eJournals Forum Modernes Theater 30/1-2

Forum Modernes Theater
0930-5874
2196-3517
Narr Verlag Tübingen
10.2357/FMTh-2015-0011
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2019
301-2 Balme

„Religion spielen“ auf der Bühne der Geschichte

2019
Jürgen Mohn
„ Religion spielen “ auf der Bühne der Geschichte - Reenacting Religion in der Französischen Revolution Jürgen Mohn (Basel) The paper discusses how a ‘ national game ’ ( ‘ jeu national ’ ) of the French Revolution can be regarded as a re-enactment of religion and may help to establish a new religious form. Based on Rousseau's theory of the Contrat Social, the paper examines the so-called Jeu de l'oie (Game of the Goose) as a revolution game by analysing its semiotic and performative character. It argues that the popular Game of the Goose, which was adapted by the printer Basset in 1791, serves as an early mass medium to educate and manipulate the players by putting the events that led to the Revolution in a teleological order, and stages the French Revolution as a Salvation History. Religion und Revolution im Spiel Ein allgemeines Klischee besagt, die Französische Revolution sei ein politisches Ereignis und als solches ein entschiedener Schritt auf dem Weg zur Säkularisierung und zur französischen Laizität, eine Absetzung und Befreiung von Religion. Das hier als Quelle der Religionssemantik der Französischen Revolution vorzustellende Revolutionsspiel (Abb. 1) besagt das Gegenteil: Religion wurde umgeschrieben, semantisch und symbolischbildlich neu besetzt, als revolutionäre Religion neu erfunden und symbolisch ausformuliert. Die anvisierte neue Gesellschaft und deren Verfassung, ihre Semantik und ihr Geschichtsverständnis haben Religion nicht hinter sich gelassen, sondern versuchten, sie neu zu erfinden und den Zielen der Revolution dienstbar zu gestalten: als Revolutionsreligion. 1 In dem Revolutionsspiel aus dem vierten Quartal des Jahres 1791 wurde Religion ‚ gespielt ‘ . Aber dieses Spiel ist nur einer von mehreren und durchaus unterschiedlichen bis widersprüchlichen Versuchen, Religion in die Gründung der neuen Gesellschaft legitimierend einzubauen. Der Titel wirft daher auch eine religionstheoretische Frage auf: Was kann Religion mit Spielen gemein haben? Kann Religion gespielt oder gar erspielt werden? In einem ‚ spielerischen ‘ Ritual oder rituellen Spiel sicherlich - aber in einem bürgerlichen Spiel, auf einem Spielblatt der populären Druckgraphik während der ersten Jahre der Französischen Revolution? Kann ‚ bürgerliches ‘ Spielen zur Etablierung einer neuen, nicht fiktiven Religionsform beitragen, die der Französischen Revolution adäquat ist und zu ihrer performativen Legitimation beiträgt? Kann Spielen zur Konstituierung von Religion beitragen? In dem die Revolutionszeit begleitenden Konglomerat von Ereignissen und Vorstellungen, in ihren paradigmatischen Abfolgen und semantischen Entwicklungen, ihren Widersprüchlichkeiten und partiellen Konsistenzen kann das folgende Beispiel eines bürgerlichen Brettspiels, dessen massenhaft hergestellten Spielblätter zwar große Verbreitung während der ersten Revolutionsjahre fanden, trotzdem nur einen kleinen Einblick in den durchaus widersprüchlichen und komplexen Umgang dieser frühen Phase der Revolution mit Religion verschaffen. In erster Linie verweist die Verwendung des Begriffs ‚ Religion ‘ auch in dieser Zeit auf partikulare Religionen wie die christlichen Forum Modernes Theater, 30/ 1-2 (2015 [2019]), 141 - 161. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.2357/ FMTh-2015-0011 Konfessionen, das Judentum und insbesondere auf die katholische Kirche in Frankreich oder auf philosophische Konzepte einer deistischen oder natürlichen Religion, zudem wurde der Begriff auch auf die antiken Religionen und den Islam übertragen. Wichtiger für die spezifischen Religionskonzepte der Französischen Revolution war jedoch der Contrat social von Jean-Jacques Rousseau aus dem Jahr 1762, der eine eigene Differenzierung von drei bestehenden Religionsformen sowie eine vierte, noch zu verwirklichende Religionsform entwickelte, die er unter dem Begriff einer ‚ Religion des Bürgers ‘ , einer Religion civile, zur Diskussion stellte und die er insbesondere im durchaus funktionalen Sinne zur Umsetzung seines Gesellschaftsvertrages empfahl. 2 Genauso wie das vorzustellende und zu interpretierende Spielblatt nur einen partiellen Einblick in die religionsbezogenen Entwicklungen und Ereignisse während der Revolutionsjahre erlaubt, soll auch in Bezug auf das revolutionäre Religionsverständnis und dessen Entwicklungen ein einziger, aber wesentlicher Aspekt herausgegriffen werden: der der Zivilreligion von Jean-Jacques Rousseau. Denn in das zu interpretierende Revolutionsspiel wurde durch seine Erfinder, insbesondere durch den Drucker Basset, 3 das Religions-Konzept von Rousseau geradezu eingeprägt, so dass das Spiel als eine Aufführung zivilreligiöser Elemente im Sinne Rousseaus interpretiert werden kann. Erst in diesem Spiel erfährt das Religionskonzept von Rousseau eine intrinsische Neubzw. Erstinszenierung: ein Reenacting. Im spielerischen Erzählen des ereignisbezogenen Geschichtsverlaufs von der Knechtung der Menschen bis zur Abb. 1: Gesamtspielblatt des Revolutionsspiels, I. N. R.P/ Musee National de l'Education, Rouen (651601 1979 26375), Jeu national et instructif, Anonyme, Edit. Basset, Paris vers 1792. 142 Jürgen Mohn neuen Verfassung wird eine in die Revolutionsverfassung mündende Abfolge von prägenden Ereignissen, Epochen, Personen und Vorstellungen bzw. begrifflich verdichteten Konzepten nicht nur erzählt und semantisiert, sondern diese werden zur wiederholenden Aufführung im Spielen einander zugeordnet und zur Orientierung des Spielers sinnstiftend aufbereitet. Das Revolutionsspiel ist daher, so soll gezeigt werden, zugleich Reflexion und Performanz einer neuen Religion, ist die Einsetzung der Rousseau ’ schen Zivilreligion, die im Spiel inszeniert und memorierend eingeübt werden kann. In der Kontroverse um Entchristianisierung 4 , der Inaugurierung eines Kultes der Vernunft und später der Verehrung und des Festes eines höheren Wesens (Être supreme) wurde bislang der populäre ‚ spielerische ‘ Charakter bei der Verbreitung einer religiösen Revolutionssemantik durch Spielblätter, in denen der Religionsbegriff positiv adaptiert wurde und die in der Wirkungsgeschichte der Religion civile von Rousseau zu sehen sind, vernachlässigt. ‚ Religion spielen ‘ ist eine Tätigkeit, ein Vergnügen auch, das den eher ernsthaften Charakter von Religion zwar zu unterlaufen scheint, bei der Ausbildung eines revolutionären Religionsdiskurses und dessen Popularisierung in der Bevölkerung aber durchaus eine ‚ religiöse ‘ Funktion eingenommen hat. Denn wenn es um die Einübung von Ideen und Vorstellungen, von Geschichten (auch über Geschichte) geht, kann das Spielen eine pädagogische Funktion übernehmen. Das Revolutionsspiel als bürgerliches Brett- oder Blattspiel in der Tradition der Gänsespiele konnte daher wie die Revolutionsfeste als Einübung einer ‚ neuen ‘ revolutionsbezogenen religiös-politischen Semantik die Funktion der Etablierung und Stabilisierung der neuen Revolutionsreligion übernehmen. Im Ideenkonglomerat der frühen Französischen Revolution spielt Religion eine besondere Rolle, aber eben nicht im christlichen, auf jenseitig-transzendente Ziele ausgerichteten Sinne, sondern als symbolischrituelle Versinnlichung der neu aufzubauenden Nation und Gesellschaft. Hierdurch wurde die konkrete Gesellschaft in den Symbolen und rituellen Festlichkeiten überhaupt erst zu einer sinnlich fassbaren Einheit, die in der Immanenz der Geschichte hervortritt, und diese zugleich transzendiert. 