eJournals Forum Modernes Theater 30/1-2

Forum Modernes Theater
0930-5874
2196-3517
Narr Verlag Tübingen
10.2357/FMTh-2015-0009
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2019
301-2 Balme

Gegen Heiden, Papst und Mittelalter

2019
Jan Mohr
Gegen Heiden, Papst und Mittelalter. Theatralität und Textualität in Burkard Waldis ’ Bibeldrama Parabel vom verlorenen Sohn (1527) Jan Mohr (München) In carnival 1527, the former Franciscan and fervent Lutheran Burkard Waldis staged his Parable of the Prodigal Son in Riga, Livonia, a place of fierce struggles for religious hegemony between the archbishopric and the Protestant citizenship. The printed play text takes an emphatic position against moral decline in Rome, the Papal church and the ‘ dark ’ medieval times associated with religious medieval plays. This article traces the theatrical profile of the Parable in contrast to these older theatrical traditions. Whilst Easter or Passion plays typically aim for the audience ’ s immersion in order to make the truth of salvation evident, Waldis, in accordance with Lutheran theological and didactical positions, calls for a hermeneutical attitude to ensure the correct understanding of what is shown on stage. Even when the carefully structured levels of fictionality blur, the audience is called to take a position between the Catholic and the Lutheran doctrine of salvation from a rational distance. Wiederaufnahmen von religiösen Praxen unter veränderten kulturhistorischen Rahmenbedingungen lassen sich im Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit prominent am Nebeneinander verschiedener theatraler Form- und Funktionstypen beobachten. Zu den Geistlichen Spielen in mittelalterlicher Tradition und dem Fastnachtspiel, das in seinen ‚ geistlichen ‘ Spielarten immer auch für religiöse Stoffe und eine moraldidaktische Stoßrichtung offen war, tritt im 16. Jahrhundert das Bibeldrama als neue Form, die sich gegenüber den älteren Typen unter vielfältigen Kontinuisierungs- und Ablösungsbewegungen konstituiert. Daneben wären Praxen einer öffentlich performierten Frömmigkeit zu stellen, etwa die Predigt, die nicht nur in ihren elaborierteren, weithin wirksamen Formen auf theatrale Effekte setzt, oder Formen des liturgischen Gebets, die dem Gläubigen Projektions- und Identifikationsangebote machen, 1 und schließlich auch Heiltumsweisungen und öffentlich vollzogene Meditationsübungen. 2 Im weiteren Sinne sind diese Formen in den Kontext vormoderner Repräsentations- und Festkultur zu stellen, womit freilich der Bereich von Religiosität, Spiritualität oder Frömmigkeit überschritten ist. Die Rekonstruktion eines historischen Theatralitätsgefüges im 16. Jahrhundert, in dem die vier Grundtypen theatralen Agierens im Sinne Rudolf Münz ’ 3 auf Momente von kulturhistorischer Persistenz oder aber Transformation zu beziehen wären, ist selbstverständlich nur unter genauerer historischer, regionaler und soziographischer Differenzierung zu leisten. 4 Um sie kann es, zumal im Rahmen dieses Beitrags, nicht gehen. In einer zweifachen Reduktion der komplexen Gemengelage konzentriere ich mich erstens auf den Gegensatz zwischen dem Geistlichen Spiel in mittelalterlicher Tradition und dem Bibeldrama, das selbstverständlich nicht ohne Vorläufer ist, aber doch mit einigem Recht als genuin neuzeitlicher theatraler Formtyp angesprochen werden kann (dass beide Begriffe in dieser Allgemeinheit nur heuristische Schlagwör- Forum Modernes Theater, 30/ 1-2 (2015 [2019]), 106 - 121. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.2357/ FMTh-2015-0009 ter sein können, versteht sich). 5 Diesen Gegensatz diskutiere ich, zweitens, am Beispiel eines einzigen Bibeldramas, während mir die Geistlichen Spiele als eine notwendig pauschale (historische wie formtypologische) Kontrastfolie dienen. Burkard Waldis ’ Parabell vam vorlorn Szohn wurde im Februar 1527 in Riga aufgeführt und im gleichen Jahr gedruckt. Die Umstände dieser Aufführung sind brisant: Der Dramentext bezieht eine lutherische Position und spart nicht mit Polemik gegen die römische Kirche. Von der protestantischen Bürgerschaft initiiert, richtete sich seine Aufführung auch politisch gegen die katholische geistliche Obrigkeit. In der Biographie des Verfassers schließlich macht sie die Konversion des ehemaligen Mönchs zum lutherischen Glauben manifest. Anhand von Waldis ’ Parabel lässt sich eine kulturhistorische Konstellation nachzeichnen, in der frömmigkeitsgeschichtliche Praxen, ein ‚ reacting to religion ‘ und ein ‚ reenacting religion ‘ 6 einander nicht nur historisch unmittelbar berühren, sondern auch systematisch eng aufeinander bezogen sind. Das ‚ Wiederaufführen religiöser Performanzen ‘ , als das ich das Bibeldrama an diesem Beispiel perspektiviere, ist nach wie vor auf liturgische Praxen und das in ihnen perpetuierte Heilswissen bezogen, das den Voraussetzungsrahmen für die Geistlichen Spiele bildet. Für eine Rekonstruktion seines theatralen Profils ist also nicht der Münzsche Theatralitätsbegriff anzusetzen, sondern ein Perspektivbegriff, der auflösungsscharf Momente von Inszenierung und Korporalität, das Verhältnis von Bühnen- und Schauraum, von Alltags- und Spielwirklichkeit zu beschreiben erlaubt 7 und dabei deren jeweilige textuelle Entfaltung berücksichtigt. Denn entscheidende Differenzen zwischen Geistlichem Spiel und Bibeldrama, die nicht nur stofflich-thematische Schwerpunkte, sondern das konzeptuelle Profil betreffen, werden vor allem am Verhältnis von Textualität und Theatralität, von Textstrukturen und dem in einem Spielraum phänomenal zur Geltung Kommenden zu beobachten sein. Einerseits versuche ich nämlich zu zeigen, dass im Gegensatz zum typischen theatralen Profil der Geistlichen Spiele Waldis ’ Parabel nicht auf Nähe und Involviertheit beim Publikum, sondern auf kritische Aufmerksamkeit und hermeneutische Distanz angelegt ist. Dieser Ausrichtung - es liegt nahe, sie auf die protestantische Schriftbasiertheit der Verkündung zu beziehen - korrespondiert andererseits eine Auffächerung von Fiktionalitätsebenen, wie sie den Oster- oder Passionsspielen des 15. und 16. Jahrhunderts grundsätzlich fremd ist; sie wiederum hat einen Modus der Textproduktion zur Voraussetzung, der in höherem Maße von Schriftlichkeit 8 geprägt ist, als bei den Geistlichen Spielen der Fall. Beides (und damit eine typologische Differenz zwischen Geistlichem Spiel und Bibeldrama) lässt sich aber nur beschreiben, wenn man in die Frage nach der spezifischen Theatralität konsequent Kategorien der Textualität einbezieht. Für Waldis ’ Parabeldichtung ist man umso mehr auf einen solchen Ansatz angewiesen. Denn die folgenden Überlegungen zum theatralen Profil des Stücks sind überwiegend nur aus dem Druck heraus zu entwickeln; Quellen zur Aufführung selbst sind nicht bekannt. Der Drucktext nun verfährt einerseits mit Angaben zu einer Umsetzung insgesamt sehr sparsam, so dass er ein Potential für die theatrale Umsetzung bietet, das vor allem durch seine Offenheit bestimmt ist. Es mag daran liegen, dass der nachträgliche Druck nicht mehr eine mögliche Aufführung vorstrukturieren und organisieren musste, sondern sich bereits an ein Lesepublikum richtete; jedenfalls steht in ihm das gesprochene Wort ganz im Vordergrund. Dennoch entwirft er andererseits ein Bild, in dem theatrale Mimesis und 107 Theatralität und Textualität in Burkard Waldis ’ Bibeldrama Parabel vom verlorenen Sohn kultische Handlungen aufeinander bezogen sind, und legt für diese Relationen einen klaren Rahmen fest. So ist er nicht nur kultur-, sondern auch theaterhistorisch aufschlussreich, weil er zwar nicht oder nur eingeschränkt theatrale Praxen dokumentiert, aber von diesen doch historische Vorstellungsmöglichkeiten und Erwartbarkeiten anzeigt. 