exklusion, und in diesem Sinn verhandeln die Texte von Ann Cooper Albright, Jess Curtis oder Kaite O ’ Reilly nicht bloß die künstlerisch-ästhetischen Potenziale anders befähigter Körper. Sie setzen sich vielmehr für eine politisch motivierte Neuaufteilung des Sinnlichen ein, die auf nicht weniger zielt als die Anerkennung des für alle gültigen Rechts auf Zugang zu theatralem (und gesellschaftlichem) Repräsentiertsein. Die Sichtbarmachung von Verdrängtem umkreist auch eine Inszenierung Romeo Castelluccis, mit der sich Susanne Foellmer befasst. Hier begegnet Alter(n) indes als der reale Verlust von Souveränität und körperlicher Kontrolliertheit. Auf der Bühne agiert ein hilfebedürftiger Mensch, der im Versagen seiner Selbstbeherrschung zur Herausforderung für sich selbst, seine im Stück dargestellte Umgebung, aber auch die Wahrnehmungsgewohnheiten des Theaterpublikums wird. Die beiden letzten Kapitel, „ Aging and body politics in contemporary dance “ und „ Perspectives of interweaving “ , variieren verschiedene Überlegungen und führen sie in neue Richtungen: Petra Küppers berichtet anhand ihrer eigenen Arbeit z. B. in Hospizen von den Möglichkeiten eines Tanzes, der künstlerische Zusammenhänge verlässt, um sich in den Dienst konkreter individueller oder kommunaler Bedürfnisse zu stellen. Kikuko Toyama beschäftigt sich mit der Frage, was Tänzer*innen von Menschen mit gealterten Körpern lernen können, vor allem von ihrem differenten Zeiterleben, dem eingeschränkten Vermögen ihrer Sinnesorgane oder Mobilität. Und vor dem Hintergrund später Auftritte von Martha Graham oder Merce Cunningham widmet sich wiederum Mark Franko der Mobilität, welche im Verhältnis zum Rest des Körpers nur die Hände und Arme zu bewahren wissen und daher eine Widerständigkeit gegen das Altern bergen. Selbstverständlich kann der Sammelband nicht alle Forschungsdesiderate abdecken. Er leistet jedoch einen signifikanten Beitrag zu Fragestellungen, die nicht nur den Tanz (oder die Performance und das Schauspiel) angehen. Das Problem, dass der alternde Körper aus der Sphäre der Fähigkeiten und Tätigkeiten herausgekürzt wird, reicht deutlich weiter; aufgrund demografischen Wandels betreffen diese Kürzungen immer mehr Menschen. Wie dieses Buch zeigt, verhält sich der Tanz hierzu - mit kritischen, pragmatischen, auch utopischen Ansätzen. Man möchte sich nach der Lektüre eine Ausweitung der gewählten transkulturellen Perspektive wünschen. Und dass der Tanz nicht müde wird, die historischen Bedingungen der Unterscheidung von Können und Nicht-(mehr-)Können sowie deren anhaltende Reproduktionen zu destabilisieren und zu reformulieren. Berlin S ANDRA U MATHUM Christoph Nix. Theater_Macht_Politk. Zur Situation des deutschsprachigen Theaters im 21. Jahrhundert (Reihe Recherchen 126). Berlin: Verlag Theater der Zeit 2016, 230 Seiten. Christoph Nix, seit 2006 Intendant des Konstanzer Schauspielhauses, ist keine unbekannte Persönlichkeit der deutschsprachigen Theaterlandschaft. Bereits in den 1990er Jahren des letzten Jahrhunderts publizierte der promovierte Jurist Essays und Artikel zu den ökonomischen und kulturpolitischen Hintergründen des Theaterbetriebs, in denen er auch die spezifischen Rechtsfragen behandelte. 1 Forum Modernes Theater, 30/ 1-2 (2015 [2019]), 194 - 196. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.2357/ FMTh-2015-0015 194 Rezensionen Theater_Macht_Politik. Zur Situation des deutschsprachigen Theaters im 21. Jahrhundert basiert auf seiner Dissertation in diesem Themenfeld. Dabei liegt die Besonderheit dieser Arbeit weniger in der Thematik ‚ Politik und Theater ‘ , welche in den letzten Jahrzehnten bereits zum Gegenstand zahlreicher Untersuchungen wurde, als vielmehr in einem interdisziplinären Ansatz, der philosophische und theaterwissenschaftliche Theorien einerseits mit Methoden der empirischen Sozialforschung andererseits verbindet. Theater und Politik In den letzten Jahrzehnten lässt sich ein wachsendes Interesse am Forschungsgegenstand ‚ Theater und Politik ‘ beobachten. 