5 Die religiöse Semantik des Revolutionsspiels konstituiert im Spielverlauf diese transzendierende Leistung in Bezug auf die neuen Werte der Constitution, der Nation und der damit verbundenen Geschichtsdeutung als einer Befreiung aus den Ketten des Ancien Régime. Dass sich Religion als positives Element des in die Revolution und schließlich in die Constitution mündenden Geschichtsverlaufs mit Hilfe eines Gesellschaftsspiels rituell verinnerlichen lässt, haben die kreativen Drucker der frühen Revolutionsphase erkannt und - auch finanziell - erfolgreich umgesetzt. 6 Das Revolutionsspiel von 1791, das daher berechtigterweise als Quelle der Religionsgeschichte der Französischen Revolution zu sehen ist, ist nicht nur ein nationales, sondern auch deswegen ein - wie der Titel des Blattes besagt - lehrreiches Spiel, weil es zugleich exemplarisch belehrend und unterhaltend sein will. Lehrreich ist es in doppelter Hinsicht, denn es will die zeitgenössischen Spielenden unterrichten und über die Revolution und deren Bedeutung für die Spieler belehren. Und es ist für heutige Religionsinterpreten ein lehrreiches Spiel, weil es zeigt, wie komplex das Verständnis und die Neuerfindung von Religion in der Phase der ersten Revolutionsjahre war. Denn einerseits demonstriert es die explizit positive Verwendung des Religionsbegriffs durch die Revolutionäre und andererseits zeigt das Spiel zugleich eine neue Sicht auf Religion: das semantische Konzept einer ‚ neuen ‘ Religion, eben einer Revolutionsreligion, einer Religion der Revolution. Es ist eine ‚ neue ‘ 143 „ Religion spielen “ auf der Bühne der Geschichte - Reenacting Religion in der Französischen Revolution Religion im Sinne eines semiotischen Systems aus Bildern und Begriffen, das ein geschichtsdeutendes bzw. im Medium der Geschichte sich konstituierendes Sinnsystem ausformuliert, das an die Stelle der christlichen Heilsgeschichte eine neue Revolutionsgeschichte setzt und diese im Spielverlauf den Spielenden zugleich - in pädagogischer Absicht - vermittelt. Im Spiel wird die Immanentisierung des transzendenten Heilsziels nicht nur in den Verlauf der Geschichte verlegt, sondern zelebriert und symbolisch auf eine Theaterbühne versetzt, wo das das Volk bzw. das die Nation (symbolisiert durch Francia) erlösende Heil der neuen Constitution geradezu im Nacherleben des Spiels, also im Spielen selbst wiederholend erfahren werden kann, was im Folgenden im Detail der Spielstrukturen gezeigt werden soll. Die acht Bereiche des Spielblatts und die Bühne der die Nation erlösenden Geschichte Nicht nur die Auflagen der sogenannten Gänsespiele nahmen während der Revolution zu, sondern sie wurden auch für die Anliegen der Revolution entsprechend gestaltet und instrumentalisiert, was das 1791 in der ersten Revolutionsphase von dem Drucker Basset konzipierte, gedruckte und in Umlauf gebrachte „ JEU NATIONAL ET INSTRUCTIF OU LEÇONS EXEMPLAI- RES ET AMUSANTES, données aux bons Citoyens par HENRI IVet le Pere GERARD “ deutlich zeigt. 7 (Abb. 2) Im Titel werden die oben erwähnten Aspekte des Nationalen, Lehrreichen und der unterhaltend exemplarischen Lektionen des Spiels nicht nur explizit erwähnt, sondern dieses als Gabe des Königs und des in der Revolution populären einzigen Bauern der Nationalversammlung, des „ Père Gérard “ an die Bürger deklariert. Der idealisierte König Heinrich IV übernimmt somit zusammen mit dem vorbildlichen Bauern als Vertreter des Dritten Standes die Patenschaft für das Spiel und damit für das Ziel des Spiels, das zugleich das der Geschichte ist: für die Constitution und die damit verbundenen freiheitlich-egalitären wie brüderlichen Werte. Das Spielblatt selbst kann in acht Bereiche aufgeteilt werden, die zusammen gleichsam auf einer Bühne (angedeutet durch einen nach links und rechts zum Rand des Spielblattes hin aufgezogenen Vorhang) justiert und inszeniert werden. Links unten und rechts unten sind jeweils zwei größere Gestalten szenisch positioniert, die das Spiel unter ein gesellschaftspolitisches und ein geschichtsteleologisches Vorzeichen stellen: sie symbolisieren die Rolle des Königs und des Geschichtsverlaufs und markieren somit die Gesamtrahmung des Spiels. Die linke Szene ist eine historische, die Heinrich IV zeigt, der sich mit seinem Minister Sully versöhnt und ihn bittet aufzustehen, damit er vor seinen Gegnern nicht als erniedrigt erscheint ( „ Relevez vous donc Sully, ils vont croire que je vous pardonne “ ). (Abb. 3) Abb. 2: Titel des Spiels, I. N. R.P/ Musee National de l'Education, Rouen (651601 1979 26375), Jeu national et instructif, Anonyme, Edit. Basset, Paris vers 1792. 144 Jürgen Mohn Abb. 3: Heinrich IV und Sully, I. N. R.P/ Musee National de l'Education, Rouen (651601 1979 26375), Jeu national et instructif, Anonyme, Edit. Basset, Paris vers 1792. Diese Szene betont die Treue und Humanität des Königs und war nicht nur eine im Volk beliebte Szene, sondern dient im Spiel als paradigmatische Handlung des erwünschten und mit den Revolutionsidealen in Übereinstimmung stehenden königlichen Handelns. Die Figur des Königs Heinrich IV wird in den zwei oberhalb des den Theaterraum abschließenden Frieses links und rechts wiederaufgenommen. Die linke Szene stammt aus einem damals populären Theaterstück, dass Heinrich IV bei einer Bauernfamilie zeigt, der gegenüber er seinen Dank zum Ausdruck bringt, weil diese ihn während einer Jagdpartie unerkannter Weise aufgenommen und verpflegt haben ( „ Henri IV chez le Fermier “ ). (Abb. 4) Abb. 4: Heinrich IV bei einer Bauernfamilie, I. N. R. P/ Musee National de l'Education, Rouen (651601 1979 26375), Jeu national et instructif, Anonyme, Edit. Basset, Paris vers 1792. Abb. 5: Das sonntägliche Huhn im Topf, I. N. R.P/ Musee National de l'Education, Rouen (651601 1979 26375), Jeu national et instructif, Anonyme, Edit. Basset, Paris vers 1792. Die rechte Szene visualisiert sein Versprechen, jede bäuerliche Familie solle sonntags ein Huhn im Topf haben ( „ la Poule au Pot “ ). (Abb. 5) Das sonntägliche Huhn als königliches Versprechen für eine ausreichende Versorgung des Volkes wird wiederum durch das Gänsespiel selbst aufgenommen, insofern die Gans durch ein Huhn ersetzt wird und entsprechend auf sieben Feldern des Spiels anstatt der Gans ein Huhn dargestellt ist. (Abb. 6) Diese Felder sind positiv konnotiert, weil der Spieler mit der doppelten Augenzahl seines Wurfes weiter vorrücken darf. Damit 145 „ Religion spielen “ auf der Bühne der Geschichte - Reenacting Religion in der Französischen Revolution durchzieht das königliche Versprechen gleichsam als Leitfaden die Geschichte selbst, die ihr Ziel in der durch die Verfassung garantierten neuen Ordnung der Gesellschaft für alle Stände, eben auch für den Dritten Stand, einlöst. Alle drei Szenen mit Heinrich IV zeigen eine nicht sakrale, sondern eine auf das Volk ausgerichtete Abb. 6: Feld 36 - eines der sieben Hühner-Felder, I. N. R.P/ Musee National de l'Education, Rouen (651601 1979 26375), Jeu national et instructif, Anonyme, Edit. Basset, Paris vers 1792. Abb. 7: Chronos befreit Francia, I. N. R.P/ Musee National de l'Education, Rouen (651601 1979 26375), Jeu national et instructif, Anonyme, Edit. Basset, Paris vers 1792. Abb. 8: Die Mitte des Spiels: Freiheit und Verfassung, I. N. R.P/ Musee National de l'Education, Rouen (651601 1979 26375), Jeu national et instructif, Anonyme, Edit. Basset, Paris vers 1792. 