1. Passionsfrömmigkeit, Reformation und Bibeldrama Wollte man Geistliches Spiel und Bibeldrama zunächst als theatrale Formtypen unterscheiden, könnte man von einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen sprechen. Gegenüber ersterem stellt das Bibeldrama eine junge Dramenform dar, die neue Stoffbereiche erschließt, aus anderen Trägerschaften und in veränderten soziokulturellen Bedingungen entsteht, anders funktionalisiert wird und einen anderen Ort im frömmigkeitsgeschichtlichen Feld der Zeit besetzt als seine ältere Verwandte. Diesen veränderten historischen Rahmungen korrespondieren formale und strukturelle Neuerungsbewegungen, die sich einer im Kern humanistischen Bildung verdanken. ‚ Bibeldrama ‘ bezeichnet eine verhältnismäßig weich konturierte historische Textgruppe. Als gemeinsamen Nenner hat man bestimmt, dass die biblischen Stoffe in eine am antiken Drama geschulte Form gegeben werden, also unter prinzipieller Wahrung der aristotelischen Einheiten, ganz überwiegend durch humanistisch gebildete Bearbeiter, die die lateinische Komödie, deren rhetorische Standards, Sujetfügungen und die Einteilung in Akte kennen, sich besonders an Plautus und Terenz orientieren und Theater in erster Linie als didaktisches Schultheater konzipieren. 9 Thematische Schwerpunktsetzungen haben zudem einen Grund in der reformatorischen Haltung gegenüber den Geistlichen Spielen. Luther lehnt sie ab; nicht nur wegen der schwankhaften Krämer- oder Teufelsszenen, sondern auch aus „ Furcht vor Entheiligung des zentralen Christusgeschehens “ durch ungeschickte Darstellung, 10 und noch grundsätzlicher, weil sie zu einer immersiven Rezeptionshaltung verleiteten und so von der Reflexion der eigenen Sündhaftigkeit ablenkten. Das Verdikt der protestantischen Theologie konnte nicht ohne Auswirkungen bleiben, denn rund 80 % der im 16. Jahrhundert entstandenen Bibeldramen stammen von Verfassern oder Bearbeitern mit protestantisch-theologischem Hintergrund. 11 Dennoch sind auf den Gottesdienst ausgerichtete theatrale Praxen, wie sie sich im Mittelalter entwickelt hatten, mit der Ablehnung durch die reformatorischen Theologen nicht einfach aus der Welt geschafft. Denn andere Stoffe hat Luther ausdrücklich als für Aufführungen geeignet hervorgehoben: Stoffe aus den Apokryphen, einige alttestamentliche Geschichten und die Gleichnisse Jesu seien zur Didaxe insbesondere in der Schule sehr geeignet. Überdies lehnt er die Geistlichen Spiele nicht rundheraus ab; sie hätten in der Vergangenheit ihren Zweck erfüllt, nunmehr aber seien sie nicht mehr zeitgemäß. Dem Verfassen von Bibeldramen ist damit auch ein zeitlicher Index eingeschrieben, der zumal bei den protestantischen Verfassern mit Neubeginn konnotiert ist 12 und in der hier eingenommenen Perspektive die Rede von einem ‚ reacting to religion ‘ , von einer Reaktion auf überkommene theatrale Form-, Stoff- und Funktionstypen rechtfertigt. Die veränderten Parameter, in denen geistliches Theater im Zeichen der Reformation praktiziert wird, illustriert ein kategorialer Unterschied zum Spiel der älteren Tradition: Der christliche Glaube ist im Bibeldrama nicht mehr in selbstverständlicher Alternativlosigkeit vorauszusetzen, sondern kann Geltung nur in Auseinander- 108 Jan Mohr setzung mit theologischen Positionen anderer Konfession(en) beanspruchen. Die Ansprüche auf alleinige und universelle Gültigkeit und Verbindlichkeit bedingen eine Selbstreflexion der eigenen theologischen und daraus abzuleitenden moraldidaktischen und politischen Standpunkte. Besonders deutlich wird das dort, wo biblische Stoffe Auslegungen durch beiderlei Konfessionen nahelegten. Das Gleichnis vom verlorenen Sohn gehört zu den beliebtesten Stoffen überhaupt für eine bibeldramatische Bearbeitung im 16. Jahrhundert. In dieser Geschichte vom reuigen Sünder, der sein Erbteil verprasst und heimkehrt, um als der niedrigste aller Tagelöhner sein Leben zu fristen, doch vom Vater in Liebe wieder aufgenommen wird, sah die protestantische Theologie eine prominente biblische Gewährsstelle für ihre Lehre, wonach der Mensch Rechtfertigung nicht durch Werke, sondern allein durch den unbedingten Glauben (sola fide) und Gottes Barmherzigkeit (sola gratia) finden könne. 13 Rund 20 dramatische Bearbeitungen erfährt der Stoff im 16. Jahrhundert; Waldis ’ Parabel gehört zu den frühesten. 14 Eine explizite Ausdeutung erfährt das Gleichnis vom verlorenen Sohn nicht, aber sie wurde schon von den Kirchenvätern als Allegorie auf den reuigen Sünder ausgelegt, der von Gott in Gnade wieder aufgenommen wird. 15 Der Stoff war keineswegs nur geeignet, protestantische Positionen zu stützen. Nahm man nämlich an, dass der verlorene Sohn Reue zeigt und mit eigenen Bußleistungen beginnt, dann entsprach dies allegorice genau dem Dreischritt von der Reue des Herzens (contritio cordis) über das Sündenbekenntnis (confessio oris) zur Buße (satisfactio operis), wie die römische Theologie ihn als Voraussetzung für die gnadenhafte Annahme durch Gott konzipierte. Dieser Lehre zufolge kann der Sünder seine Rechtfertigung zwar nicht selbst erreichen, er kann sie aber initiieren, und zwar durchs Werk. Dies wird die lutherische Lehre ablehnen und stattdessen die Notwendigkeit einer aufrichtigen inneren Zerknirschung und des unbedingten Glaubens an die Gnade Gottes betonen. 2. Waldis ’ Parabel - Text, Kontext, Selbstpositionierung Waldis ’ Parabel vom verlorenen Sohn lässt keinerlei Zweifel aufkommen, welcher Konfession sie das Wort redet. Dass wir alle erlöst und vor Gott gerechtfertigt seien „ aus rechter Gnade und rein aus Gunst / Ohne all unser Zutun, Werke oder Leistung “ ( „ Vth rechter gnad vnd ydel gunst / On all vnße todont, werck vnd kunst “ ), wird zu einer Formel, die im Verlauf der Aufführung immer wieder vorgetragen wird. 16 Wie provokant diese Aussage in der Aufführung wirken musste, zeigt ein Überblick über deren historischen Umstände. Burkard Waldis wurde um 1490 im hessischen Allendorf geboren, doch sind zu seiner Jugendzeit so gut wie keine Quellen erhalten. 17 Greifbar wird Waldis erst wieder in den 1520er Jahren in der livländischen Hauptstadt Riga; am östlichen Rand des deutschsprachigen Raums also und im Brennpunkt einer von römischer Kirche und protestantischer Bewegung vehement umkämpften Region. Neben den Erzbischöfen - die Stadt war Sitz eines Erzbistums - verfolgte der Deutsche Orden eigene Interessen. Eine dritte einflussreiche Gruppe waren die Kaufleute der Hansestadt. 