2 Über die Bestimmung dessen, was unter ‚ politisch ‘ verstanden werden soll, herrscht in den Theaterwissenschaften allerdings keine Einmütigkeit. Ausgehend von unterschiedlichen Auffassungen des Politischen fallen nicht nur Forschungsgegenstände, sondern auch methodische Ansätze und theoretische Hintergründe äußerst unterschiedlich aus. Anstelle einer ausführlichen Darstellung dessen, was dann politisches Theater sei, beschränkt sich der Autor auf drei Tendenzen des aktuellen Forschungskontexts. In der ersten Auffassung stellt die Benennung ‚ Politisches Theater ‘ eine Tautologie dar. Hier wird Theater sowohl als Ergebnis als auch als Anreger von Ereignissen innerhalb der Polis erfasst. Das Politische wird folgerichtig nicht an den Inhalten eines Theaterstückes festgemacht, sondern an der Aufführungssituation selbst, innerhalb derer Affekte und Emotionen zwischen Akteur*innen und Zuschauer*innen verhandelt werden. Diese Definition fußt wiederum auf einem historisch gewachsenen Verständnis von Theater als einem wirksamen Ort zur Aushandlung von Intersubjektivität. Für Aristoteles etwa ermögliche die Tragödie die Reinigung von Affekten durch die Katharsis, für Augustinus sei Theater durch die ‚ Schaustellungen von Schändlichkeiten ‘ moralisch höchst verwerflich, während Schiller im Betrieb einer Schaubühne Möglichkeiten der sittlichen Bildung der Bürger sieht. Als die Avantgarden des 20. Jahrhunderts neue dramatische Formen und Themen hervorbrachten, wurde eine Reflexion über die Wirkung von Theater angestoßen und auf neue Inhalte bezogen. Eine zweite und engere Auffassung des Politischen Theaters stellt daher heraus, wie zeitgenössische Themen und Bezüge in Dramen und Inszenierungen aufgenommen und szenisch verarbeiten werden. In der dritten Auffassung werden Politik und Theater von struktureller Ebene aus erfasst. Während ‚ Politik ‘ metonymisch für Staatspolitik gilt, wird ‚ Theater ‘ als Institution (Theaterbetrieb) innerhalb einer umfassenden regionalen und nationalen Kulturpolitik aufgefasst. Nix beruft sich auf alle drei Auffassungen des Politischen. Dabei setzt er erstens eine transformative Kraft des Theaters voraus, zweitens sieht er „ revolutionäre “ Autor*innen der 1968er Jahre als Paradigma für ein Politisches Theater an, und drittens übt er eine ausführliche Kritik am bestehenden Theaterbetrieb und der herrschenden Kulturpolitik. Das Forschungsinteresse liegt dabei insbesondere auf dem Politischen im Sinne von Staatspolitik im Verhältnis zu Theater als Institution. Politik wird hier im Sinne der modernen Politikwissenschaften sowohl in ihrer institutionellen (soziales Handeln von Individuen und Organisationen), sowie in ihrer prozesshaften Dimension verstanden. Als politisch soll der Prozess begriffen werden, in dem sich eine Gesellschaft befindet, die unaufhörlich damit beschäftigt ist, die Frage der Macht zu verhandeln. Politik stellt die diskursive Arbeit und die Lust der Subjekte an der Polis dar, innerhalb eines Systems, dessen selbst gesetzte Normen entweder zu bestätigen oder subversiv in Frage zu stellen (S. 19). Der Theaterbetrieb unter der Lupe Ausgehend von der These, dass Theater entpolitisiert wird, untersucht Nix die Faktoren und Akteur*innen dieser Entpolitisierung seit den 1960er Jahren. Das Ziel besteht darin, zu „ wissen, wie im Verhältnis von Theater, Recht und Politik der neoliberale Einfluss gewirkt haben wird “ (S. 12). Die „ Entpolitisierung des Theaters “ wird dabei als Teilprozess einer globalen „ Entpolitisierung der Gesellschaft “ begriffen, in 195 Rezensionen dem staatliche Strukturen - im Sinne aller - systematisch abgebaut werden, während privatwirtschaftliche Interessen - im Sinne einer kleinen Gruppe - zu entscheidenden Akteuren der aktuellen neoliberalen Gesellschaft avancieren (S. 17). In dieser Hinsicht stellt Nix ’ Kritik am Theaterbetrieb eine Kritik am Kulturbetrieb und generell an der jahrzehntelangen, neoliberalen Kulturpolitik im deutschsprachigen Raum dar. Die Abhandlung ist fünfteilig aufgebaut. Im ersten Teil werden anhand einer kurzen historischen Darstellung des bürgerlichen Theaters die tiefen Wurzeln der Entpolitisierung von Theater umrissen (S. 26 - 49). Ihm folgt ein theoretischer Teil, in dem u. a. der juristische Kunstbegriff, die Tarifverträge und die relevanten Elemente von Sozialstaatstheorien dargelegt werden. Ziel ist dabei, „ das Verhältnis von Sozial- und Kulturstaat als Ausdruck des Politischen “ (S. 50) zu untersuchen (S. 50 - 92). Es folgt eine soziologische und kulturwissenschaftliche Analyse der Akteur*innen eines Theaterbetriebs (S. 93 - 135). Aus theaterwissenschaftlicher Perspektive stellt zweifelsohne die empirische Untersuchung ein erkenntnisreiches Kapitel dar (S. 136 - 178). Anhand von Statistik und Fragebögen, wird der Einfluss der Akteur*innen und insbesondere der Intendanten am politischen Geschehen ersichtlich. Schlusswort Nix ’ s Abhandlung bietet eine einsichtige Einführung in die aktuellen Problematiken des Theaterbetriebs sowie eine dokumentierte Kritik an deren Einflusspersonen an. Aufbaufähig ist allerdings die Verortung der eigenen Publikation im theaterwissenschaftlichen Kontext, da zum Forschungs-gegenstand ‚ Theater und Politik ‘ bereits einige Erkenntnisse vorliegen. Problematisch ist weiterhin, dass die bereits formulierten Kritiken von Theaterschaffenden und Theaterwissenschaftler*innen am Theaterbetrieb schlicht ignoriert wurden - u. a. etwa das Symposium „ Blackface, Whiteness and the Power of Definition in German Contemporary Theater “ in Berlin 2012 oder die Konferenz „ Mind the Trap! “ in Berlin 2014. Im Kern verweist die Frage nach dem Politischen im Theater auf die grundlegende Problematik der gesellschaftlichen Stellung von Theater als Unterhaltung der herrschenden Klasse einerseits und als potentiell subversive Kraft der Unterdrückten andererseits. Bei Nix wird in Hinsicht auf diesen Interessenkonflikt eine gewisse Leidenschaft immer wieder erkennbar. Diese ist wiederum nötig zur Umsetzung einer Utopie für das Theater. Berlin D ANIELE D AUDE Anmerkungen 1 Christoph Nix, Das Theater und das Geld. Beiträge zu einer mühseligen Debatte (Edition Theater und Kritik, Bd. 1, Gießen 1997; Christoph Nix, Das Theater und der Markt. Beiträge zu einer lasterhaften Debatte (Edition Theater und Kritik, Bd. 2), Gießen 1999; Christoph Nix, Das Theater und sein Erfolg. Beiträge zu einer endlosen Debatte, Gießen 2004; Christoph Nix, Einführung in das Bühnenrecht für junge Schauspielerinnen und Schauspieler, Hannover 2006; Christoph Nix, Hanns Kurz und Beate Kehrl (Hg.), Praxishandbuch Theater- und Kulturveranstaltung, München 2015. 2 Friedemann Kreuder (Hg.), Politik mit dem Körper. Performative Praktiken in Theater, Medien und Alltagskultur seit 1968, Bielefeld 2009; Hans-Thies Lehmann, Das Politische Schreiben. Essays zu Theatertexten (Reihe Recherchen 12), Berlin 2002; Knut Lennartz, Theater, Künstler und die Politik. 150 Jahre Deutscher Bühnenverein, Berlin 1996; Nikolaus Müller-Scholl et al. (Hg.), Performing Politics. Politisch Kunst machen nach dem 20 Jahrhundert (Reihe Recherchen 92), Berlin 2010; Wolfgang Schneider (Hg.), Theater entwickeln und planen. Kulturpolitischen Konzeptionen zur Reform der darstellenden Künste, Bielefeld 2013; Angelika Siegburg et al. (Hg), Politisch Theater machen. Neue Artikulationsformen des Politischen in den darstellenden Künsten, Bielefeld 2011; Matthias Warstat et al. (Hg.), Applied Theater. Rahmen und Position (Reihe Recherchen 129), Berlin 2017. 196 Rezensionen