146 Jürgen Mohn gesellschaftspolitische Vereinnahmung des Königs, dessen vorbildliche Rolle in der Amtszeit Heinrich IV gesehen und aus dieser szenisch verdichtet übernommen wurde. Die rechte untere Szene ist demgegenüber keine historische, sondern eine mythischsymbolische, die den gesamten im Spiel dargestellten Geschichtsverlauf aus der Logik einzelner Ereignisse in eine symbolisch sakralisierte Gesamtdeutung der Geschichte überführt - in eine im und durch den Verlauf der zeitlichen Ereignisse sich ergebende Befreiung Frankreichs aus den Ketten der Knechtschaft, die durch die Französische Revolution zur neuen Verfassung führt, so dass die Zeit bzw. die Geschichte als eine nationale Befreiungsgeschichte gelesen bzw. erspielt werden kann: „ Le Tems delivre la France “ . (Abb. 7) Symbolisiert wird diese mythische Deutung der Geschichte durch Francia, die den Ketten der Geschichte entrissen wird, und durch Chronos, der diese Befreiung bewirkt. Mit dieser rahmenden Szene ist zugleich der Auftakt gegeben, der den Verlauf der Geschichte zu einem Spiel von Ereignissen, Epochen, Personen und Begriffen verdichtet, das letztlich als Ziel des Spiel- und Geschichtsverlaufs die Constitution als eigenen fünften Bereich des Spielblattes herausgehoben in die Mitte der Bühne platziert. (Abb. 8) Durch die geöffneten Vorhänge, die an beiden Seiten alle acht Szenen einrahmen, wird der Geschichtsverlauf allegorisch auf eine Bühne versetzt, so dass das traditionelle Gänsespiel als ein Bühnenspiel wahrgenommen werden kann. Einen weiteren sechsten Bereich des Spielblattes bilden die in Kettengliedern angeordneten Spielfelder, die konzentrisch in die Mitte des Spielblattes mit dem glückverheißenden Verfassungszustand der französischen Nation als Ziel hinführen. (Abb. 1) Flankiert wird das eigentliche Spielfeld durch zwei weitere Bereiche, durch die links angebrachten allgemeinen Spielregeln (Abb. 9) und die rechts angebrachten speziellen Spielregeln (Abb. 10). Hinter dem Vorhang, den Spielregeln und dem Spielfeld zieht sich im Hintergrund Abb. 9: Allgemeine Spielregeln, I. N. R.P/ Musee National de l'Education, Rouen (651601 1979 26375), Jeu national et instructif, Anonyme, Edit. Basset, Paris vers 1792. 147 „ Religion spielen “ auf der Bühne der Geschichte - Reenacting Religion in der Französischen Revolution ein Fries über den angedeuteten Theaterraum, der den oberen Bereich der Bühne abschließt und dem die zwei oben erwähnten historischen Szenen der Hinwendung des Königs zu seinem Volk links und rechts übergeordnet sind. Es handelt sich um die zwei Szenen, die Heinrich IV als vorbildlichen König mahnend dem der Revolution zeitgenössischen König Ludwig XVI gegenüberstellen und somit die positive Gesamtrahmung der Revolution zumindest im Jahr 1791 noch unter königliche Vorzeichen stellen. Die Rezeption von Rousseaus Zivilreligion im Revolutionsspiel Um die Bedeutung der Religion im Revolutionsspiel von 1791 zu verdeutlichen, muss die konstitutive Struktur aufgewiesen werden, die das Konzept der Zivilreligion des Gesellschaftsvertrags von Jean-Jacques Rousseau im Spiel einnimmt. Sowohl das Spiel als auch der Gesellschaftsvertrag münden in eine neue Gesetzesordnung bzw. Verfassung der Gesellschaft. Das Konzept des Geschichtsverlaufs, der zur Befreiung der französischen Nation (symbolisiert durch Francia am Beginn und Ende der in Ketten liegenden Geschichtsfelder des Spiels) als Ziel der Geschichte führt, ist bereits dem Contrat social von Rousseau entnommen. Anfang und Ende seines Gesellschaftsvertrags bilden auch Anfang und Ende des Revolutionsspiels der Befreiung: Bereits der Übergang vom ersten zum zweiten Feld setzt den ersten Satz aus dem Gesellschaftsvertrag um, der besagt, dass der Mensch zwar frei geboren sei, aber überall in Ketten liege. 8 Sind im ersten Feld dementsprechend Klerus, Adel und Dritter Stand symbolisch durch eine egalitäre Latte auf Gleichmaß gehalten, so zeigt sich bereits im zweiten Feld der „ L ’ USUR- PATION “ , dass die nun anhebende Geschichte der Menschheit keine der Gleichheit bleibt, sondern sich in eine zwischen Herren und Sklaven verwandelt. Der im weiteren Spiel gestaltete Geschichtsverlauf Abb. 10: Spezielle Spielregeln, I. N. R.P/ Musee National de l'Education, Rouen (651601 1979 26375), Jeu national et instructif, Anonyme, Edit. Basset, Paris vers 1792. 148 Jürgen Mohn hält bis zum Ende diesen die Menschheit und die französische Nation kettenden Herrschaftszustand aufrecht, wobei die zur Sprengung der Ketten führenden Ereignisse, Personen und Prinzipien sich gegen Ende des Spiels immer mehr zu einer befreienden Fortschrittsgeschichte wandeln und verdichten. Erst mit der neuen Constitution wird der geknechtete Zustand in Ketten abgelegt. Der Spielverlauf als Geschichtsverlauf wird gesamthaft als ein geknechteter Zustand durch die Glieder der sich durchziehenden Kette symbolisiert. Dass der Gesellschaftszustand nicht in einen Naturzustand aufgelöst wird, um einen idealisierten Anfangszustand der frei geborenen Menschen zu restituieren, ist ebenfalls Rousseaus Konzept des Gesellschaftsvertrags entnommen, denn der Gesellschaftszustand bzw. die gesetzlich geregelte Ordnung des Zusammenlebens der Menschen ist für Rousseau ein geheiligtes Recht ( „ droit sacré “ ) 9 , das allen anderen, sich hieraus ergebenden menschlichen Ordnungen zugrunde liegt. Auch der befreite Zustand ist, wie ebenfalls das Spiel zeigt, ein gesellschaftlicher, auf Vereinbarung und Gesetz beruhender Zustand und kein Naturzustand. Da jedoch das sakrale Recht am Ende des Gesellschaftsvertrages laut Rousseau durch eine „ Religion civile “ 10 garantiert werden müsse, kann auf das religiöse Element in der Gesetzesordnung nicht verzichtet werden. Religion kann also im Verlauf der Geschichte, die zur Revolution und über diese hinaus in eine neue Verfassung der Gesellschaft führt, nicht abgeschafft, sondern nur transformiert bzw. im Sinne einer „ Religion civile “ in die neue Verfassung als neue, diese tragende und begründende Religion integriert werden. Der Religionsbegriff musste insofern positiv durch die Akteure der Revolution adaptiert werden und dem Klerus bzw. anderen Vertretern der katholischen Kirche als schlechte und verworfene Formen von Religion entwendet werden. Hieraus ergibt sich geradezu die Notwendigkeit, die Geschichte als Kritik der ‚ falschen ‘ und Apotheose der ‚ richtigen ‘ Religion darzustellen. Im Spiel zeigt sich dies als Negation der christlichen katholischen Religion und Entfaltung der Zivilreligion. Diese religionspolitischen Bewertungen werden im Spiel durch die speziellen Spielregeln erreicht. Das Feld 48 ist als Religionsfeld ( „ RELIGION “ ) bezeichnet und symbolisiert die Versöhnung des Pfarrers mit dem Bischof, des Adligen mit dem Bürger im Geiste der Verfassung und vor dem Hintergrund der Zivilverfassung des Klerus aus dem Jahr 1790. (Abb. 11) Abb. 11: Feld 48: Religion, I. N. R.P/ Musee National de l'Education, Rouen (651601 1979 26375), Jeu national et instructif, Anonyme, Edit. Basset, Paris vers 1792. Es geht in diesem Feld um die Verbrüderlichung aller, sowohl gesellschaftlicher wie religiöser, Akteure im Geist einer Religion nationale bzw. einer Religion aller Bürger. Dementsprechend wird diese Funktion der Religion dadurch belohnt, dass der Spieler, der auf dieses Feld gelangt, laut den speziellen Spielregeln auf das Feld 76 vorrücken darf, das durch das Prinzip der Nächstenliebe ( „ L ’ AMOUR DU PROCHAIN “ ), die bildlich durch eine Szene gekennzeichnet wird und die im Spielverlauf die positive Rolle Heinrich IV, der zur Verbrüderlichung aufruft, aufgreift (Abb. 12); - womit die 149 „ Religion spielen “ auf der Bühne der Geschichte - Reenacting Religion in der Französischen Revolution königliche Rolle im Kontext der Religionssemantik der Bilder auf seine gesellschaftlich integrierende Funktion als Diener bzw. Förderer religiöser Prinzipien verweist. Von dem Feld der Religion führt zur Beförderung des Ziels der Befreiung des Volkes in der Constitution die königliche Aufforderung zur Nächstenliebe. Hiermit ist die von Rousseau als positiv herausgestellte Funktion der Religion des Evangeliums, die Rousseau nicht als identisch mit dem ihm zeitgenössischen Christentum ansieht, angesprochen und bildlich-semantisch umgesetzt. In dieser heiligen, erhabenen und wahren Religion ( „ Religion sainte, sublime, véritable “ ) erkennten sich die Menschen als Brüder einer Gemeinschaft, 11 womit das zentrale Element des von Rousseau