1522 schloss sich die Bürgerschaft der Reformation an. 18 Im Herbst 1523 sandten die Rigaer Franziskaner drei ihrer Ordensbrüder zum deutschen Kaiser, um Unterstützung gegen die livländische Reformation zu erwirken. Zusätzlich versuchte die Gesandtschaft, Unterstützung von Seiten des Papstes zu erlangen. Die günstigen Nachrichten, die sie in die Heimat übersandte, wurden dem protestantischen Rat der Stadt bekannt, und als 109 Theatralität und Textualität in Burkard Waldis ’ Bibeldrama Parabel vom verlorenen Sohn auf der Rückreise widrige Winde das Schiff mit den Mönchen direkt in den Hafen der Stadt trieben, wurden diese sofort verhaftet und eingekerkert. Doch soll einer schon nach wenigen Tagen seinem alten Glauben abgeschworen haben. Wenn, wie allgemein angenommen, dieser sehr schnell bekehrte Franziskanermönch tatsächlich mit Waldis zu identifizieren ist, dann hätte der eine bemerkenswerte zweite Karriere durchlaufen. Schon die Tatsache, dass seine Parabel öffentlich aufgeführt wurde, lässt auf eine gesicherte Position im sozialen Gefüge von Riga und wohl auch auf gute Kontakte zum Rat der Stadt schließen, und das nicht einmal drei Jahre nach Ende der verunglückten Gesandtschaft. Der frisch Bekehrte jedenfalls grenzt sich entschieden von allem ab, was seine Vergangenheit als Mönch geprägt hatte. Er nutzt dazu vor allem den Mund des für das Geistliche Spiel typischen Spielleiters. Wie sonst auch vermittelt der actor zwischen Bühnengeschehen und Publikum, er leitet die Handlung ein und kommentiert sie. In den einleitenden Passagen lässt Waldis seinen Spielleiter eine klare Position beziehen: Das ist nun der Evangelientext, den wir schön zu behandeln gedenken: Nicht um zur Leichtfertigkeit zu reizen, wie der Papst zu Rom tat, (der) auf Fastnachtspiele große Kosten verwendet, wo eine Maske eine zweite trägt: Senior pultron, der kommt des Wegs, Madonna putana steht in der Tür, Ribaldus belauert sie beide. D u ᵉ th ys nu dat EVANGELJON, / Dat wy dencken tractern schon: / Nicht reyssen tho lichtuerdicheit, / Wo de Pauwest tho Rome deyth, / An fastelauendes spell grot kosten lecht, / Do eyne larue de ander drecht: / Senior pultron de ridt vor, / Madonna putana steyt ynn der doer, / Ribaldus vp ße beyde wardt, [. . .]. (V. 197 - 205) Das zielt auf Figurentypen von Possen- und Fastnachtsspielen ab, Herrn Taugenichts, Maria Magdalena als Inbegriff der Hure, den Gauner. Schon dieses Personal zeige, so der actor, dass die Hauptstadt der Christenheit durch und durch verworfen ist. Dass „ eine [pointierend: jede] Maske eine zweite trägt “ , unterstellt, dass in der päpstlichen Kurie und der Stadt Rom Heuchelei und Betrug ohnehin an der Tagesordnung sind. Doch das Maskenmotiv wird darüber hinaus als Ausweis von Abgötterei überhaupt gelesen: „ Da wird kein Laster und keine Schande ausgespart, / Damit zeigen sie, dass sie / des Janus und der Abgötter Kinder sind. “ (V. 206 - 208) 19 Der doppelgesichtige (! ) Janus galt als Ahnherr der übrigen Gottheiten der römischen Mythologie. Waldis ’ Spielleiter bezieht also den alten Heidenglauben auf die Praxis der römischen Kirche. In der Druckfassung des Stücks wiederholt sich dies im Vorwort: Derweil nun die Abgötterei des Karneval, von den Heiden angefangen, auch durch die Maskenträger zu Rom jährlich gefeiert und aufrechterhalten wird und noch nicht gänzlich aus unseren fleischlichen Herzen gerissen werden kann, [aber wir] dieselben zumindest doch mit einer geistlichen Fastnacht ändern könnten, deshalb habe ich (mir) die Parabel vom verlorenen Sohn vorgenommen und auf das Christlichste, wie es mir möglich war, eingerichtet und vor der christlichen Gemeinde hier zu Riga ausgelegt. De wyle nu de affg o ᵉ derye des fastelauendes van den heyden angefangen ock dorch de laruendregers tho Rome yerliken celebrert werdt vnde by macht beholden vnd nach nicht gentzlick vth vnßern vleyschliken herten gerethen mach werden, de s u ᵉ lfftigen tom geringsten yo mith eynem geystliken vastelauendt vorwandelen mochten, Derhaluen bewogen hebbe ick de parabell vamm vorloren ßone vorgenamen vnde vp ydt Christlickste, wo my m o ᵉ glick was, gespeelt vnde vor der Christliken gemeynte allhir tho Ryga vthgelecht. (Vorrede, Z. 24 - 30) 110 Jan Mohr Hier zieht Waldis eine direkte Linie von den antiken Saturnalien zu den Karnevalsfeiern im sittenlosen Rom des Spätmittelalters, und er setzt dem allen einen „ geystliken vastelauendt “ , ein geistliches Fastnachtspiel entgegen. Das aber gehorcht anderen Gesetzen als die unterhaltenden Spiele der Gegenseite: Wir wollen aber etwas anderes lehren: In christlichen Zusammenhängen uns christlich gebärden. Und macht uns keinen Vorwurf draus, dass unser Stil so schlicht ist, zu Terenz gar wenig stimmt noch mit Plautus zusammenpasst, denn es ist keine erfundene Dichtung, sondern basiert auf der Wahrheit. Wy willen auers anders leren: / Jnn Christliken saken Christlick beren. / Vnd kerdt ydt vnß tho argem nicht, / Dat vnnßer Stilus ys ßo slicht, / Mit Terentio gar wenich stymbt / Nach mit Plauto ouer eyn kumbt, / De wyle ydt ys keyn fabel gedicht, / Sonder vp de rechte warheit gericht. (V. 209 - 216) Damit ist die im Titel dieses Beitrags angedeutete dreifache Abkehrbewegung erfasst. Waldis richtet sich gegen das antike Heidentum, das im sittenlosen Treiben Roms fortbestehe, gegen die klassische Komödiendichtung, die zwar stilistisch elaborierter sei, aber eben nur erfundene Unterhaltungshandlungen biete, und vor allem gegen die römische Kirche und die mit ihr assoziierte Tradition Geistlicher Spiele. 20 Die drastischste Polemik innerhalb des Textes allerdings zielt nicht auf die Spieltraditionen, sondern auf Lehre und Politik der römischen Kirche. Sie ist zum einen jenem Hurenwirt in den Mund gelegt, bei dem der Verlorene Sohn sein Erbteil verprassen wird. Zu Beginn der Szene hat er jedoch noch keine Hoffnung, jemals wieder ein gutes Geschäft zu machen. Grund dafür ist niemand anders als Martin Luther, der mit seiner Lehre von der Priesterehe die ganze Welt auf den Kopf stellt, nicht nur die üblichen Konkubinate von Pfaffen und Haushälterinnen zu beenden, sondern auch die Freudenhäuser um ihre beste Kundschaft zu bringen droht, nämlich die Kleriker inklusive Papst. Zu massiven Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt werde das noch führen: „ Wovon sollen sich die armen Mädchen ernähren, die zu spinnen und zu nähen nicht gelernt haben? “ (V. 484 f.: „ Wat schal sick mannich arme derne ernernn, / De spynnen, neyen nicht hefft gelerth? “ ) Auch der Wirt selbst habe ja kein anderes Handwerk erlernt. Schließlich aber wisse man ja schon aus dem Schöpfungsbericht: Aller Ärger und Streit hat angefangen, als Adam Eva zur Frau nahm. Wäre er doch besser zu Frauen gegangen, die für alle da sind - ins Freudenhaus. Zweifellos hat eine Aufführung dieser Passage auf Gelächter und Gejohle im Publikum abgezielt. Indes ist das nicht einmal die schärfste Polemik gegen Papst und Kirche. Im Prolog lässt Waldis den Actor eine Heilsgeschichte entwerfen, in der die historische Abfolge von Papstkirche und Reformation gewissermaßen auf den Kopf gestellt wird, indem die ältere als Einflüsterung des Teufels und Depravation des eigentlichen Christenglaubens verunglimpft wird. Gegen Jesu und der Apostel Lehre, dass der Mensch aus Gnade gerechtfertigt ist, habe der Teufel überall verbreiten lassen, der bessere Weg liege darin, sich auf seine Werke zu verlassen „ und so den Himmel zu erobern “ ( „ Vnd stormen ßo den hemmell hoech “ ; V. 95). So nahm das Unglück seinen Lauf: Jeder versuchte auf einem anderen Weg, Gott zu gefallen. Der eine rief die Heiligen an, der nächste ging ins Kloster, der dritte ließ sich mit Almosen bestechen, wieder einer ging barfuß - eine Anspielung auf die Bettelorden - usw. Schließlich sei noch der Papst ins deutsche Reich eingefallen, mit römischen Dieben und Ablassbriefen, habe die Menschen um Besitz und Ehre gebracht, Gott endgültig entfremdet und mit Leib und Seele dem Teufel übergeben (V. 111 Theatralität und Textualität in Burkard Waldis ’ Bibeldrama Parabel vom verlorenen Sohn 111 - 124). Suggeriert wird so: Der Papst ist kein anderer als der Antichrist selbst. 