propagierten bürgerlichen Glaubensbekenntnisses ( „ profession de foi purement civile “ ) aufgenommen und im Kontext des Spiels unter königlichen Schutz gestellt wird. Die integrative Funktion des Glaubens als „ sentimens de sociabilité, sans lequels il est impossible d ’ être bon Citoyen ni sujet fidelle “ 12 wird nicht nur in dem Spielzug von der Religion zur Nächstenliebe aufgenommen, sondern grundiert als national und rechtlich codierte Zivilreligion die gesamte Grammatik der Spielregeln. Abb. 12: Feld 76: Nächstenliebe, I. N. R.P/ Musee National de l'Education, Rouen (651601 1979 26375), Jeu national et instructif, Anonyme, Edit. Basset, Paris vers 1792. Zentriert um die durch Rousseau inspirierte Funktion und begriffliche Ausgestaltung der Revolutionsreligion nimmt die religiöse Semantik des Spiels verschiedenste gesellschaftliche und geschichtliche, aber auch philosophische Akteure, Prinzipien und historische Ereignisse auf, die im Kontext einer zu etablierenden Revolutionsreligion in den Spielverlauf integriert werden. Die Einbettung der Bedeutungsebene in den Spielzusammenhang fügt zur Semantik zwei weitere Ebenen der Spielgrammatik hinzu. Die semiotische Dimension der Revolutionsreligion wird auf der Geschichtsbühne des Spiels auf drei Ebenen entfaltet: 1. Die Rahmung des historischen Geschehens akzentuiert die Geschichte als ein historisches Schauspiel der Befreiung und akzentuiert die auf den einzelnen Feldern thematisierten Ereignisse, Personen und Prinzipien auf einer pragmatisch-paradigmatischen Ebene. Das Spiel fungiert insofern als Matrix zur Erlernung einer revolutionsgemäßen Deutung der historischen Einheiten (als Ereignisse, Personen oder Prinzipien je einem Spielfeld zugeordnet), die über die Revolution zur Verfassung führen. Das Spielen übt gleichsam durch Wiederholung die paradigmatische Deutung dieser Revolutions-Einheiten ein. 2. Die Regeln des Spiels, die die konstitutiven Momente der Geschichte in ihrer aufsteigenden und absteigenden Dialektik bzw. Ambivalenz aufgreifen und ausdrücken, garantieren den teleologischen Verlauf der Geschichte und ordnen die Ereignisse und Kräfte auf einer syntagmatische Ebene einander zu. Wenn bestimmte Felder den Spieler belohnen, indem er Geld aus dem Spieleinsatz erhält oder auf günstigere Felder vorrücken darf, entfaltet sich im Gefüge der Zuordnungen der positive Verlauf der Geschichte. Dem hingegen zeigen die Felder, die den Spieler bestrafen, indem er zahlen muss oder im Spielverlauf zurückgeworfen wird, den entsprechend negativen Verlauf 150 Jürgen Mohn der Geschichte. Die sich durch links und rechts dem Spiel an die Seite gestellten Regeln ergebende Syntagmatik der Spielfelder konstituiert eine normative Grammatik der Geschichte, ihrer Ereignisse, Personen und Prinzipien. 3. Die begrifflich-bildliche Bezeichnung und Ausgestaltung der Felder, die den Sinn eines jeden Spielfeldes markieren und deren Wertung durch die syntagmatische Zuordnung aufgrund der Regeln vorgenommen wird, konstituierten dementsprechend die semantische Ebene des Spiels. Insgesamt ergibt sich eine Grammatik der Revolutionssprache, die im rituellen Vollzug des Spielens durch die Teilnehmer angeeignet wird. Durch wiederholtes Spielen wird dementsprechend eine mimetische Vertiefung der Spielinhalte bewirkt, was den rituellen Charakter des Spiels zusätzlich unterstreicht. Die Sprachlichkeit und Bildlichkeit der Revolutionsreligion des Spiels entwickelt sich demnach in der Dynamik der verschiedenen Spielverläufe, die immer den gleichen Spielregeln folgen, die aber jeweils nach Vorgabe durch die allgemeinen Regeln des Spiels in Kombination mit den Zufallswürfen unterschiedliche Perspektiven der einzelnen Spieler auf das Geschichtsgeschehen erlauben. Das Spiel wird in den allgemeinen Spielregeln mit zwei Würfeln und einem Einsatz von 12 Marken pro Spieler strukturiert. Werden die Marken in Geld umgerechnet, müssen 15 % des Gewinns am Ende den Armen zugesprochen werden. Mit dieser allgemeinen Regel wird nochmals die virtuelle Spielwelt mit der realen Umwelt der Gesellschaft in Bezug gesetzt und damit in die Lebenswelt der Spieler integriert. Die sieben Felder, die durch ein Huhn charakterisiert sind, erlauben dem Spieler die doppelte Zahl an Feldern vorzurücken als sich Augen auf dem Würfel befinden. Damit wird insgesamt das durch Heinrich IV versprochene Sonntags-Huhn und damit die königliche Fürsorge für eine ausreichende Ernährung des Volkes durch die gesellschaftliche Transformation der Revolution positiv hervorgehoben. Das Huhn und das Spiel insgesamt wird zu einem Symbol der Revolution und ihrer Durchsetzung gegenüber dem Dritten Stand. Das Spiel als ‚ Hühner-Spiel ‘ befördert eine dauerhafte Etablierung der ‚ richtigen ‘ Sichtweise auf die historischen Revolutionsereignisse und deren gesellschaftlichen Konsequenzen. Dementsprechend wurden die negativen Ereignisse der Revolution, die durch Gewalt und Ungerechtigkeit gekennzeichnet waren, nicht in das insgesamt positive Bild der Revolution, von dem das Spiel getragen ist, aufgenommen. Neben den Feldern, die durch den Erhalt oder die Abgabe von Zahlungen gekennzeichnet sind, gibt es Felder, die durch die speziellen Spielregeln am rechten Rand bestimmt werden. Die syntagmatische Zuordnung der Felder wird dadurch erwirkt, dass bei einigen Feldern auf ein dem Ziel des Spiels näheren Feld nach vorne oder auf ein zurückliegendes Feld ein Pflichtzug vorgenommen werden muss. Wie bereits erwähnt, können die Felder inhaltlich drei Typen zugeordnet werden: den Ereignissen des gezeigten Geschichtsverlaufs, den Personen und Akteuren, die die Ereignisse zur Revolution und Verfassung befördern bzw. behindern, und den Prinzipien, bzw. Normen oder gesellschaftlichen Zuständen, die ebenfalls förderlich oder hinderlich den Spiel- und damit den Geschichtsverlauf mitbestimmen. Dabei sind im Prinzip deszendente und aszendente Kräfte und Phasen in den Verlauf des Spiels eingebaut: Ab dem das erste Feld der Gleichheit ablösenden Feld der Usurpation nimmt das Spiel und die Geschichte einen deszendenten Verlauf über die Unwissenheit, den Aberglauben und die Bürgerkriege in einen Zustand der Anarchie und der Grausamkeit (Feld 8). Erst mit dem auf Feld 9 erscheinenden Heinrich IV wen- 151 „ Religion spielen “ auf der Bühne der Geschichte - Reenacting Religion in der Französischen Revolution det sich der Spielverlauf hin zu positiven Feldern der Güte, der Gesellschaft, des Gesetzes und des Gemeinwohls (Feld 15). Hiermit sind bereits Prinzipien der Zivilreligion Rousseaus angesprochen: „ LA SO- CIÉTÉ “ und „ LA LOI “ , die zusammen dem Gemeinwohl förderlich sein müssen. In die sich mit der Usurpation entfaltende Deszendenzgeschichte ist die Religion in ihrer negativen Ausprägung insofern einbezogen, als der Aberglaube (das Feld 5: „ LA SÉDUC- TION “ ) durch die Allianz von Adel und Klerus symbolisiert wird und zu einem Verlust von fünf Spielmarken führt. Aber auch der Bürgerkrieg (Feld 6) spielt auf die Religionsstreitigkeiten der Bartholomäusnacht von 1572 an. Hier wird die Kritik von Rousseau an der von ihm als dritten Religionstyp bezeichneten Priesterreligion 13 aufgegriffen, die durch eine Vermischung von Kirche und Staat gekennzeichnet ist und als durch Priester korrumpierte Nationalreligion auf Irrtum und Lüge gründe und zu einem blutrünstigen und intoleranten Volk führe, zu Mord und Totschlag gegenüber allen, die anderen Religionen und Götter anhängen. 14 Die negative Wertung des gesellschaftlichen Zustands der Bürgerkriege und der Anarchie wird dadurch unterstrichen, dass im weiteren Spielverlauf das Feld 68 der Mönche den Spieler auf das Feld 6 der Bürgerkriege und das Feld 69 der Zwietracht den Spieler auf das Feld 7 der Anarchie zurückwerfen. Die Akteure der christlichen Religion stellen daher einen deutlichen Rückschritt in der Religionsgeschichte dar. Die in der religionsgeschichtlichen Entwicklung anzustrebende „ Religion civile “ wird hingegen in eins mit der gesetzlichen Verfassung als Ziel der Geschichte gesehen. Der Subtext des Spiels unterscheidet also zwischen den Akteuren des Christentums und den Prinzipien und Akteuren einer Religion der Eintracht, der Brüderlichkeit und der Nächstenliebe, zwischen einer negativ gewerteten Religion des christlichen Klerus, die der Kritik durch den Verlauf der Geschichte unterworfen ist, und einer positiven gewerteten Religion, die im Verlauf der Geschichte allererst konstituiert und als Gesetz, als konstitutives Element der Verfassung inauguriert wird. Nach der kurzen Aszendenzphase, die mit Heinrich IV anhebt, folgt eine erneute Deszendenzbewegung der Geschichte mit der Ermordung Heinrichs IV ( „ LA TRAHI- SON “ ) durch einen religiösen katholischen Fanatiker. Diese Geschichtsphase verläuft über gesellschaftlich-historische Ereignisse und Institutionen (Verrat, Irrenhäuser, Nationalschuld, Steuern, Intrigen, Siegelbriefe, die Bastille und den Staatsbankrot), verantwortliche Akteure und Personen (Dritter Stand, Klerus, Adel, Minister, Generalpächter) hin zu entsprechend negativen gesellschaftlichen Prinzipien und Zuständen (Despotismus und Elend). Der Klerus als Repräsentant der alten, abzulösenden Religion wird jedoch zu einem positiven Feld, insofern der Spieler von hier auf das Feld 55 ( „ L ’ AUTEL DE L ’ HYMEN “ ) vorrücken darf. Die Aussage richtet sich allerdings gegen die unehelichen Kinder der Priester, die vor dem zivilrechtlichen Altar der Ehe zu legitimieren und damit der zivilrechtlichen Ordnung zu unterwerfen sind. Nur diese Unterordnung der Priester - so lernt es der Spielende, der auf das Feld kommt - befördert also den Verlauf der Geschichte. Der Spielverlauf demonstriert hiermit die religionspolitische Unterordnung der alten Religion unter die Prinzipien der Gesetzesordnung der Zivilverfassung. Nach dem Staatsbankrot (Feld 33) reichen die den Geschichtsverlauf positiv vorantreibenden Felder von Feld 34 ( „ MON- TESQUIEU “ ) bis zu Feld 65, das die Annahme der Verfassung durch Ludwig XVI ( „ L ’ ACCEPTATION “ ) zeigt. Anfang und Ende dieser zweiten positiven Spielverlaufsphase sind gemäß dem Gesellschaftsvertrag zwei wichtige Momente der 152 Jürgen Mohn Inaugurierung einer neuen Gesetzesreligion: zunächst die durch Montesquieu vorgegebene Gewaltenteilung und letztlich die Anerkennung des in der Verfassung etablierten Gesellschaftsvertrag durch den König, der sich diesem und den Zielen der Revolution hiermit unterordnet. Wiederum werden gesellschaftlich-historische Ereignisse (Kokarde, Revolution, Nationalversammlung, patriotische Spende, Föderation, 14. Juli, klerikale Verstellung, Varennes, Verfassungsannahme), die zur Revolution führenden Akteure und Personen (Montesquieu, Voltaire, Rousseau, Mirabeau, Prinzen, Ludwig XVI, der Dauphin) sowie die die nationale Befreiung und Aufklärung befördernden gesellschaftlichen Prinzipien und Elemente (Mut, Philosophie, Toleranz, Menschenrechte, Religion, gesetzgebende Gewalt, France, Ruhm, Vaterlandsaltar, Traualtar, richterliche Gewalt, Wachsamkeit, Verantwortlichkeit, Vaterlandsliebe) in den Geschichtsverlauf des Spiels eingeordnet, entsprechend symbolisch ausgestaltet und durch die speziellen Spielregeln positiv oder in einigen Fällen (so bei Feld 57: die Prinzen und Feld 63: Varennes) negativ akzentuiert. Die nun zur Revolution selbst hinführende Aufstiegsbewegung beginnt mit den Errungenschaften und Akteuren der Philosophie, mit dem die Gewaltenteilung einführenden Montesquieu, dem Mut der Philosophen, verläuft über den ins Pantheon überführten Voltaire und seinem Prinzip der Toleranz, die auch in Rousseaus Gesellschaftsvertrag eine wichtige religionsbefriedende Rolle spielt, über Rousseau selbst und seinen Gesellschaftsvertrag (Abb. 13) hin zu den Menschenrechten. Hiermit sind die philosophischen und gesetzesbezogenen Elemente im Spielverlauf eingeführt, die die Ereignisse der Revolution und die Ergebnisse der Verfassung als Ziel von Spiel und Geschichte letztgültig vorbereiten. Die positive religiöse Grundierung der französischen Nation und der zivilreligiösen Verfassung wird nicht nur durch das Feld 48 der Religion selbst, sondern insbesondere durch das Feld 53 ( „ L ’ AUTEL DE LA PATRIE “ ), das den Altar zur Verehrung des Vaterlandes darstellt und - wie bereits bei der Symbolisierung der Francia - zu einer in rituellen Festen inszenierten Verehrung der neuen, durch Revolution, Ver- Abb. 13: Rousseau und der Gesellschaftsvertrag, I. N. R.P/ Musee National de l'Education, Rouen (651601 1979 26375), Jeu national et instructif, Anonyme, Edit. Basset, Paris vers 1792. Abb. 14: Der Altar zur Verehrung des Vaterlandes, I. N. R.P/ Musee National de l'Education, Rouen (651601 1979 26375), Jeu national et instructif, Anonyme, Edit. Basset, Paris vers 1792. 153 „ Religion spielen “ auf der Bühne der Geschichte - Reenacting Religion in der Französischen Revolution fassung, Toleranz, Menschenrechte, Aufklärung und Freiheit erlösten französischen Nation beiträgt. (Abb. 14) Der Inhalt der vaterländischen Verehrung und deren Zeremonien ist in der Mitte des Spielfeldes als Erlösungsziel durch Füllhorn und Freiheit symbolisiert (Abb. 8). Doch bevor dieses Ziel erreicht wird, gilt es in der Logik des Spiels, den gefährdenden Elementen - den Konterrevolutionären (Feld 66), den Aristokraten (Feld 67), den Mönchen (Feld 68), der Zwietracht (Feld 69) und der Wankelmut (Feld 70) - zu entgehen. Erst wenn diese Elemente in kurzer Abfolge im Spiel überstanden sind, führen die letzten Felder die Elemente der neuen Religion und der mit ihr einhergehenden bürgerlichen Gesetzgebung unter dem Vorzeichen der Verehrung der französischen Nation in eine letzte aszendierende Geschichtsbewegung über. Die Akteure sind nun die Bürgerinnen, die Armee, die Hoffnung auf den königlichen Prinzen, getragen von den Prinzipien der Eintracht, der Freiheit, der Bürgerkrone, der Nächstenliebe und der neuen bürgerlichen Erziehung. Als Instrument dieser neuen Erziehung, die die neue Verfassung den Bürgern zu vermitteln hat, ist letztlich auch das Revolutionsspiel in seiner pädagogischen Funktion selbst anzusehen, insofern es rituell zu einer vertieften Einübung der Verfassungsreligion und der zu ihr führenden geschichtlichen Ereignisse, Akteure und Prinzipien beiträgt. Die symbolische Sakralisierung im Vorfeld des Zielfeldes 85 der Verfassung ( „ CONSTITUTION “ ) setzt jedoch eindeutig zivilreligiöse, das Verfassungsziel der Geschichtsentwicklung geradezu sakralisierende Akzente mit den Feldern der Wiedergeburt (79 „ LA RÉGÉNÉRATI- ON) (Abb. 15), des Paradieses (80: „ LE PA- Abb. 17: Apotheose der Grossen Männer, I. N. R.P/ Musee National de l'Education, Rouen (651601 1979 26375), Jeu national et instructif, Anonyme, Edit. Basset, Paris vers 1792. Abb. 15: Die Wiedergeburt, I. N. R.P/ Musee National de l'Education, Rouen (651601 1979 26375), Jeu national et instructif, Anonyme, Edit. Basset, Paris vers 1792. Abb. 16: Das Paradies, I. N. R.P/ Musee National de l'Education, Rouen (651601 1979 26375), Jeu national et instructif, Anonyme, Edit. Basset, Paris vers 1792. 