21 Doch Gott hat sich seines Volkes erbarmt und hat das Wort wieder erweckt: „ Du hefft dyn hylge wordt erweckt, / Dat langhe tydt her was bedeckt “ (V. 127 f.). Und damit schließt sich eine semantisch schillernde Argumentation an, in der mehrere Bedeutungsebenen einander überlagern (V. 127 - 164). Das ‚ Erwecken ‘ spielt auf die Menschwerdung Gottes ebenso an wie auf die Auferstehung Christi; außerdem aber auf die Erfolge der Reformation, die mit Luther als Sprachrohr der göttlichen Verkündigung wieder zu ihrem Recht verhilft und die Christenheit aus einer babylonischen Gefangenschaft führt. Die Reformation steht in Analogie zu den biblischen Strafen, die Babel getroffen hatten. Die Sündenstadt schließlich wird „ postfigural[] “ 22 auf das gegenwärtige Papst-Rom bezogen, dem gleichermaßen die Vernichtung drohe. Wo in Riga das Stück aufgeführt wurde, ist nicht mehr zu klären. 23 Doch einerlei, ob in oder vor einem Zunfthaus, der Pfarrkirche St. Petri (von wo seit 1522 die Reformation vorangetrieben worden war) oder auf dem Marktplatz - die Aufführung besetzte einen Raum, der in vielfältiger Weise religiös, politisch und öffentlich-repräsentationell codiert gewesen sein wird, und belegt ihn mit sekundären Bedeutungszuweisungen. Waldis ’ Parabel markiert nicht nur eine konfessionelle und biographische Positionierung; in ihrer Aufführung okkupierte der Verfasser auch ganz konkret öffentlichen Raum und disponierte über ihn mit den Körpern seiner Darsteller. Gut denkbar, dass dabei auch Strukturen älterer Spieltraditionen überschrieben wurden und dass dies eine aufmerksame Bürgerschaft, zumal in der konfessionell aufgeladenen Situation, wahrnahm. 24 Das auf dem Titelblatt des Drucks sorgfältig vermerkte Aufführungsdatum spricht dafür. Es fällt in die Fastenzeit (17. 02. 1527) und damit in eine (römisch-)kirchlich hoch codierte Lizenzphase von Festlichkeiten. Die Aufführung stieß zudem mitten in ein Machtvakuum, das der Erzbischof mit einer langen Reise hinterlassen hatte. 25 Wenn Waldis in dieser Zeit dem römischen Treiben ein ‚ geistliches Fastnachtspiel ‘ entgegenhält - was ohne Unterstützung von Stadt und Rat nicht denkbar ist - , besetzt er einen von Machtstrukturen der Bürgerschaft und der Kirche skandierten öffentlichen Raum der Stadt und sucht ihn im Sinne protestantischer Frömmigkeit umzucodieren. Er bedient sich dabei - in den Wirtshausszenen - der abgelehnten Muster der römisch geprägten Fastnachtstraditionen, und er gestaltet seine Parabel grundsätzlich nach dem Muster eines Geistlichen Spiels, formal durch Verwendung der Simultanbühne, 26 funktional, insofern er ihm immer wieder gottesdienstliche Elemente integriert. Diese sorgen freilich für eine komplexe Struktur, wie sie die älteren Spieltraditionen typischerweise gerade nicht kennen. 3. Textstrukturen Waldis gliedert die Handlung in zwei Akte: Der erste umfasst den Auszug des Sohns und seinen Abstieg bis zum hungernden Schweinehirten, der zweite die Rückkehr nach Hause, die Aufnahme durch den Vater und das Festmahl. Diese klare Struktur 27 wird allerdings gerahmt und durchschossen von mehreren anderen Textschichten, darunter am auffälligsten die Kommentierungen durch den Actor einerseits und liturgische Elemente andererseits. Aufwändig gerahmt ist vor allem der erste Akt. Bevor die Handlung beginnt, spricht der Spielleiter einen Prolog, der zur oben zitierten Kernthese des Stücks von der Rechtfertigung sola gratia hinführt. Eben diese Wahrheit, so der actor, sei nun anhand der Parabel aus dem Lukas-Evangelium zu erweisen. Bevor nun 112 Jan Mohr die Handlung beginnt, tritt ein Kind auf und trägt das Gleichnis vor, auf Niederdeutsch, aber sehr genau dem Wortlaut Luthers folgend. Danach nimmt der Actor seine Rede wieder auf und stellt das Anliegen der dramatischen Bearbeitung klar; hier erfolgt jene dreifache Abgrenzung gegen heidnische Komödie und heidnisch-römische Saturnalien, gegen Papstlehre und das durch den Papst repräsentierte ‚ dunkle ‘ Mittelalter. Es wird ein Lobgesang auf Gott angestimmt, 28 bevor der Darsteller des verlorenen Sohns die Bühne betritt und die eigentliche Gleichnishandlung beginnt. Nachdem der Sohn zum Schweinehirten herabgesunken ist, wird sie vom Spielleiter ausführlich kommentiert, und eine Liedversion von Psalm 13 (Klagelied über die Ungläubigen) beschließt den ersten Akt. An Systematizität ist diese verschachtelte Konstruktion nicht interessiert; nicht jeder Rahmen, der eingangs aufgezogen wird, wird am Ende des ersten Akts auch wieder aufgenommen und geschlossen. 29 Deutlich ist aber, welchem Impetus sich die Struktur verdankt. Die Wahrnehmung des Spiels durch die Zuschauer soll kognitiv und institutionell kanalisiert werden; dazu die Kommentare und einleitenden Passagen, dazu auch die liturgischen Elemente: der Hymnus, der Evangelientext, der Psalm. Dieses Textkonzept teilt die Parabel im Prinzip mit dem Geistlichen Spiel, doch wird es aufwändiger umgesetzt. Noch einmal komplexer wird die Strukturierung dieser verschiedenen Sinnschichten im zweiten Akt - auch, weil noch eine weitere Bedeutungsebene hinzukommt. Zunächst jedoch wird die Handlung eigentümlich zerschnitten. Der verlorene Sohn kehrt nach Hause zurück, wird liebevoll aufgenommen, der Vater gibt Anweisungen für ein Festmahl. Während auf der Bühne die Bediensteten einen Tisch vorbereiten, wird das Te deum, ein lateinischer Lob- und Bittgesang, angestimmt. Dies kann man noch als geschickte Überbrückung der Umbaupause auf der Bühne interpretieren; bei der nächsten Unterbrechung der Handlung fällt dies allerdings schwerer. Denn nachdem das Festmahl unter reichhaltiger musikalischer Untermalung zu Ende gegangen ist, tritt der ältere Sohn auf, der von der Feldarbeit nach Hause kommt. Jetzt kommt es zu Waldis ’ zentraler Erweiterung gegenüber der biblischen Vorlage. Aus Enttäuschung über den Vater beschließt der ältere Sohn, dessen Gnade zu erzwingen, indem er Mönch wird und damit die strikte Einhaltung der väterlichen Gebote, die er ja stets für sich in Anspruch genommen hatte, evident macht. Dabei deutet sich bereits eine Überblendung von Wirklichkeitsebenen an. Der Vater ist in der Logik des älteren Sohns zugleich auch der himmlische Vater; nur Gottes Gebot hält man ja genauestens ein, indem man Mönch wird. Der Erstgeborene wird damit über den Evangelientext hinaus als eine Gegenfigur zu seinem Bruder aufgebaut, an der die These des Stücks von der Rechtfertigung im Glauben ex negativo illustriert werden soll. Der Ältere wird in die römische Position gespielt, deren Rechtfertigungslehre von der Werkgerechtigkeit ausgeht. Darin aber wird er nicht nur zur Gegenfigur zu seinem jüngeren Bruder, sondern zu noch einer weiteren Figur. Nachdem der Actor den Entschluss des Erstgeborenen, Mönch zu werden, ausführlich kommentiert und aus protestantischer Perspektive verworfen hat, tritt nämlich der Hurenwirt aus dem ersten Akt an den Spielleiter heran. Er fragt, ob es denn stimme, dass man Erlösung finde allein durch die Gnade Gottes, der jeden reuigen Sünder aufnimmt. Das bestätigt der Actor, und der Zuhälter bekennt seine Sünden. Er, in der Handlung des Stücks die verworfenste von allen Figuren, findet über das Exempel des von ihm ruinierten Sohns zurück zu Gott. 113 Theatralität und Textualität in Burkard Waldis ’ Bibeldrama Parabel vom verlorenen Sohn Nachdem der Bußpsalm 129 Aus tiefer Not schrei ich zu dir gesungen worden ist, stehen der frisch Bekehrte und der ältere Sohn nebeneinander auf der Bühne, letzterer im Bußpredigergewand und über und über mit „ denckczedeln “ (nach V. 1934) - wohl Ablassbriefen - behängt. Während er Gott selbstgewiss für die ihm verliehene moralische Überlegenheit dankt, steht neben ihm der Hurenwirt, bekennt seine Sündhaftigkeit und ruft Gott um Gnade an. Zwischen diesen beiden Figuren, nicht zwischen älterem und jüngerem Bruder ist der stärkste Kontrast im Stück angelegt. Selbstverständlich wird auch diese Szene durch den Spielleiter kommentiert, bevor das Kind, das eingangs den Evangelientext vorgetragen hatte, einen Segen über die versammelte Gemeinde spricht und das Stück endet. Diese Struktur ist ziemlich kompliziert, auch im Vergleich zu den meisten anderen Parabelspielen des 16. Jahrhunderts. Ihr zu folgen, musste für das Rigaer Publikum - ausdrücklich richtet sich die Vorrede an alle Stände, auch die bildungsfernen - eine erhebliche Herausforderung bedeuten. Dabei macht die eigentliche Spielhandlung nur etwa die Hälfte des gesamten Textumfangs aus, während daneben allein die Sprechanteile des Actors, ganz überwiegend ja Kommentare, auf ein gutes Drittel kommen. Das entspricht nicht nur der lutherischen Position, wonach die Darstellung heilsgeschichtlicher Handlungen auf der Bühne nicht um ihrer selbst erfolgen dürfe. Offenkundig zielt das Spiel darüber hinaus auch auf ein richtiges Verständnis ab, das nicht schon durch die mimetische Darstellung auf der Bühne gesichert ist, sondern der Sinnsicherung im theologischen Kommentar bedarf. Waldis orientiert sich am lutherischen Prinzip des sola scriptura; gerade auch da, wo er ankündigt, er habe das Gleichnis nicht „ nach Art der Kirchenväter “ ( „ nha der vedere wyße “ ) ausgelegt, „ sondern etwas darüber hinaus in es hineingelegt “ ( „ sonder etwas besonders [. . .] ynngethagen “ ), das zwar in „ der h u ᵉ chler [Heuchler] ohren seltzam “ klingen werde, sich jedoch ebenfalls „ gnochsam mit schrifft “ belegen lasse (Vorrede zum Druck, Z. 33 - 35). Gegen die Lehren der römischen Kirche stellt sich das Stück unter Berufung auf den Heiligen Text selbst. Es verbindet dabei Schriftauslegung mit Konfessionspolemik und ist insofern als Kommentar im doppelten Sinne lesbar: als Attacke gegen das römische Christentum, aber auch grundsätzlicher im Sinne Foucaults als eine Rede, die wiederholt, ohne das Wiederholte eigentlich erreichen zu können und zu wollen. 30 Dieser typisch lutherischen Schriftbasiertheit sind nicht nur die Textstrukturen, sondern ist auch die Lenkung der Rezeptionshaltung zugeordnet. 4. Pragmasemiotik - hermeneutische Distanz statt compassio Martin Luther lehnte die spätmittelalterlichen Passions- und Fronleichnamsspiele seiner Zeit nicht nur deswegen ab, weil die aufwändigen Spektakel vom theologischen Gehalt des aufgeführten biblischen Geschehens abzulenken drohten, sondern er sah das Geistliche Spiel seiner Zeit, das längst zu einem veritablen Massenmedium geworden war, auch als riskant und kaum zu kontrollieren an. Denn wie die Spiele von einer größeren Zuschauerschaft aufgenommen werden konnten, was diese akustisch jeweils verstehen konnte und mit welcher Aufmerksamkeit sie entsprechend dem Geschehen auf der Bühne eigentlich folgte, das war letztlich nicht vorauszusehen. 31 Einzelne historische Quellen legen die Einschätzung nahe, dass das Publikum gerade anders als erwünscht reagiert hat, dass also eine eher punktuelle Wahrnehmung des Bühnengeschehens wie eine Kippfigur funktioniert haben könnte. 32 114 Jan Mohr Wohl gerade deswegen wird in den überlieferten Spieltexten großer Wert darauf gelegt, dass das Publikum genau achtgeben solle, und das begründet sich aus den Geltungsansprüchen des theatral Dargebotenen. Das Geistliche Spiel bleibt ja auf lange hin in liturgische Rahmungen eingebunden und grundsätzlich stets auf sie bezogen. So enden die Osterspiele typischerweise mit der Aufforderung an die versammelten Zuschauer, in den Gesang des Osterlieds Christ ist erstanden einzustimmen. Die Mimesis der Bühnendarstellung wird so wieder zurückgelenkt auf den liturgischen Rahmen und Anlass, die versammelten Zuschauer werden wieder zur Gemeinde. Und in den einleitenden Momenten, in denen allererst die Spielsituation begründet und gegenüber einer Alltagsrealität etabliert werden muss, wird nicht selten eine erhöhte Aufmerksamkeit mit Verweis auf das Seelenheil der Zusehenden eingefordert; so etwa im Alsfelder Passionsspiel, das zur Hessischen Passionsspielgruppe gehört, aus der Waldis in seiner Jugend Aufführungen erlebt haben könnte: „ denn wer hier mit inniger Andacht zusieht, dem steht das Himmelreich offen “ ( „ want wer hie zu siet mit ynnikeyt, / dem wirt das hymmelrich bereyt “ ). 33 Regional näher bei Waldis ’ Parabel steht das niederdeutsche Redentiner Osterspiel, dessen überlieferte Textfassung 1464 im Ostseeraum in der Gegend um Rügen niedergeschrieben wurde. In ihm wird die Aufforderung an die Versammelten, genau achtzugeben, weiter ausgeführt und mit dem Erlösungswerk Gottes begründet: Setzt euch nieder und freut euch, die ihr jetzt hier versammelt seid. Freut euch über diese Zeit: ihr könnt von Sünden frei werden. Gott, der will in dieser Zeit die erlösen, die da von dem Bösen ablassen. Die da heute mit Gott auf(er)stehen, die werden frei von Sünden weggehen. Auf dass euch dies alles geschehe, möge ein jeder hören und sehen. Settet ju nedder unde vrowet ju, / De hyr sint ghesammelt nu! / Vrowet ju an desser tid: / Gy moghen werden van sunden quyt. / Got de wil in desser tyt losen / De dar laten van dem bosen. / De dar huten myt gade upstan, / De scholen vrig van sunden gan. / Up dat ju dat allent sche, / En jewelk hore unde se. 34 In diesen Versen vollzieht sich eine aufschlussreiche Überblendung. Das mittelniederdeutsche upstan (V. 15) kann zugleich auch ‚ auferstehen ‘ meinen. Der Satz ist damit doppeldeutig, er bezieht sich auf die theatrale Aufführungssituation, auf den sie rahmenden liturgischen und schließlich auch auf den in ihr wiederholten heilsgeschichtlichen Zusammenhang. Wer heute hier aufsteht - nachdem er das Spiel gesehen hat - , der geht von Sünden befreit weg. Dies setzt eine Praxis voraus, wonach die feierliche Darstellung heilsgeschichtlicher Zusammenhänge eine Bußübung für das eigene Seelenheil darstellt, und zwar nicht nur für die Darsteller, sondern auch für die Zusehenden. Sie können sich freuen, weil sie „ nu “ , indem sie das Spiel ansehen, von Sünden befreit werden können. Diese Linie erlaubt der Wortlaut aber noch wesentlich stärker zu betonen: Der Zuschauer, der hier nach dem Spiel aufsteht, der aufersteht zugleich. Die theatral wiedergegebene biblische Handlung von der Auferstehung Christi schlägt in deren heilsgeschichtlicher Bedeutung ganz unmittelbar auf die Zeugen der Aufführungssituation über, wo nach einem modernen