154 Jürgen Mohn RADIS “ ) (Abb. 16) und der Apotheose (81: „ APOTHÉOSE DES GRANDS HOMMES “ ) (Abb. 17). Die Heilsgeschichte wird hiermit von Feld 79 bis zum Telos der Geschichte und des Spiels mit deutlichen Anleihen bei antiken mythologischen Elementen symbolisiert, womit die Aufklärung und die Elemente der Natur, der Vernunft und der Nation symbolisch überhöht und sakralisiert werden. Im Feld der Wiedergeburt wird bereits die mythische Figur Chronos vom rechten unteren Spielblattrand wiederaufgenommen, so dass die neue Nation und ihre Verfassung sowie ihre Werte unter dem Vorzeichen der Régénération des ursprünglichen Freiheitsstatus des Menschen unter den Bedingungen des neuen Gesellschaftsvertrags eine Wiedergeburt erfahren, wobei der Begriff Régénération eine große Nähe zu dem der Revolution aufweist. Wiedergeburt durch Revolution ist das eigentliche Werk der Zeit, wie es sich im Laufe der Geschichte durchsetzt. Symbolisiert durch eine vielbrüstige Fruchtbarkeits- oder Naturgöttin, erfährt die sakralisiert dargestellte Francia ihre Wiedereinsetzung, indem sie die zwei Gesetzestafeln präsentiert und durch das Füllhorn, das das letzte Feld des Spiels durchbrechend in die Constitution mündet, begleitet wird. Im darauffolgenden Feld des Paradieses wird der Heilscharakter der Philosophie, insbesondere Rousseaus und seines Gesellschaftsvertrages bildlich gewürdigt. Zusammen mit der Apotheose der Großen Männer und der Sakralisierung der Gesetze in der Erziehung des Volkes - bildlich repräsentiert durch die Erklärung der Menschenrechte - , womit eine Selbstreferenz auf das „ JEU NATIONAL ET IN- STRUCTIF “ selbst vorliegt. Auf diese Weise werden letztlich die von Rousseau formulierten vier einfachen positiven Dogmen ( „ dogmes [. . .] simples [. . .] positifs “ ) der „ Religion civile “ in symbolische Bilder umgesetzt. Das Ziel der Geschichtsentwicklung wird in den letzten Spielzügen eindeutig sakralisiert, indem am Ende des heilsgeschichtlichen Geschichtsverlaufs, wie er sich im Spiel spiegelt, mit den sakralen Dogmen der Zivilreligion den Spielern zum Sieg, zum Gewinn und zur Er-Lösung im Spiel verholfen wird: Die Göttin der Régénération nimmt das erste Dogma auf ( „ L ’ existence de la Divinité puissante, intelligente, bienfaisante, prévoyante et pourvoyante “ ), das Paradies das zweite Dogma ( „ la vie à venir “ ), die Apotheose der Großen Männer das dritte Dogma ( „ le bonheur des justes, le châtiment des méchans “ ) und die neue Education (Abb. 18) letztlich das vierte Dogma ( „ la sainteté du Contract social “ ). 15 Abb. 18: Die neue Erziehung, I. N. R.P/ Musee National de l'Education, Rouen (651601 1979 26375), Jeu national et instructif, Anonyme, Edit. Basset, Paris vers 1792. Das Spiel mündet also in eine Teleologie der Geschichte als Selbstheiligung des Gesellschaftsvertrages auf der Bühne, die die Geschichte bedeutet. Selbst die reflexive Geste Rousseaus, mit dem vierten Dogma nicht nur die Sakralität des Gesellschaftsvertrages als Vertrages der Gesellschaft, sondern auch sein eigenes Buch als Gesellschaftsvertrag in einen sakralen Status zu erheben, wurde in dem Spiel aufgegriffen, indem es ebenfalls im vierten, letzten Dogma bzw. Spielfeld sich selbst in der Aufgabe der Education als „ Jeu instructif “ seine Referenz erweist. Die Fülle der Wiedergeburt als Telos der in die Verfassung mündenden Geschichte 155 „ Religion spielen “ auf der Bühne der Geschichte - Reenacting Religion in der Französischen Revolution wird nun in der Mitte des Spielfeldes und zugleich der Spielbühne bildlich und schriftlich ausgestaltet. In dem paradiesischen Endzustand der erspielten Geschichte begrüßt die Freiheit die nun gekrönt erscheinende Francia, die zu Beginn in Ketten geschlagen wurde, als Herrscherin über das Volk der Franzosen, die durch „ LE GENIE DE LA LIBERTÉ “ aufgeklärt bzw. erleuchtet werden ( „ ECLAIRANT LES FRANCAIS “ ). Die Lichtsymbolik der Aufklärung und Vernunft nimmt die Aufgabe und den Verdienst der Philosophen wieder auf, die bereits das Paradies symbolisch gekennzeichnet haben. Die öffentliche Glückseligkeit im Zustand der Freiheit und Verfassung lässt das Revolutionsspiel letztlich zu einem „ Bildkatechismus “ 16 der neuen Revolutionsreligion werden, die im Spiel als Frucht der Aufklärung und Folge der wieder hergestellten Freiheit des Menschen und der französischen Nation erlernt wird. So kommentiert das Spiel abschließend den personalisierten „ GENIE DE LA LIBERTÉ “ , der zugleich die Rolle von Chronos übernimmt: „ il vient apres mille ans changer nos loix grossierres et le bonheur de tous est le fruit des lumieres “ . 17 Communitas und religiöse Kommunikation: Das Spiel im religiösen Feld der Revolution Am Beispiel dieses Revolutionsspiels zeigt sich, wie komplex sich die ständige Transformation und Verstetigung von religiösen Sinnsystemen während der Französischen Revolution gestalten konnte. Es handelt sich bei dem durch den Drucker Basset erfundenen Revolutionsspiel nicht um eine von oben oktroyierte Religionsform oder gar Ideologie, sondern um die spontane Umsetzung der revolutionären Ideen durch einen findigen Drucker (den Graphikverleger André Basset), der sich nicht zuletzt aus den Zeitläuften auch ein gutes Geschäft mit den Spielblättern erhoffte. Dabei richtet sich sein Revolutionsspiel nicht primär an Intellektuelle, sondern an das ‚ einfache Volk ‘ und hat damit über die Kombination von Text und Bild zur Selbstreflexion des Revolutionsgeschehens beigetragen. Die Jeux de l ’ Oie - Gänsespiele - hatten eine lange auf das Italien des 16. Jahrhunderts zurückgehende Tradition zur spielerischen Belehrung der Oberschicht wie des breiten Publikums, gehörten zur Standartausstattung adliger wie bürgerlicher Haushalte und stellten zudem eine erlaubte Alternative zu den verbotenen Geldspielen dar. 18 Sicherlich, auch Profitinteressen und die herrschenden Machtverhältnisse waren Antriebe zur Herstellung des Spiels: Die Revolution war ein Geschäft geworden und der Drucker Basset konnte mit dem schnelleren Verfahren der Radierung (anstatt des Kupferstiches) auch unmittelbar auf die Verhältnisse reagieren. Mit folgenden Worten wurde für das Spiel in einem mehrfach aufgelegten Almanach eines revolutionären Pastors geworben: Es sei „ für jedermann verständlich und vorzüglich geeignet, allen Klassen der Gesellschaft die Vorzüge und Wohltaten der Revolution und der Verfassung zur Kenntnis zu bringen. Dies Spiel ist hauptsächlich zur Unterrichtung der Leute auf dem Land bestimmt; es wird in Packen von zwanzig Exemplaren verkauft, die zusammen jeweils 5 Livres und frei Haus 6 Livres kosten. “ 19 Mit ca. 5 Sous pro Stück war es sowohl für die Bauern wie für die Handwerker erschwinglich. Wir haben es also mit einem frühen Massenmedium der Selbstthematisierung und Deutung der revolutionären Ereignisse zu tun, das zugleich zu einer Verbreitung der ihr zugrundeliegenden Ideen, Vorstellungen und Deutungen maßgeblich beitrugen. Im Spiel mediatisiert sich eine der möglichen Selbstinterpretationen der französischen Revolution, die über das Spielen wiederum direkt in das Denken und Handeln der 1791/ 92 noch 156 Jürgen Mohn in die anhaltenden Revolutionsereignisse verstrickten Menschen eingreift. Die Revolution und auch ihre religiösen Ingredienzen kommen sozusagen im Spiel ins Bild und werden in diesem Medium überhaupt erst für die Massen kommuniziert. Dabei werden die Ereignisse, die zur Revolution geführt haben, in einen geordneten Zusammenhang gebracht und als sinnvolle Abfolge gedeutet. Die suggerierte Geschichte verläuft prinzipiell linear teleologisch und kann zu jeder Spielzeit in ihren wichtigen Etappen wiederholt bzw. wiederaufgeführt und damit nacherlebt werden. In jedem Moment des Spiels wird Revolution als Befreiung und als Ausgang aus der Knechtung und als Paradies der Verfassung zelebriert und kann von den Spielern in der liminalen Situation des Spielens verinnerlicht werden. Die ökonomischen Interessen der Drucker beförderten sozusagen implizit die Verstetigung der Revolutionsinteressen. Was aber sind die Indizien dafür, dass hier Religion neu inszeniert und wieder, aber verwandelt aufgeführt wird? Inwiefern handelt es sich um den performativen Vorgang eines Reenacting von Religion? Die Symbolik und Semantik der Spielfelder und ihre syntagmatische Zuordnung durch die Spielregeln zeigt, dass an die Stelle der alten Religion nicht die Abschaffung der Religion, sondern ihre transformierte Neuinszenierung - ganz im Sinne Rousseaus - steht. Rousseaus