Verständnis heilsgeschichtliche Zusammenhänge lediglich nachgespielt werden. Ein solches ‚ nur ‘ gilt für vormoderne Aufführungen geistlicher Stoffe gerade nicht. Ebenso wie die Heilsgeschichte und ihre Darstellung miteinander verschmelzen können, so dass zweitere wirken kann wie erstere, 35 so deutet sich in den Versen zudem eine Verschmelzung von Zeiten an, der aktuellen Gegenwart und der heilsgeschichtlichen Zeit. Von Sünden 115 Theatralität und Textualität in Burkard Waldis ’ Bibeldrama Parabel vom verlorenen Sohn erlöst wird man, indem man das mimetisch wiederholte Leiden Christi erlebt, und indem Christi Auferstehung gezeigt wird, vollzieht sich Gottes Erlösungswerk im Moment des Zusehens für die christliche Gemeinde. Verschränkungen von Zeitschichten sind in Waldis ’ Parabel zwar auch zu verzeichnen, wenn der Hurenwirt des Gleichnisses sich über die unhaltbaren Zustände nach der lutherischen Reformation beklagt. Doch wo die Tradition der Geistlichen Spiele einen jenseits des zuschauenden Kollektivs sich vollziehenden Ergehenszusammenhang voraussetzt, zielt der Verlorene Sohn auf figurale Relationierungen ab, die rational nachvollzogen werden müssen und damit eine kognitive Anforderung darstellen. Nicht auf Erlösung, sondern auf Verständnis zielt der Actor in seiner Anrede an das Rigaer Publikum ab: Wolltet ihr nun alle schweigen und still sein, so wollen wir euch beweisen, wie Gott der Vater in Ewigkeit zu allen Zeiten bereit ist, uns alle gemeinsam zu erlösen [. . .]. Derweil nun Gottes Wort ewig währt, wollen wir es mit der Schrift erweisen, dass denen der Mund gestopft werde, die Gottes Wort zu jeder Zeit lästern; und zwar mit der Parabel [. . .]. Die könnt ihr unverändert hören, dass ihr umso besser verstehen könnt, worauf dieses Spiel hier hinauslaufe. (V. 177 - 196) Wolden gy nu swygen vnd stille syn, / Szo wollen wy yuw beweren fyn, / Wo godt de vader ynn ewicheit / Tho allen tyden ys bereydt, / Salich tho maken vnß all gemeyn, [. . .]. De wyle nu godts wordt ewich blifft, / Welln wy ydt bewysen mit der schrifft, / Dat den gestoppet werde de mundt, / De godts wordt lestern tho aller stundt; / Vnd dat mit der parabell doen, [. . .]. De mogen gy h o ᵉ ren vnuorruckt, / Dat gy ydt destebeth m o ᵉ gen vorstan, / Wor vp dith spill hir sy gedan. Nicht nur setzt diese Aufforderung eine Frontstellung voraus, die die Geistlichen Spiele des Mittelalters, auch des Spätmittelalters, so nicht kennen konnten, nämlich die Positionierung eines reformatorischen Spiels gegen den Glauben der römischen Kirche. Sondern vor allem ist der Erweis, dass die römische Position die falsche ist, durch die Heilige Schrift selbst zu erbringen. Die Aufforderung zu genauer Aufmerksamkeit begründet sich hier, anders als typischerweise im Geistlichen Spiel, nicht mit einer direkten Auswirkung auf das Seelenheil, und das entspricht nur der Position Luthers, der es strikt abgelehnt hatte, im Besuch eines solchen Spiels eine Bußleistung sehen zu wollen. Nicht also auf compassio zielt Waldis ’ Actor ab, sondern auf eine Beweisführung, die die Zuschauer zu distanzierten Beobachtern macht. Komplementär soll die Genauigkeit, mit der der biblische Wortlaut umgesetzt sei, einen kognitiven Nachvollzug des Aufzuführenden erleichtern. Im Kern ist damit statt Immersion oder schweifender Aufmerksamkeit eine hermeneutische Haltung gegenüber der Spielaufführung eingefordert. Sie beizubehalten wird dem Publikum über den Aufführungsverlauf hinweg immer wieder nahegelegt. Auf die Integration der Zusehenden zu einer Gemeinschaft von Gläubigen wie im Geistlichen Spiel zielt Waldis ’ Parabel zwar auch ab, etwa wenn Hymnen und Kirchenlieder angestimmt werden. Insgesamt herrscht aber ein belehrender Gestus vor, der prinzipiell Distanz voraussetzt und den einzelnen Zuschauenden auf dessen eigene kognitive Fähigkeiten verweist. Insofern könnte man in einer idealtypischen Unterscheidung das Geistliche Spiel seinem sozialen Effekt nach konsoziierend, die Parabel hingegen desintegrierend nennen. Diese pragmasemiotische Faktur wird ergänzt durch eine text- und näherhin schriftgestützte Auffächerung von Bedeutungsebenen, wie sie das Geistliche Spiel prinzipiell nicht kannte. 116 Jan Mohr 5. Auffächerung und Überblendung von Bedeutungsebenen Das Geistliche Spiel stellt seinem Selbstverständnis zufolge mimetisch biblisches Heilsgeschehen dar. Es wiederholt auf der Bühne heilsgeschichtliche Vorgänge und bestätigt und aktualisiert so Heilswahrheiten. 36 Parabelstücke tun dies nicht. Nach dem Verständnis des 16. Jahrhunderts sind sie allegorische Stücke; was sie also zeigen, hat Gültigkeit nur im Hinblick auf einen übertragenen Sinn. 37 Wohl sind sie mimetisch, aber nicht mimetisch auf Heilsgeschehen bezogen. Die Parabel vom verlorenen Sohn stellt nicht christliches Heilsgeschehen dar, sondern ein innerhalb des Heilsgeschehens geäußertes Gleichnis. Von der Alltagsrealität der Zuschauer in Riga ist die Bühnenhandlung gewissermaßen zweifach getrennt, insofern sie nachahmt, was seinerseits erst allegorisch gedeutet werden muss, um auf Heilswahrheiten zu verweisen. Zu Beginn wird in Waldis ’ Parabelstück diese semiotische Struktur des Bezeichnens auch strikt beibehalten. Insbesondere der Spielleiter sorgt immer wieder dafür, dass das dargestellte Geschehen in seiner übertragenen Bedeutung und allegorischen Bedeutsamkeit wahrgenommen und bedacht werden kann. Ausführlich resümiert der Actor das Bühnengeschehen und deutet den verlorenen Sohn als Sünder, der sich von Gott abkehrt. Der Mantel, der Ring und die Schuhe, die dem Heimkehrenden angelegt werden, legt er als Zeichen für die wiederhergestellte Reinheit der Seele, für Gottes ewige Zuneigung und als Schutz vor sündhaftem Begehren aus; das Kalb, das zum Fest geschlachtet wird, wird auf Christus gedeutet, der die Gläubigen mit seinem Blut und Fleisch nährt (V. 1656 - 1705). Daneben kann die Differenz zwischen gezeigtem Parabelgeschehen und seiner allegorischen Bedeutung auch in der Performanz der Aufführung markiert werden. Wenn während der Darstellung des Festmahls auf der Bühne der Eucharistie-Hymnus Jesus Christus ist unser Heyland gesungen wird, kann das Publikum das dargestellte Festmahl als Zeichen für das Abendmahl wahrnehmen. Dieses wird aber, dem Drucktext zufolge, nicht mimetisch nachgeahmt, und so wird die Differenz zwischen dargestelltem Eigentlichen und übertragen Gemeintem gerade in der Analogisierung unterstrichen. Im Verlauf des zweiten Akts allerdings kommt es zu Überblendungen zwischen den verschiedenen Fiktionalitätsebenen. Das ist zwar nicht ungewöhnlich für die Parabelstücke des 16. Jahrhunderts. In ihnen ist immer wieder ein Changieren zwischen einer wörtlichen und einer übertragenen Sinnschicht zu beobachten, in denen die Figuren die Grenzen der Bedeutungsebenen in beide Richtungen überschreiten können. Was Waldis ’ frühes Stück vor diesem Hintergrund aber auszeichnet, ist die präzise Regie, in der die beiden Ebenen einander angenähert werden. 38 Waldis entwirft ein Theater semiotischer Differenz, und wo diese sich auflöst, hat das eben die generelle Stabilität der dramenintern entworfenen Ebenenschichtung zur Voraussetzung. Das beginnt mit den Klagen des Sohnes auf dem Tiefpunkt seiner Karriere. Sie werden vom Spielleiter der Tradition entsprechend als die Klagen der reuigen Seele interpretiert, aber so, dass die Bezüge ins Schillern geraten und die Personalpronomen mal auf den Sohn, also die Literalebene, und dann wieder die Seele, also das allegorisch Bezeichnete, zu beziehen sind. Und dies vollzieht sich nicht nur in der Kommentierung durch den Actor, sondern auch im Klagemonolog des Sohnes selbst. Die Ebene des Literalsinns und der allegorischen Bedeutung nähern sich einander an. 39 Zu ihrer Verschmelzung kommt es, wenn sich der ältere Sohn über die liebevolle Aufnah- 117 Theatralität und Textualität in Burkard Waldis ’ Bibeldrama Parabel vom verlorenen Sohn me seines Bruders empört. Der Vater antwortet ihm, wie nur Gottvater es kann: „ Mit Himmelsbrot will ich ihn speisen, meine ewige Gnade ihm beweisen, meinen Heiligen Geist will ich ihm geben “ (V. 1462 - 1464). 40 Von diesem Moment an bleiben die beiden Ebenen eng verschränkt und werden immer wieder überblendet. Am eindrucksvollsten und für den zeitgenössischen Zuschauer wohl überraschendsten ist es, wenn nach dem Ende der Gleichnishandlung der Hurenwirt noch einmal auftritt und den Spielleiter anspricht. Der Actor steht ja als Vermittler und dem Publikum gegenüber kommentierende Instanz außerhalb des Gleichnisgeschehens (in der Aufführung wird er wohl während der eigentlichen Handlungen beiseitegetreten sein). In der direkten Kommunikation mit dem frisch Bekehrten wird er in die Fiktion hineingezogen - oder aber diese weitet sich aus. Beide Figuren befinden sich zugleich innerhalb und außerhalb der auf der Bühne entworfenen und dargestellten Gleichnishandlung. Wenn dann der frisch bekehrte Hurenwirt und der ältere Bruder, nunmehr als Mönch, nebeneinander auf der Bühne stehen, legt Waldis ihnen Worte in den Mund, die an das Gleichnis vom selbstgerechten Pharisäer und vom zerknirschten Zöllner gemahnen, von denen nur zweiterer „ als Gerechter nach Hause zurückkehrte “ (Lk 18,9-14). Der Actor stellt in seinem Kommentar diesen Bezug explizit her. In diesem Gleichnis vollzieht sich auf der Literalebene eben das, was sich in Waldis ’ Erweiterung der Geschichte vom verlorenen Sohn ereignet; dort aber auf einer Ebene, deren Status zwischen konkret Gezeigtem und übertragen Bezeichnetem schillert. Denn an diesem Punkt ist kaum mehr unterscheidbar, ob das auf der Bühne phänomenal Wahrnehmbare auf der Literalebene des Gleichnisses, der allegorischen Ebene von dessen Exegese oder bei einem Dritten anzusiedeln ist. Waldis stützt sich auf eine Heilswahrheit, die sich auf verschiedenen Realitätsebenen zeigen kann. Das lässt sich in dieser Allgemeinheit für das Geistliche Spiel seiner Zeit zwar auch sagen. In der Art und Weise aber, wie sich das in Waldis ’ Verlorenem Sohn realisiert, liegt eine Differenz zu den Spielen in mittelalterlicher Tradition, die das Parabelstück als Vertreter des Bibeldramas denn auch als etwas Neues anzusprechen erlaubt. Die parakultische theatrale Praxis, als die man die Oster- oder Passionsspiele des Spätmittelalters beschreiben kann, wird nicht nur mit neuen Inhalten gefüllt, sondern erfährt Transformationen auf verschiedenen Ebenen. Eine der bisher wenig beachteten, wie ich meine aber fundamentalen darunter betrifft das hier umrissene Verhältnis von Dramenstruktur, Textebenen und vorstrukturierter Rezeptionshaltung. Das Geistliche Spiel setzt die Möglichkeit des Umschlags von dargestellter Heilsgeschichte und heilsgeschichtlichem Gehalt auf die Rahmensituation der Aufführung voraus. In Waldis ’ Spiel verschmelzen verschiedene Textebenen, ja, verschiedene Texte zu einer Konstruktion, der aber die Zuschauer vergleichsweise distanziert gegenüberstehen. Das gilt selbst noch für die vermutlich eindrucksvollste Szene, in der der bekehrte Hurenwirt und der zum Mönch gewordene ältere Bruder gemeinsam auf der Bühne stehen. Denn diese macht ja nicht einfach eine Heilswahrheit phänomenal ansichtig und somit evident. Sondern indem zwei Wege individueller Heilsfindung als Alternativen miteinander konfrontiert werden, ist der einzelne Zuschauende auf sich selbst zurückgeworfen, wenn er seinerseits Position beziehen muss. Und selbstverständlich kann man sich das in der Aufführungssituation als einen kommunikativen Prozess vorstellen, in dem die Zuschauer etwa einander durch Kommentare 118 Jan Mohr bestätigen, sich miteinander solidarisieren, so die bürgerschaftliche Gemeinschaft stabilisieren und dergleichen mehr. Doch kann dies den Einzelnen nicht einer individuellen Selbstpositionierung entheben, die eine im Kern hermeneutische Aufmerksamkeitseinstellung gegenüber dem Spiel einfordert; und dies bezeichnenderweise noch in derjenigen dramatischen Szene, auf die die Erweiterung des Parabelstoffs hinausläuft und in der man den stärksten Aufführungseffekt des Stücks vermuten kann. Waldis ’ theatrale Wiederholung des biblischen Gleichnisses rückt den Zusehenden in eine im Kern analytische Distanz, und zwar nicht nur der Semiotik des Dramentextes, sondern auch der Phänomenalität des Bühnengeschehens nach. Sie sperrt sich inhaltlich gegen eine glatte Wiederholung und konzeptuell gegen Tendenzen zu immersiver Vereinnahmung im Zeichen von Evidenz, wie sie für die Tradition der Geistlichen Spiele charakteristisch sind; und so wird man die Parabel in der Perspektive des konzeptuellen Rahmens, in dem meine Überlegungen stehen, als Reenactment ansprechen können. Das Anknüpfen an eine mittelalterliche Kontinuität pararitueller theatraler Handlungen geht mit dem Gestus eines Bruches einher. Wo am Ende des Osterspiels die Zuschauer gemeinsam in das Osterlied einstimmen und derart sich zur Gemeinde formieren, spricht bei Waldis ein Kind einen Segen, der von der Bühne herab an die Umstehenden gerichtet ist und die Grenze zwischen Spiel- und Schauraum ein letztes Mal stabilisiert. Zwar ist das Publikum wieder als Gemeinde adressiert; eine solche aber konstituiert sich nicht im ritualhaften Vollzug von auf die Liturgie bezogenen Handlungen. Die Vervielfältigung von semantischen Ebenen im Drameninneren geht einher mit einer Tendenz, dieses Drameninnere nach außen und gegen den Zuschauerbereich abzugrenzen. Diese Verschiebungen mit humanistischer Bildung und der Kenntnis der antiken Komödie zu erklären, wie es seit jeher Tenor der Forschung zu Waldis ’ Parabel ist, greift zu kurz. Voraussetzung für die Einspeisung gelehrten Bildungsguts, Voraussetzung auch für eine Einteilung in Akte und die rhetorisch ausgefeilte, einer humanistischen Dialektik folgende Entwicklung der Argumentation 41 ist ganz grundsätzlich produktionsseitige Schriftlichkeit. Vor allem aber die souveräne Disposition der Bedeutungsebenen hat eine schriftliche Textkonzeption zur Voraussetzung. Mit ihr gehört Waldis ’ Parabel auch unter den frühneuzeitlichen Parabeldichtungen zu den strukturell und konzeptionell anspruchsvollsten Spielen. Gerade deshalb ließe sich von seinem Verlorenen Sohn ausgehend das Bibeldrama des 16. Jahrhunderts in seinem theatralen Profil ausführlicher beschreiben und ließen sich grundlegende Koordinaten des Theatralitätsgefüges der Reformationszeit ausziehen. Notes 1 Vgl. Cornelia Herberichs, „ Lektüren des Performativen. Zur Medialität geistlicher Spiele des Mittelalters “ , in: Ingrid Kasten und Erika Fischer-Lichte (Hg.), Transformationen des Religiösen. Performativität und Textualität im geistlichen Spiel, Berlin, New York 2007, S. 169 - 185. - Um den vorgesehenen Rahmen einzuhalten, beschränke ich hier und im Folgenden die Nachweise von Forschungsbeiträgen auf das Nötigste. 