Contrat social gibt das Drehbuch vor, nach dem die Geschichte die alte christliche Religion zugunsten einer neuen Verfassungsreligion der Liebe zu den Gesetzen ablöst. Eine Zivilreligion des Gesetzes, der Liebe zu dem Gesetz, der Verfassung, wird als Paradies, als Fülle und Befreiung der Geschichte nicht nur inszeniert, sondern als Produkt einer Befreiungsgeschichte zu dem Narrativ der Französischen Revolution erhoben. Am Ende ist das Paradies die Verfassung, die dem Volk bzw. der Nation eine entsprechend neue sinnstiftende Ordnung verspricht. Religionsgründung in der Geschichte und der Sieg des Spielers gehen ineinander über. Bereits die Anfänge des antiken Theaters, die Karfreitags- und Osterspiele, die antiken olympischen Spiele sowie rituelle Spiele allgemein zeigen die enge Verwandtschaft von Spiel und Ritual und geben Hinweise auf die historisch und kulturell enge Verknüpfung zwischen Spiel und Religion. Zunächst markiert das Spielen einen Handlungsraum, der dem Verlauf der Alltagszeit entrissen ist und einen funktional ‚ anderen ‘ Zeitraum konstituiert. Der Ort des Spielens wird, wo immer er auch stattfindet, zu einem anderen, herausgehobenen Ort von Erfahrung im Gegensatz zu den üblichen Orten des Alltags, er wird zu einer Heterotopie. 20 Die Zeit des Spiels markiert einen Riss in der Zeit. Durch diesen Riss und die sich hieraus ergebende Andersartigkeit des Spiel-Ortes wird eine Heterochronie eröffnet. Dieser Zeit-Ort des Spiels ist gekennzeichnet durch eigene Regeln, durch eine beschränkte Zahl an Teilnehmern, durch ein eigenes Zeichensystem mit der ihm eigenen grammatischen Struktur der Spielregeln. Dieser besondere kognitive und emotionale Zeit-Ort entlässt die Spieler am Ende, nach erfolgter Lektion (wie es in dem Titel des Revolutionsspiels heißt: „ LECONS EXEMPLAIRES “ ), gewandelt oder manipuliert wieder in den Alltag. Die Verlaufsform des liminalen Zeit-Ortes des Spiels ist vorgegeben, nicht alles ist möglich, sondern er ist durch die grammatische Struktur als ein restriktiver Raum von bestimmten Möglichkeiten vorbestimmt. Die Spielzeit ist daher eine restriktive Zeit, wodurch das Spiel einen Raum der Distanz zur Wirklichkeit erzeugt, in der sich diese nicht nur spiegelt, sondern in der sie neu konstituiert wird. Daher ist das Spiel potentiell auch immer ein Ort des Lernens und des Erfahrens, der Verwandlung und Transformation von Wirklichkeit in einem Zustand der Communitas der Spieler, die sich in einem „ rite de passage “ 157 „ Religion spielen “ auf der Bühne der Geschichte - Reenacting Religion in der Französischen Revolution von der alten zur neuen Ordnung wiederfinden und in diesem geschützten Spielraum die neuen ‚ Mythen ‘ ihrer Communitas lernen. 21 Solange das Spiel gespielt wird, verstetigt es die Werte und das Geschichtsbild der zeitgenössischen Phase der Revolution, in der es entstanden ist und aus der es seine religiöse Deutung der Revolution gewinnt. Das Spiel ist daher einerseits ein mehr oder weniger bewusster Versuch des Druckers Basset, zur Selbststabilisierung der Revolution, ihrer Ideen und Institutionen beizutragen, andererseits Teil der religiösen Kommunikation und Interaktion der Akteure des religiösen Feldes. Denn in diesem Spiel kann zumindest der Versuch einer Umstrukturierung des religiösen Feldes im Sinne Pierre Bourdieus gesehen werden. Wenn für Bourdieu die neuen religiösen Akteure als „ unmittelbare Produzenten der Prinzipien einer mehr oder weniger systematischen Sicht der Welt und des Daseins “ gekennzeichnet sind, dann stehen sie als „ Propheten “ „ in Opposition “ zu den alten „ Reproduktionsinstanzen “ der Priester und der Kirche. Übertragen auf die Rolle der Philosophen und Revolutionäre (zu denen auch der Drucker Basset gehört), bilden diese als Propheten zunächst „ den Gegenpol zur Priesterschaft wie das Vorübergehende und Unregelmäßige (Diskontinuierliche) zum Dauerhaften und Regelmäßigen (Kontinuierlichen), das Außergewöhnliche zum Gewöhnlichen, das Außeralltägliche zum Alltäglichen “ . 22 Nach erfolgter Revolution mutieren die ehemaligen Propheten zur neuen ‚ Kirche ‘ der Vaterlandsaltäre, der Revolutionszeremonien und -feste und der Zivilreligion ihres neuen Gesellschaftsvertrages der Constitution. Nun obliegt auch der neuen revolutionären Gesellschaft die Aufgabe einer ‚ Kirche ‘ , um die Manipulation der Denk- und Handlungsstrukturen und die Naturalisierung der Gesellschaftsordnung als Legitimation des neu Bestehenden in Kontinuität und Alltäglichkeit zu überführen. Das Revolutionsspiel übernimmt als manipulatorisches Massenmedium genau diese Funktion: Es „ begründet und erneuert die Übereinkunft über die Weltordnung durch die Auferlegung und Einprägung allgemeingültiger Denkschemata und durch die feierliche Bestätigung und Versicherung dieser Übereinkunft in der religiösen Feier oder Zeremonie, einer symbolischen Handlung zweiten Ranges, welche die symbolische Wirksamkeit religiöser Symbole nutzt, um ihre symbolische Wirksamkeit durch die Stärkung des kollektiven Glaubens an eben ihre Wirksamkeit zu steigern. “ 23 Geschichte wird als Medium der neuen „ Weltordnung “ zum Bühnenspiel, das die Revolution so inszeniert, dass sie im Nachspielen eine „ feierliche Bestätigung “ in einer „ symbolischen Handlung zweiten Ranges “ , also im Spiel erfährt. Der Spieler wird in die Geschichte involviert und kann emotional an ihr teilnehmen, er lernt die guten oder heilsbringenden Ereignisse von den schlechten oder reaktionären Ereignissen zu unterscheiden, so dass er ‚ spielend ‘ „ allgemeingültige Denkschemata “ symbolisch eingeübt, die in der Gemeinschaft bzw. Communitas der Spieler kollektiv verstetigt werden. Dazu braucht der Spieler nicht einmal lesen zu können; die Bilder allein auf dem Spielblatt genügen, um ihn die Einsetzung der Revolutionsreligion emotional und kognitiv nacherleben und verinnerlichen zu lassen. Jedes einzelne Spiel, jeder Spielverlauf, der konkret durch die Geschichte führt, ist ein jeweiliges Reenactment der Revolutionsreligion: eine ritualisierte Verinnerlichung revolutionärer Semantik mit intendierten pragmatischen Folgen vermittelst der Syntagmatik der Spielregeln, die das Geschehen auf der Bühne der Geschichte ordnen. Der Spieler wird involviert in die revolutionäre Mythologie der Befreiung seiner Nation (der Francia), er erlebt durch das Spiel die 158 Jürgen Mohn Befreiung aus den Ketten der Knechtung in die Freiheit der Constitution. Die Semantiken und Performanzen der Französischen Revolution bereiten auf diese Weise ein spezifisch gesellschaftsbezogenes Verständnis von Religion vor und setzen es zugleich realpolitisch um. Dieses Religionsverständnis wurde nicht nur von Jean- Jacques Rousseau in seinem Contrat social vorformuliert, sondern auch in der Religionssoziologie von Émile Durkheim aufgegriffen und in Religionstheorie überführt: Religion konstruiert und bindet vermittelst ritueller und sakralisierender Techniken die ansonsten unfassbare, eben prinzipiell transzendente Gesellschaft. Die Transzendenz der Gesellschaft gegenüber der Immanenz ihrer Individuen wird durch und in Religion zu einer symbolisch integrierten Gemeinschaft. Der individuelle Spieler wird rituell in die Gemeinschaft, die Communitas der Mitspielenden aufgenommen und durch das allen gemeinsame Ziel zu einem Bürger der revolutionären Verfassung geformt. Der Sieger des Spiels transformiert sich paradigmatisch in einen Träger der in den letzten vier Feldern dargestellten Dogmen der Zivilreligion der neuen Gesellschaft; anders gesagt: der individuelle Spieler transzendiert sich in den Bürger der ihn transzendierenden Verfassung. Auch in der gesellschaftstheoretischen Sprache von Niklas Luhmann kann der Spielverlauf und seine Semantik als Beispiel einer religiösen Kommunikation rekonstruiert werden. 