2 Vgl. Glenn Ehrstine, „‚ Ubi multitudo, ibi confusio ‘ . Wie andächtig war das Spielpublikum des Mittelalters? “ , in: Wernfried Hofmeister und Cora Dietl (Hg.), Das geistliche Spiel des europäischen Spätmittelalters, Wiesbaden 2015, S. 113 - 131. 3 Rudolf Münz, Theatralität und Theater. Zur Historiographie von Theatralitätsgefügen, Berlin 1998. 119 Theatralität und Textualität in Burkard Waldis ’ Bibeldrama Parabel vom verlorenen Sohn 4 Vgl. exemplarisch Andreas Kotte, Theatralität im Mittelalter. Das Halberstädter Adamsspiel, Tübingen, Basel 1994. 5 Vgl. zum Geistlichen Spiel im Überblick Jan Mohr und Julia Stenzel, „ Geistliches Spiel “ , in: Peter W. Marx (Hg.), Handbuch Drama. Theorie, Analyse, Geschichte, Stuttgart, Weimar 2012, S. 209 - 214; ausführlich Ursula Schulze, Geistliche Spiele im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Von der liturgischen Feier zum Schauspiel. Eine Einführung, Berlin 2012. Zum Bibeldrama vgl. Wolfram Washof, Die Bibel auf der Bühne. Exempelfiguren und protestantische Theologie im lateinischen und deutschen Bibeldrama der Reformationszeit, Münster 2007. 6 Vgl. die im Editorial dieses Heftes ausgezogenen konzeptuellen Koordinaten. 7 Vgl. Erika Fischer-Lichte, „ Theatralität und Inszenierung “ , in: Erika Fischer-Lichte et al. (Hg)., Inszenierung von Authentizität, Tübingen, Basel 2 2007, S. 9 - 28, bes. S. 15 - 21. 8 Genauer: von konzeptueller Schriftlichkeit; vgl. Wulf Oesterreicher, „ Verschriftung und Verschriftlichung medialer und konzeptioneller Schriftlichkeit “ , in: Ursula Schaefer (Hg.), Schriftlichkeit im frühen Mittelalter, Tübingen 1993, S. 267 - 292. 9 Vgl. Washof, Die Bibel auf der Bühne, S. 42 - 55. 10 Vgl. ebd., S. 52 - 54. 11 Vgl. ebd., S. 23 - 34. 12 Vgl. in politischer Perspektive Judith Pfeiffer, Christlicher Republikanismus in den Bibeldramen Sixt Bircks. Theater für eine ‚ neu entstehende ‘ Bürgerschaft nach der Reformation in Basel und Augsburg, Berlin, Boston 2016. 13 Zur protestantischen Rechtfertigungslehre im Überblick Washof, Die Bibel auf der Bühne, S. 97 - 99. 14 Vgl. Adolf Schweckendiek, Bühnengeschichte des verlorenen Sohnes in Deutschland. I. Teil (1527 - 1627), Leipzig 1930; Kurt Michel, Das Wesen des Reformationsdramas entwickelt am Stoff des verlorenen Sohns, Düren 1934. 15 Vgl. Peter Macardle, “ Levels of Reality and their Manipulation in Waldis ’ Parabell vam verlorn Szohn ” , in: Modern Language Review 82 (1987), S. 648 - 661, hier S. 649 f. 16 Vgl. im Drucktext V. 85 f. (zit.), 183 f., 1087 f., 1564 f., 1824 f. Ich zitiere nach der Ausgabe Burkard Waldis, „ De parabell vam vorlorn Szohn. Riga 1527 “ , in: Arnold E. Berger, Die Schaubühne im Dienste der Reformation. Erster Teil, Leipzig 1935, S. 143 - 220. Alle Übersetzungen von mir, J. M. 17 Zur Biographie Jan Mohr, „ Burkard Waldis “ , in: Wilhelm Kühlmann et al. (Hg.), Frühe Neuzeit in Deutschland 1520 - 1620 - Literaturwissenschaftliches Verfasserlexikon, Bd. 6, Berlin, Boston 2017, Sp. 441 - 450. 18 Vgl. zum Folgenden die Einführung in Bergers Ausgabe (Die Schaubühne, bes. S. 116 - 121). 19 „ Dar werdt keyn laster nach schande gespart,/ Dar mit bewysen, dat ße sindt/ Des Jany vnd der affgode kyndt. “ 20 Zur Einordnung dieser Positionierung Washof, Die Bibel auf der Bühne, S. 44 - 51. 21 Der Antichrist wird der Johannes-Apokalypse zufolge ein Reich auf Erden errichten, aber zuletzt von Christus überwunden werden. Seitdem Martin Luther ihn 1520 mit dem Papst identifizierte, schmähten das protestantische und das römische Lager einander in verschiedensten Medien als Verkörperungen des Antichrist; vgl. Ingvild Richardsen-Friedrich, Antichrist-Polemik in der Zeit der Reformation und der Glaubenskämpfe bis Anfang des 17. Jahrhunderts. Argumentation, Form und Funktion, Frankfurt a. M. u. a. 2003. 22 Cora Dietl, „ Zwischen Theologie, Laienunterweisung und Polemik. Die ‚ Parabell vam vorlorn Szohn ‘ des Burkhard Waldis im Kontext der Reformation in Riga “ , in: Michael Prinz und Jarmo Korhonen (Hg.), Deutsch als Wissenschaftssprache im Ostseeraum - Geschichte und Gegenwart, Frankfurt a. M. u. a. 2011, S. 203 - 216, hier S. 209. 23 Die Möglichkeiten erwägt Dietl (ebd., S. 205, Anm. 2). 24 Vgl. zur Codierung öffentlicher Räume durch öffentlich betriebene Spieltraditionen das Material zu Luzern, das Heidy Greco- Kaufmann versammelt: Zuo der Eere Gottes, vfferbuwung dess mentschen vnd der statt Lucern lob. Theater und szenische Vorgänge 120 Jan Mohr in der Stadt Luzern im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit. Quellenedition und historischer Abriss, Zürich 2009. 25 Vgl. Bergers Einführung (Die Schaubühne, S. 121). 26 Vgl. Schweckendiek, Bühnengeschichte, S. 39 - 46. 27 Nur auf den ersten Blick ist sie alternativlos; die markante Erweiterung um den älteren Sohn hätte eine Einteilung in drei Akte nahegelegt, wie antike Stücke sie anboten. Die Feier der Dialektik der Parabel und ihrer strukturellen Mittelachse bei Barbara Könneker, Die deutsche Literatur der Reformationszeit. Kommentar zu einer Epoche, München 1975, S. 161 - 163, ist zumindest einseitig. 28 Dass für die Lieder stets mehrstimmige Tonsätze angegeben werden, muss nicht gegen eine Beteiligung der Gemeinde sprechen; Luther hatte Mehrstimmigkeit bei Kirchenliedern ausdrücklich befürwortet. 29 Auch die hilfreichen Übersichten bei Macardle, “ Levels of Reality ” , S. 650, und Cora Dietl, Das frühe deutsche Drama von den Anfängen bis zum Barock, Helsinki 1998, S. 106, können die Verschachtelung der verschiedenen Rahmungen und konzeptionellen Ebenen nur mühsam visualisieren. 30 Vgl. bes. Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt a. M. 7 2000, S. 17 - 19. 31 Vgl. Schulze, Geistliche Spiele, S. 221 - 223. 32 Vgl. Johannes Janota, „ Repraesentatio peccatorum. Zu Absicht und Wirkung der spätmittelalterlichen Passionsspielaufführungen “ , in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 137 (2008), S. 439 - 470; Ehrstine, „‚ Ubi multitudo, ibi confusio ‘“ . 33 Das Alsfelder Passionsspiel, V. 101 f. (Die Hessische Passionsspielgruppe. Edition im Paralleldruck. Bd. II: Alsfelder Passionsspiel. [. . .], hg. von Johannes Janota, Tübingen 2002, S. 231). 34 Das Redentiner Osterspiel. Mittelniederdeutsch und neuhochdeutsch. Übersetzt und kommentiert von Brigitta Schottmann, Stuttgart 2000, S. 9 - 18. Übersetzung adaptiert, J. M. 35 Vgl. Christoph Petersen, Ritual und Theater. Meßallegorese, Osterfeier und Osterspiel im Mittelalter, Tübingen 2004, S. 71 - 75; S. 160 - 183. 36 Vgl. Jan-Dirk Müller, „ Mimesis und Ritual. Zum geistlichen Spiel des Mittelalters “ , in: Andreas Kablitz und Gerhard Neumann (Hg.), Mimesis und Simulation, Freiburg i. Br. 1998, S. 541 - 571. 37 Vgl. Macardle, “ Levels of Reality “ , S. 648 - 650. 38 Vgl. ebd. 39 Vgl. ebd., S. 651 - 653. 40 „ Mit hemmelbroedt will ick ohn spyßenn,/ Myn ewige gnade ohm bewyßenn,/ Myn hilgen geyst will ick ohm geuenn [. . .]. “ 41 Vgl. Volkhard Wels, Triviale Künste. Die humanistische Reform der grammatischen, dialektischen und rhetorischen Ausbildung an der Wende zum 16. Jahrhundert, Berlin 2000, S. 270 - 288. 121 Theatralität und Textualität in Burkard Waldis ’ Bibeldrama Parabel vom verlorenen Sohn