24 Wenn mit Luhmann der Code Transzendenz/ Immanenz und der Wiedereintritt dieses Codes in die eine Seite seiner Unterscheidung als charakteristisch für jegliche religiöse Kommunikation beobachtet werden kann, dann wird dieser formale Code in dem Spiel durch die Unterscheidungen von Freiheit und Knechtschaft, Gleichheit und Ungleichheit, Ordnung und Chaos in ein religiöses Programm überführt und zugleich teleologisch im Medium der Geschichte als Weg von der Sklaverei zur Verfassung narrativ bzw. kommunikativ entfaltet, wobei die Verfassung (die „ Constitution “ der „ Nouvelle Education “ ) als Wiedereinsetzung (Régénération) der ursprünglichen Freiheit und Gleichheit und als Erlösung ( „ Paradis “ ) aus der Geschichte am Ende als Francia inthronisiert wird. Der Spieler wird zum Beobachter zweiter Stufe der Revolution: Im Spiel entfaltet sich die Selbstbeobachtung der religiösen Kommunikation über das, was die Revolution im Medium der Geschichte konstituiert. Es handelt sich nicht nur um einen spielinternen, sondern um einen gesellschaftlichen Kommunikationsvorgang, denn was die Menschen über die Revolution wissen, wissen sie durch die Massenmedien. Das Spiel als Massenmedium überführt die Unwahrscheinlichkeit einer neuen Revolutionsreligion in die Wahrscheinlichkeit ihrer Kommunikation auf der Matrix eines symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums. Die revolutionäre Rahmung von Religion zeigt im Übergang zur religiösen Semantik der Zivilreligion nicht nur das Selbstreflexiv- Werden von religiöser Kommunikation, sondern durch den Einsatz von Spielblättern die neue Praxis der Mediatisierung und der ritualisierten Wiederholung der religiösen Leitprogrammatik von Freiheit und Knechtung. Das neue Narrativ erlaubt zudem den Anschluss an die alte Religionssymbolik, indem es antike Göttinnen, Altäre, Feste, das Paradies und weitere Symbole im Kontext ihrer neuen Semantik aufgreift und zu einer neuen Religionstradition transformiert. Das Spiel wird zur Performanz einer neuen Religionstradition, auch wenn ihrer Verstetigung kein institutioneller Erfolg einer longue durée beschieden war und die weitere Phase der Revolutionsreligion in Robespierres Erfindung einer „ sainte terreur “ der Guillotine kippen sollte. 159 „ Religion spielen “ auf der Bühne der Geschichte - Reenacting Religion in der Französischen Revolution Anmerkungen 1 Vgl. zu den verschiedenen Phasen des Zusammenhangs von Religion und Revolution sowie zu den Begriffsproblemen, die hiermit zusammenhängen: Mona Ozouf, „ Revolutionäre Religion “ , in: François Furet und Mona Ozouf (Hg.), Kritisches Wörterbuch der Französischen Revolution, Band II, Frankfurt am Main 1988, S. 833 - 848. 2 Vgl. Jean-Jacques Rousseau, Du contrat social ou Principes du droit politique. Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts. Französisch/ Deutsch, in Zusammenarbeit mit Eva Pietzcker übersetzt und herausgegeben von Hans Brockard, Stuttgart 2010. Diese Ausgabe wird im Folgenden mit der jeweils doppelten Seitenangabe zur französischen und deutschen Fassung zitiert. Vgl. zur religionstheoretischen Interpretation des Contrat social Jürgen Mohn, „ Religionskritik als Religionsbegründung: Das funktionale Religionskonzept in Jean-Jacques Rousseaus Contract social zwischen Christentumskritik und Apologie der Religion civile “ , in: Ulrich Berner und Johannes Quack (Hg.), Religionen in der pluralen Welt. Berlin 2012, S. 221 - 241. 3 Vgl. zu dem Drucker Basset, der Tradition der Revolutionsspiele und insbesondere zu der hier interpretierten Variante aus dem Jahr 1791 ganz allgemein: Rolf Reichardt, Das Revolutionsspiel von 1791. Ein Beispiel für die Medienpolitik und Selbstdarstellung der Französischen Revolution. Mit einer Spielanleitung herausgegeben und erläutert von Rolf Reichardt, Frankfurt am Main 1989; zum Drucker und Erfinder Basset speziell S. 11. 4 Vgl. Mona Ozouf, „ Dechristianisierung “ , in: François Furet und Mona Ozouf (Hg.), Kritisches Wörterbuch der Französischen Revolution, Band I, Frankfurt am Main 1988, S. 27 - 48. 5 Die Transzendenz der gesellschaftlichen Einheit zu symbolisieren und rituell zu versinnlichen, ist die eigentliche gesellschaftsbezogene Funktion der Religion, wie sie von Émile Durkheim, durchaus in der Tradition der Religionstheorie Rousseaus stehend, formuliert wurde: Émile Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt am Main 2007, S. 76. Zur Rolle der Feste und Bilder vgl. Walter Markov (Hg.), Die Französische Revolution. Bilder und Berichte 1789 - 1799, Berlin 1989 sowie Hans-Christian und Elke Harten, Die Versöhnung mit der Natur. Gärten, Freiheitsbäume, republikanische Wälder, heilige Berge und Tugendparks in der Französischen Revolution, Reinbek bei Hamburg 1989. 6 Vgl. hierzu Reichardt, Revolutionsspiel, S. 7 - 11. 7 Das Spiel wird nach einer Variante interpretiert, die sich im Musée National de l'Education in Rouen befindet: I. N. R.P/ Musee National de l'Education, Rouen (651601 1979 26375), Jeu national et instructif, Anonyme, Edit. Basset, Paris vers 1792. In der Mitte am unteren Rand steht: „ A Paris chez Basset rue St. Jacques au coin de celle des Mathurins “ . Bei der Institution bedanke ich mich für die Abdruckerlaubnis. Für den Hinweis auf dieses Blatt und für zahlreiche Hilfestellungen danke ich wiederum Hervé Tugaut. Das Spiel selbst wurde im letzten Quartal des Jahres 1791 fertiggestellt, vgl. hierzu Reinhardt, Revolutionsspiel, S. 11. 8 Rousseau, Gesellschaftsvertrag, S. 8/ 9. 9 Ebd., S. 10. 10 Hierzu entwirft Rousseau als abschließendes Kapitel des Gesellschaftsvertrages eine historische Typologie und Kritik bisheriger Religionsformen, die in die Begründung einer neuen, dem Gesellschaftsvertrag adäquaten „ Religion civil “ münden. Vgl. zur Dialektik von Religionskritik und Religionsbegründung Jürgen Mohn, „ Religionskritik als Religionsbegründung: Das funktionale Religionskonzept in Jean-Jacques Rousseaus Contract social zwischen Christentumskritik und Apologie der Religion civile “ , in: Ulrich Berner und Johannes Quack (Hg.), Religionen in der pluralen Welt, Berlin 2012, 221 - 241. Im Folgenden wird der Begriff der Zivilreligion synonym zum Begriff der Religion civile im Sinne Rousseaus verwendet. 11 Rousseau, Gesellschaftsvertrag, S. 300/ 301. 160 Jürgen Mohn 12 Ebd., S. 308 f. 13 Ebd., S., 298 f. 14 Ebd., S., 300 f. 15 Ebd., S. 310 f. 16 Siehe Reichardt, Revolutionsspiel, S. 28. 17 Diese beiden Verse wurden als Schriftzug unterhalb der mittleren Szene, um das Ziel der Geschichte zu erläutern, angebracht. 18 Vgl. Reichardt, Revolutionsspiel, S. 7. Vgl. zur Tradition des Gänsespiels in Frankreich Alain R. Girard und Claude Quétel, L'Histoire de France racontée par le jeu de l'oie, Balland 1982. 19 Siehe Reichardt, Revolutionsspiel, S. 11. 20 Vgl. zu dem auf Michel Foucault zurückgehenden Interpretationsansatz Jürgen Mohn, „ Heterotopien in der Religionsgeschichte. Anmerkungen zum „ Heiligen Raum “ nach Mircea Eliade “ , in: Theologische Zeitschrift 63 (2007), 331 - 357. 21 Vgl. zu dieser ritualtheoretischen und liminoiden Interpretation des Spiels Victor W. Turners Kulturtheorie, die explizit das Theater als einen solchen kulturellen Raum interpretiert: Victor W. Turner, „ Das Liminale und das Liminoide in Spiel, ‚ Fluß ‘ und Ritual: Ein Essay zur vergleichenden Symbologie “ , in: Vom Ritual zum Theater: Der Ernst des menschlichen Spiels, Frankfurt am Main 1989, S. 28 - 94, zum Konzept der Communitas S. 73. Ebenfalls zu den Konzepten des Schwellenzustands und der Communitas: Victor W. Turner, Das Ritual: Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt am Main 1989, S. 94 - 127. 22 Pierre Bourdieu: Das religiöse Feld, Konstanz 2000, S. 24. 23 Ebd., S. 97. 24 Vgl. Niklas Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt am Main 2000, S. 53 - 114. 161 „ Religion spielen “ auf der Bühne der Geschichte - Reenacting Religion in der Französischen Revolution